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Ein Oberleutnant der Stasi begeht zu Beginn der siebziger Jahre Fahnenflucht aus der DDR und setzt sich in den Westen ab. Er lässt seine Frau und seine Kinder in der Republik zurück. Im Süden der Bundesrepublik Deutschland versucht er sich ein neues Leben aufzubauen, hat aber nichts außer seinem Abitur. Die Stasi ist außer sich über den Vaterlandsverrat und setzt alles daran, ihn in die Republik zurück zu holen.
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Die Flucht
Rückkehr ausgeschlossen!?
Michael Blaschke
Die Flucht
Rückkehr ausgeschlossen!?
Michael Blaschke
© 2017
Dirk-Laker-Verlag
www.dilav.de
Hauptmann Hauser hatte sich einen Kaffee gemacht. Er saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und blätterte in einer Akte. Sein Tresor war halb geöffnet und verschaffte dem Raum eine gewisse Unordnung, die Tresortür warf einen langen Schatten in das Halbdunkel der brennenden Schreibtischlampe. Die Fenster zum Innenhof der Stasizentrale in Ostberlin waren mit dunklen Gardinen verhängt.
Es war schon kurz vor Mitternacht und der große Komplex der Zentrale mit seinen endlosen mehrstöckigen Fensterreihen strahlte eine kalte, abweisende Ruhe aus. Hauptmann Hauser hatte wohl die Zeit vergessen. Er hatte sich jede Menge Notizen gemacht, noch einmal die Akte durchgearbeitet, eine zweite auf seinen Schreibtisch hinzu gelegt. Plötzlich hielt er inne, lehnte sich zurück, nahm seine dunkle Hornbrille ab und strich mit müder Geste über sein breites Gesicht.
Sein dunkles Haar zeigte erste Grautöne und die letzten achtzehn Dienstjahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war in einem Alter, in dem man keine beruflichen Bocksprünge mehr machen kann. Die Karten waren ausgereizt. Er fragte sich, wie seine Personalakte wohl aussehen mochte. Es war der dienstliche Alltag, der kaum Außergewöhnliches erwarten ließ. Auch ein aufgeblähter Überwachungs- und Spionageverein mit seinen vielfältigen Abteilungen krankte an der gefürchteten Routine und Schlamperei.
Hauptmann Hauser war natürlich in der Partei, wie alle Offiziere der Firma, und seine politische und gesellschaftliche Mitarbeit gehörte zu seinem Leben und zu seiner Arbeit. Er glaubte an den Arbeiter- und Bauernstaat, der ihm für seine Treue auch einige Privilegien garantierte. Er fühlte sich aufgehoben und gut versorgt. Es fiel nicht schwer, das eine oder andere Widersprüchliche oder gar Hässliche im Alltag der DDR zu übersehen.
Hauser knöpfte seine Uniformjacke zu, nahm, nachdem er die Akten im Panzerschrank verstaut hatte, Mütze, Mantel und Aktentasche und verließ das Büro. Ein kalter Ostwind trieb ihm die Tränen in die Augen, nur sein aufgeschlagener Mantelkragen verschaffte ihm etwas Schutz. Die breite, gut beleuchtete Straße führte entlang des großen MfS-Gebäudes, vorbei in Richtung Innenstadt. Ostberlin schlief um diese Zeit, nur hin und wieder sah er einige Autos. Hausers Heimweg führte zu einem Neubaukomplex. Er verschwand in einem der Plattenbauten.
Major Siepe hatte in der Kantine eine ruhige Ecke gefunden, um den Nachmittagskaffee zu trinken. Es war still in dem Raum um diese Zeit. Er hing seinen Gedanken nach und das hatte außergewöhnliche Gründe. Seine langjährige Dienstzeit bei der Stasi hatte ihn bisher kaum aus der Ruhe bringen können. Die Dinge liefen so, wie sie laufen mussten. Sein ideologischer Unterbau hatte das System im Allgemeinen und die Arbeit des MfS im Besonderen in seiner Entwicklung oft behindert, wenn nicht gar geschadet.
Natürlich hatte die Partei ihre Organisationen fest im Griff und die Parteigremien der Stasi sorgten sich um ihre Mitarbeiter. Major Siepe, ein beleibter Endfünfziger mit Putenhals und Halbglatze, hatte Mühe, seine Uniformjacke geschlossen zu halten. Sein glatt rasiertes, feistes Gesicht vermittelte immer den Eindruck lächelnder Freundlichkeit, nur seine Augen, klein und flink, passten nicht zu seinem Gesicht. Als Sohn kleiner Leute, sein Vater war Vorarbeiter bei Borsig, hatte er seine Laufbahn bei der kasernierten Volkspolizei in den Anfängen der DDR begonnen. In den letzten 20 Jahren hatte er es zum Major gebracht. In den Anfangsjahren kam es immer wieder zu Engpässen bei geeignetem Führungspersonal. Man behalf sich mit jungen Leuten ohne Vorbildung. Offizierslaufbahnen konnten mit Sonderlehrgängen ausgeglichen werden. Wichtig waren die Herkunft und die politische Überzeugung. Elitäres Gehabe, wie es bei einigen seiner Kameraden zu finden war, kannte er nicht. Seine Interessen nahmen sich recht bescheiden aus.
Auf dem Flur zu seinem Büro war reges Kommen und Gehen. Uniformierte Männchen und Weibchen mit Akten und Gerätschaften, die geschäftig hinter den Türen verschwanden. Major Siepes Arbeitsbereich bestand aus einem der üblichen, möblierten Büroräume.
Eine Tür führte zu einem kleinen Nebenraum, der mit einer Sitzgruppe sowie Anrichte und Schrank ausgestattet war. Es war so arrangiert, dass man von gewisser Behaglichkeit reden konnte. Die Fensterbank war mit künstlichen Blumen bestückt, die nicht zu den Gardinen passten. Honeckers Konterfei hing etwas verloren an der rotbraun gemusterten Wand. Der Raum war für Besprechungen dienstlicher und privater Art gedacht und diente zusätzlich der Entspannung und Ruhe. Major Siepe hatte gerade sein Büro betreten, als das schwarze Telefon klingelte. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme, die ihm mitteilte, dass sein Vorgesetzter, Oberst Busch, ihn sprechen wolle.
Ein kurzer Blick über den Schreibtisch und Major Siepe ging zu Oberst Busch. Was mochte der Oberst wohl wollen? Die dienstlichen sowie privaten Kontakte in den oberen Etagen waren seltene Auftritte, und selbst parteipolitische, gesellschaftliche Arbeit überließ man gern den untergeordneten Dienststellen. Politmitglieder, ZK-Kader, Minister, Staatssekretäre und all die, die im Glanz personifizierter Größe ihre immer gleiche Huldigung an das Volk verteilten, liebten keine unpassenden Bilder. Das galt auf allen Ebenen. Man lebte wie unter einer Glasglocke und beglückwünschte sich gegenseitig für die großen sozialistischen Erfolge.
Die Stasi sorgte für einen reibungslosen Ablauf dieser einzigartigen Erfolgsgeschichte. Man hatte im Laufe von Jahrzehnten Mittel und Wege gefunden, alles Hässliche und Unerwünschte verschwinden zu lassen. Major Siepe wusste, die Diktatur des Proletariats durfte keine Schwächen zeigen. Andererseits hatte er den ideologischen Hintergrund seiner täglichen Arbeit nie so ganz verstanden. Bei Licht besehen hatte er keine rechte Vorstellung. Er war ein Kind der DDR, sein Bildungsstand erlaubte keine eigenen Urteile und Schlussfolgerungen.
Oberst Busch als Leiter der Hauptabteilung VIII hatte, das wusste Siepe, oft Schwierigkeiten, seinen Laden koordiniert und übersichtlich zu führen. Hinter vorgehaltener Hand sprach man von Eheproblemen und Schwierigkeiten mit seinen Kindern, außerdem über Einkäufe über Dritte in Westberlin und Unregelmäßigkeiten, was die Devisenkasse anbelangte. Er wusste aber auch, dass sich die meisten Spitzenfunktionäre mit hochwertigen Geräten aus Westberlin versorgten. Es wurde natürlich in Ost-Mark bezahlt, was die Angelegenheit verbilligte. Konsequenzen hatte Oberst Busch nicht zu befürchten, zumal er Freunde im Politbüro hatte. Außerdem galt er als altgedienter Genosse aus der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges. Er hielt sich in seiner politischen Argumentation streng an die Parteilinie und er hatte alle Stürme gut überstanden. Sein äußeres Erscheinungsbild passte nicht in das Schema eines älteren kommunistischen Apparatschiks. Groß, schlank, mit einem charmanten Hang zur Selbstdarstellung, war er sich seiner Wirkung bewusst. Er trug einen hellgrauen, eleganten Anzug mit passender Krawatte und sein grau meliertes, volles Haar passte in dieses Bild. Sein großes Arbeitszimmer mit massigem Schreibtisch wurde von einem Tisch mit blau gepolsterten Stühlen ergänzt. Große Einbauschränke in hellem Holz gaben dem Raum eine freundliche Atmosphäre.
In einem Nebenraum mit Sitzecke und einfachem Militärbett hatten Oberst Busch und Major Siepe Platz genommen. Der Major war etwas verunsichert, denn er hatte einen dekorierten, uniformierten Vorgesetzten erwartet und nicht etwa einen Salonlöwen bei einem sozialistischen Gartenfest. Es war ein seltsames Bild. Ein beleibter Soldat in einer zu eng sitzenden Uniform, der schwitzend, mit feuchten Händen, unkontrolliert in seinem Gesicht herumfummelte und ihm gegenüber eine sympathische Erscheinung, die lässig und entspannt ihren Platz gefunden hatte. Man sprach über Alltäglichkeiten, um dann zur Sache zu kommen.
Oberst Busch stand auf, ging in sein eigentliches Arbeitszimmer und kam mit einer dünnen Akte zurück. Er blätterte kurz darin und gab sie Major Siepe.
„Genosse Major, wir haben einen delikaten, äußerst vertraulichen operativen Vorgang vom Genossen Minister erhalten.“
Major Siepe schlug die Akte auf und erkannte seinen Vorgänger, der sich vor circa 6 Monaten in die BRD abgesetzt hatte. Die Reaktion der Genossen und Vorgesetzten war blinder Aktionismus gewesen. Lange Diskussionen über Sicherheit, Untreue, Verrat und menschliches Versagen wurden ideologisch verkleistert. Es war ein abscheuliches Anbiedern und zu Kreuze kriechen. Im MfS lief alles auf Hochtouren. Ganze Abteilungen bekannten sich zu höherer Wachsamkeit als Schild und Schwert der Partei und des Staates. Major Siepe dachte mit Schaudern an diese Zeit. Die Anspannung, in jeder Situation das Richtige zu sagen und seine politische und fachliche Kompetenz beweisen zu müssen. Er sah sie noch vor sich stehen, ihr aufgeblasenes Getue, getreu in sozialistischer Gefolgschaft. Manch einer wird sich gefragt haben, ob er nicht auch im Dunstkreis dieses Verräters gesehen wurde. Ganz so einfach war die Angelegenheit jedoch nicht. Eine Schwarz-Weiß-Behandlung, ideologisch gut verpackt, konnte den Verrat des Genossen Oberleutnant Keller nicht erklären. Es war und blieb für Major Siepe ein erbärmlicher Verrat, es war aber auch eine menschliche Tragödie.
Oberst Busch zündete sich eine Zigarette an und musterte sein Gegenüber mit kritischem Blick. „Genosse Major“, hob er an, „Sie haben eine Aufgabe bekommen, die Ihnen einiges abverlangen wird. Der Genosse Minister hat mich beauftragt den Verräter Keller in die Deutsche Demokratische Republik zurückzuholen. Ich habe Sie für diese Aufgabe vorgeschlagen. Die Aktion unterliegt strengster Geheimhaltung und der Minister behält sich das Recht vor, von Fall zu Fall selbst Entscheidungen zu treffen. Wie gefällt Ihnen das?“
Für Major Siepe war das glatter Menschenraub und er war alles andere als begeistert. Käme es zu Schwierigkeiten, würde man sich ein Bauernopfer suchen und finden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mensch in dieser Republik für immer verschwindet, aber das konnte er diesem Mann nicht sagen. So beschränkte er sich auf einige Fragen, die mit der Angelegenheit im Einzelnen zu tun hatten.
„Sie haben natürlich meine volle Unterstützung“, meinte der Oberst. „Ferner bleibt es Ihnen überlassen, entsprechendes Personal zu rekrutieren.“
Hinter dieser Edelerscheinung verbarg sich ein knochenharter, skrupelloser Stasi-Offizier, und seine elegante Erscheinung war letztlich gelungene Tarnung. Es war klar: Je weniger Mitwisser, umso besser konnte die Sache ablaufen. Keine schriftlichen Aufzeichnungen und Vermerke, keine Spuren, die nicht mehr zu beseitigen wären. Die DDR war auf dem Weg zur völkerrechtlichen Anerkennung, sie war jedenfalls dieser Meinung. Diese Geschichte in den westlichen Medien wiederzufinden konnte nicht im Interesse dieses Staates liegen.
„Ich werde mein Bestes geben und das Problem in Ihrem Sinne lösen“, sagte Major Siepe. Die Hintergründe von Kellers Flucht waren ihm in Einzelheiten nicht bekannt. Er überlegte, wie er Details bekommen und was er davon verwerten konnte. Oberst Busch hatte Kaffee kommen lassen. Er ging in sein Büro und kam mit Cognac und zwei Gläsern wieder.
„Ich weiß, Genosse Major, dieser operative Vorgang wird schwer.“ Er beugte sich über das Tischchen, um beide Cognacgläser zu füllen und Major Siepe zuzuprosten.
Sein Ruheraum füllte sich allmählich mit dem Dunst von Kaffee, Cognac und Zigarettenqualm. Ein derartiges Hofieren eines Untergebenen war selbst für das MfS etwas ungewöhnlich. Es zeigte das Bedürfnis des Staates, seine Gegner zu vernichten. Verräter in den eigenen Reihen hatten keine Gnade zu erwarten. Die Organisation war erbarmungslos und es verwunderte nicht, dass hohe Funktionäre dem stalinistischen Prinzip anhingen.
Inzwischen war es Spätnachmittag geworden und der eigentliche Dienstbetrieb war zu Ende. Oberst Busch gab sich aufgeräumt und in guter Stimmung wurde Major Siepe entlassen. Die wichtigsten Dinge waren besprochen und der Major ging nach Hause.
Hauptmann Hauser hatte gerade sein Büro erreicht, als er den telefonischen Befehl erhielt, unverzüglich Major Siepe anzurufen. Im Paternoster, der ihn in den zweiten Stock des Stasi-Gebäudes brachte, machte sich Hauser seine Gedanken über diese ungewöhnliche Einladung.
Siepe saß mit geöffneter Uniformjacke an seinem Schreibtisch. Sein Bauch suchte sich seinen Weg über den Hosenbund und in dieser bequemen Haltung empfing er Hauptmann Hauser. Vor ihm lag die Kaderakte Hausers, die er oberflächlich durchblätterte. Eine unauffällige Erscheinung, dieser Hauser. Die übliche Laufbahn. Keine Besonderheiten, weder positiv noch negativ. Wir werden sehen, ob der Genosse wohl der richtige Mann für dieses Unternehmen ist, dachte der Major bei sich. Das MfS hatte Erfahrung aus ähnlich gelagerten Fällen. Man ging davon aus, eine erfolgreiche Strategie entwickelt zu haben. Er bot ihm einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an.
„Ich habe mir Ihre Personalakte aus der Kaderabteilung bringen lassen“, sagte Siepe und musterte sein Gegenüber. „Ihre Zuverlässigkeit und Ihre Arbeit in unseren gesellschaftlichen Bereichen wird lobend beurteilt. Sie sind verheiratet und haben einen erwachsenen Sohn?“ fragte Major Siepe.
„Jawohl, Genosse Major“, erwiderte Hauptmann Hauser und ein leichter Ruck ging durch seine Glieder. Der Major blätterte weiter lustlos in der Akte. All diese überflüssigen Fragen, deren Antworten man aus dem Personalbogen entnehmen konnte. Hauser kannte seine Brötchengeber. Er kannte seine Abteilung, die Hauptverwaltung Aufklärung HVA, und er wusste, der Firma war nichts Menschliches fremd. Major Siepe war nicht sein direkter Vorgesetzter, was die ganze Situation noch mysteriöser machte. Der Major hatte Kaffee kommen lassen. Hausers Blicke wanderten nach draußen. Der Himmel war grau verhangen und es regnete. Unter dem Fenster befand sich die Fahrbereitschaft des MfS auf einem großen Paradeplatz. Selbst durch das geschlossene Fenster hörte man die Kommandos der Soldaten. Hauptmann Hauser dachte an die beiden Akten, die er gestern kurz durchgesehen hatte und die jetzt in seinem Panzerschrank lagen.
„Kommen wir zur Sache“, meinte der Major. „Ich habe mit Genosse Oberstleutnant Kampen von der 4. Abteilung gesprochen und um befristete Überstellung gebeten. Sie sind ab sofort mir persönlich unterstellt. Der OV insgesamt wird vom Genossen Minister geleitet. Schriftliche Vermerke und Notizen werden nach Gebrauch vernichtet. Der Vorgang darf keine Spuren hinterlassen und unterliegt strengster Geheimhaltung.“
Hauser steckte sich eine Zigarette an und beäugte seinen neuen Vorgesetzten mit erwartungsvoller Miene.
„Der Verräter Keller soll zwangsweise in die Deutsche Demokratische Republik zurückgeholt werden, um ihn vor ein Militärgericht zu stellen. Sie sind für den gesamten technischen Ablauf vorgesehen und tragen dafür die volle Verantwortung. Befehle und Anweisungen erhalten Sie ab sofort von mir.“ Major Siepe strich sich etwas nachdenklich über sein breites Kinn und meinte: „Für heute ist es erst mal genug.“
Hauptmann Hauser hatte sich bereits militärisch abgemeldet und war im Begriff zur Tür zu gehen, als er noch einmal von Major Siepe gebeten wurde, die beiden Personalakten gründlich durchzuarbeiten.
Hauser begab sich nach diesem Gespräch in die Kantine, um bei Kaffee und Weinbrand über die Arbeit in den nächsten Wochen nachzudenken. Warum hatte man ausgerechnet ihn für diesen OV ausgesucht? Menschlich gesehen war das ein mehr als fragwürdiges Unternehmen. Er wusste, dass ihn diese Zurückführung menschlich und technisch belasten musste, auch wenn man versuchte offene Fragen ideologisch zu begründen, um sich moralisch zu rechtfertigen. Er wusste auch, dass einige seiner Kameraden, gerade die länger Dienenden, Zweifel an den Entscheidungen der Staats- und Parteiführung hatten. Selbst höhere Offiziere konnten sich mit dem Geschwätz des Ministers nicht mehr anfreunden. Natürlich konnte man über diese Dinge nicht offen reden und so versuchte man, seinen Arbeitsalltag zu bewältigen. Es war nicht einfach, alles abzusegnen, was man höheren Ortes für gut und richtig befand. Es galt innere Konflikte ohne nennenswerte Blessuren zu überstehen. Dazu kam, dass die Arbeit des MfS in der Bevölkerung keinen guten Ruf hatte. Sicherlich gab es unter den jüngeren Kollegen manch Idealisten oder gar Fanatiker, aber die ungeschminkte Realität zeigte ein anderes Gesicht.
Als er wieder im Büro war, holte er die erwähnten Akten aus dem Panzerschrank, um sich mit deren Inhalt zu beschäftigen. Dünn waren sie, die beiden Dossiers, und jung waren die dort Aufgeführten. Beide waren in Westberlin polizeilich gemeldet und beide hatten sich in Sachen Tunnelbau für die Stasi nützlich gemacht. Es waren Kleinkriminelle und schäbige Denunzianten, Kurt Brell und Fred Gauser. Die Fotos zeigten unauffällige Männer, und ein kurzer Lebenslauf ergänzte den Inhalt der Akten. Sie hatten sich nach dem Mauerbau der Stasi angedient, weil sie über detaillierte Informationen der damals operierenden Fluchthelfer-Organisation verfügten. Es ging ihnen um einige hundert Westmark. Über die Folgen ihres Verrats machten sie sich keine Gedanken.
An der Grenze waren Tote zu beklagen. Andere hatten etliche Jahre im Zuchthaus Bautzen 2 abzusitzen. Einen Freikauf der BRD gegen Westmark gab es zu dieser Zeit noch nicht. Die Akten gaben kaum etwas her, und nähere Informationen waren dringend erforderlich.
Es mussten konspirative Treffen organisiert werden. Diese jungen Männer mussten für die bevorstehende Aufgabe auf Herz und Nieren geprüft werden. Einen Menschen gegen seinen Willen illegal über die Staatsgrenze zu bringen, war nicht so einfach. Hauptmann Hauser wusste, dass ein Scheitern der Aktion unübersehbare Folgen haben würde. Die Geheimdienste der Gegner wurden keineswegs unterschätzt, es konnte auch zu diplomatischen Verwicklungen kommen.
Nach welchen Kriterien hatte man gerade diese beiden Galgenvögel ausgesucht, fragte sich Hauser. Er wusste natürlich, dass jeder Kämpfer für Frieden und Sozialismus unterstützt werden musste. Der Klassenkampf war brutal und brutal waren seine Mittel. Es ging nicht mehr um humane Rücksichten. Diese Arbeit konnte nur gemacht werden, wenn man von der Notwendigkeit überzeugt war.
Das Telefon klingelte. Hauser nahm den Hörer ab, Major Siepe meldete sich.
„Ich habe Ihnen Leutnant Gall zur Unterstützung zugeteilt. Er meldet sich am Montag bei Ihnen. Ein schönes Wochenende.“ Das Gespräch war beendet.
Ja, das Wochenende! Hauser hatte sich einiges vorgenommen. Das Wetter war recht warm für April, und er wollte mit seiner Frau zur Mutter nach Potsdam fahren. In der Datscha am Rande der Stadt wollten sie das Wochenende verbringen. Sein erwachsener Sohn war bereits verheiratet. Nach Studium und Militärdienst hatte er eine Aufgabe in einer Planungsbehörde gefunden. Er war in der Partei, aber seine gesellschaftliche Mitarbeit hielt sich in Grenzen. Was der Sohn von der Arbeit seines Vaters hielt, wusste er nicht. Hauser glaubte, seinen familiären Verpflichtungen hinreichend nachgekommen zu sein. Seine Arbeit und die Politik wurden aus dem häuslichen Bereich herausgehalten. Seine große, schlanke Frau mit einem Hang zur Geschwätzigkeit war im Schuldienst beschäftigt. Sie zeigte reges Interesse am politischen Leben. Das brachte ihre Arbeit mit sich.
Innerhalb des Dienstbereiches gab es keine Freundschaften, auch wenn man sich seit Jahren kannte. Man traf sich im Wohnbereich. Bei politischen Veranstaltungen und Jubiläen wurde im privaten Kreis gefeiert. Der Urlaub wurde an bevorzugten Orten, die von der Firma ausgesucht waren, gemacht. Jeder blieb auf Distanz, tat aber so, als sei man eine große Familie. Ferienheime waren speziell Stasi-Mitarbeitern vorbehalten.
Major Siepe kam aus dem Wochenende, das er bei seinem Bruder verbracht hatte. Er war geschieden, seine Ehe war kinderlos geblieben. Als Junggeselle liebte er seine Freiheit, gutes Essen und einen flotten Umtrunk, das sah man seiner Körperfülle auch an. Das Problem Alkohol war ein ständiges Thema, selbst in den Spitzen von Partei und Staat. Der Alkohol galt als Schmiermittel für das Getriebe Staatssicherheit. Disziplin, Wachsamkeit und politische Loyalität in einem System ständiger Überwachung war für kritische Menschen ein Problem.
In Gedanken verloren und zerstreut saß Major Siepe am Schreibtisch. Der operative Vorgang - OV - musste vorrangig bearbeitet und mit Erfolg zu Ende gebracht werden. Seine eigentlichen Aufgaben im Bereich Gegenspionage und Aufklärung blieben liegen. Mitarbeiter seiner Abteilung hatten ihm einen ausführlichen Bericht über den Verräter Keller zugestellt. Die Überwachung von Kellers Tagesablauf, seine Gewohnheiten, neue Freunde sowie Frauenbekanntschaften, alles war fein säuberlich von Agenten der Stasi ausspioniert worden. Eine kostspielige, zeitaufwendige Aktion, die letztlich wenig Brauchbares zutage förderte. Die finanziellen Möglichkeiten wurden ausgeschöpft. Rechenschaftsberichte an die zuständigen Gremien wurden manipuliert.
Das MfS verbrauchte den Großteil der erwirtschafteten Devisen der Volkswirtschaft der DDR. Je größer der Apparat, umso schwerfälliger sein Agieren. Moderne Technik im Bereich Nachrichten und Kommunikation auf der einen Seite, ideologische Verblödung auf der anderen. Hinter jedem Mauervorsprung lauerte ein potenzieller Klassenfeind.
Major Siepe kannte den Überläufer. Er kannte seine Frau und die Kinder, die Keller in der Deutschen Demokratischen Republik zurückgelassen hatte. Die Familie war sofort nach Bekanntwerden der Flucht von der Stasi separiert worden. Nach gründlichen Vernehmungen wurden sie zum Stillschweigen verpflichtet und von Ostberlin in ein Dorf in Vorpommern verbannt.
Major Siepe hatte sich einige Notizen gemacht, Telefonate geführt, sich zivil umgezogen, um sich mit Hauptmann Hauser und Leutnant Gall in einer unauffälligen Mietwohnung zu treffen.
Leutnant Gall wartete in seinem braunen Wartburg in der Nähe des Grenzübergangs Friedrichstraße auf seine Westberliner IM Brell und Gauser. Sein Fahrer, Unteroffizier Koch, hatte die Fenster heruntergekurbelt. Beide trugen Zivil. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Ostberliner nutzten das schöne Wetter für Ausflüge und Einkaufsbummel. Vor einer Würstchenbude hatte sich eine Warteschlange gebildet. Kinder spielten auf einer Grünzone. Was für ein fröhliches Treiben, dachte Gall, ein schlanker, sportlicher Typ. Koch hatte eine Zigarette angezündet. Er beobachtete gelangweilt die Umgebung. Es dauerte eine Weile, dann kamen die beiden jungen Männer. Ihr Erscheinungsbild war das aller jungen Leute aus Westberlin. Spitze Schuhe, enge Hosen, eine Jacke, ein weißes Hemd, dazu eine Krawatte, die aussah wie Schnürsenkel. Nach kurzem Gruß und Wortwechsel verschwanden die beiden im Wartburg und der Wagen fuhr in Richtung Hohenschönhausen.
Leutnant Gall konnte beide im Rückspiegel beobachten. Man sprach kein Wort, es herrschte eine erwartungsvolle Stille. Es ging durch belebte Straßen, die von ostdeutschen Autos dominiert wurden. Die sozialistischen Fortbewegungsmittel machten Krach und hinterließen viele Abgase und Gestank. Auch in der Hauptstadt der Republik und Vorzeigemetropole sah man den Mangel an den Hausfassaden und dem Straßenbelag. Selbst die ehemalige Stalinallee zeigte Risse und Brüche. Die konspirative Wohnung lag in einem schäbigen Altbauviertel mit verwitterten und grauen Innenhöfen. Zille hätte seine Freude gehabt. Die ganze Gegend war verwahrlost und hässlich. Ab und an ein Trabi, einige HO-Läden mit spärlichen Auslagen und schmutzigen Gehwegen. Von Modernität und Fortschritt keine Spur. Der Wagen hielt und die vier Männer verschwanden in einem der Treppenhäuser. Es roch muffig. Die Briefkästen waren zum Teil demoliert und sahen aus wie schwarze Mäuler. Es war nicht zu erkennen, ob überhaupt jemand hier wohnte. Im zweiten Stock wurde den Männern eine Tür von innen geöffnet und Hauptmann Hauser zeigte sich mit einladender Handbewegung.
Es war üblich, Wohnungen von Mitarbeitern der Stasi für geheimdienstliche Aufgaben zu nutzen. Sie gingen in den Wohnraum, um zur Sache zu kommen. Major Siepe, Hauptmann Hauser und Leutnant Gall, alle in Zivil, saßen den beiden IM gegenüber. Es gab Kaffee und ostdeutsche Zigaretten wurden geraucht. Hauser führte das Gespräch, während Siepe und Gall zuhörten. Hauser fand lobende Worte über die bisherige Zusammenarbeit. Er betonte die gefährliche Arbeit der Freunde für Frieden und Sozialismus. Bell und Gauser saßen unruhig und erwartungsvoll in den Sesseln. Sie musterten neugierig den Raum und wurden von den Stasi-Offizieren intensiv beobachtet. Brell, ein stämmiger, kurzhaariger, mittelgroßer junger Mann, sah nicht aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Sein breites Gesicht mit platter Nase und flinken, unruhigen Augen wirkte unsympathisch. Es war leicht, diesen Menschen einzuordnen. Schwerfällig, ohne sonderliche Beurteilungsgabe und mit wenig Realitätssinn, war er der Mann fürs Grobe. Ganz anders Gauser, eine schmächtige, kleine Erscheinung, sehr intelligent, zurückhaltend, ein vorsichtiger Taktiker. Er handelte mit Kalkül. Sie ergänzten sich vortrefflich. Beide waren verkrachte Existenzen, wobei Gut und Böse keine Rolle spielten.
Natürlich tat es ihnen gut, im Mittelpunkt zu stehen, auch um ihr Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Hauser holte aus seiner Aktentasche die Unterlagen und fing an die Sache in die Hand zu nehmen. „Ihre bisherige Zusammenarbeit mit unseren Organen habe ich erwähnt, ich möchte nun zur Sache kommen. Sie haben bestimmt in der Springerpresse gelesen, dass wir einen Verräter in unseren Reihen haben. Dieser Mann hat für den westdeutschen und amerikanischen Geheimdienst gearbeitet.“
Hauser machte eine Pause, so als wolle er die Schwere dieses Verbrechens unterstreichen. „Wir wollen diesen Mann wiederhaben, um ihn zu bestrafen. Sie sollen uns dabei helfen.“
Auf den Gesichtern der beiden IM konnte man die Überraschung und Verblüffung deutlich sehen.
„Ich werde Sie jetzt über die Einzelheiten des Unternehmens informieren. Fragen werden danach ausführlich beantwortet.“
Es gab viele Details, die wiederholt besprochen werden mussten. IM Brell kaute nervös an seinen Fingernägeln. Er hatte offensichtlich Mühe, Einzelheiten im Zusammenhang zu verstehen, während Gauser eine klare Vorstellung von dem hatte, was da auf ihn zukam. Hauser hatte eine Verschwiegenheitserklärung mitgebracht. Zusätzlich wurden Verhaltens- und Vorsichtsmaßnahmen eingebläut. Jeder erhielt 1000 Westmark, weitere 1000 Westmark sollten ihnen nach erfolgreicher Aktion zukommen. Die Gespräche des Nachmittags waren heimlich aufgenommen worden. Das Gerät stand in der Küche, während das kleine Mikrofon im Wohnraum versteckt war. Leutnant Gall hatte ein Fenster weit geöffnet, Frischluft war gefragt.
Nach kurzer Verabschiedung wurden beide von Gall und seinem Fahrer in dem braunen Wartburg zum Bahnhof Zoo zurückgebracht. Sie fuhren getrennt mit der S-Bahn nach Westberlin zurück. Hauser entnahm dem Tonbandgerät das Band, verstaute alles in seiner Aktentasche und verließ die Wohnung.
Auf dem Weg zu ihren Privatautos meldet Major Siepe Bedenken an. „Dieser Brell macht auf mich einen unguten Eindruck und ich hoffe, dass er nicht die ganze Aktion verpatzt. Es darf nichts schief gehen. Meine Abteilung hat sich wiederholt mit Brell und Gauser befasst und die Genossen haben trotz meiner Einwände grünes Licht gegeben.“
Hauptmann Hauser hatte auch das eine oder andere mit Vorbehalt gesehen und beurteilt, aber er wollte die Entscheidung seines Vorgesetzten nicht kritisieren. Sie waren undurchsichtige Elemente, das wusste er auch. Aus internen Quellen und einer neuen Dienstvorschrift durften operative Vorgänge dieser Art im westlichen Ausland nicht mit eigenen Leuten besetzt werden. „Genosse Major, ich fürchte, die Sache lässt sich nicht mehr abbrechen“, meinte Hauser.
Inzwischen war es dunkel geworden und die Offiziere traten ihren Heimweg an. Ostberlin war um diese Zeit belebt. Es hatte geregnet, auf den nassen Straßen bildeten sich Pfützen und auf den Gehsteigen hatten Passanten Mühe, nicht nass gespritzt zu werden. Wie sah ein Verräter aus? Aus dem Blickwinkel der Verratenen war er ein böser Mensch und musste bestraft werden. Der Verrat ist so alt wie die Menschheit und er wird mit der Menschheit untergehen. Mit dieser Binsenweisheit werden wir leben müssen. Können und dürfen wir den Verrat als legal sehen? Wenn er der Menschlichkeit dient? Wir dürfen!
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Oberleutnant Keller, der Verräter der Staatssicherheit, hatte ein angenehmes Äußeres, er machte einen netten Eindruck. Er hatte eine ganz normale Entwicklung im MfS genommen. Für seine Vorgesetzten gab es keine Gründe, seine politische oder fachliche Arbeit infrage zu stellen. Keller war nie ein Sicherheitsproblem. Familiäre Bindungen ins westliche Ausland gab es nicht. Er hatte sich alle Mühe gegeben, in seiner Arbeit Freude und Anerkennung zu finden. Aus kleinen, bescheidenen Verhältnissen kommend, hatte Keller als IM seine Karriere in der Firma begonnen. Sein Vater war in einer Oberschule Hausmeister gewesen. Er war in seinen frühen Jahren Mitglied der KPD geworden und hatte die NS-Zeit mit einigen Blessuren überstanden. Er war kein Held des Widerstandes gegen Hitler geworden, doch meinte man, ihm den Nimbus des Rotfrontkämpfers anhängen zu müssen. Die Kriegsjahre hatte er als einfacher Soldat ertragen müssen. Letztlich war er an der Aufgabe, ein Widerstandskämpfer zu sein, gescheitert. In den Wirren der letzten Kriegsmonate war er abgetaucht, um nach dem Zusammenbruch in Ostdeutschland, der zukünftigen DDR, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er war überzeugt, mit der Gründung eines Arbeiter- und Bauernstaates eine große Zukunft zu haben. Mit seiner Frau hatte er sich am Stadtrand ein kleines Haus gekauft und den Sohn, das einzige Kind, groß gezogen. Kellers Mutter hatte ihren Mann in allen Dingen unterstützt. Sie war eine einfache, praktisch denkende Frau mit viel Mitgefühl für ihre Mitmenschen. Ihren Sohn liebte sie über alles. An Politik oder gesellschaftlicher Arbeit hatte sie kein Interesse. Die Arbeit als Hausfrau und Mutter war ihr genug. Der Sohn besuchte die Oberschule und meldete sich nach der Schulzeit freiwillig zur NVA. Er wurde zu den Grenztruppen beordert. Seine Zukunft sah er in einer Offizierslaufbahn. Er wurde bereits als einfacher Soldat für die Stasi als IM angeworben. Er musste regelmäßig die Berichte der Mannschaften abliefern. Überzeugt, mit seiner Aufgabe etwas Gutes zu tun, waren seine Berichte an seinen Führungsoffizier sehr informativ und glaubhaft. Eine offizielle Bewerbung an das MfS als hauptamtlicher Mitarbeiter war nicht möglich. Es waren immer nette, freundliche Herren in Zivil unterwegs, die in Schulklassen, in der FDJ und anderen politischen Organisationen für den nötigen Nachwuchs sorgten. Es war also kein Wunder, dass der zukünftige Oberleutnant Keller von der Stasi zum Schutz für Partei und Staat übernommen wurde. Für den jungen Mann und überzeugten Kommunisten war es eine Ehre, zu dem wichtigen Verein zu gehören. Die Bevölkerung hatte Angst vor der Firma und die meisten gingen diesen Leuten aus dem Weg. Für den Soldaten Keller waren diese Vorurteile eine Frage der ideologischen Umerziehung. In einigen Jahren, so glaubte er, würden die Bürger der DDR die Mühen der Genossen, ihre schwere Arbeit zum Wohl der sozialistischen Gesellschaft, zu schätzen wissen.
Kellers Elternhaus, in einer Kleinstadt an der polnischen Grenze, lag etwas abgelegen von den Zentren der großen Aufbrüche einer neuen Zeit.
Die Stadt lebte von einem mittelgroßen Textilkombinat, einer großen Kaserne der Grenztruppen und einer Schweinezucht. Vom Krieg kaum zerstört, besaß das Städtchen einen gewachsenen, historischen Kern. Ein Haus der Kultur, nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik gebaut, fand keinen Anklang in der Bevölkerung. Das Eingangsportal, eine Mischung aus Klassizismus und sozialistischem Realismus, wurde von politischen Parolen flankiert. Über dem Portal war das Bild eines Mannes mit strengem Blick, der auf die Werktätigen schaut, um ihnen den Weg in eine herrliche Zukunft zu zeigen. Plumpe Propaganda! Was in Jahrhunderten von Generationen an Werten geschaffen wurde, wurde in kurzer Zeit infrage gestellt. In dieser abgelegenen Ecke der Republik hatte Oberleutnant Keller seine Kindheit und Jugendzeit verbracht.
Sein Vater, als alter Kämpfer und Antifaschist, bekam einen Posten beim Rat des Kreises. Er saß in einem kleinen Raum hinter einem allzu großen Schreibtisch und war für die Planung und Versorgung der HO-Läden zuständig. In den ersten Jahren gab es keine großen Probleme, doch die Bürokratie und die zunehmende Schwerfälligkeit der führenden Genossen ließ den alten Mann an seiner Arbeit zweifeln. Er war gelernter Schlosser, er wollte zurück in die Werkstatt. Es gab etliche Auseinandersetzungen über den Weg zum menschlichen Sozialismus. Er spürte die Arroganz und Überheblichkeit der Funktionäre. Dieser praktizierende Marxismus und Leninismus duldete keine Kompromisse und ging, wenn nötig, über Leichen. Er spürte die Gefahr und wusste, hier läuft grundsätzlich einiges schief.
Der erste Sekretär der Kreisleitung verschaffte ihm einen Posten als Hausmeister. Der alte Kämpfer wurde abgeschoben, er wurde nicht mehr gebraucht. Er war verbittert und enttäuscht und dachte oft an all die Genossen, die in der Hitlerzeit für ein besseres Deutschland ihre Gesundheit und ihr Leben gelassen hatten. Als sein Sohn ihm eines Tages sagte, er wolle nach der Schulzeit freiwillig zur NVA, um Offizier zu werden, schaute der Vater ihn nur an und ging schweigend in den Garten. Oberleutnant Keller wusste nicht, warum sein Vater beim Thema Politik abweisend, sogar mürrisch wurde. Seit dem Tod der Mutter war die Beziehung zu seinem Vater nicht so, wie sie sein sollte. Die täglichen Reibereien, selbst über Kleinigkeiten des Alltags, machten das Leben nicht einfach. Mit gutem Abschluss hatte er die Oberschule verlassen. Nach einer Grundausbildung kam er zu den Grenztruppen an die Berliner Mauer. Die Grenztruppen galten als politische, wie militärische Sondertruppe und waren dem Innenministerium unterstellt. Das MfS hatte natürlich entscheidende Schaltstellen mit eigenen Leuten besetzt und überwachte die Befehlsstrukturen. Es war ein langer Weg vom einfachen Soldaten zum Offizier.
Keller hatte es geschafft. Er hatte all das erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Er war überzeugt, mit der Hilfe von Partei und Staat sein Ziel erreicht zu haben. Objektiv gesehen hatte er einiges gegeben, was seine Persönlichkeit ausmachte. Er spürte sehr wohl, was in seiner Entwicklung gegen sein Empfinden abgelaufen war. Auch wusste er, dass Disziplin und Ordnung in den Streitkräften einen besonderen Stellenwert hatten. Die Rekruten wurden im Sinne preußischen Kadavergehorsams gedrillt. Die ständige, überzogene Bereitschaft möglicher Kampfeinheiten verbrauchte Mensch und Technik. Das Gefühl ständiger Bedrohung nahm krankhafte Züge an. Wer im Dreck liegt, vergisst schnell seine militärischen Aufgaben. Jede Armee braucht Disziplin und Gehorsam, aber sie braucht keine Soldaten mit gebrochenem Rückgrat. Oberleutnant Keller hatte oft genug erlebt, dass Offiziere und Funktionäre in aufgeblasener Selbstgerechtigkeit junge Männer demütigten und schunden.
Jahre waren ins Land gegangen. Keller hatte geheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor. Sein Vater lebte vereinsamt als Rentner in der Kleinstadt. Er besuchte ihn öfters, obwohl es nicht immer leicht war. In seiner Offiziersuniform machte er durchaus einen respektablen Eindruck und er war stolz darauf. Es war Weihnachten und Keller hatte um ein paar Tage Urlaub gebeten, um über die Feiertage zu seinem Vater zu fahren. Es hatte geschneit, das Städtchen hatte einen gepuderten Überzug erhalten. Er saß mit seinem Vater im Wohnzimmer. Sie hatten es sich gemütlich gemacht und unterhielten sich über Gott und die Welt. Das Mobiliar stammte noch aus der Vorkriegszeit. Der kleine Weihnachtsbaum auf dem Tischchen erinnerte ihn an die Weihnachten vergangener Jahre. Die brennenden Wachskerzen warfen Schatten an die Wände, die Anrichte mit Bildern der Familie verschwand im Dunkel. Er fragte seinen Vater, warum er immer recht schweigsam werde, wenn es um Politik gehe.
„Ich bin noch einer aus der alten Garde, wir Kommunisten haben unter großen Entbehrungen Hitler überlebt.“ Er sagte das nachdenklich und leise. Sein schmales, faltiges Gesicht war gezeichnet vom Ungemach vergangener Jahrzehnte. „Ich habe diesen Staat und seine Führung unterstützt, soweit ich es mit meinen bescheidenen Mitteln konnte und bin enttäuscht worden. Diese unwürdige Umarmung mit Stalin, diese zwanghafte und unterwürfige Speichelleckerei und all diese peinlichen Anbiederungen. Wir Kommunisten hatten eine andere Vorstellung von einem freien, demokratischen Land. Einem Land, in dem der Mensch der Mittelpunkt aller Geschehnisse sein muss. Eine sozialistische Republik, angepasst den Veränderungen der Zeit und den Bedürfnissen der Bürger. Nichts ist daraus geworden. Wir sind auf einem falschen Weg. Mit Gewalt versucht die Partei dem Bürger Glück zu bringen. Das dauernde Gerede von Planerfüllung und wissenschaftlich begründetem Fortschritt. Ich kann es nicht mehr hören. Ich habe mich mit dem Genossen Kreisvorsitzenden auseinandergesetzt. Er hat mich als Abweichler beschimpft, mir klar gemacht, ich hätte die neue Zeit nicht verstanden. Ferner hat er mir geraten meine Meinung für mich zu behalten. Meine politische Vergangenheit hat mich sicherlich vor Schwierigkeiten bewahrt. Das, mein Junge, sind einige Gründe, diesem Regime keine Zukunft zu geben.“
Nach einer langen Pause fuhr er fort: „Ich verlange keine Zustimmung von dir. Nur Erlebtes birgt Wahrhaftigkeit in sich. Auch in den Jahren der Weimarer Republik gab es diese Apparatschiks, die nichts als Worthülsen von sich gaben. Viele dieser geschwätzigen Kreaturen konnte man später in den Reihen der SA wiederfinden. Wir Arbeiter mochten sie nicht. Ich war damals so alt wie du und ich hatte nur die Möglichkeit, in der Illegalität etwas für die Partei zu tun, den Kampf für eine bessere Zeit im Untergrund zu führen.“
Keller sagte nichts, er saß nachdenklich auf der alten Couch und beobachtete die brennenden Kerzen des Weihnachtsbaums.
„Ich glaube schon an die Lehren von Marx und Engels, ich meine, unsere Gesellschaft braucht Zeit, um diese einmaligen Vorhaben zu realisieren.“
Er sagte noch mehr über die Vorzüge des Sozialismus und es klang furchtbar ungeübt. Sein Vater machte eine nachsichtige Handbewegung. Er wollte das Thema beenden.
Es war dunkel geworden, der Wintertag ging zu Ende. Nur ein paar vereinzelte Schneeflocken trudelten langsam zu Boden. Sie wollten noch einen abendlichen Spaziergang in die Stadt machen.
Der Vater hatte sich bei seinem Sohn eingehängt. Die beiden schlenderten durch stille Straßen. Die Häuser hatten alle ein weißes Kleid angelegt und verbargen ihre hässlichen Fassaden. Vor dem Kulturhaus stand ein kläglicher Weihnachtsbaum. Die großen Fenster waren dunkle Flächen. Hier war alles verlassen und leer. Keller hatte den Kragen des Mantels hochgeschlagen, während er seinem Vater stützend auf den matschigen Gehwegen weiterhalf. Hier und da blieb man stehen, um sich die bescheidenen Schaufensterauslagen anzuschauen. Nur wenige Passanten waren zu sehen, man ging nach Hause. Inzwischen war seine Frau mit den Kindern auch angekommen. Es sollte ein gemütliches Weihnachtsfest werden.
Die Rückfahrt mit dem Zug, nach Ostberlin, gab ihm Zeit, über einiges nachzudenken. Es brauchte Geduld und Mühe, denn nach den Feiertagen waren die Waggons überfüllt. Die Kellers hatten Glück, gleich Sitzplätze gefunden zu haben. Der Zug rollte durch die winterliche Landschaft, mit brachliegenden, leicht hügeligen LPG-Flächen. Kleine Dörfer mit großen Stallungen für Nutztiere aller Art. Kirchtürme, die auftauchten und wieder verschwanden. In der Ferne sah man Industrieanlagen mit hohen Schornsteinen.
Der Zug kam mit Verspätung in Ostberlin an. Hier regnete es und über der Stadt lag grauer, tief hängender Nebel. Sie gingen schnell nach Hause.
Wenn Hauptmann Keller aus dem Fenster schaute, hatte er einen weiten Blick über die Dächer von Ostberlin. Selbst die Stasizentrale konnte er erkennen. Die Wohnung im obersten Stockwerk war sehr geräumig und wurde nur an privilegierte Mitarbeiter vergeben. Er war es gewohnt, in vielen Dingen bevorzugt zu werden, ohne dass er viel darüber nachdachte. Die Wohnung war im Mobiliar Durchschnitt. Nur die Musikanlage stammte aus dem Westen. Die Einkäufer der MfS-Größen kauften regelmäßig in Westberlin, und mit etwas Glück konnte man, natürlich in Ostmark, seltene und teure Gerätschaften erstehen.
Keller hatte seinen Weg bei der Stasi gemacht. Es gab einige Dinge in der Wohnung, die einen Musikliebhaber und Bücherfreund vermuten ließen. Darunter waren Klassiker des 19. Jahrhunderts in sehr schönen DDR-Ausgaben. Politisch-ideologische Standardwerke waren nicht zu finden. In der Musik war die Klassik gut vertreten.
Kellers Werdegang beim MfS war sehr gut für ihn verlaufen. Sein Arbeitsbereich hatte sich erweitert. Immer weiter reichende Verantwortungsbereiche wurden ihm anvertraut. Überwachung der Personen an der Mauer, Beobachtungsaufgaben an der Grenze und Sondereinsätze während der Leipziger Messe waren einige Bereiche seiner Arbeit. Er war turnusgemäß befördert worden. Er hatte sein eigenes Büro, was ihm zusätzliche Selbstständigkeit und einen gewissen Freiraum ermöglichte. Er stand nicht dauernd unter Beobachtung seiner Kollegen. Der Aufbau der Stasi brachte einige unerfreuliche Dinge mit sich. Das soziale Umfeld war sehr eingleisig. Man lebte wie unter einer Dunstglocke. Feindbilder in überzogener Darstellung waren eine erhebliche Belastung. Sie hatten mit der Wirklichkeit nichts zu tun.