Die Flut - Arno Strobel - E-Book
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Die Flut E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Es ist NACHT, sie sind am Strand, HILFLOS, ihm AUSGELIEFERT, sie können sich nicht befreien, und dann kommt Die Flut … Zwei Pärchen machen Urlaub auf Amrum. In dieser Zeit geschehen grausame Morde. Ein Superintelligenter ist am Werk, um nicht nur den perfekten Mord, sondern die "perfekte Mordserie" zu begehen. Er entführt Paare und vergräbt nachts bei Ebbe die Frau bis zum Hals im Sand. Den Mann bindet er an einen Pfahl in der Nähe fest, so dass er dabei zusehen muss, wenn seine Frau bei Flut langsam ertrinkt. Die beschauliche Insel Amrum hat er sich ausgesucht, weil dort normalerweise nie etwas passiert und ihm die entsprechenden Schlagzeilen sicher sind. Das ist es, was er möchte. Die ganze Welt soll erfahren, wie clever er ist. Und es sieht so aus, als hätte er damit Erfolg …

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Seitenzahl: 375

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Arno Strobel

Die Flut

Psychothriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Julia hat sich sehr auf die Auszeit mit Michael auf Amrum gefreut, auch wenn die Insel im November eher unwirtlich ist und Michael seinem Kollegen Andreas versprochen hat, ihm beim Ausbau des Dachbodens des Ferienhauses zu helfen. Doch dann geschieht eines Nachts ein grausamer Mord am Strand und durchbricht jäh die Inselidylle. Der Mörder hat ein junges Paar entführt, betäubt, es an den Strand gebracht, die Frau im Sand vergraben, den Mann in der Nähe festgebunden. Dann hat er gewartet. Bis die Flut kommt. Und die Frau qualvoll ertrinkt. Und ihr Mann dabei zusehen muss, ohne ihr helfen zu können. Die Inselbewohner sind geschockt. Die Polizei vor Ort setzt sofort alles daran, den Täter zu stellen, und Hauptkommissar Harmsen wird von Flensburg nach Amrum beordert, um die Ermittlungen zu leiten. Aber darauf hat der Mörder nur gewartet. Denn er hat den perfekten Plan. Und bereits weitere Opfer im Visier.

Julia und Michael denken zur gleichen Zeit darüber nach, abzureisen. Aber sie entschließen sich dagegen. Ein Fehler, wie sich bald herausstellen wird …

 

»Nach der letzten Seite braucht man einen doppelten Whiskey – und an Schlaf ist trotzdem nicht zu denken.« Stern

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Die Intelligenz ist ein Geschenk des Teufels.

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij

Prolog

Schon früh fiel seinen Eltern seine überdurchschnittliche Auffassungsgabe auf. Mit vier Jahren konnte er lesen und schreiben, ein Jahr später interessierte er sich zum ersten Mal für die Angabe der chemischen Zusammensetzung von Mineralwasser auf dem Flaschenetikett.

Seinem Vater rechnete er nach jedem Besuch an der Tankstelle vor, wie viele Liter er im laufenden Jahr getankt und wie viel er insgesamt dafür bezahlt hatte. Auf den Cent genau.

Zwei Wochen nach seiner Einschulung wurde er in die zweite Klasse versetzt, am Ende des gleichen Schuljahres übersprang er eine weitere Stufe und kam im Alter von sieben Jahren in die vierte Klasse.

Freunde fand er dort keine, er war seinen Mitschülern suspekt. Er sprach nicht viel, und wenn doch, waren es meist seltsame Dinge, die sie nicht verstanden. Seinen Eltern ging es zu diesem Zeitpunkt ähnlich.

Im darauffolgenden Jahr wechselte er auf das Gymnasium.

Etwa einen Monat nach Schulbeginn spürte er es zum ersten Mal.

Es war ein warmer Septembernachmittag, und er saß wie so oft auf der abschüssigen Wiese im Garten, starrte mit glasigem Blick in die Ferne und versuchte, die Gedanken zu ordnen, die sein Verstand in dicht aufeinanderfolgenden Schüben produzierte. Seine zwei Jahre jüngere Schwester Sarah war gerade eingeschult worden und saß hinter ihm auf der Terrasse an ihren Hausaufgaben.

Es war, als presse etwas Fremdartiges Gedanken aus seinem Verstand, die er nicht denken wollte. Sogar sein umfangreicher Wortschatz bot ihm keine Möglichkeit, genauer zu beschreiben, was er empfand. Nicht einmal für sich selbst. Diese Unzulänglichkeit machte ihn wütend, so sehr, dass er aufsprang, zu Sarah lief und ihr ohne Zögern seine geballte Kinderfaust ins Gesicht schlug.

Als Sarah blutend und kreischend zu ihrer Mutter rannte, fühlte er sich besser.

Seine Eltern standen der Situation ebenso fassungs- wie hilflos gegenüber. Wie so oft, wenn es um ihn ging. Sie gaben ihm eine Woche Hausarrest und drohten mit härteren Strafen, sollte etwas Ähnliches erneut vorkommen.

Monate später lockte er Sarah auf den Dachboden und versprach ihr ein Abenteuerspiel. Sie ließ sich die Hände von ihm hinter dem Rücken fesseln und den Mund mit einem breiten Paketklebeband zukleben. Selbst seiner Aufforderung, auf den bereitgestellten Stuhl zu steigen, kam sie noch freiwillig nach. Erst, als er die Schlinge vom Balken über ihr herabließ und ihr um den Hals legte, weiteten sich ihre Augen, doch da war es bereits zu spät. Er hatte das Seil schon so stramm gezogen, dass Sarah auf Zehenspitzen balancieren musste, um nicht stranguliert zu werden.

Seine Mutter fand ihn zwanzig Minuten später reglos vor dem Stuhl auf dem Boden sitzend. Fasziniert betrachtete er die panisch aufgerissenen Augen seiner kleinen Schwester, während die Kraft sie mehr und mehr verließ und der Strick ihr immer mehr die Luft abdrückte.

Seiner hysterisch schreienden Mutter erklärte er sachlich, dass es nichts mit Sarah zu tun hatte und es ihm nur darum gegangen war, zu sehen, wie ein Mensch aussieht, der Todesangst empfand. Es nutzte nichts. Am nächsten Tag schleppte sein Vater ihn zu einem Kinderpsychiater.

Er durchschaute schnell das simple System hinter den Fragen, die der Mann ihm heuchlerisch freundlich stellte, und ließ ihn das durch seine Antworten auch spüren.

Der sichtlich irritierte Arzt empfahl seinen Eltern dringend eine längerfristige Behandlung ihres Sohnes. Das gefiel ihm nicht, doch er ahnte, seine Intelligenz und seine Anpassungsfähigkeit würden ihn vor weiteren Konsequenzen bewahren, wenn er sie überlegt einsetzte.

Über einen Zeitraum von vier Monaten musste er einmal pro Woche zur Therapie. Danach attestierte der Psychologe seinen Eltern selbstgefällig, dass die schwierige Phase ihres Sohnes nun vorüber und er wieder absolut genesen sei.

Aus dieser Erfahrung hatte er gelernt. Zukünftig würde niemand mehr etwas von seinen Gedanken erfahren. Er wusste, er war allen überlegen, doch das würde er nun zu verbergen wissen.

Kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag übernahm das Fremdartige in ihm endgültig die Herrschaft über seinen Verstand.

1

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich mich sehr auf diese beiden Wochen freue?« Julia schaltete das Licht im Badezimmer aus und strahlte Michael an. Er legte das Buch beiseite und betrachtete sie lächelnd. Sie hatte ihre dunklen Haare unter einem rot-weißen Handtuchturban verborgen, der weiße Frotteebademantel war nur locker um ihren Körper geschlungen.

Dass Julia einige Pfunde mehr auf die Waage brachte als die klapprigen Magermodels, gefiel Michael gut. Zumindest wurde er nicht müde, ihr das zu beteuern, wenn sie wieder einmal feststellte, dass sie dringend abnehmen musste.

»Lange Spaziergänge bei Wind und Wetter, dick eingepackt in warme Sachen, gutes Essen, die Seele baumeln lassen …« Am Fußende des Bettes angekommen, stieg Julia auf die Matratze und kroch geschmeidig auf Händen und Knien weiter. Draußen prasselte der Regen in wütenden Böen gegen das Schlafzimmerfenster. Die Unwirtlichkeit jenseits der Mauer ließ die Wärme des Schlafzimmers noch um einiges gemütlicher erscheinen. Als ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren, fügte sie gurrend hinzu: »Und noch andere Dinge.«

Michael küsste sie und zog sie lächelnd an sich. »Vergiss aber nicht, dass ich auf Amrum auch arbeiten muss.«

Julia hob den Kopf und zog die Stirn kraus. »Ich habe mit keinem Wort erwähnt, dass du bei diesen wundervollen Erlebnissen dabei sein wirst.« Beide lachten und umarmten sich wieder.

Sie hatten sich rund drei Jahre zuvor in einer Kneipe kennengelernt. Ein halbes Jahr später war Michael zu Julia in ihre geräumige Wohnung gezogen.

Etwa zur gleichen Zeit hatte er nach fünfjähriger Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Uni eine Stelle in einem Institut für Bioinformatik und Systembiologie angenommen, wo er sich seitdem mit der Analyse genomischer Resequenzierungsdaten beschäftigte. Julia wusste von Michael, dass seine Arbeit unter anderem für die züchterische Verbesserung von Nutztieren wichtig sein konnte. Den Versuch, zu begreifen, was genau das bedeutete, hatte sie aber irgendwann aufgegeben.

Der bevorstehende Urlaub auf Amrum war durch Michaels Kollegen Dr. Andreas Wagener zustande gekommen. Michael hatte den Mittdreißiger zuvor erst einige Male gesehen, kannte aber wie jeder Mitarbeiter des Instituts seinen Namen. Wagener konnte in der Diabetesforschung einige beachtliche Erfolge vorweisen, die selbst in den Vereinigten Staaten für Aufsehen unter den Wissenschaftlern gesorgt hatten.

Wie Julia von Michael wusste, hatten die beiden sich Ende Juni dann beim Essen zufällig gegenübergesessen und waren ins Plaudern gekommen. Dabei hatte Wagener nebenbei erwähnt, dass er sich auf seinen Urlaub freue, der am nächsten Tag beginnen würde. Auf Michaels höfliche Nachfrage, ob er denn verreisen werde, erfuhr er, dass Wagener gemeinsam mit seiner Frau zwei Wochen auf Amrum verbringen werde. Seinen Eltern gehörte dort ein Haus.

Michael erwähnte, dass er noch nie auf einer der deutschen Inseln gewesen war, woraufhin Wagener erklärte, während der Ferienzeiten sei das Haus fast immer belegt, aber wenn er mal in der Nebensaison dorthin wolle, wäre das kein Problem. Seine Eltern würden das Haus zwar nicht an Fremde vermieten, aber Michael sei ja schließlich ein Kollege.

Am Abend erzählte er Julia von der Begegnung. Sie war sofort begeistert von der Idee, aber Michael hatte abgewinkt. Spontane Vorschläge von Leuten, die man kaum kannte, stellten sich seiner Erfahrung nach meist als Höflichkeitsfloskeln heraus, die schnell relativiert würden, wenn man tatsächlich darauf zurückkam.

Anfang Oktober war Andreas Wagener dann überraschend an Michaels Laborarbeitsplatz aufgetaucht und hatte verkündet, er würde mit seiner Frau die zweite und dritte Novemberwoche wieder auf der Insel verbringen. Wenn sie Lust hätten, könnten er und Julia gerne mitkommen. Im Gegenzug könne er ihm dabei helfen, den Dachboden des Hauses weiter auszubauen.

Julia war ihm begeistert um den Hals gefallen, als sie davon erfuhr. Sie liebte das raue Klima der Nordsee, und nachdem wenige Tage später ihr Urlaubsantrag in der Bank genehmigt war, sagten sie zu.

Zwei Wochen vor dem geplanten Start hatten sie sich mit Andreas Wagener und seiner Frau Martina zum Essen getroffen, um sich ein wenig kennenzulernen. Julia fand Martina zwar etwas gewöhnungsbedürftig, doch letztendlich konnte sie das nicht davon abhalten, sich auf den Urlaub zu freuen. Sie würden auf der Insel sicher genug Gelegenheit finden, Zeit allein zu verbringen.

Nun sollte es am nächsten Morgen losgehen.

»Was denkst du über Andreas?«, fragte Julia unvermittelt und richtete sich ein wenig auf.

»Er ist ein genialer Wissenschaftler. Seine Forschungsergebnisse im Bereich …«

»Das meinte ich nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich meinte: Was hältst du von ihm als Mensch?«

Michael zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich kenne ihn außerhalb des Instituts kaum. Er ist höflich und recht umgänglich, das hast du ja vor zwei Wochen selbst feststellen können. Aber sonst …« Er beugte sich ein Stück nach vorn und gab Julia einen Kuss auf die Nase. »Wir müssen uns überraschen lassen.«

Julia kräuselte die Nase und rieb mit zwei Fingern über die Stelle, die Michael geküsst hatte. »Seine Frau ist seltsam.«

»Ja, sie spricht nicht viel. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil wir uns noch nicht kennen. Wer weiß, ob aus der stillen Martina nicht eine entsetzliche Plaudertasche wird, wenn sie aufgetaut ist.«

»Was die Frage aufwirft, warum sie uns überhaupt in das Haus mitnehmen.«

»Vielleicht hat Andreas einfach keine Lust, die anstehenden Arbeiten auf dem Dachboden allein anzugehen. Ich finde, über solche Dinge brauchen wir uns keine Gedanken zu machen.«

»Ja, du hast recht.« Julia seufzte und kuschelte sich wieder in Michaels Arm. »Letztendlich ist es egal. Ich freue mich jedenfalls sehr auf diese beiden Wochen. Du auch?«

Michaels Blick war an ihr vorbei gerichtet.

»Worüber denkst du nach?«

»Ach, nichts Besonderes.«

»Und? Freust du dich?«

»Und wie«, antwortete er und küsste sie auf die Stirn.

2

Der Mann schlendert den schmalen Weg am äußeren Ende von Norddorf entlang wie ein Spaziergänger. Die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf eingezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen, um das Gesicht vor dem schneidenden Wind zu schützen.

Nur wenige der Ferienhäuser am Fuße der ausgedehnten Dünen sind belegt. Um diese Jahreszeit ist die Anziehungskraft der Insel nicht allzu groß. Zu kalt, zu nass, keine Ferienzeit. Ihm ist es recht. Mehr noch, es spielt ihm in die Karten.

In seinem Kopf herrscht die gewohnte Betriebsamkeit. Mit spielerischer Leichtigkeit verarbeitet sein Gehirn die Masse an Daten, die seine Sinne ihm liefern, als wäre er an Dutzende sensible Messinstrumente angeschlossen. Nicht eine einzige Kleinigkeit entgeht ihm, scheint sie auch noch so unbedeutend. Sein Blick scannt die Umgebung wie eine Kamera. Rundumfotos im Sekundentakt. Und jede einzelne dieser imaginären Aufnahmen wird später für ihn abrufbar sein.

Das Paar geht engumschlungen etwa hundert Meter vor ihm. Als es in einen der kleinen Vorgärten abbiegt, bleibt er stehen und nestelt angelegentlich an seinem Mantel herum.

Die beiden sind ihm am Strand aufgefallen, wo sie dicht aneinandergedrängt den stürmischen Windböen trotzten. Ihre Gesichter hat er nicht erkennen können. Erst als sie sich voneinander gelöst und den Weg Richtung Dünen eingeschlagen haben, konnte er sie anhand ihrer geschmeidigen Bewegungen als relativ jung einstufen. Er ist ihnen gefolgt bis zu diesen Ferienhäusern. Bisher stimmt alles.

Während er sich mit vorgebeugtem Kopf noch immer an den Knöpfen des Mantels zu schaffen macht, ist sein Blick unentwegt auf die beiden gerichtet. Sie erreichen die Eingangstür des verklinkerten Hauses. Sekunden später schließt sie sich hinter ihnen.

Augenblicklich setzt er sich in Bewegung. Auf Höhe des Vorgartens bleibt er stehen, schaut sich wie zufällig um.

Er ist allein. Zwei große, gardinenlose Fenster an der Vorderfront erlauben den Blick ins Innere des Hauses. Im Raum hinter dem rechten Fenster brennt Licht. Er nimmt eine Bewegung wahr, kann aber keine Einzelheiten erkennen.

Einen Moment lang spielt sein Verstand mögliche Szenarien und seine Reaktion darauf durch, dann betritt er den kurzen Weg, der zum Eingang führt. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen und starrt auf die Menschen im Inneren des Hauses. Sie sind zu viert. Ohne Zögern wendet er sich ab und verlässt das Grundstück. Abgehakt.

Am Ende der kleinen Straße biegt er links ab. Ein Hund kommt geduckt auf ihn zugelaufen. Ein Mischling, nicht übermäßig groß. Der Wind zerrt zornig an seinem verfilzten Fell. Das Tier läuft nur Zentimeter an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen.

Es gestaltet sich kompliziert, die passenden Probanden zu finden. Schwieriger als gedacht. Er hebt den Arm und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Zeit, umzukehren.

An das Paar, das er gerade noch verfolgt hat, verschwendet er keinen Gedanken mehr. Es wird ihm nicht von Nutzen sein.

Hinter einem reetgedeckten Gebäude biegt er in eine schmale Straße ein, die ihn wieder zu den Dünen bringt. Es ist wichtig, dass er in der Nähe der Dünen bleibt.

Er hat fast das Ende des Weges erreicht, als schräg vor ihm ein Mann und eine Frau aus einem freistehenden Haus treten. Es ist das letzte in der Straße. Er weiß, dass es sich dabei ebenfalls um ein Feriendomizil handelt. Gleich dahinter beginnen die Dünen.

Die beiden sind Mitte bis Ende zwanzig. Sie lachen überrascht auf, als der Wind ihnen so heftig entgegenschlägt, dass sie ins Torkeln kommen. Schnell greift der Mann nach der Hand seiner Begleiterin und zieht sie mit sich. Schon nach wenigen Metern bleiben sie jedoch wieder stehen. Küssen sich ausdauernd.

Der Mann verlangsamt seine Schritte, doch die beiden machen keine Anstalten weiterzugehen. Erst, als er schon fast auf gleicher Höhe mit ihnen ist, lösen sie sich endlich voneinander, biegen in die Querstraße ein und verschwinden aus seinem Blickfeld.

Ohne Hast wechselt er die Straßenseite, geht zum Eingang des Hauses, aus dem die beiden gekommen waren, drückt auf den Klingelknopf. Nichts. Er geht um das Haus herum in den Garten und blickt durch die verglaste Terrassentür. Niemand da. Auch hinter dem kleineren Fenster daneben regt sich nichts.

Das gefällt ihm. Schnell schaut er sich auf dem Grundstück um, registriert jede Gegebenheit und macht sich wieder auf den Weg zur Vorderseite des Hauses. Zurück an der Eingangstür, klingelt er erneut, mit dem gleichen Ergebnis wie beim ersten Versuch. Gut. Sehr gut.

Er wendet sich ab und marschiert in die Richtung los, die auch die beiden eingeschlagen haben.

Es dauert nicht lang, bis er sie wieder vor sich sieht. Sie gehen auf den Norddorfer Supermarkt zu und sind kurz danach darin verschwunden.

Er lehnt sich an eine Mauer gleich neben dem Eingang. Wartet.

Es geht schnell. Schon nach wenigen Minuten tauchen die beiden wieder auf. Der Mann hat eine kleine Tüte mit dem Logo des Geschäftes in der Hand. Sie gehen so dicht an ihm vorbei, dass er sie mit ausgestrecktem Arm berühren könnte. Er folgt ihnen in einigem Abstand, wobei er zweimal stehen bleiben und warten muss, weil sie sich wieder küssen.

Als sie die Tür des Hauses hinter sich geschlossen haben, sieht er sich ein weiteres Mal die Umgebung an. Er ist verhalten zufrieden. Wenn sich nicht doch noch herausstellt, dass es weitere Personen in dem Haus gibt, ist er einen wichtigen Schritt vorwärtsgekommen.

Dann hat er seine Kandidaten gefunden.

3

Julia stellte die Kaffeetasse auf der Kommode neben der Garderobe ab, griff nach ihrer dicken Jacke und streifte sie über. Die Tasse wieder in der Hand, öffnete sie behutsam die Haustür und zog sie hinter sich so weit zu, dass sie angelehnt war.

Die anderen schliefen noch. Die Terrassentür klemmte und machte beim Öffnen einen ziemlichen Lärm, also hatte sie den Hauseingang genommen.

Zum ersten Mal, seit sie vier Tage zuvor angekommen waren, hatte der Wind etwas nachgelassen. Der Himmel war jedoch noch immer wolkenverhangen. Und es war kalt. Dampf stieg aus ihrer Kaffeetasse auf wie ein Flaschengeist und verlor sich nach wenigen Zentimetern in der diesigen Morgenluft. Julia zog die Schultern hoch. Zumindest regnete es nicht.

Bereits als sie seitlich zwischen dem Haus und dem Schuppen mit der kleinen Segeljolle vorbeiging, sah sie die unglaubliche Dünenlandschaft vor sich. Nebelschwaden waberten in den Mulden zwischen den mit Gräsern und niedrigen Büschen bewachsenen Sandhügeln. Hier und da stachen die Spitzen einzelner Halme aus dem milchigen Dunst, bogen sich in den leichten Böen, als winkten sie ihr zu, und reckten sich im nächsten Moment wieder den grauen Wolken entgegen. Ein Holzsteg schlängelte sich durch die Szenerie wie ein gleichmäßig schmaler Bach. Wenn man ihm folgte, kam man irgendwann zum Strand.

Julia erreichte die Terrasse aus hellen Steinplatten, an die sich die Grasfläche des kleinen Gartens anschloss. An den äußeren Rändern ging der Rasen nahtlos in den hellen Dünensand über.

Neben der doppelflügeligen Terrassentür kauerte sie sich auf die verwitterte Holzbank und umschloss ihre Tasse mit beiden Händen. Sie genoss es, von dieser grandiosen Natur umgeben zu sein, auch wenn sie sie in diesem Moment an alte Hitchcock-Filme erinnerte. Und sie genoss die Ruhe, mit einem Rascheln aus den im Wind tanzenden Grashalmen unterlegt, nur hier und da vom ungehaltenen Schrei einer Möwe durchschnitten.

Von ihrem Platz aus konnte Julia das Haus der Feldmanns sehen. Es stand etwa hundertfünfzig Meter entfernt fast auf gleicher Höhe. Den einzigen Kontakt zu den Nachbarn hatten sie bisher an ihrem zweiten Tag auf der Insel mit Udo Feldmann gehabt. Michael und Andreas arbeiteten seit dem Morgen am Dachstuhl und hatten gerade ihre ausgedehnte Mittagspause beendet. Um kurz vor drei stand plötzlich Feldmann vor der Tür und stellte sich knapp vor. Julias freundliche Begrüßung ignorierte er ebenso wie ihre Einladung, ins Haus zu kommen. Er sei nicht zu einem Kaffeekränzchen da, erklärte er in belehrendem Tonfall, sondern weil er sie auffordere, sofort mit dem Gehämmer aufzuhören. Es gäbe eine Amtsverordnung, die man ja schließlich nicht zum Spaß erlassen habe. Diese Verordnung beinhalte das Verbot der Inbetriebnahme von lärmverursachenden Geräten und Maschinen im privaten und gewerblichen Bereich sowie lärmerzeugender Arbeiten zwischen zwanzig und acht Uhr und dreizehn und fünfzehn Uhr. Und es sei noch nicht fünfzehn Uhr.

Julia war von diesem Wortschwall vollkommen überrumpelt worden. Bevor sie auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte Feldmann sich schon abgewandt und war wieder neben dem Haus verschwunden.

Beim Abendessen hatte Andreas ihnen dann erzählt, Feldmann sei Lehrer für Mathematik und Physik an einem Kieler Gymnasium gewesen. Warum er frühzeitig aus dem Schuldienst entlassen worden war, wusste niemand so genau, aber auf der Insel wurde gemunkelt, er habe nach einer Provokation die Nerven verloren und einen Schüler geschlagen.

Martina hatte Andreas’ Bericht mit teilnahmsloser Miene zugehört, so, wie sie es meistens tat.

Julia nahm einen großen Schluck Kaffee. Er war nur noch lauwarm und schmeckte entsprechend. Ihre Gedanken blieben bei Martina, mit der sie einfach nicht warm wurde. Die 36-Jährige beteiligte sich kaum an Gesprächen, lachte so gut wie nie. Wenn sie sich hier und da zu einer Bemerkung hinreißen ließ, so troff diese meist vor Zynismus.

Vielleicht hing das ja mit den Blicken zusammen, mit denen Andreas Julia manchmal ansah, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht? Waren sie Martina ebenso aufgefallen wie ihr selbst?

Julia hatte schon daran gedacht, mit Michael darüber zu sprechen, es dann aber wieder verworfen. Sie wollte keine schlechte Stimmung verbreiten. Es war ja möglich, dass sie sich das alles nur einbildete. Und selbst wenn nicht – vielleicht hatte Andreas sich einfach ein bisschen in sie verguckt. Letztendlich war das nicht ihr Problem.

Als Julia wieder zum Nachbarhaus hinübersah, stand Udo Feldmann am Zaun. Er trug einen dunklen Bademantel und hatte sich ihr zugewandt. Der leichte Nebel umspielte seine Gestalt und verlieh ihm ein fast geisterhaftes Aussehen. Julia konnte es auf die Entfernung nicht genau erkennen, aber es schien, als starre er sie an. Ein kalter Schauer huschte über ihren Rücken, als sie sich fragte, wie lang er wohl schon da stand.

Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte, und entschloss sich schließlich für den Angriff als beste Verteidigung. Mit erhobenem Arm winkte sie zu Feldmann hinüber, verkniff sich aber, ihm einen guten Morgen zuzurufen. Die Einzigen, die das gehört hätten, wären wahrscheinlich Michael, Andreas und Martina gewesen.

Feldmann stand noch zwei, drei Atemzüge lang bewegungslos da, dann wandte er sich ab und verschwand im Haus, ohne ihren Gruß zu erwidern.

»Ist er nicht ein ausgesprochen netter Zeitgenosse?«

Julia fuhr herum und sah sich Andreas gegenüber, der ihr aus der geöffneten Terrassentür entgegenlächelte. Er trug Jogginghose und Sweatshirt. Die dunklen Haare lagen nassglänzend eng am Kopf, die Wangen wirkten frisch rasiert, seine Augen wach und aufmerksam.

»Gott, hast du mich erschreckt. Ich habe gar nicht gehört, dass du die Tür geöffnet hast. Wie hast du sie so leise aufbekommen?«

Andreas zuckte mit den Schultern. »Angewandte Physik. Man muss sie nur ein wenig anheben, denn klemmt sie nicht mehr.«

Julia versuchte, einen Blick an ihm vorbei ins Innere zu werfen. »Sind die anderen auch schon wach?«

Statt zu antworten, sah Andreas sie nur an. Vordergründig freundlich und doch mit einer unangenehmen Intensität, als versuche er, ihre intimsten Gedanken zu lesen.

»Andreas?«

»Martina schläft noch. Und aus dem Zimmer, das ihr bewohnt, ist auch kein Geräusch zu hören. Wir sind noch allein.«

Das Lächeln, das seinen letzten Satz begleitete, sein unverwandter, forschender Blick – all das weckte in Julia den Wunsch, aus seiner Gesellschaft zu fliehen. »Ich denke, ich gehe trotzdem mal rein und mache Frühstück.«

Sie wollte sich in Bewegung setzen, zögerte jedoch, als Andreas keine Anstalten machte, den Eingang freizugeben.

»Ich habe eine bessere Idee. Was hältst du von einem kleinen Spaziergang zum Strand? Ein wenig durch die Dünen schlendern und die Natur genießen. Ich tue das öfter, wenn ich hier bin, und ich kann dir versichern, es ist ein Genuss. In einer halben Stunde sind wir zurück.«

Als Julia nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Bis dahin sind vielleicht auch die beiden Langschläfer dort drinnen wach.«

Die Vorstellung, mit Andreas durch die morgendliche Einsamkeit der weitläufigen Dünenlandschaft zu spazieren, widerstrebte Julia zutiefst.

»So früh am Morgen ist Bewegung Gift für mich«, log sie. »Da dümpelt mein Kreislauf noch im Sparmodus.«

»Das ist außerordentlich schade.« Ein Schatten der Enttäuschung huschte über Andreas’ Gesicht, doch schon Sekunden später hellte sich seine Miene wieder auf.

»Ich habe noch einen weiteren Vorschlag: Nicht weit von hier gibt es ein kleines Hotel, etwa eine viertel Stunde zu Fuß. Ich glaube, ich habe euch bereits davon erzählt. Der Besitzer macht ein wirklich ausgezeichnetes Frühstück. Werfen wir die anderen doch aus den Betten und spazieren gemeinsam dorthin. Was meinst du?« Er lächelte sie erwartungsvoll an, und Julia stellte erleichtert fest, dass in seinen Augen dabei nichts anderes als Vorfreude stand. Hatte sie ihm Unrecht getan und sich diesen seltsamen Blick zuvor nur eingebildet? Oder hatte er ihren Unwillen bemerkt und machte nun den erhofften Rückzieher? »Na, einverstanden?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Lassen wir uns verwöhnen.«

Eine halbe Stunde später saßen sie zu viert an einem Tisch im Kleinen Strandhotel und warteten auf das Frühstück, das sie sich aus dem reichhaltigen Angebot zusammengestellt hatten.

»Gutbesucht«, bemerkte Michael und sah sich in dem gemütlich eingerichteten Restaurant um. Die meisten der etwa zehn Tische waren besetzt.

»Ja«, stimmte Andreas ihm zu. »Wenn man bedenkt, dass um diese Jahreszeit nur wenige Gäste auf der Insel sind, ist es schon beachtlich, wie viele den Weg hierher finden.«

Auf einem großen Tablett brachte ein leicht untersetzter Enddreißiger ihren Kaffee und zwei Körbe mit Brötchen und stellte alles auf dem Tisch ab. Andreas deutete mit dem Kinn zu ihm hin. »Seit Benno das Hotel vor zwei Jahren übernommen hat, läuft es ganz ausgezeichnet.«

Benno stieß ein kurzes Lachen aus. »Na ja, was man so ausgezeichnet nennt. Aber immerhin lassen sich ab und zu sogar Einheimische hier blicken. Das will was heißen.«

Ein weiteres gutgefülltes Tablett wurde von einer schwarzhaarigen Frau an ihren Tisch gebracht.

»Hallo, schön, euch mal wieder zu sehen«, sagte sie lächelnd und legte Andreas eine Hand auf die Schulter. Julia registrierte den Blick, mit dem Benno die Geste beobachtete. Auch die Frau schien ihn zu bemerken und zog die Hand schnell wieder zurück.

Andreas nickte. »Ja, wir freuen uns auch schon seit Wochen darauf. Darf ich euch Michael und Julia vorstellen? Sie sind zum ersten Mal auf Amrum.« Und an Michael gewandt, fuhr er fort: »Das ist Katja, Bennos Frau. Sie ist Grundschullehrerin auf der Insel und eine echte Sportskanone. In den Sommerferien gibt sie Segel- und Surfunterricht. Und wie ihr seht, hilft sie außerdem hier im Restaurant.«

Katja nickte ihnen zu. »Freut mich, euch kennenzulernen. Wie gefällt es euch hier?«

»Kalt und nass, aber wunderschön«, erklärte Julia und lächelte die Frau an. Katja war ihr auf Anhieb sympathisch. Sie wirkte offen und hatte ein erfrischendes Lächeln.

»Dann wünsche ich euch noch eine schöne Zeit. Ihr kommt doch sicher mal zum Essen?«

»Sehr gerne.«

»Vielleicht schon heute Abend? Da gibt es unsere Spezialität: Salzwiesenlamm.«

Julia hatte nichts dagegen, sich nach dem Frühstück auch das Abendessen servieren zu lassen. Zudem würde die Abwechslung sicher ganz guttun, nachdem sie die ersten Abende im Ferienhaus verbracht hatten. Auch die anderen stimmten zu, also reservierten sie für den Abend.

Als Katja zusammen mit Benno den Tisch verließ, hörte Julia, wie er ihr zuzischte: »Musstest du ihn anfassen?«

»Ach herrje«, sagte Martina und stellte ihre Kaffeetasse ab. »Benno und seine Eifersucht.«

Sie hatte es also auch gehört.

»Was war denn?«, fragte Andreas, woraufhin Martina die Mundwinkel verächtlich nach unten zog. »Die böse Katja hat dir die Hand auf die Schulter gelegt. Nicht, dass du so etwas bemerken würdest. Allein schon deshalb ist es lächerlich, dass Benno ausgerechnet auf dich eifersüchtig ist.«

»Ich befürchte, Benno ist auf jeden eifersüchtig«, überspielte Andreas die Provokation und nahm vorsichtig einen Schluck des heißen Kaffees. »Eifersucht zeugt nicht gerade von herausragender Intelligenz. Ein überlegener Verstand lässt diese Art von unlogischen und überflüssigen Emotionen erst gar nicht zu.«

»Das sehe ich anders«, warf Michael ein.

»Ich denke, Eifersucht hat nichts mit mangelnder Intelligenz, sondern eher mit fehlendem Selbstbewusstsein zu tun. Einer extremen Verlustangst.«

Julia nickte dankbar zu ihm hinüber. Sie fand Eifersucht furchtbar, weil sie eine Partnerschaft zur Hölle machen konnte. Das wusste sie aus eigener Erfahrung in einer früheren Beziehung. Dass intelligente Menschen weniger eifersüchtig waren, hielt sie allerdings für ausgemachten Blödsinn.

Andreas hob die Schultern und ging nicht weiter darauf ein. Julia war es schon mehrfach aufgefallen, dass er häufig während Diskussionen plötzlich das Thema wechselte oder verstummte, vor allem, wenn Martina einen ihrer Kommentare eingebracht hatte.

Als sie nach dem Frühstück beschlossen, sich auf den Rückweg zu machen, stand Andreas auf und ging zur Theke, kam allerdings gleich darauf wieder zurück und fragte Michael, ob er ihm eventuell Geld leihen könne. Eigentlich wollte er sie zum Frühstück einladen, hätte aber gerade festgestellt, dass er vergessen habe, Geld einzustecken.

Michael hielt ihm lächelnd sein Portemonnaie entgegen.

»Kein Problem. Dann zahlst du eben das nächste Mal. Schau mal, da müsste genug Bargeld drin sein.«

Auf dem Rückweg machten sie einen Umweg und gingen am Strand entlang. Der immer präsente Wind zerrte an ihrer Kleidung und rauschte an ihren Ohren vorbei. Trotzdem genoss Julia die frische salzhaltige Luft.

Das Wasser kam gerade zurück und leckte mit seinen Vorboten der Flut in gleichmäßigem Rhythmus immer weiter über den feuchten Sand. Manchmal konnten sie nicht schnell genug ausweichen, dann wurden ihre Gummistiefel zentimeterhoch umspült.

Julia betrachtete das breite, flache Strandstück links von sich, in dem hier und da kleine Seen standen. Bald würde es bis auf einen schmalen Streifen überflutet sein. Sie wusste, das ging schneller, als man es vielleicht vermutete.

Sie liebte die Natur, aber sie hatte auch Respekt vor deren Macht.

4

Gleich nach ihrer Rückkehr zogen Michael und Andreas sich um und setzten ihre Arbeit am Dachstuhl fort.

Julia folgte ihnen nach ein paar Minuten, die Kamera im Anschlag. Sie hatte sich vorgenommen, eine Fotodokumentation von ihrem Aufenthalt und den Fortschritten beim Ausbau zu erstellen.

Die Männer waren dabei, den großen Raum unter dem Dach mit hölzernen Trennwänden zu unterteilen. Bis auf schmale Bereiche an den Seiten konnte man überall bequem stehen.

Als Julia die ersten Bilder schoss, verzog vor allem Michael das Gesicht zu grinsenden Fratzen und vollführte alberne Verrenkungen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, wenigstens ein paar vernünftige Fotos zustande zu bekommen, gab sie es schließlich kopfschüttelnd auf.

Martina saß in der Küche, die Ellbogen auf dem Tisch und das Kinn auf die ineinander verschränkten Hände gestützt. Ihr Blick war auf das Fenster gerichtet, aber Julia bezweifelte, dass sie etwas von dem wahrnahm, was dort draußen vor sich ging. Sie bemerkte Julia erst, als sie neben ihr stand.

»Ich mache mir einen Kaffee. Möchtest du auch einen?«

Martina schürzte die Lippen und nickte dann. »Ja, warum nicht.«

»Die beiden kommen gut voran«, erklärte Julia, während die Maschine mit gedämpftem Summen ihre Arbeit aufnahm. »Warst du überhaupt schon mal da oben, seit wir auf der Insel sind?«

»Nein.«

»Noch kein einziges Mal?« Julia stellte die Tasse mit dem dampfenden Kaffee vor Martina ab und sah sie verwundert an. »Interessiert dich das denn gar nicht? Es ist doch schließlich auch dein Haus.«

»Mein Haus?« Mit einem humorlosen Lachen griff Martina nach der Tasse. »Das Haus haben Andreas’ Eltern gebaut. Damit habe ich nichts zu tun. Ich komme aus einfachen Verhältnissen und habe nichts mit in die Ehe gebracht. Die beiden sorgen dafür, dass Andreas das nicht vergisst.«

Mittlerweile war auch der zweite Kaffee fertig, und Julia setzte sich ebenfalls an den Tisch.

»Wie auch immer, das Haus gehört eurer Familie. Ich wundere mich einfach, dass dich so gar nicht interessiert, was da oben vor sich geht.«

Ich wundere mich sowieso über einiges, was dich betrifft, hätte sie am liebsten hinzugefügt, verkniff es sich aber.

Eine Weile starrte Martina auf die Tasse, dann sagte sie, ohne den Blick abzuwenden: »Wir haben schon vor einiger Zeit aufgehört, uns dafür zu interessieren, was der andere tut.«

»Das klingt hart.«

»Hart? Das war es vielleicht am Anfang, als ich einsehen musste, dass mein Mann eigentlich nicht mit mir, sondern mit seinem Job verheiratet ist.«

Julia nickte. »Ich kenne das von Michael. Er schafft es manchmal auch nicht, abzuschalten, wenn er nach Hause kommt.«

Ein erneutes, kurzes Lachen. »Das ist der Punkt, er kommt immerhin nach Hause. Andreas taucht meistens erst auf, wenn ich schon im Bett liege. Ich warte schon lange nicht mehr auf ihn.«

Mit diesem Gesprächsverlauf hatte Julia nicht gerechnet. Andererseits war das vielleicht die Gelegenheit, herauszufinden, warum Martina sich oft so seltsam benahm.

Julia nahm sich vor, sie nicht zu bedrängen, aber das war auch gar nicht nötig. Martina sprach weiter, offenbar froh darüber, ihrer Frustration Luft machen zu können.

»Ich bin ein praktischer Bestandteil seines Lebens, kümmere mich um das Haus, erledige Papierkram, organisiere alles. Dafür bin ich finanziell abgesichert. Das ist der Deal.«

»Hat er das gesagt?«

»Nein, aber so ist es. Mittlerweile gehe ich allerdings oft abends weg, treffe mich mit Leuten.« Nun sah sie Julia direkt an. »Wir führen getrennte Leben. Andreas ist fast ausschließlich in der Firma, und ich habe dafür gesorgt, dass ich anderswo …« Sie unterbrach sich, und Julia hatte das deutliche Gefühl, ihr sei gerade bewusstgeworden, dass sie im Begriff war, einer fast Fremden sehr intime Dinge anzuvertrauen.

»Aber es gibt doch sicher auch Abende, die ihr gemeinsam verbringt?«

»Das vermeiden wir nach Möglichkeit beide. Es sei denn, wir sind irgendwo eingeladen oder haben Besuch. Das ist auch der Grund, warum Andreas euch gefragt hat, ob ihr mitkommen möchtet. Allein wäre ich nicht mit ihm hierhergefahren.«

Wenn es stimmte, was sie gerade gehört hatte – und aus einem nicht begründbaren Gefühl heraus spürte Julia, dass Martina ihr die Wahrheit sagte –, war das zwar wenig schmeichelhaft, doch letztendlich konnte es ihr egal sein. An einer engen Freundschaft mit den beiden hatte sie sowieso kein großes Interesse. Mit jeder Stunde weniger.

»Wir haben uns schon gewundert, dass wir von Andreas eingeladen wurden, obwohl wir uns kaum kennen.«

Martina winkte ab und stand auf. »Ist ja auch egal.« Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche und Sekunden später das Haus.

Julia dachte noch eine Weile über das Gespräch nach, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Einerseits hatte Martina ihr vollkommen unerwartet sehr private Dinge erzählt, die Unterhaltung andererseits aber abgebrochen, bevor ein wirkliches Gespräch zustande gekommen war. Na gut, es lohnte sich wohl kaum, sich tiefgehende Gedanken darüber zu machen. Nach dem Urlaub würden sie und die Wageners wahrscheinlich sowieso wieder getrennte Wege gehen.

Julia stellte die Tassen in die Spülmaschine, griff sich ihre Kamera und verließ die Küche. Sie wollte ein paar Fotos vom Haus und der direkten Umgebung machen. Eine gute halbe Stunde lang war sie unterwegs und schoss in der Zeit mindestens fünfzig Fotos. Zurück im Haus, schloss sie die Kamera an ihr Notebook an, kopierte die Aufnahmen und sah sie sich einzeln an.

Einige der Aufnahmen löschte sie sofort, andere würde sie ein wenig bearbeiten müssen. Viele waren aber auf Anhieb gut gelungen.

Nach einer Weile stieß sie auf ein mittelmäßiges Foto, das sie von den Dünen aus vom Haus gemacht hatte. Erst fiel ihr nichts Besonderes daran auf, doch als sie gerade weiterblättern wollte, entdeckte sie die Gestalt, die, halb verdeckt von einem Busch, ein Stück neben dem Haus stand und offensichtlich zu ihr herüberblickte.

Mit wenigen Klicks hatte sie den Bereich so weit vergrößert, dass sie erkennen konnte, wer es war: Udo Feldmann.

Sein Gesicht war bei der extremen Vergrößerung stark verpixelt, aber es bestand kein Zweifel daran, dass es sich um den Nachbarn handelte.

Ob er gerade unterwegs gewesen war, als Julia mit ihrer Kamera auftauchte, und sich versteckt hatte? Wollte er einfach nicht von ihr gesehen werden? Wie auch immer, der Anblick weckte ein seltsames Gefühl in ihr.

Als Julia weiterblätterte, verdichtete sich dieses Gefühl zu einem kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief.

An unterschiedlichen Stellen aufgenommen, was einen Zufall ausschloss, tauchte immer wieder Udo Feldmann auf. Mal deutlich erkennbar, mal nur als Schatten.

Nach dem letzten Foto klappte Julia das Notebook mit Schwung zu und starrte noch eine Weile auf den Deckel. Feldmann war ihr während ihrer kleinen Fototour gefolgt und hatte sie die ganze Zeit über beobachtet. Was war mit diesem Kerl los?

Sie nahm sich vor, später mit Michael darüber zu reden. Die nächste Zeit würde er aber sicher noch mit Andreas auf dem Dachboden zu tun haben. Martina war irgendwohin verschwunden, und Julia hatte keine Ahnung, wann sie wieder zurückkommen würde. Ein weiterer Spaziergang kam ebenfalls nicht in Frage, denn sie würde sich ständig nach dem Nachbarn umsehen.

Also ging sie ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und griff sich ihr Buch vom Nachttisch. Sie wollte sich ablenken, und das funktionierte beim Lesen immer sehr gut. Allerdings kam sie nicht sehr weit, bis ihr die Augen zufielen.

Als Michael sie weckte, war es bereits später Nachmittag. Julia brauchte eine Weile, um vollkommen wach zu werden, doch dann fielen ihr die Fotos ein. Sie sprang aus dem Bett und erzählte Michael von ihrer Entdeckung.

Er sah sich die Aufnahmen auf dem Notebook an und schüttelte den Kopf, nachdem er alle gesehen hatte, auf denen Feldmann abgebildet war. »Der Kerl ist schon ziemlich schräg. Wahrscheinlich macht es ihm einfach Spaß, andere aus einem Versteck heraus zu beobachten.«

Das sah Julia ein wenig anders. »Ich weiß nicht … mir kommt es fast so vor, als hätte er sich absichtlich so hingestellt, dass er auf den Fotos drauf sein würde.«

»Hm …«, machte Michael. »Das kann ich mir zwar kaum vorstellen, aber wenn du meinst … Ich werde mal mit Andreas darüber reden, der kennt ihn ja schon länger. Vielleicht spreche ich auch Feldmann direkt an. Wenn er weiß, dass er entdeckt worden ist, traut er sich vielleicht nicht mehr, das noch mal zu machen. Okay?«

Julia nickte. »Ja, gut. Irgendwie ist der Kerl mir echt unheimlich.«

Sie besprachen das Thema erst während des Abendessens im Kleinen Strandhotel, wo Andreas ihnen bestätigte, dass Feldmann sich manchmal äußerst merkwürdig benahm.

»Der Mann ist ein Spinner. Er ist mir schon des Öfteren unangenehm aufgefallen. Im Sommer habe ich ihn manchmal mit einer Kamera am Strand herumlaufen sehen. Ich möchte nicht wissen, was oder wen er sich als Objekte für seine Fotos aussucht. Wenn er meiner Frau derart nachgestellt hätte …«

»Hättest du es mit ziemlicher Sicherheit nicht mitbekommen«, fiel Martina ihm abfällig ins Wort. Wie meist ignorierte Andreas ihre Bemerkung und blieb weiterhin Michael zugewandt.

»Am besten wird es sein, wir gehen morgen zu ihm und zeigen ihm die Fotos. Ich bin äußerst gespannt auf seine Reaktion.«

Martina hob die Brauen. »Wir?«

»Selbstverständlich. Schließlich ist Feldmann unser Nachbar, und Michael und Julia sind unsere Gäste. Da ist es doch Ehrensache, dass ich mitkomme.«

Martina schüttelte nur schweigend den Kopf und rückte ein Stück zur Seite, als Katja das Essen brachte.

Julia ahnte, dass sie sich gerade die Frage stellte, ob Andreas den Nachbarn auch zur Rede stellen würde, wenn er nicht Julia, sondern ihr nachgeschlichen wäre.

Das Salzwiesenlamm schmeckte hervorragend, obwohl Julia Lammfleisch eigentlich nicht sehr mochte.

Von Udo Feldmann wurde nicht mehr gesprochen, was ihr ganz recht war. Vielleicht war er ihr einfach aus Neugierde gefolgt. Oder weil er insgeheim hoffte, dass sie gegen irgendwelche Regeln verstieß und er sie ein weiteres Mal zurechtweisen konnte. Das war eine Erklärung, mit der sie zumindest so lange gut leben konnte, bis Michael und Andreas mit Feldmann gesprochen hatten.

Als sie gegen einundzwanzig Uhr beschlossen, bald zurückzugehen, sah Michael plötzlich irritiert zu Julia hinüber. »Mein Portemonnaie ist nicht da.«

»Hast du es vielleicht zu Hause liegenlassen?«

»Nein, ich hatte es in dieser Hose, als wir heute Morgen hier waren, und …« Er stockte und sah zu Andreas.

»Ich habe es dir gegeben, weil du deines vergessen hattest.«

»Ja, stimmt.« Andreas hob die Schultern. »Aber ich habe es dir doch zurückgegeben.«

»Sicher? Ich kann mich nicht daran erinnern.«

Andreas sah Julia an, als erwarte er, dass sie sich dazu äußerte.

»Als ich von der Theke zurückkam. Ich habe mich bei dir bedankt und es vor dich auf den Tisch gelegt.«

Michaels Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern. Vielleicht habe ich es auch unbewusst eingesteckt und dann irgendwo verloren. Oder ich habe mich in dem Moment gerade unterhalten und es liegenlassen, als wir gegangen sind.«

Man konnte Andreas ansehen, wie unangenehm ihm die Situation war. »Das ist sehr bedauerlich. Aber ich habe es auf den Tisch gelegt, ganz sicher. Wir sollten Benno fragen, vielleicht hat es jemand gefunden und bei ihm abgegeben.«

Das konnte Julia sich nicht vorstellen, denn Benno hätte mit Sicherheit einen Blick ins Innere geworfen und Michaels Personalausweis gefunden, der in einem gesonderten Fach steckte.

Sie behielt recht. Weder Benno noch Katja wussten etwas von dem Portemonnaie. Nachdem Michael zum wiederholten Male alle Hosentaschen und auch die Taschen seiner Jacke überprüft hatte, beschlossen sie, den Rückweg mit Hilfe der Taschenlampen-Apps ihrer Smartphones abzusuchen.

Fünfundzwanzig Minuten später erreichten sie das Haus. Von Michaels Portemonnaie fehlte jede Spur.

5

Der Mann hat die große Kapuze seiner Jacke so weit ins Gesicht gezogen, dass ein Beobachter die Skimaske unmöglich sehen kann, die sein Gesicht verdeckt. Vor der Tür bleibt er stehen, legt ohne Zögern den Finger auf die Klingel. Er trägt Handschuhe.

Schritte, ein Klacken, dann schwingt die Tür nach innen auf. Jane. Er hat sie Jane genannt, Jane und John. Ihre wahren Namen interessieren ihn nicht.

Mit einer schnellen Bewegung liegt die Klinge seines Messers an Janes Hals. »Still«, zischt er ihr zu, als sie die Augen aufreißt, drückt die Klinge noch ein wenig fester gegen ihren Hals und zieht sie ein winziges Stück nach rechts. Ein hauchdünner roter Streifen entsteht unter dem Metall auf ihrer glatten Haut.

»Geh rein.« Er flüstert, obwohl es unnötig ist.

John sitzt auf der Couch. Als sie das Wohnzimmer betreten, rutscht ihm das Weinglas aus der Hand. Der rote Wein verteilt sich auf seiner Hose. John merkt es nicht. Wie paralysiert starrt er auf das Messer an Janes Hals. Bewegungslos, stumm. Sekundenlang. Dann richtet sich Johns Blick an die Augenschlitze der Skimaske, sein Mund öffnet sich. »Wer … wer sind Sie? Was wollen Sie?« Seine Stimme klingt heiser. Die Angst …

»In den Keller«, flüstert der Mann. »Geh voraus.«

John wird keine Schwierigkeiten machen. Das hat er in seinem Gesicht gesehen.

Zehn Minuten später sind die beiden mit Kabelbinder verschnürt. Jane sitzend an einem schweren, gusseisernen Ofen, John aufrecht stehend, die Hände über dem Kopf an ein Heizungsrohr gefesselt. Ihre Münder sind verklebt, die Augen ebenfalls.

Minuten später öffnet er die Terrassentür und drückt sie nur leicht gegen den Rahmen zurück. Im Flur zieht er wieder die Kapuze über den Kopf, dann verlässt er das Haus. An einer dunklen Stelle legt er die Skimaske ab und stopft sie in die Jackentasche.

Er versichert sich, dass die Sackkarre mit der leeren Mülltonne darauf hinter dem Holzhäuschen am Rand des Strandes steht und die zusammengelegte Plastikplane an ihrem Platz liegt, dann macht er sich auf den Rückweg.

Teil eins ist erledigt. Der nächste Teil folgt vier Stunden später.

Es ist mühsamer und dauert über eine halbe Stunde. Der Wind drückt so heftig gegen ihn, dass er manchmal einen Ausfallschritt machen muss, um nicht umzufallen.

Als er mit seiner Arbeit fertig ist, verlässt er den Strand und nimmt die Sackkarre mit. Ein Stück weiter stopft er die Plane in die Tonne und setzt dann seinen Weg fort. Die großen Gummireifen drehen sich fast geräuschlos. Er fühlt sich gut.

Fünfzig Meter vor dem Haus hält er an, fingert an der Mülltonne herum und überprüft dabei die Umgebung. Alles ruhig. Er geht seitlich am Haus vorbei, stellt die Karre auf der Terrasse ab.

Bevor er die Tür öffnet, hält er den Atem an und lauscht konzentriert in die Dunkelheit. Vor der Kellertreppe bleibt er stehen, zieht eine Stirnlampe aus der Jackentasche, schaltet sie ein und wirft einen Blick auf die Uhr. Zwei Minuten vor drei. Es bleibt ihm etwa eine Stunde für den nächsten Teil. Das wird er schaffen.

Er setzt die Stirnlampe auf und steigt die Treppe hinab.

Die Köpfe der beiden rucken augenblicklich hoch, als er die Tür öffnet. Sie brüllen gegen das Klebeband an, zerren an ihren Fesseln.

Mit wenigen ruhigen Schritten ist er bei Jane und zieht das Klappmesser aus der Hosentasche. Er geht neben ihr in die Hocke, betrachtet die freien Stellen ihres Gesichts. Die Bedingungen am Strand sind so, dass er ihr nachher das Klebeband nicht nur von den Augen, sondern auch vom Mund abnehmen kann. Das ist gut.

Er greift in Janes Haare, hält sie fest und holt sich sein Souvenir von ihr. Als er dann die Messerspitze gegen die Stelle des Klebebands drückt, unter der sich ihr rechtes Auge befindet, erstarrt sie. Er beugt sich vor und flüstert: »Ich werde dich jetzt losbinden, und du wirst mit mir kommen. Wenn du versuchst zu fliehen, werde ich dich nicht töten. Ich werde dir beide Augen ausstechen und dich liegenlassen. Und dann töte ich ihn. Hast du das verstanden?«

John hat es offensichtlich auch verstanden. Er führt einen wilden Tanz auf, zerrt an den Kabelbindern, die seine Hände oben halten.

Als Jane weinerliche Geräusche von sich gibt, erhöht er den Druck der Messerspitze. Sie verstummt, woraufhin Johns vom Klebeband erstickte Laute umso hektischer werden.

»Hast du mich verstanden?«

Sie nickt, soweit sein fester Griff es zulässt.