Die Frau des Obersts - Rosa Liksom - E-Book

Die Frau des Obersts E-Book

Rosa Liksom

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Beschreibung

Die grausame Verbindung von Ideologie und Liebe

In einer Nacht lässt eine Frau ihr langes Leben in einem Dorf im Norden Finnlands Revue passieren. Schon mit vier Jahren schien ihr Schicksal besiegelt zu sein, als sie im Haus der Eltern den Oberst kennenlernt, ihren späteren Ehemann. Achtundzwanzig Jahre älter als sie, macht er aus ihr eine glühende Nationalsozialistin. Beide verehren sie Hitler, und mit seinen Erfolgen wächst ihre alles verzehrende Liebe zueinander. Doch mit dem Fall Nazideutschlands zieht die Gewalt in die Ehe ein – und sie muss alle Kräfte aufbieten, um sich zu befreien, von ihrem tyrannischen Mann und den falschen Versprechungen.

»Die Frau des Obersts« ist ein messerscharfes, unerbittliches Zeugnis über die Allmacht der ideologischen Verblendung, über Abhängigkeit und Unterwerfung und die Kraft der wahren Liebe.

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Die grausame Verbindung von Ideologie und Liebe

In einer Nacht lässt eine Frau ihr langes Leben in einem Dorf im Norden Finnlands Revue passieren. Schon mit vier Jahren schien ihr Schicksal besiegelt zu sein, als sie im Haus der Eltern den Oberst kennenlernt, ihren späteren Ehemann. Achtundzwanzig Jahre älter als sie, macht er aus ihr eine glühende Nationalsozialistin. Beide verehren sie Hitler, und mit seinen Erfolgen wächst ihre alles verzehrende Liebe zueinander. Doch mit dem Fall Nazideutschlands zieht die Gewalt in die Ehe ein – und sie muss alle Kräfte aufbieten, um sich zu befreien, von ihrem tyrannischen Mann und den falschen Versprechungen.

»Die Frau des Obersts« ist ein messerscharfes, unerbittliches Zeugnis über die Allmacht der ideologischen Verblendung, über Abhängigkeit und Unterwerfung und die Kraft der wahren Liebe.

»Rosa Liksom schreibt nicht: Sie malt in expressionistischer Manier und in glühenden Farben. Eine Prosa, zerwühlt wie ein Bett nach fiebriger Nacht.« Badisches Tagblatt

»Eine schonungslose Liebesgeschichte.« Borås Tidning

»Die Geschichte einer unerklärlichen Liebe. Eng verknüpft mit der Geschichte Finnlands im 20. Jahrhundert, das zwischen Bolschewisten und Nationalsozialisten zerrissen war. Das Ergebnis: eine literarische Meisterleistung!« Weekendavisen

»Ein Ehedrama, das zugleich von der grausamsten Phase in Finnlands Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Diese zwei Handlungsstränge sind eng miteinander verwoben und erschaffen so einen herausragenden, kurzen, sehr konzentrierten Roman.« Politiken

»Besonders im Kontrast zu den Gräueln der Geschichte strahlt Rosa Liksoms Sprache mehr denn je.« Helsingin Sanomat

Rosa Liksom, 1958 in Lappland geboren, lebt heute in Helsinki. Sie debütierte 1985 und zählt zu den innovativsten Gegenwartsautoren Finnlands, ihr Werk ist vielfach preisgekrönt. Abteil Nr. 6 wurde 2011 mit dem wichtigsten finnischen Literaturpreis, dem Finlandia-Preis, ausgezeichnet. Von einem wahren Schicksal inspiriert, hat ihr neuester Roman, Die Frau des Obersts, Kritiker wie Leser gleichermaßen begeistert. Neben dem literarischen Schreiben verfolgt Rosa Liksom eine künstlerische Karriere und malt, macht Comics und Kurzfilme.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

ROSA LIKSOM

DIE FRAU DES OBERSTS

ROMAN

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Everstinna bei Like Kustannus Oy, Helsinki.

Der Penguin Verlag dankt FILI – Finnish Literature Exchange – für die finanzielle Unterstützung der Übersetzung. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.

Copyright © der Originalausgabe Rosa Liksom 2017 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Buch wurde vermittelt durch: Hedlund Agency, Stockholm. Redaktion: Leena Flegler Covergestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Coverabbildungen: plainpicture / Wolf Kettler, p1433 m1573396 Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-2V0014174-2www.penguin-verlag.de

Danke,

H. H.

Die Balken einer Fischerhütte, die auf der Böschung des sumpfigen Ufers am großen Wasser steht, knarren, das Holzboot, das umgedreht an der Wand lehnt, quietscht, und wenn man den Blick auf das kleine Dorf richtet, sieht man, dass dort alles dunkel ist, die Bewohner sind schlafen gegangen. Kurz bewegt sich ein Vorhang, und gedämpftes Licht blitzt auf. Jemand dreht sich unter einer geblümten Decke um, ein anderer kratzt sich im Tiefschlaf an der Wade, ein Mund steht offen, und Speichel rinnt auf den weißen Kissenbezug, jemand schreckt kurz aus leichtem Schlummer hoch und schläft wieder ein, jemand schnarcht unregelmäßig, jemand setzt sich an der Bettkante auf, steckt sich eine halb gerauchte Selbstgedrehte an und lässt sich, nachdem er sie aufgeraucht hat, für einen Moment mit geschlossenen Augen auf dem Emailletopf nieder, schiebt den Topf dann unters Metallbett, lässt sich wieder auf die Strohmatratze fallen und seufzt sich zurück in den genussvollen Schlaf.

Nur in einem Fenster des am weitesten entfernten Hauses flackert bescheidenes Licht. Es ist das Haus, in dem die Frau des Obersts wohnt. Vom See her wirkt es wie eine Kombination aus Alpenhütte und Rauchstubenhaus. Es ist zweistöckig, und das alte Holz ist durchweicht.

In der schwarzen Finsternis kurz vor Mitternacht dringt allmählich Kälte durch Balken und Fußboden ein. Die Frau des Obersts schiebt die Hände unter den Rentierpelz und zieht den Gürtel des alten, zerlumpten Saunabademantels enger, der dem Oberst gehört hat, blickt auf ihre Kamelhaarstrümpfe und auf die Fellschlappen hinab, die ihr in den kalten Stunden die Füße warm halten, und schwankt auf den Kamin zu.

Sie legt die Birkenscheite, die Tuomas hereingebracht hat, auf den Rost.

Beim sechsten Streichholz leuchtet die Flamme auf. Das Brausen des brennenden Holzes steigt den Schornstein hinauf und verdichtet sich zu einer weißen Wolkensäule am kalten Himmel.

Die Freude am früheren Leben besteht darin, dass es nicht wiederkommt. Trotzdem geht nichts verloren.

Das Sommerlager der Lottas stand an. Ich fuhr mit dem Bus nach Kittilä und wanderte mit meinen Siebensachen tief in den Wald hinein bis zu einer Heide zwischen einer Flussschleife und einem See. Mehrere Mädels und Frauen waren dort schon bei der Arbeit, und ich machte mich mit den anderen daran, das Lager aufzubauen. Ein Stück weiter südlich lag ein Teich, der im Eiltempo von Moos erobert wurde, und im Norden ein hübscher, stiller Wildmarksee mit klarem Wasser und einem sandigen Südufer. Mich im Wald herumzutreiben war mir sehr vertraut. Mein Vater hatte sich in Deutschland für die Pfadfinderbewegung begeistert, das Ganze nach Rovaniemi mitgebracht und mich mit sieben Jahren zu den Pfadfindermädchen mitgenommen. Bei den Wölflingen lernte ich, was ein anständiger Mensch ist: zuverlässig, hilfsbereit, wohlerzogen, gehorsam, pflichtbewusst, arbeitsam, mutig und patriotisch.

Trotz all der hehren Lehren prügelten wir uns, piesackten uns gegenseitig, ärgerten die Kleineren und lernten zu leben. Weil ich eine eifrige Pfadfinderin war, durfte ich mehrmals zum Sommerlager nach Deutschland und lernte so auch die deutsche Sprache. Juden raus! Wie schön das damals in meinen Ohren klang – und wie schlimm es jetzt klingt. Wir Mädchen der Familie waren außer Pfadfinderinnen auch kleine Lottas, und zwar schon zehn Jahre bevor die eigentliche Kleine-Lotta-Organisation gegründet wurde. Unsere Familie hatte der Weißen Garde angehört und war ein Vorbild für alle Finnen.

Bei den Kleinen Lottas lernte ich, wie man einen Tisch deckt und Spitzendeckchen häkelt. Nach dem Befreiungskrieg achtzehn sammelten wir Knochen für die Seifenherstellung und Löwenzahnwurzeln als Kaffee-Ersatz. Ich klaubte überdies Zapfen zusammen, und zwar so viele, dass ich einen Stern an die Brust meines Lottakleids bekam. Die Kleider habe ich alle aufgehoben, obwohl nach dem Friedensschluss der Befehl erging, sie zu vernichten. Stattdessen habe ich sie ganz zuunterst in die Aussteuertruhe gestopft, die drüben in der Bettkammer in der Ecke steht.

Im Lager von Kittilä war die Frau des Propstes unsere Lottageneralin. Sie war fürsorglich, scharfsinnig, sorgfältig und genau, stellte sich immer auf die Seite des Lebens und gegen den Tod und war so gesehen Pazifistin. Sie brachte uns bei, wie man guten Kaffee kocht, wie man tausend Mann auf einen Schlag verproviantiert, wie man Verwundeten medizinische Hilfe leistet, wie man Geld für die Weißen Truppen sammelt. Ich lernte, dass eine Frau fleißig bis zur Selbstaufopferung und gehorsam sein und sich gründlich auf ihr künftiges Los als Soldatenmutter vorbereiten muss. Dass zum Mannsein ein Stück Tyrannei gehört und dass der Mann der Frau moralisch überlegen sein soll, dass die Liebe ein Kampf ist, der aufseiten des Mannes mit Hass anfängt und mit dem moralischen Sieg des Mannes aufhört, und dass die Frau lernen muss, das zu akzeptieren und den Mann trotzdem in aller Unschuld und Reinheit zu lieben.

Eines Tages hatten wir im Lager ein paar Stunden frei und durften machen, was wir wollten. Manche lasen in der Bibel, andere sangen Kirchenlieder, wieder andere spielten Nachlaufen. Ich spazierte zum nächstgelegenen Sumpfmoor, um zu sehen, was für ein Moltebeerenjahr es werden würde. Ob die Moltebeeren schon blühten. Ich schob mich gerade durchs Erlengestrüpp, als der trockene Heideboden unter meinen Füßen nachgab und die ganze Welt schwankte, als säße ich in einem Schaukelstuhl. Vor meinen Augen tat sich ein schrecklich schöner, weiter Sumpf auf. Wie ein Reh sprang ich von einem Bleichmoosfloß zum nächsten und kreischte wie eine Fanatikerin. Mein Gehüpfe rührte das Wasser auf, und dadurch entstiegen den Tiefen der Erde solche Gerüche und Gase, dass ich mich am Ast einer Krüppelkiefer festhalten musste, um nicht ohnmächtig zu werden. Verschiedenste Farben flimmerten in meinem Kopf, ich sah Lichter und Schatten in allen erdenklichen Spiegelungen. Kiefern mit braunen Stämmen rauschten, mit Flechten überzogene Fichten brausten, von den Felsen hallte es wider, und am Firmament kreischten Kraniche. Ich war wie im Fieber, mein Kopf hatte sich vom Hals gelöst, und ich lachte unbändig. Dann watete ich einfach weiter, planschte mit den bloßen Füßen im Wasser und spürte den Hauch des permafrostigen Sumpfes an meinen zarten Zehen. Ich war bereits bis zur Hüfte nass; zwischendurch tauchte ich sogar richtig ins Sediment ein, in die Sumpfpflanzen und in den Schlick. Unterschiedlichste Riedpflanzen und Fossilien hingen mir im Haar, aber nichts hielt mich mehr auf, die Moltebeerenblüte war längst vergessen, ich fühlte mich so frei und grenzenlos, dass der Saft aus mir herauslief und ich mir dachte, wenn jetzt der Tod kommt, dann heiße ich ihn mit offenen Armen willkommen. Ich bestand von vorn bis hinten aus überirdischer Kraft und Herrlichkeit. Die Mistkäfer, die Rosskäfer, die Schnaken, die Gnitzen und ein paar Rentierdasselfliegen summten, die Frösche quakten einladend, und die Kraniche kreischten, als hätte man ihnen in den Bauch geschossen. Ich machte die Augen zu und schwebte mit den bloßen Instinkten voran. Mein Geruchsinn zog mich nach Süden, der Tastsinn nach Westen, und als ich bei Anbruch des Abends völlig entkräftet anhielt und die Augen aufschlug, wusste ich nicht mehr, wo ich war. Trotzdem bekam ich es nicht mit der Angst zu tun, sondern betrachtete bloß meine schlammigen Beine. Sie waren voller blutiger, dunkelroter Schrammen; die scharfrandigen Blätter der Sumpfpflanzen und die Bisse verschiedener Viecher hatten sie aufgerissen. Mein ganzer Leib war mit Matsch überzogen, ich war schwarz wie eine alte Föhre nach einem Waldbrand. Als ich mir zwischen die Beine fasste, weil es da irgendwie brannte, ertastete meine Hand einen schleimigen Wulst, der dort hing. Ich hob den Rock hoch, und mir dämmerte, dass da ein Egel Blut aus dem Rand meiner Fut saugte. Er musste schon ein Weilchen genuckelt haben, weil er so prall und so prächtig war. Vorsichtig zog ich ihn ab und warf ihn auf eine grasige Bülte. Ich war vollkommen erledigt, legte mich auf ein Floß aus Torf, und da sah ich kurz die Welt so aufleuchten, wie sie irgendwann einmal sein könnte. Diese Welt wäre gleichzeitig Mann und Frau, übervoll von Spiel und Liebe, Zärtlichkeit und Genuss, alle Menschen wären zueinander nett, und jeder würde so genommen, wie er wäre, es gäbe kein Gut und kein Böse, es gäbe überhaupt keine Wörter, nur noch Wahrnehmungen.

Mit dieser herrlichen Vision schlief ich ein. Das Torffloß trug mich durch die Nacht, und als ich aufwachte, war der abnehmende Mond schon verblasst und ich ans Ufer des Teichs geworfen worden. Das Wasser im Teich war pechschwarz, ich blickte in seine bodenlose Tiefe und sah die Lichter und Schatten der Wolken sowie mich selbst auf der zitternden Oberfläche. Ich sah das gelassene Gesicht einer schönen jungen Frau und dazu einen falsch herum aufgepflanzten Fahnenmast. Daran wehte die Lottafahne. Ich drehte mich um und sah ein Stück weiter hinten unser Lager am Ufersaum. Dort lagen alle im warmen Schlaf. Ich schlich zur Feuerstelle, klaubte kreuz und quer Reiser auf, entzündete sie mithilfe von Birkenrinde und kochte eine große Kanne Kaffee. Als die anderen aufwachten, waren sie froh, weil sie sofort an die heiße Kanne konnten.

Nach dem Kittilä-Lager hatte ich einen solchen Auftrieb, dass mich nichts mehr hielt. Ich war erfüllt von der Lottaidee und der Sache der Weißen. Beide gründeten auf dem deutschen Idealismus und Überlegenheitsgefühl sowie auf Russenhass und der Vorstellung, dass es unsere Aufgabe sei, sämtliche Finnisch sprechenden Völker unserem Finnland anzuschließen. Das Fundament von alledem bestand jedoch in der heiligen Dreifaltigkeit: Heimat, Glaube, Vaterland. War mir nur recht. Ich machte es mir zur Aufgabe, alle Menschen zum Weiße-Garde-Glauben zu bekehren. Nirgendwo konnte ich den Mund halten, nicht mal am Esstisch. Meine Mutter war schlimm dran mit mir und meinen Reden, weil sie sich von Haus aus den weniger radikalen Jungfinnen zugehörig fühlte, so wie es auch bei meinem Vater als jungem Mann gewesen war. Dann kamen die Lottatage in Kemi, und da wollte ich unbedingt hin. Meine Mutter sagte erst Nein, doch als meine Schwester Rebekka versprach, auf mich aufzupassen, lenkte sie ein. Ich machte Rebekka nach, zog mir ein Lottakleid an und hielt dort die erste kleine Rede meines Lebens, in der ich behauptete, das Vaterland sei ein Wert an sich und ein Opfer, das man dafür bringe, niemals umsonst. Das Fest gipfelte in einer Parade, an der außer den Lottas stattliche, mit Uniformen ausstaffierte Angehörige der Weißen Truppen teilnahmen. Die harmonische Schönheit der Parade beflügelte unseren Kampfeswillen und inspirierte uns für den bevorstehenden Krieg gegen den Russen.

Mein Vater Juho war ins reichste Bauerngeschlecht und gleichzeitig in die einzige Kaufmannsfamilie von Kittilä hineingeboren worden. Er wurde der erste Agronom im Ort. Mein Großvater Fransi war gestorben, bevor ich zur Welt kam, und meine Oma Elve, also die Mutter meines Vaters, war eine reinblütige Samin. Sie wurde hunderteins. Sie war nicht etwa der Spross einer armseligen Fischerfamilie, sondern stammte aus einer Sippe von Rentiernomaden und hatte sich schon als Kind wie eine Prinzessin von einem Rentier die Hänge der Fjälls rauf- und runterziehen lassen. Wenn der härteste Winter vorbei war, verspritzte Oma Elve Rentiermilch in Richtung Sonne, weil das nach der Dunkelheit und Kälte Licht und Wärme brachte. Der Pfarrer von Kittilä beschimpfte sie als fleischeslüsterne Sau und als vom Teufel verhexte Hündin, weil sie sich nichts aus seinen todernsten, eintönigen Predigten machte. Ich war Elves Lieblingskind, und sie brachte mir allerhand alte Kniffe bei. Meine Mutter Ida stammte aus Helsinki und gehörte einem finnlandschwedischen Adelsgeschlecht an. Oma Hiltrud, also die Mutter meiner Mutter, war eine geheime Vertraute des Generalgouverneurs Bobrikow gewesen und Opa Thomas ein bekannter Geschäftsmann, der schrecklich viel Geld gemacht und dann alles verloren hatte. An beide habe ich keine Erinnerung mehr, weil auch sie verstarben, noch ehe ich auf der Welt erschien.

Ich hätte ansonsten nie etwas von der Explosion der Weltmärkte erfahren und von der Rezession, die in New York begonnen hatte – doch all das wurde auch mir um die Ohren gehauen, als das geliebte Elternhaus meines Vaters unter den Hammer kam. Onkel Matti war nach dem Tod von Opa und Oma der Hausherr gewesen. Er hatte Wechsel aufnehmen müssen, und zwar von Paksuniemi, dem reichsten Landwirt von Kittilä und einem Schulkameraden meines Vaters. Als es an die Rückzahlung ging, hatte Onkel Matti kein Geld, und der wohlhabende Bauer kam auf die Idee, für die Sommerseite seines Hauses zwei Kammern mehr zu brauchen und sie sich als Gegenleistung von Matti zu holen. Ich war damals bei meinem Onkel zu Besuch, schlürfte gerade Himbeerblättertee und schrieb Tagebuch und Gedichte, als dieser Paksuniemi mit ein paar Arbeitern aufs Gut marschiert kam. Bis zum Mittag hatten sie die hinteren Kammern abgesägt und transportierten die Balken am Nachmittag mit dem Pferd ab. So blieb das geliebte Geburtshaus meines Vaters geschändet und entehrt weinend zurück. Onkel Matti sagte, inzwischen hätten nur noch die Reichen Geld, die arbeitsfähigen Arbeitslosen trotteten über die Landstraßen, weil ihnen die Arbeit weggenommen worden war, und zusätzlich zur grassierenden Armut und zum Mangel hatte es mehrere Jahre hintereinander Missernten gegeben, auch viele andere Höfe waren unter den Hammer gekommen, die Wechsel ernteten die Felder ab, und Ankündigungen von Zwangsversteigerungen füllten die Zeitungen.

Da füllte ein sehr klarer Gedanke meinen Kopf, nämlich der, dass auch in Finnland ein zackiger Führer gebraucht wurde, der Nein sagt und auf die Stimme der Armen und derjenigen hört, die von den Märkten beiseitegefegt werden. Die Kommunisten taugten dazu nicht. Man musste sich nur Onkel Matti ansehen, der ja ein Roter war. Der greinte bloß, dabei hätte er die Axt in die Hand nehmen und sein Eigentum verteidigen müssen. Ich beschloss, das Spiel beim Lotta Svärd zwar zu Ende zu spielen, es dabei aber nicht zu belassen. Es waren härteres, klareres und einfacheres Denken und Handeln nötig, damit Finnland sich wieder erheben konnte.

Die Kammern von Onkel Mattis schönem Haus waren dahin. Als irgendwann der Aufschwung kam und die Missernten wieder von kornreichen Zeiten abgelöst wurden, baute er sich neue Kammern, bessere als die alten, und ließ darin hohe Öfen mauern. Ich mochte Onkel Matti, und es störte mich nicht, dass er ein Roter war. Er hatte die gleiche Nase wie mein Vater, war vom Charakter her aber lascher. Als ich noch ein albernes Gör gewesen war, hatte er sich mich mal geschnappt und mit in den Wald genommen. Es war Sommer gewesen, und die Mücken hatten nach Blut gelechzt. Er trug mich durch ein sumpfiges Reisermoor. Wo er mich hinbringen wollte, weiß ich nicht, aber er trug mich, und ich hatte kein bisschen Angst. Er quasselte mir ins Ohr, man dürfe nie allein in so einen Sumpf gehen, in den Sumpftümpeln ertränken Menschen und Tiere, und im Sumpf gebe es allerlei Plagen, vor denen man sich hüten müsse, wie die Arschpest, den Mistkäfer, der dem Menschen böses Blut in die Adern spritzt, sowie schwindsüchtiges Ungeziefer. Hier versteckten sich Räuber und Mörder, die alle Hoffnung fahren gelassen hätten, außerdem seien hier getötete Kinder und unerwünschte Leibesfrüchte versenkt worden. Ich fing an zu heulen. Mein Onkel beruhigte mich, alles sei gut, aber ich müsse immer daran denken, was er gesagt habe.

Das tat ich und fuhr danach mit dem Fahrrad jedes Mal in schrecklicher Geschwindigkeit an den Sümpfen vorbei, die es in Lappland hinter jeder Kurve gibt. Als ich größer war, machte ich Halt, wenn ich so einen Sumpf sah, und starrte unverwandt hin, weil ich die Angst besiegen wollte.

Auf diese Weise bezwang ich das Grauen Stück für Stück und fing sogar an, die Sümpfe und das Sumpfland zu lieben, all die Aapamoore, Weißmoore und die weiten baumlosen Sümpfe.

Die Zeit, in der ich zur Welt kam, war eine Zeit des Hasses. Die Zeit, in der ich zur Frau heranwuchs, war eine Zeit des Hasses und der Rache.

Am selben Tag, an dem mein Vater seinen letzten Atemzug machte, war der Oberst bei uns zu Besuch. Ich lauschte heimlich an der Tür, was mein Vater und er besprachen. Der Oberst sagte: Wenn Hindenburg erst mal die Haxen langmacht, geht die Macht ohne einen Gewehrschuss an Hitler, weil der das Geld hinter sich hat, und dann gibt er den Deutschen die Arbeit, den Wohlstand und den Stolz zurück und erobert die ganze Welt. Darauf mein Vater: Wir sind ja Freunde der Deutschen und werden dann sozusagen als Mitläufer die Gelegenheit haben, unsere Stammesvölker vom Joch der Russen zu befreien, und dann können alle Länder, die Lönnrot im Kalevala-Epos bekannt gemacht hat, Finnland angeschlossen werden, bis hin zum Ural. Der Oberst meinte, kein Finne wolle, dass die Welt uns als nördlichstes Land des Baltikums ansehe. Darauf mein Vater: Natürlich nicht, bald beginnt der Krieg, wir haben das Nickelbergwerk in Petsamo und darum keinen Tag Not.

Ich hatte schon als Kind den Verdacht, dass das Verhältnis zwischen meinem Vater und dem Oberst eine Sache für sich war. Einmal rutschte meiner Mutter heraus, der Oberst habe damals im Ausbildungslager der Jägersoldaten in Deutschland meinen Vater gerettet, als der sich nach einer unschönen Folge von Vorfällen habe aufhängen wollen.

Am frühen Abend fuhr der Oberst heim, und mein Vater bat mich, mit ihm in die Sauna zu gehen, weil ich seine Lieblingstochter war. Wir machten abwechselnd Aufgüsse wie die Verrückten, ich bearbeitete mit dem Birkenbüschel seinen Rücken, und wir tranken Hausbier in der Saunakammer. Er erzählte mir, wie er und meine Mutter auf Hochzeitsreise in Kopenhagen gewesen waren. Es war zur damaligen Zeit in Kittilä natürlich unerhört gewesen, dass ein junges Paar zur Turtelreise ins Ausland fuhr. Im runebergischen Adelsgeschlecht meiner Mutter war das allerdings so was wie ein Muss. Oma und Opa in Helsinki unterstützten sie, Oma und Opa in Kittilä waren dagegen, weil sie angeblich ja auch so schrecklich gläubig waren, beinahe Alt-Laestadianer. Das Brautpaar wohnte in der Innenstadt von Kopenhagen in einer Pension und lebte wie die Königlichen. Es dauerte nicht lange, da ging ihnen das Geld aus. Mein Vater rief erst seine Schwester in Rovaniemi an, sie solle was schicken. Die Schwester erwiderte, sie schicke keinen Penni, sie halte meinen Vater sowieso für einen Hallodri, weil er als Agronom und Rektor der Molkereischule eine Schülerin geheiratet habe. Dann rief mein Vater das einzige Telefon von Kittilä an, das in seinem Elternhaus stand, und zu seinem Glück meldete sich Onkel Matti. Matti schickte das Geld sofort, aber die Post war langsam. Der Betreiber der Pension verlangte die Miete und verstand nicht, was gemeint war, als mein Vater ihm auf Lateinisch erklärte: Pecunia venit. Der Mann rief die Polizei, und mein Vater kam in Schuldhaft. Meine Mutter war gerade in einer Konditorei gewesen, um Gebäck zu kaufen, und als sie zurückkam, war mein Vater weg. In ihrer Not fragte sie den Pensionsbesitzer in klarem Schwedisch, wo ihr frischgebackener Ehemann sei. Der Mann gab auf Dänisch etwas zurück, was meine Mutter nicht verstand. Sie blieb eine geschlagene Woche lang in ihrem Zimmer und weinte, ohne etwas anderes zu essen als das Gebäck, und zu trinken hatte sie nur Champagner. Sie glaubte, mein Vater habe eine neue Frau gefunden, sei mit dieser durchgebrannt und habe sie verlassen. Eines dunklen Abends tauchte er mit einem Bündel Geld in der Hand auf und fand seine Frau schier gelähmt im Bett vor. Schon bald war alles wieder im Lot. Zur Erinnerung kauften sie sich einen Kinderwagen, der nach einem hohen viktorianischen Modell gefertigt war, weil ihnen gedämmert hatte, dass meine Mutter ihr erstes Kind erwartete, nämlich Rebekka. In eben diesem Kinderwagen habe auch ich die ersten Monate auf der faulen Haut gelegen und mir an Wintertagen die wilden Nordlichtschauspiele am lappischen Horizont und im heißen Sommer den blauweißen Tageshimmel angeguckt.

Nach dieser Geschichte machten wir noch einen Aufguss und marschierten später quer über den Hof zur Lehrerwohnung. Mitten auf dem Schulgelände sank mein Vater direkt vor meinen Augen zu Boden. Mit verdrehten Augen lag er da, drückte mit letzter Kraft meine Hand und sagte: Du bist mein schwarzer Engel. Eine winzige Blutspur rann aus seinem Mund und setzte ihren Weg auf die dunkle Erde fort. Für mich war das so schrecklich, dass ich mich immer noch nicht davon erholt habe. Lange Jahre dachte ich, der Tod meines Vaters sei Gottes Rache gewesen, weil ich die Männer heimlich belauscht hatte.

Nach dem Tod meines Vaters hätte Onkel Matti ein Vaterersatz für mich werden können, aber diesen Platz nahm der Oberst ein. Mein Onkel war zu lasch, und meine Mutter brauchte einen fähigen Mann an Vaters Stelle. Uns Töchter erzog sie mit Angst. Bevor sie den Riemen sprechen ließ, sagte sie immer, wer mit der Rute spare, hasse seine Kinder, und nach dem Durchhauen erkundigte sie sich, ob der Schmerz auch im Gehirn angekommen sei. Darauf musste man mit Ja antworten. Und es stimmte: Alles blieb im Gedächtnis und als Schmerz im Körper hängen. Meine Mutter schlug zu, dass das Blut nur so aus den Hinterbacken quoll, und darum wurden wir Mädchen von Grund auf schreckhaft. Ich konnte mir in meiner Not die Perlen vom Hals fressen, den Saum vom Rock und am Fausthandschuh nagen. Einmal sagte Rebekka zu mir: Stell den kleinen Zeh auf den Hackklotz, dann kitzle ich ihn mit der Axt. Ich tat, was meine große Schwester mir befahl, und im selben Moment flog mein kleiner Zeh an die Wand des Holzschuppens. Meine Mutter verdrosch uns alle beide und verband erst dann meinen Fuß. Der Blutverlust war so stark, dass ich Fieber bekam und zwei Wochen halb tot im Bett lag. Als es besser wurde, sagte meine Mutter, was nicht töte, härte ab. Meine Mutter war klein, dünn und schmächtig. Ich war schon mit zehn größer und stärker als sie, trotzdem hatte man sich ihren Erziehungsmaßnahmen zu beugen. Ich walke euch zu anständigen und tugendhaften Töchtern durch, lautete ihre Leier, im Wesen eines Mädchens und einer Frau muss man den Willen Gottes erkennen. Sie war ein tiefgläubiger Mensch und immer irgendwie wütend, hatte in einem fort Angst um uns, und das weckt in einem ausgewachsenen Menschen eben einen solchen Zorn. Ihr Lieblingssatz war: Alles, was nicht nötig ist, ist Sünde. Natürlich galt das nicht für sie selbst, sondern lediglich für uns Blagen, die nie etwas tun durften, was sich ihrer Meinung nach nicht schickte. Taten wir es doch, dann kam der Herr aus dem Birkenwald zu Wort. Ich war gerade mal vier, lag an einem Sommertag in Kittilä auf dem Dach von Onkel Mattis Erdkeller und genoss die Sonne. Ich zog die Hose aus und fing an, an meiner Fut herumzuspielen, als meine Mutter vorbeikam und sah, was ich tat. Sie schrie mich an, was ich da machte, sei schändlich, und wenn ich es noch einmal täte, bestrafte mich Gott und machte mich blind. Natürlich erschrak ich und fing an zu heulen. Als ich dann ein bisschen älter war, hielt meine Mutter mir Vorträge, alles Körperliche sei eine Entweihung der Seele, hindere den Verstand im Kopf am Wachsen und mache wahnsinnig. Seitdem habe ich versucht, sobald ich meiner Mutter aus den Augen kam, diese Regeln so oft wie möglich zu brechen.

Mein Vater wurde schön begraben, und ich war allein. Meine Welt wurde öd und leer. Insgeheim dachte ich, entweder ich sterbe, oder ich gehe den Weg, den mein Vater ausgetreten hat, weiter.

Im Sommer nach der Beerdigung fand in Oulu das Stammesfest statt. Ich sagte zu meiner Mutter, die Schwarzhemden aus Lapua lüden dazu im Geist unseres Vaters ein, darauf sie: Zieh deinen Vater da nicht mit rein, zu diesem Fest lass ich dich nicht gehen. Ich quengelte, Rebekka fahre doch auch hin. Meine Mutter blieb stur: Ich lass euch irrsinnige Gören nicht mit den Faschisten Radau machen, auch der Patriotismus hat seine Grenzen. Rebekka blieb daheim, aber ich haute ab.