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Eine feinfühlige Geschichte über ein junges Mädchen, eine Herde Kühe und ihre Flucht in die Sicherheit
Lappland 1944: Nachdem die Truppen der deutschen Wehrmacht aus Finnland vertrieben wurden und dabei alles zerstörten, was auf ihrem Weg lag, müssen Zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen. Mittendrin ein junges Mädchen, das auf dem heimischen Hof das Vieh hütet und dessen Familie durch den Krieg auseinandergerissen wurde. Gemeinsam mit den anderen Kindern des Dorfes treibt sie die Kühe in Richtung des großen Flusses, der Grenze zu Schweden, in die Sicherheit – stets voller Hoffnung, in einem der vielen Flüchtlingslager ihre Eltern wiederzufinden.
Wie ein großer Strom nimmt Rosa Liksom in ihrem neuen Roman ihre Figuren auf, treibt sie immer weiter, wie das Leben selbst, bettet sie ein in den Lauf der Jahreszeiten und verknüpft dabei meisterhaft die Geschichte einer Flucht mit einer einfühlsamen Coming-of-Age-Erzählung.
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2024
Eine feinfühlige Geschichte über ein junges Mädchen, eine Herde Kühe und ihre Flucht in die Sicherheit
Lappland 1944: Nachdem die Truppen der deutschen Wehrmacht aus Finnland vertrieben wurden und dabei alles zerstörten, was auf ihrem Weg lag, müssen Zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen. Mittendrin ein junges Mädchen, das auf dem heimischen Hof das Vieh hütet und dessen Familie durch den Krieg auseinandergerissen wurde. Gemeinsam mit den anderen Kindern des Dorfes treibt sie die Kühe in Richtung des großen Flusses, der Grenze zu Schweden, in die Sicherheit – stets voller Hoffnung, in einem der vielen Flüchtlingslager ihre Eltern wiederzufinden.
Wie ein großer Strom nimmt Rosa Liksom in ihrem neuen Roman ihre Figuren auf, treibt sie immer weiter, wie das Leben selbst, bettet sie ein in den Lauf der Jahreszeiten und verknüpft dabei meisterhaft die Geschichte einer Flucht mit einer einfühlsamen Coming-of-Age-Erzählung.
Rosa Liksom, 1958 in Lappland geboren, lebt heute in Helsinki. Sie debütierte 1985 und zählt zu den innovativsten Gegenwartsautor*innen Finnlands, ihr Werk ist vielfach preisgekrönt. Abteil Nr. 6 wurde 2011 mit dem wichtigsten finnischen Literaturpreis, dem Finlandia-Preis, ausgezeichnet, und die Verfilmung wurde 2021 in Cannes mit dem Grand Prix gewürdigt. Zuletzt erschien ihr Roman Die Frau des Obersts. 2020 wurde Rosa Liksom von der Schwedischen Akademie mit dem Nordischen Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Neben dem literarischen Schreiben verfolgt die Autorin eine künstlerische Karriere und malt, macht Comics und Kurzfilme.
»Der Roman ist wunderschön und berührend, an manchen Stellen sogar lustig.« Helsingin Sanomat
»Rosa Liksom schreibt nicht: Sie malt in expressionistischer Manier und in glühenden Farben. Eine Prosa, zerwühlt wie ein Bett nach fiebriger Nacht.« Badisches Tagblatt über »Die Frau des Obersts«
»Einen wortgewaltigen, unglaublich intensiven und sinnlichen Roman hat Rosa Liksom geschrieben. Unbedingt lesen!« DIERHEINPFALZ über »Abteil Nr. 6«
www.penguin-verlag.de
Rosa Liksom
Roman
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Danke, Harri Haanpää
Kaum hatten Katri und ich mit viel Plackerei das Vieh auf die Landstraße gescheucht, hüllte sich der Himmel in einen herbstlichen Dunstschleier, und es fing an, eisige Nadeln zu nieseln. Alle Kühe außer der Ilona erschraken vor den scharfkantigen Tropfen und liefen auseinander. Die Sisko, die Pirkko und die Liina rannten den Graben entlang, die Kerttu riss in den Wald aus, das Kälbchen Sokkeri, das die Sisko im Vormonat zur Welt gebracht hatte, tanzte auf der Stelle, die Soma stieg der Kielo auf den Rücken, und beide schrien. Zum Glück war das Weidengestrüpp vor dem Kiefernwald so dicht, nass und schwarz, dass die Kerttu nicht hindurchkam. Niedergeschlagen und mit hängendem Kopf kehrte sie auf die Straße zurück. Ich blickte hinter mich. Da kamen in vollem Tempo Martta, die Stallmagd vom Nachbarhof, und ihr Hilfsbursche Matti mit dem Vieh vom Bauern Iisakki. Wir hatten abgemacht, dass wir zusammen gehen.
Von Norden her trottete müdes Volk mit seinen Tieren herbei, aus der anderen Richtung kamen in langer Reihe die Kühe und das Jungvieh der Dörfler angehoppelt. Weiter hinten humpelte Taneli, der Hengst vom Nachbarn. Er zog einen morschen Karren, auf dem ein paar dünne Greise mit weißen Gesichtern hockten. Die stammten wahrscheinlich aus dem Walddorf weiter weg, weil ich sie nicht kannte. Ein altes Männchen diente dem stumm dahinziehenden Volk als Anführer. Es jammerte, es könne kaum atmen und habe ein Stechen in der Brust. Die Welt ist schon ein seltsamer Ort, dachte ich bei mir.
In der Woche zuvor war mein Vater kurz auf Heimatbesuch gewesen, weil er Evakuierungsurlaub bekommen hatte. Er sagte, der Russe kann jeden Tag kommen, oder wir müssen anfangen, uns mit den Deutschen zu schlagen. Jedenfalls sollt ihr samt den Kühen schleunigst über den Strom nach Westen. Wie düster er ist, dachte ich bei mir. Er war ganz in sich zusammengesunken, und seine Hände hingen einfach so herab. Es sah aus, als hätte er aufgegeben. Den Rest des Abends lag ich in meinem Bett und hörte, wie meine Mutter zu ihm sagte, du musst Gott vertrauen. Darauf meinte mein Vater, Gott hilft denen, die sich selbst helfen, und was mich betrifft, habe ich die letzten Reste von meinem Gott an der Ostfront gelassen.
Mein Vater war gerade mal einen Tag und eine Nacht daheim gewesen, als der Befehl kam, wieder in den Kampf zu ziehen. Bevor er sich auf den Weg machte, rief er mich zu sich und sagte, dass er mir die Verantwortung für meine Mutter gibt. Sieh zu, dass sie noch am Leben ist, wenn ich zurückkomme, sagte er und umarmte mich schrecklich fest und lang. Ich spürte, wie er die Tränen zurückhielt.
Meine Mutter ging dann mit dem Onkel ein paar Tage vor uns in Richtung Strom. Vor dem Aufbruch watschelte sie mit ihrem Bauch zum Geschirrschrank in der guten Stube, raffte in der Schublade ein paar Silberlöffel zusammen und steckte sie in die Tasche, die mein Vater ihr geschenkt hatte. Der Onkel blätterte am Schreibtisch in der waldseitigen Kammer sorgfältig alle Papiere durch, nahm einige davon heraus, stopfte sie in die Aktentasche aus Schweinsleder, schob sich die Tasche unter den Arm und sagte, wenn wir auf der Westseite sind, gucken wir zusammen, wo wir uns niederlassen. Meine Mutter trödelte, wie immer, wenn es irgendwo hinging. Schließlich half ihr der Onkel auf die Ladefläche des Lastautos, zwischen verschnürten Pappkartons, Spanschachteln, Kommodenspiegel, dem von Opa geerbten Ohrensessel und anderen Leuten aus dem Dorf. Ich betrachtete die beiden und dachte, die sehen aus wie ein Pärchen. Dieser Gedanke kam mir so eklig vor, dass ich ihn sofort wegwischte. Das Auto tuckerte los, nahm stotternd Fahrt auf und verschwand hinter der ersten Kurve. Murre warf mir einen kurzen Blick zu, dann rannte er hinterher. Ich rief ihn zurück, aber er hörte nicht.
Katri packte mich an der Schulter und rief, los, weiter. Ich zählte die Kühe. Es waren alle da. In ihrer Not gingen sie weiter. Ich warf noch einen Blick über die Schulter. Da war das Vieh aus unserem Dorf und das aus den Nachbardörfern, und es wurde von Mädchen und kleinen Jungen getrieben, die ich kannte. Ausgewachsene Menschen waren so gut wie keine zu sehen, abgesehen von ein paar älteren Weibsleuten. Die legten ihren Weg mit dem Stock in der Hand zurück, weil ihre Beine nicht mehr richtig trugen. Eines verband uns alle: Wir waren unterwegs und zogen in Richtung Westen.
Am Palsamoor streifte ein dreibeiniges Rentier herum. Wir waren schon ein gutes Stück an ihm vorbei, da hörte man einen Schuss. Ich blickte mich um und sah das Rentier zuckend am Grabenrand liegen. Wenig später ging der eisige Regen in einen kräftigen Hagelschauer über, der nach dem Moor zu Nieselregen schmolz. Ein wütender Wind bog das zunderbraune, regennasse Gras rechts und links der Straße und riss an meinem Rock. Auf der Höhe der letzten Milchsammelstelle, die zu unserem Dorf gehörte, kam ein zweijähriger Stier aus dem Wald gesprungen, auf dessen Flanken die Buchstaben K.P. gemalt waren. Sofort fing er an, die Sisko zu besteigen, dann war er auch schon auf der Kerttu drauf und versuchte es schließlich noch bei der Ilona. Die Ilona guckte ihn aber so böse von unten heraus an, dass er sich trollte. Ich verpasste ihm mit der Weidenrute eins aufs Hinterteil und schrie ihn mit schriller Stimme an, aber der Stier schwenkte bloß die prallen Eier und den steifen Schwengel. Zwei Kuhjungen schwangen sich auf ihre Pferde und versuchten, ihn aus der Herde zu treiben. Das klappte natürlich nicht. Der Stier war so brünstig, dass ihn nicht mal eine Wand aus dicken Balken aufgehalten hätte. Sein Schwanz ragte kerzengerade zum Himmel. Die Kühe wurden wild, und das ganze Vieh aus unserem Dorf lief auseinander. Die einen stürmten einfach davon, die anderen warteten mit gerecktem Arsch, dass sie an die Reihe kamen. Ich musste durch die Gräben und an den Waldrändern entlangrennen, bis ich unser Vieh wieder auf der Straße hatte. Dann zählte ich die Köpfe. Einer fehlte. Martta sagte, die Kerttu wäre in der Kurve da drüben an ihr vorbeigehuscht. Ich überließ Katri das Vieh und eilte schnurstracks der Kerttu hinterher. Ich vermutete, dass sie nach Hause wollte, obwohl da niemand mehr war.
Unser heimischer Hof sah trostlos aus, dabei war er gerade noch voller Leben gewesen. Nicht mal die Katze Tirsu, die das Haus hüten sollte, ließ sich blicken. Ich stellte fest, dass der Frühherbstfrost den Ringelblumen vor der Veranda den Garaus gemacht hatte. Das Kammerfenster stand einen Spaltbreit offen. Ich ging ins Haus. In der Küche hatten wir die alte Bank stehen und den Teppich an der Wand hängen lassen, und es roch nach geräuchertem Fisch. In der Kammer hing noch der Geruch meiner Mutter, weil sie dort immer gelegen hatte, wenn sie krank gewesen war. Mich packte von innen her das Grauen, schnell machte ich das Fenster zu und rannte wieder hinaus. Auf dem Hof warf ich einen Blick in die Nebengebäude. Fast trat mir das Wasser in die Augen, aber gleichzeitig war ich erleichtert, denn im leeren Kuhstall fand ich die Kerttu. Sie zitterte und sah mich irgendwie verdutzt an. Vorsichtig ging ich auf sie zu. Dann war ich auch schon bei ihr, wischte ihr den Schweiß vom Hals, begegnete ihrem Blick und schämte mich. Ich schämte mich, der Mensch zu sein, dem sie ausgeliefert war. Keine Angst, redete ich ihr zu, wir machen nur einen Ausflug, auf die andere Seite vom Strom, dort gibt es süßes Futter, Heu ohne Schimmel und einen warmen Stall. Die Kerttu hörte zu, aber ich sah, dass sie mir nicht glaubte. Trotzdem gelang es mir, sie aus dem Verschlag zu locken. Sie torkelte den Hofweg entlang zur Straße, und als sie am Ende einer langen Gerade die Kolonne sah, muhte sie und rannte los.
In der Zeit, in der ich die Kerttu geholt hatte, hatte sich der K.P.-Stier so weit beruhigt, dass er stramm zwischen den anderen voranschritt. Dabei schnappte er so schwer nach Luft, dass es spritzte. Er schlich sich an die Ilona heran, und uns blieb nichts anderes übrig, als ihn als Teil unseres Viehs und unserer Kolonne hinzunehmen. Beim Sumpf überholte uns ein Lastauto der finnischen Armee. Auf der Ladefläche standen Burschen, die ich nicht kannte. Sie sahen fast witzig aus. Sie hatten nämlich zu große Waffenröcke an und schwere Patronengürtel um die dünnen Hälse hängen. Für einen Augenblick sah ich unter ihnen Elia-Efraim, den Sohn vom Dorfschneider. Der hatte seinem Vater damals geholfen, als meine Mutter mir für Omas Beerdigung ein neues Sonntagskleid machen ließ. Ich empfand tiefes Mitleid mit den Burschen, weil ich in ihnen unseren Jakke und unseren Sakke sah, die nicht mehr lebten. Auch die waren noch Buben gewesen, als sie im Dezember neununddreißig freiwillig zum Kämpfen an die Ostfront gezogen waren.
An jeder Weggabelung schloss sich weiteres Vieh mit seinen Hütern an. Fast alle waren, wenn man die Fuhrmänner mit den Pferden nicht mitrechnete, Mädchen in meinem Alter oder ein paar Jahre älter oder aber Rotznasen wie Matti, der Uneheliche, der zu Martta, der Stallmagd vom Nachbarn, gehörte. Er war erst neun, aber schon ein Arbeiter, der was konnte. Noch bevor wir die Ländereien von Laamanen erreichten, bildeten wir auf der Straße ein langes, wuseliges Sammelsurium. Die Zahl der ausgewachsenen Rinder überstieg die hundert. Außerdem waren ziemlich große Kälber, Färsen und Farren mit dabei. Die Männer kutschierten auf ihren Pferdewagen Kisten mit Säuen drin. Den Schweinen war kalt bei dem Herbstwetter, sie quiekten erbärmlich. Auf den Wagen standen auch Spankörbe, in denen es gackerte, und ein Hahn krähte. Jemand hatte seine Hühner mitgenommen, obwohl die Anweisung gelautet hatte, ihnen vor dem Aufbruch die Hälse durchzuschneiden. Die frisch geborenen Kälber und alles, was unter zwei Jahre alt war, durfte auf den Wagen mitfahren. Mit Staunen in den Augen sahen die jungen Tiere zu, wie der Wald vorbeihuschte. Die Kälber hatten einerseits Glück, dass sie kurz vor der Flucht auf die Welt gekommen waren und gefahren wurden. Andererseits hatten sie Pech, nämlich in dem Sinn, dass sie gerade dann geboren wurden, als sie den Geburtsstall verlassen und in ein anderes Land fliehen mussten.
Von Kurve zu Kurve beruhigte sich das Vieh allmählich, und gegen Abend schritt die ganze Karawane nass und gleichgültig vor Müdigkeit in zwei Reihen dahin wie die Soldaten. Ruperti und Eevertti, die alten Fuhrmänner aus unserem Dorf, lenkten sanft die Taimi und den Tauno, die schnauften, weil sie schon so alt waren, dass sie nicht einmal für den Krieg gebraucht wurden. Die Wagen beider Pferde standen voller Melkgeschirr. Der von Tauno hatte so kurze Deichseln, dass der Klepper bei jedem Schritt mit dem Hinterhuf gegen den Karren schlug. Das tat natürlich weh, und der Schmerz brachte ihn zum Laufen, worauf es noch mehr wehtat.
Die Buben aus dem Nachbardorf führten gekonnt die schlotternden Fohlen, die willenlos vor sich hin starrten, weil sie nicht verstehen konnten, wohin man sie brachte. An der Sieben-Straßen-Kreuzung – eine davon war eigentlich bloß ein winziger Nadelweg, eine zweite ein Fuhrweg und eine dritte der Postweg – erscholl ein deutscher Marsch, und aus der anderen Richtung hörte man schleppend gesungen »Ein feste Burg ist unser Gott«.
Mitten in dem Krach standen ein paar Lottas aus dem Kirchdorf und der Gemeindearzt, der jeden hastig fragte: Bist du gesund? Ich nickte, und Katri, die der Onkel geholt hat, damit sie mir hilft, antwortete mit einem tiefen Seufzer. Die Alten, die Blutklumpen spuckten, wurden vom Arzt und einer Sanitätslotta aus der Kolonne ausgesondert. Eine Kleinlotta sagte, die werden auf die Westseite vom Strom gebracht, ins nächste Infektionskrankenhaus. Rekruten halfen den Kranken auf die Ladefläche eines Lastautos der Armee, auf das man eine Art Windschutz aus Sperrholz gebaut hatte. In einer zweiten Gruppe wurden diejenigen gesammelt, die Geschwüre hatten oder eiterten, diejenigen mit Krätze, die mit Hals- und Ohrenentzündung, die von Rheuma Geplagten und solche, die mit Eingeweidebrüchen leben mussten. Diejenigen, die sich verbrannt hatten oder denen etwas abgefroren war, wurden in einer dritten Gruppe gesammelt. Auf dem Postweg näherten sich ein paar ältere deutsche Soldaten. Zuerst schlossen sie sich unserer Kolonne an, aber bald schon überholten sie uns. Ich beobachtete, wie sie mit einer Winde ein Loch in jeden zweiten Strommast drehten, eine Ladung hineinstopften und sagten, sie sprengen die Masten, wenn wir vorbeigegangen sind. Die übrigen Masten sägten sie auf halber Höhe ab.
Für die erste Übernachtung war uns der Landrücken bei Laamanen zugewiesen worden. Als wir ankamen, herrschte dort vollkommenes Durcheinander, denn die Rinder unterschiedlicher Dörfer hatten sich vermischt. Jedes Rind aus unserem Dorf hatte ein Kilkura am Hals hängen, in das wir daheim seinen Namen, sein Alter und den Namen und die Adresse seines Besitzers geritzt hatten. In die Ohren der Kühe aus dem Walddorf hatte man Schnitte gemacht wie bei Rentieren. Manchen Kühen waren auch die Anfangsbuchstaben ihres Bauern in die Kruppe gebrannt oder aufgemalt worden. Dazwischen gingen Kühe, die anscheinend überhaupt nicht markiert, sondern der Obhut des HERRN überlassen worden waren. Das Melkvieh mit den stärksten Nerven rupfte hinter der Strohscheune Junggras. Die Kühe, die in dem Trubel ihre Herde verloren hatten, brüllten. Die Pferde wieherten, die Säue quiekten in den Kisten, die Hühner gackerten, und die Hunde kläfften. Nur das Blöken der Schafe fehlte im Chor. Die waren in den Wäldern der heimischen Dörfer ihrem Schicksal überlassen worden, weil es nach der Freiheit des Sommers nicht mal dem Teufel gelungen wäre, sie einzufangen. Die Färsen rannten mit Schaum vor dem Mund umher, stießen sich gegenseitig und bestiegen sich, röchelten wie in den letzten Zügen und gehorchten den halbwüchsigen Melkerinnen nicht und noch weniger den Bälgern, die als Viehhüter versuchten, irgendwie Ordnung in das Ganze zu bringen.
Ich sah mir das Schauspiel eine Weile wie gelähmt an und verstand, dass wir noch Schlimmeres vor uns hatten, wenn wir es nicht schafften, die Kühe in ihre jeweils eigenen Umzäunungen zu treiben.
Winzige Hagelkörner, die mit dem Wind kamen, setzten mich in Bewegung. Katri rief, komm, wir führen unsere Viecher auf die Seite, bevor sie in dem Gewühle noch wild werden. Bange redete sie der Ilona pausenlos zu, dass alles gut wird. Schließlich stapfte die Ilona auf die Seite und blieb stolz wie die Zarin vor einer großen Eberesche stehen. Als Älteste aus unserem Stall gab sie das Beispiel, wie man sich unter wild gewordenen Artgenossen zu benehmen hatte. Es gelang uns, die anderen Kühe um die Ilona herum zu versammeln, die Sisko und die Sokkeri eingerechnet. Die Soma und die Kielo fanden wir ein Stück weiter weg. Da lagen sie wie verwirrte Zwillinge, obwohl sie ein Jahr Altersunterschied hatten. Katri passte auf die Herde auf, in der die Kühe beieinander Schutz und Wärme suchten, und ich ging den anderen helfen.
Bis zum späten Nachmittag hatten wir die Kühe aus unserem Dorf von den Kühen der Nachbardörfer getrennt. Alle waren in ihren eigenen Umzäunungen. Die Kälber hatten wir in den Sommerstall getrieben und die Schweine in die anderen Ställe geführt. Die Hühnerkörbe trugen wir in den alten Lagerschuppen. Der Bombenstier aus Ratasvuoma, der einst die Ilona bestiegen hatte, und unser Janne hatten sich in dem Chaos gefunden. Messer-Väinö hatte beide hinten am Wagen von der Tamara angebunden. Mal musterten sie sich gegenseitig mit finsterem Blick, mal leckten sie sich gegenseitig das Maul, dann wieder brüllten sie wie brünstige Jungbullen. Der Wind legte sich, und es hörte auf zu regnen. Meine Füße waren klatschnass und eiskalt, gleichzeitig lief mir derart der Schweiß, dass mir das Kleid am Rücken klebte. Immerhin schützte die Jacke meine Schultern. Katri machte mir Beine, damit ich ihr beim Melken half. Sie molk die Kerttu, ich die Liina, die Sisko und die Ilona. Die Pirkko war eine ausgewachsene Kuh, aber ihre Zitzen brauchte man nicht anzufassen, weil sie gelt war. Bald hatten wir Milch für die Kälber und konnten selbst so viel davon wegsaufen, dass wir fast kotzen mussten. Erschöpft und frierend saßen wir nebeneinander auf einem Stein und hielten uns fest an den Händen. Immer finsterer wurde die Herbstnacht. Die Sorge um das Vieh lastete so schwer auf mir, dass ich die Luft tief einsaugen musste. Martta kam zu uns und sagte, wir können in der Scheune schlafen, da gibt’s Heu, in das können wir uns eingraben.
In der Scheune hatten sich zig Viehtreiber versammelt. Jemand röchelte, jemand stöhnte im Schlaf. Ältere Mädchen und wilde Kuhbuben lagen nebeneinander und wurden vom schwachen Licht des zunehmenden Mondes beschienen, das durch ein kleines Fenster fiel. Martta öffnete ihr Bündel. Es enthielt drei Gegenstände: einen Topf aus Email, eine Suppenkelle und einen Löffel. Zufrieden schnürte sie das Bündel wieder zu und versteckte es im Heu. Martta und Matti machten eine tiefe Kuhle, in der rollten wir uns dann zusammen. Matti kuschelte sich an Martta, ich rutschte an Katri heran und lauschte, wie ihre Lunge klang. Ich dachte an unser Haus. Wir konnten vor dem Krieg fliehen, das Haus aber nicht. Wie es ihm wohl ergehen würde? Wird es eine Granate abbekommen, wird eine Bombe darauf fallen, wird es angezündet werden? Und was wird aus mir?
Nach dem Morgenmelken brachten Katri und ich dem Vieh Wasser aus dem Ziehbrunnen und trockenes Heu aus dem Stall. Vor dem Speichergebäude war eine Gulaschkanone aufgetaucht, aus der Lottas und ein paar Schwestern aus dem Soldatenheim Erbsensuppe an uns ausgaben. Wir aßen abwechselnd aus Marttas Topf, weil an Tellern, Schüsseln, Löffeln und Tassen Mangel herrschte. Die Suppe schmeckte so gut, dass ich darin hätte schwimmen können.
Dann sprang die Sonne auf die Weiden und wärmte bald auch mir angenehm das Gesicht. Katri und ich machten blau. Wir guckten uns die Leute an. Als wir davon genug hatten, holte ich eine Bürste aus dem Stall, und wir striegelten zusammen die Kälber. Katri machte mir vier Zöpfe, so wie es in Karelien Brauch ist. Ich kämmte ihr die blonden, groben Haare richtig durch und band sie im Nacken zusammen. Wir flochten uns Schachteln aus Birkenrinde, rannten in den Kiefernwald und sammelten Pilze, reife Preiselbeeren und halb verfrorene, wässrige Blaubeeren, bis die Schachteln voll waren. Matti entdeckte am Rand eines Sumpfes unter dem Moos jede Menge dicke Moosbeeren. Die waren so reif, dass mir der Saft über den Handteller lief, als mir Matti eine Handvoll hineinschüttete. Da musste ich an den Krieg und an den Tod denken. Ich spürte ganz deutlich, dass ich lebte und mich eine Schnur mit der Welt verband. Ein Admiral flog mir aufs Handgelenk. Er war schwarz und hatte orange Bänder auf den Flügeln, wie es sich gehörte. Unsere Lehrerin hatte gesagt, es dauert zwei Generationen, bis so ein Schmetterling mit dem Wind aus südlichen Ländern zu uns geflogen kommt. Mir fiel auf, dass der K.P. brav der Ilona hinterherlief. Die Ilona tat so, als merkte sie nichts. Plötzlich drehte der K.P. durch, stürmte durch den Graben in den Kiefernwald und verschwand. Hoch am Himmel tauchten zwei schwarze Punkte auf, die sich nach Norden bewegten. Ihr donnerndes Dröhnen stach in den Ohren.
Wir hatten fast einen ganzen Tag lang gerastet und getan. In der Feldküche rief jemand, hier gibt es Schaffleisch, das hat die Bäuerin gestiftet. Katri und ich rannten hin und bekamen je einen Fleischbrocken auf die Hand. Wir setzten uns auf die Treppe und vertilgten in der Abenddämmerung das Lamm, dass uns das Fett nur so aus den Mundwinkeln lief. Dabei sah ich, wie auf der anderen Seite der Straße ein alter Mann die Feldraine abbrannte. Flackernd fraßen sich die Flammen am Graben entlang vorwärts, wie eine Wand stieg schwarzer Rauch zum Himmel auf. Da kam mir der Gedanke, dass die alte Welt untergeht, und in meinem Bauch rumorte die Angst vor dem, was morgen kommt. Ich konnte mich aber beruhigen, indem ich dachte, die Zeit ändert sich, so wie sich alles ändert, sie löst sich auf, zerfällt, verklumpt zu etwas anderem, und daraus entsteht und wächst dann etwas Neues.
Vom Kommandanten des Schutzkorps kam der Befehl, weiterzuziehen. Martta hatte die Soldaten, die auf der Anhöhe herumstanden, gefragt, warum wir ausgerechnet am Abend losgeschickt werden, aber entweder kannten sie den Grund nicht oder wollten ihn nicht nennen. Martta rief, dass sie nirgendwohin geht. Einer der Soldaten kam zu ihr und sagte, ihr tut, was man euch befiehlt, wer aufmuckt, wird erschossen. Ich sah, wie er Katri dabei zuzwinkerte.
Eine Herde nach der anderen verließ den Laamanen-Landrücken. Manche Leitkühe hatten Zaumzeug und ein Mädchen, das sie führte, bei den meisten klimperte eine Glocke am Hals. Noch immer zogen auf der Straße Vieh, Viehmägde und sonstiges Volk aus dem Norden in Richtung Süden. Vielen wuselte ein Lapphund oder ein gemischtrassiger Rentierhund um die Beine herum. Ich betete, dass es unser Murre, der dem Onkel und meiner Mutter hinterhergerannt war, auf die Fähre und nach Westen geschafft hatte und in Sicherheit war.
Wir wichen in den feuchten Straßengraben aus, weil wir uns ganz ans Ende zurückfallen lassen wollten. Ich rechnete mir nämlich aus, dass ich so das Vieh am besten ruhig halten konnte. Dann schlossen wir uns mit unserem Vieh der Karawane an und zogen dem Sonnenuntergang entgegen, ohne zu wissen, wo wir uns als Nächstes niederlassen würden.
Es war tiefgrau und später Abend, aber es regnete nicht. Nach einigen Getreidefeldern kam uns eine Kolonne russischer Kriegsgefangener entgegen, die von Deutschen geführt wurde. Die Gefangenen hatten erbärmliche Fetzen am Leib, man hatte ihnen die Köpfe kahl geschoren, und sie schlotterten. Ein deutscher Offizier kommandierte uns auf die alte Straße. Wenig später stapften wir in einer langen Schlange an einer Reihe Ebereschen und an gepflügten Äckern vorbei auf einen giftgrünen Wald zu und der Nacht entgegen. Die alte Straße wurde immer schmäler, wurde zur Dorfstraße und schließlich zu einem feuchten Viehweg, auf dem vom Regen verschont gebliebene raschelnde Ebereschen- und Birkenblätter lagen. In der Feuchtigkeit des späten Abends glitzerten Spinnweben an den Zweigen der Bäume und Sträucher.
Es war schon dunkel, als wir einen schmalen Fluss erreichten. Vorsichtig setzten die Kühe die Hufe zwischen die glatten Steine, trotzdem hopsten und stolperten sie mit Angst im Hals. Sie hatten blutige Beine, sogar an den Eutern hatten die Äste umgestürzter Bäume ihnen Schrammen beschert. Am anderen Ufer verschwand Marttas Vieh tief im Wald, und unsere Kühe folgten. Sie rochen die Butter- und Birkenpilze. Ich sagte zu Martta, wir bleiben über Nacht hier und lassen das Vieh Pilze schlemmen, solange es welche gibt. Matti und ich holten zwei anständig ausgedorrte Kiefern aus dem Wald und machten ein Balkenfeuer. Rot und gelb leckten die Flammen über das alte Holz. Wir waren fix und fertig, trotzdem hatte ich ein leichtes Herz. Ich kam mir so losgelöst vor wie ein wildes Ren. Ich zog in die weite Welt hinaus, die für mich neu und unbekannt war. Wir schliefen in der Wärme des Feuers wie Katzenjunge auf einem Haufen.
In der Morgendämmerung brachen wir auf. Der Himmel wurde heller, als wir einen breiteren Waldweg mit Silberfichten rechts und links erreichten. Bis Mittag gingen wir sehr erleichtert voran, aber dann wurde der Weg wieder zum Viehweg und dann zu einem Fallenstellerpfad, der in einem mit Wollgras verzierten Sumpf verschwand. Katri schluchzte, wir würden noch im Sumpf ertrinken. Ich sah, dass ihre Kräfte geschwunden waren und dass sie Angst hatte. Auch ich wollte schon aufgeben. Da rief Martta, dass es hinter dem Sumpf festen Boden gibt. Also klemmten wir uns die Schuhe unter die Arme und wateten mit bloßen Füßen durch den Sumpf. Die Kühe sanken bis zu den Bäuchen in den Moorlöchern ein, die schon eine dünne Eisschicht hatten. Sie muhten wie Schlachtvieh. Die Ilona sah mich an, in ihren Augen brannte das Entsetzen. Als ich endlich wieder Waldboden unter den Füßen spürte, liefen auch mir die Tränen aus den Augen. Aber die Sonne stieg zum Himmel auf, und ihr goldenes Licht brachte Trost. Wir hielten an, um durchzuatmen. Die Sisko reckte die Schnauze nach den Baumwipfeln, versuchte zu brüllen, bekam jedoch keinen Laut heraus.
Am nördlichen Himmel ballten sich Wolken zusammen. Sie schoben sich vor die Sonne, und das Licht verschwand. Ich ging zur Ilona, kraulte sie an der Innenseite der Ohren, wie sie es mochte, und sagte, wir geben nicht auf. Dann fing es träge an zu schneien. Große Flocken, nass wie frisch gewaschene Handtücher, wischten mir über Augen, Mund und Backen und rannen in den Kragen. Die Liina hatte sich schon die Hufe abgelaufen, sie hinterließ blutige Spuren auf dem weißgrauen Boden. Es half aber nichts, wir mussten weiter. Dann erreichten wir die verdreckte Straße. Ich war ganz klamm vom nassen Schnee, aber allein die Landstraße, auch wenn sie rutschig war, gab mir Kraft. Ich sah Katri an. Sie versuchte zu lächeln. Wir kamen an eine Stelle mit Feldern rechts und links. Eine Wolke nach der anderen verzog sich, und es wurde wärmer. Schon quoll die ganze Müdigkeit aus den Ohren und löste sich in Luft auf. Ich sah mich selbst als selbstständige Viehbesitzerin, die was kann und die einen anständigen Stall für ihre Kühe und in der Stube ebenso viele Bücher hat, aber andere, als der Onkel in der guten Stube hat. Solche, die ich noch nicht gelesen habe.
Alles mögliche Volk zockelte an uns vorbei: Reste einer Division deutscher Soldaten, von der Ostgrenze zurückkehrende ausgehungerte und schmutzige finnische Soldaten, in deren Augen der Grimm des Überlebens glänzte, Lottas und Fronthelferinnen sowie ein Mensch aus dem Süden, der während der Kriegszeit am Strom gewohnt hatte und sich jetzt vor dem Krieg gegen die Deutschen wieder nach Hause flüchtete. Wir hatten die zwei Töchter vom Vetter meines Vaters bei uns im Haus gehabt. Sie waren auf der Flucht vor dem Krieg und jünger als ich gewesen. Ich mochte sie beide nicht, weil sie aus der Hauptstadt kamen und Angst vor Tieren hatten. Zum Glück schickte sie meine Mutter schon im Spätsommer mit dem Kantor aus dem Kirchdorf wieder in den Süden zurück.
Es kamen uns Zugrentiere entgegen, hinter denen ein Sommerschlitten angebunden war oder sogar drei. Der eine hatte frisches Rentierfleisch geladen, der andere zwei Bottiche mit Deckel, vielleicht mit Salzfisch drin. Ein Frontpferd, das die Nerven verloren hatte, kam uns ebenfalls entgegen. Es schlurfte und zog einen schief laufenden Wagen. Dabei wurde es von einem düsteren Kerl mit Bart gelenkt, der ein Dutzend arme Schlucker geladen hatte, alle ausgezehrt von fünf Kriegsjahren. Sie hatten die Gesichter von alten Menschen. Es kam uns alles Mögliche entgegen, eine Kommode, der Deckel von einem Ausziehsofa, ein Geschirrschrank, ein Esstisch, rußige Bratpfannen, Vertikos, ein Königssessel, eine Blumenbank, ein Engelbild und Spanschachteln mit Deckeln, ein Spinnrad, eine Schüssel für Sauerteig, eine Teigmulde, pralle Papiersäcke, von denen einer ein Loch hatte, aus dem ein bunter Wandteppich herausspitzte, Holzkisten und Stoffbündel, kaputtes Rentierzaumzeug, gebrochene Deichseln, Heurechen, Blechtöpfe und eine verbogene Schaufel.
Es war zur blauen Stunde, als wir die Ländereien vom Gut Marjasaari erreichten. Die Luft war klar. Wir bogen in eine prächtige Birkenallee ein. Die Kühe des Hofs standen neben der Allee auf der Weide. Sie verzogen die Mäuler, als sie uns sahen, fingen an zu brüllen und stampften wütend mit den Vorderfüßen auf die Erde. Und dann brach auch schon die Leitkuh durch den morschen Zaun und die anderen Kühe hinterher. Eine schoss auf die Sisko zu, um sie zu stoßen, eine andere brachte die Soma zum Springen. Erst als die Bälgerschar des Hauses angerannt kam, um das Vieh wieder auf die Weide zu treiben, beruhigte sich die Lage.
Wo wir hinsahen, war was los. Rekruten stellten riesige Zelte auf einem nassen Kartoffelacker auf. Wir schafften es, unser Vieh vor eine Strohscheune zu treiben. Die Tiere legten sich sofort hin. Martta ging sich umhören und sagte, es wäre in keinem Gebäude mehr Platz und nicht erlaubt, Feuer zu machen, wir müssten in unseren nassen Kleidern unter freiem Himmel schlafen. Ich ging zwischen den Tieren hindurch zur Sauna, in der Hoffnung, dort die Unterkleider ein bisschen trocknen zu können, aber vor der Sauna empfing mich der Arsch einer Kuh. In der Sauna selbst schienen drei alte wiederkäuende Kühe zu stehen. Neben dem Saunagebäude war ein Armeezelt aufgestellt worden, neben dessen Eingang die Fahne vom Roten Kreuz hing. Eine blasse, stille Schlange hatte sich vor dem Zelt gebildet. Einer hatte sich den Fuß verletzt, ein anderer die Schulter, jemand schwankte erkältet auf der Stelle, manche hatten Abschürfungen oder tiefe Wunden an Armen und Beinen, einer hatte einen trommeldicken Bauch, der ihn schwer im Stich ließ.
Ich erkannte die Stimme von der Sisko. Sie brüllte erbärmlich. Ich ging nachsehen. Sie lag auf der Erde, ihr Euter war unglaublich geschwollen und tat natürlich weh. Die Sokkeri stupste sie mit letzter Kraft an, damit sie aufstand, aber die Sisko blieb einfach liegen. Ich sah, dass sie kein Fieber hatte. Sie war nur fix und fertig und konnte nicht aufstehen. Ich holte Katri, Martta und Matti zu Hilfe, und zusammen schafften wir es, sie auf die Beine zu bringen. Die Sokkeri saugte kurz und brach dann müde zusammen. Ich molk die Sisko und gab der Tyyra, der Sylvi und der Laulu, also Marttas großen, betrübt dastehenden Kälbern, die Biestmilch zu trinken. Das machte sie munter und flößte mir den Glauben ein, dass sie unterwegs nicht getötet werden mussten. In den Rest der Milch warf ich eine Handvoll dicker Blaubeeren und pralle Preiselbeeren, und die Mischung schlürften wir dann zusammen.
Herbstschneeregen setzte ein, ging aber allmählich in faulen Regen über. Bald hörte auch der auf, und es wurde ein bisschen wärmer. Matti kam mit der Nachricht, dass es am Gutshaus etwas zu essen gab. Wir gingen hin. Um die Feldküche herum wimmelte es vor Menschen: Soldaten, Leute von der Landwehr und vor allem Viehtreiber wie wir. Alle Sorten von Flüchtlingen. Ein paar ehemalige deutsche Waffenbrüder und jetzige Feinde gehörten auch dazu. Lottas teilten dicke Erbsensuppe aus. Marttas Topf, Löffel und Tasse gingen von einer Hand zur anderen. Meine Hände zitterten dermaßen, dass auch die Schultern schlotterten, aber nachdem ich mir eine große Portion Eintopf in den Magen geschaufelt hatte, hörte das Zittern auf. Ich spürte, wie das Blut in den Bauch schoss, und war ganz benommen. Eine Lotta mit hellem Gesicht rief, es sind Zelte aufgestellt worden, in denen können alle schlafen.
Im Zelt war es feucht wie in einer schlecht geheizten Sauna. Auf der Erde hatten man Fichtenzweige als Unterlage ausgebreitet. Ich zog Kleid und Unterwäsche aus und hängte sie zum Trocknen auf die Leine, die unter dem Zeltdach gespannt war. Nur mit der Jacke am Leib setzte ich mich hin. Unter den Gestank von ehrlichem Dreck und feuchten Lumpen mischte sich der frische Geruch der Fichtennadeln. Mitten im Zelt glühte blutrot ein Kanonenofen. Die Zeltkommandantin, ebenfalls eine Lotta, sagte, ihr könnt schlafen, wir Lottas passen auf, dass das Feuer nicht ausgeht. Matti schlüpfte unter Marttas Achsel, ich an Katris Seite.
In der Nacht musste ich pissen und kroch aus dem Zelt. Die wolkenlose Himmelskuppel hatte ein Loch neben dem anderen. Die Sterne waren regungslose Öffnungen in der Himmelsasche, mal flimmerten sie matt, mal heller. Ein mehrere Millionen Jahre alter Stern loderte richtig. Ich fragte mich, warum man von den Sternen nur das Licht sah und sonst nichts. Ein heller Stern sieht größer aus als ein matter, kann aber kleiner sein. Mit dem Fernrohr vom Onkel hatte ich das selbst gesehen. Im September des Vorjahrs guckten wir uns vom Gipfel des Ahmavaara aus, den der Onkel Selene-Berg nannte, die wandernde Venus an. Der Onkel erzählte, dass das sowohl der Abend- als auch der Morgenstern ist. Und die Sterne sind Fenster in die Vorzeit. Auch wir sind von dort gekommen. Oma meinte, die Sterne sind aus glänzendem Eis und Kristall gemacht, so wie der Kronleuchter in der guten Stube von Isotalo, aber der Onkel wusste, dass in den Sternen ein Gasofen lodert. Daher kommt das Licht. Wenn das Feuer ausgeht, stirbt der Stern.
Eine Kriebelmücke biss mich wütend in den Arsch. Ich verzog mich wieder ins Zelt, schnupperte den Zitronengeruch von Katris Achsel und sank in festen Schlaf.
Über Nacht waren neue Leute vor unserem Zelt aufgetaucht: eine alte Frau, die einen Haufen Kinder dabeihatte, zwei plattbrüstige Weiber, denen eine qualmende Pfeife im zahnlosen Mund hing, ein langer Kerl mit Bart, der ein kleines lahmes Mädchen im Rucksack trug, außerdem zwei muntere Rechtgläubige, die im Überschwang Zionslieder sangen. Um die Bande herum lagen ein paar dürre, hungrige alte Knacker. Ich hörte, wie weit weg auf den Feldern die Dreschmaschine lärmte. Im Osten war der Himmel violett. Ich hatte Angst, dass es wieder anfing zu regnen. Jemand rief, die Straßen sind verstopft. Wir müssen auf den Marschbefehl warten, wusste er. Katri sagte, dass sie vom Westen geträumt hatte. Dort fütterte nicht der Mensch die Tiere, sondern eine Maschine.
Außer der Sisko gaben die Kühe nur wenig Milch, weil sie nichts zu fressen bekommen hatten. Wir bekamen immerhin gleich am Morgen Gerstengrütze, die die Lottas gekocht hatten. Ich ging zur Liina. Sie lag da, als hätte sie alle Hoffnung verloren. Sie guckte mich nicht mal an. Ihr Huf war in erbärmlichem Zustand. Nicht aufgeben, flüsterte ich ihr ins Ohr. Die Sokkeri wankte, und auch die Kälber von Martta ließen traurig die Köpfe hängen und sahen aus, als hätten sie alles gegeben. Matti erzählte, dass er im Nachbarhaus um Heu gebettelt, aber keinen einzigen Halm gekriegt hatte. Die Bäuerin hatte gesagt, sie bräuchten das Heu selbst, sie würden daheimbleiben.
Martta sagte, die Leute aus Juustovaara hätten beschlossen, die Kühe im Stall zu lassen, obwohl sie selbst nach Westen wollten. Die Mägde würden dann in der Nacht heimlich über den Strom rudern und sie melken. Die Schafe und die Schweine hätten sie schon in den Wald getrieben und den Hühnern die Köpfe abgehackt. Martta seufzte, das sind grausame Leute, weil sie die Tiere ihrem Schicksal überlassen, diese wer weiß woher geholten neuen Deutschen, von denen man weiß, dass sie so brünstig sind, dass sie in der Not auch den Jungkühen die Ärsche wund ficken.
Martta war in den Seedörfern als eine der besten Gerüchteschleudern der Gegend bekannt. Wenn jemand Rauch roch, wusste Martta, wo es brannte. Sie sagte, sie hätte herausgefunden, dass im Walddorf alle Höfe gemeinsam das Getreide gedroschen haben, auch die armen, die nicht zur Dreschgenossenschaft gehörten, und dass die Vuonoroa-Oma, die als knickerige Person bekannt war, die Sau geschlachtet hat, um sie gegen ein paar Flaschen Kognak von den Deutschen einzutauschen. Die würde sie dann an Durstige verkaufen, wenn das Getreide gedroschen ist und die Säcke versteckt worden sind. Martta erzählte auch, dass an diesem Abend auf der Landungsbrücke vom Raattanen zum Dreschtanz aufgespielt wird, und flüsterte Katri ins Ohr, da gehen wir hin, du und ich, die Verrückte lassen wir hier, die kann mit Matti aufs Vieh aufpassen. Mit der Verrückten meinte sie mich. Ich hatte einmal aus Versehen zu ihr gesagt, dass die Sonne ein Stern ist. Katri sagte, alle wüssten, dass Tanzen unter Androhung von Bußgeld und Gefängnis verboten ist, sie wollte nicht als Evakuierte der Amtsgewalt in die Hände fallen, und sie würde sich auch nicht trauen, mir und Matti die Kühe zu überlassen. Martta meinte dazu nur, Katri weiß nicht, was Spaß macht, obwohl sie immer groß vom fröhlichen Karelien tönt, außerdem sind wir zum Glück bald im Ausland und dürfen jeden Tag tanzen, wenn wir wollen, und man wird uns richtige Galoschen geben, weil im Westen alle reich sind und die Leute eingebildet, die Männer haben Hüte aus Filz auf, bei den Herrschaften biegen sich die Tische unter den Zuckerspeisen, die Häuser sind groß, sogar das Getreide ist, wenn es sich gelegt hat, zweimal so lang und viel dicker als hier dasjenige, das sich noch nicht gelegt hat, und in den Geschäften gibt es lauter Sachen, die wir niederen Arbeitstiere uns nicht mal vorstellen können.
Auf Marttas Gesicht erschien ein ganz kleines, spöttisches Lächeln, als sie ihre kräftigen Beine der untergehenden Sonne entgegenstreckte, bevor sie aufstand. Sie drückte den Rücken durch, hob den Kopf und schwenkte beim Gehen die Hüften, als wäre sie der Nabel der Welt.
Am späten Abend hatte sich das Vieh beruhigt, und ich setzte mich mit Katri hinter einen Stoß mit Holzscheiten. Es war, als wäre die Klarheit, aber auch die Wärme vergangener Augustnächte angeschwebt gekommen, um uns zu trösten. Hinter dem Wald hörte man leise Melodien aus einer Mundharmonika und das Gepolter einer Polka. Ich dachte, es wäre wunderbar, zuzugucken, wie die Menschen tanzen. Da tauchte Matti auf. Er hatte eine kleine Dose in der Hand, die er von irgendeinem Deutschen bekommen hatte. Er machte die Dose auf und stellte sie auf den Boden. Sie roch nach gekochtem Stockfisch. Dann holte Matti eine Handvoll Zucker aus der Tasche und gab jeder von uns drei Stück. Sie hatten eine komische Farbe und rochen nach Anis. Matti zog wie ein Mann das Messer aus der Scheide und schnitzte drei Spieße, machte in der Dose Feuer, steckte ein Zuckerstück auf einen Spieß und fing an, es zu braten. Wir machten es genauso, und als der Zucker geröstet war, bliesen wir, damit er abkühlte, und steckten ihn in den Mund. So wärmten wir alle Zuckerstücke und lutschten sie. Schon war uns zum Lachen. Matti drehte sich eine Weile wie ein Kreisel auf der Wiese, dann schlief er ein. Ich sagte zu Katri, lass uns tanzen gehen. Hand in Hand rannten wir durch den Wald zur Landungsbrücke. Die war voller Menschen. Wir mischten uns unter junge Soldaten, Deutsche, Flittchen, Mädchen, Frauen und Männer. Wie die Wilden tanzten wir jeden Jenkka, jede Polka, jeden Walzer, Fox und Tango. Bis zum Steißbein lief der Schweiß, und wir wirbelten herum wie die Bohnen in der Rösttrommel. Obwohl wir immer mehr aufdrehten, trafen wir den Takt, und wir lachten, als wären wir aus der Irrenanstalt abgehauen. Ab und zu versuchte uns ein Kanonier zu stoppen und sich Katri zu schnappen, aber ich zog sie jedes Mal weg. Ich war vom Tanzen so in Fahrt, ich dachte, wenn die Militärpolizei kommt und mich und Katri ins Gefängnis bringt, dann soll sie doch. Matti wird sich schon ums Vieh kümmern.
Als die Musik aus war, wären die Kanoniere am liebsten mit uns gekommen. Aber wir nahmen sie nicht mit. Wir gingen durch die knackig kalte Nacht zu unserem Quartier. Es musste fast unter null Grad gewesen sein, weil die Erde Nebel ausstieß. Ich sagte zu Katri, daheim hätte ich nicht zum Tanzen gedurft, weil ich noch nicht im Konfirmandenunterricht gewesen bin.