Die Frau im Eismond - Ulrich Nexus - E-Book

Die Frau im Eismond E-Book

Ulrich Nexus

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Beschreibung

Es ist die wichtigste Zeit der Menschheitsgeschichte. Und es ist seit langem wieder ein Auftrag für Claire Lamberton eingegangen. Zusammen mit Lukas bricht sie auf. Für Taqtu ist es die erste große Reise ihres jungen Lebens, bei der sie hofft, etwas völlig neues aufzubauen. Eins haben alle drei gemeinsam, ihr Ziel. Aber die staatsgrenzenlose Antarktis ist zum Schauplatz eines barbarischer Kriegs geworden, bei dem es um Rohstoffe und Ausbeutung geht. So stoßen sie auf eine geheime Polarstation und erfahren, dass ein Menschenleben im ewigen Eis nichts zählt. Eine gnadenlose Jagd auf die drei beginnt. Nur das Eis ist ihr Verbündeter.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buchbeschreibung:

Es ist die wichtigste Zeit der Menschheitsgeschichte. Und es ist seit langem wieder ein Auftrag für Claire Lamberton, und auch für Lukas. Sie suchen eine im Eis verschollene Forscherin. Für Taqtu ist es die erste große Reise überhaupt, bei der sie hofft, etwas neues aufzubauen. Eins haben alle drei gemeinsam, ihr Ziel. Die staatsgrenzenlose Antarktis ist Schauplatz eines barbarischer Krieges geworden, bei dem es um Rohstoffe geht. Sie stoßen auf eine geheime Polarstation und erfahren, dass ein Menschenleben im ewigen Eis nichts zählt. Eine gnadenlose Jagd auf die drei beginnt. Nur das Eis ist ihr Verbündeter.

Über den Autor:

Der Projektmanager und Autor dieses spannenden Romans lebt und arbeitet nahe Heidelberg.

Inhaltsverzeichnis

Epilog Weltraumbahnhof, Kourou (5°9‘ Nördlicher Breite; 52°39‘ Westlicher Länge; Juni 2022)

Erika gerät in Gefangenschaft

Professor Peters in Nuuk

Bernd Bogner, Kourou (2026)

Erika in Gefangenschaft

Linus Bogner auf Faial, Azoren

Taqtu (Isla de los Estados, 54°49‘ Süd, Herbst 2029)

Zirkumpolar

Linus Bogner, La Réunion

Taqtu Reise nach Joinville Island

Linus, Claire, Kerguelen

Taqtu

Linus & Claire, Calotte Glaciaire

Taqtu, Buena Esperanza

Taqtu, GARS-Station

Linus & Claire

Ankunft Eden ISS

Taqtu auf der Polarstern

Linus in Neuschwabenland

Linus

Taqtu auf dem Weg zur Trollstation

Linus Gletschermühle 075 (75°01‘ Südlicher Breite, November 2029)

Neuschwabenland, November 2029

Claire in Gefangenschaft

Trollstation (1)

Im Dunkel der Nacht

Professor ABC

Trollstation

Professor ABC November 2029 (Piri Reis Portal, 70°41‘ Grad südlicher Breite)

Fluchtpunkt Chinesische Station

Geheime Station

Generatorenschnurren

Eine Frau mit zorniger Miene

Celldorado

Das Schutzgitter

Schnurrhindurch

Hoffnung

Ugly Gorilla

Die letzten Meter

PistenBully

Celldorado

Neumayer Drei

Polarstern

Polarstern Face-to-Face

Kourou

Jupitermond Europa (Dezember 2029)

Glossar

Epilog Weltraumbahnhof

Kourou (5°9‘ Nördlicher Breite; 52°39‘

Westlicher Länge; Juni 2022)

Die Großrakete ähnelt einer Diva kurz vor der Premiere. Aufrecht auf dem Starttisch stehend ist sie bestens vorbereitet, um abzuheben. Mit ihren prallvoll gefüllten Tanks, in denen die flüssigen Gase erwartungsvoll schwappen, wartet die Ariane nur darauf, endlich zu ihrem Auftrag durchzustarten. Man hat sie geschaffen, um in der Weite des Sonnensystems einen beweglichen Punkt anzusteuern. Dort soll sie landen, denn ihr ausgemachtes Ziel ist der Eismond Europa, der den gewaltigen Jupiter umkreist.

Merkwürdige Streifen haften deutlich sichtbar an der Außenhaut der Rakete, denn die tropische Luftfeuchtigkeit hat schneeweiße Gürtel gebildet. Ein elektrisches Signal aus dem Kontrollzentrum zündet das Haupttriebwerk. Augenblicklich beendet die Ariane ihren Kälteschlaf und lässt Theaterdonner ertönen. Zeitverzögert zünden nun auch die angeflanschten Feststoffbooster. Der dreifach zylindrische Körper erzittert. Enorme Gasmengen schießen unaufhaltsam aus ihnen hervor. Diese feurigen Stoffe, die aus ihrem Inneren entweichen, pressen den Löwenanteil des Startschubs an ihrem unteren Ende heraus. Zusammen mit den Verbrennungsgasen aus der Düsenmündung des Haupttriebwerks entsteht ein unerträglicher, himmelhoch jaulender Höllenlärm, der mit nichts anderem zu vergleichen ist. Alles in der Umgebung hat sich diesem urgewaltigen Brüllen zu unterwerfen, bedingungslos und unausweichlich. Ein dröhnendes Grollen durchzieht inzwischen das gesamte Startzentrum Centre Spatial. Das Raketendonnern findet einen Weg vorbei an zugehaltenen Ohren, vorbei an jeder Form schützender Fläche, dringt hinein bis zu den Eingeweiden der Zuschauer und versetzt diese in Schwingungen. Doch dieses Vibrieren ist unvermeidlich. Der Wunsch, diesen Ort zu verlassen, wird immer größer, je länger das Martyrium des Schalls auf den Körper anhält. Erst weiter hinten, in den immergrünen Urwäldern französisch Guayanas, verliert sich das infernalische Wüten. Die Flammen des Raketenmotors schleudern mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit nach unten in den Schacht. Dort brechen sie sich am Flammendeflektor und drängen in heftigen Wolkenwallungen zur Seite. Um Lärm und Vibrationen zu bändigen, schießen gewaltige Wassermengen aus einem nahen Reservoir in Form einer Wasserglocke auf den Starttisch.

Die letzten Verbindungen zwischen Turm und Rakete werden gekappt. Behutsam hebt die Trägerrakete vom Startplatz ab. Kein startender, voll beladener Kampfbomber, kein anderes technisches Gerät hat dieser Lautstärke etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Nach nur einer Sekunde ist der Schub schon auf ungeheuere tausendzweihundert Tonnen angewachsen. Trotzdem bewirkt er anfangs nur eine kaum erkennbare Anhebung der Ariane. Höchste Präzision der Steuerinstrumente verhindern das Kippen, Taumeln oder Drehen der Rakete.

Das Vulcain-Triebwerk erreicht seinen maximalen Schub. Damit gewinnt die Ariane schnell an Höhe. Angetrieben von drei wutschnaubenden Triebwerken und hell bestrahlt von der Tropensonne steigt sie weiter nach oben. Auf einem Höllenritt aus Hitze, Wasserdampf und Verbrennungsgas bleibt das technische Meisterwerk auf Kurs. Trotz der Urgewalten kämpft sich die Ariane höher empor und meistert den Balanceakt zwischen Kraft und Präzision.

Die hervorschießenden, senkrecht nach unten gerichteten Flammenkegel beschleunigen die fünfzig Meter lange Trägerrakete immer weiter und lässt sie in die Höhe schießen. Die Ariane lenkt ihren Weg kontrolliert hinein in den sich darüber wölbenden, vom Höllenlärm völlig unbeeindruckten Himmel, der im Westen an den tropischen Urwald Guayanas und im Osten bis an den offenen Atlantik reicht. Der erste kritische Moment des Starts ist vorüber.

Mit wachsender Entfernung vom Erdboden vibriert der Raketenkörper jetzt zunehmend heftiger. Schweißnähte, Materialverbindungen, Kontakte und Klebestellen müssen den extremen Belastungen standhalten. Das Innenleben der Ariane ist darauf bestens vorbereitet. So bleibt selbst das frenetischste Gerüttel wirkungslos. Mühelos überschreitet die Rakete die Schallgeschwindigkeit. Nach und nach leeren sich die Feststoffbooster. Sie hauchen ihr kurzes Leben aus, das wild, ungestüm und glühend heiß war. Diese Zusatzraketen haben in zwei Minuten alles ausgespien, alles herausgebrüllt, was an Energie in ihnen steckte. Nun sind sie unnütz, nur noch Ballast. Sie werden abgeworfen, um zur Erde zurückzukehren. Nichts darf das weitere Aufsteigen erschweren.

Die korrekte Abtrennung der Booster überträgt das Online-Kamerasystem in erstklassigen Bildern an das Kontrollzentrum Jupiter in Kourou. Einzig die blaurot leuchtende Kegeldüse der Hauptstufe brennt sieben Minuten länger, zunächst scharf umrissen und dann mit zunehmender Höhe und geringem Luftdruck immer breiter werdend. So wird die Ariane bis zum Brennschluss der Hauptantriebe kraftvoll in 150 Kilometer Höhe gebracht.

Planmäßig zündet nun das Vinci-Triebwerk der kryogenen Oberstufe »Étage Supérieur Cryotechnique«. Wieder wird zurückgelassen, was unbrauchbar geworden ist. Mit der weiteren Beschleunigung erreicht die Rakete die vorbestimmte Kreisbahn um die Erde, den Parkorbit. Jetzt rast sie mit fast acht Kilometern pro Sekunde um den Blauen Planeten. Das soll allerdings nicht so bleiben, denn bis zum Ziel der geplanten Europareise liegt noch ein gewaltiges Stück Strecke vor ihr. Und dafür ist sie immer noch zu langsam.

Die dahinrasende Raketenstufe muss weiter an Tempo zulegen, denn so leicht entlässt die Erde nichts aus ihrem Bann. Trotzdem schaltet das eingebaute Navigationssystem das Vinci-Triebwerk ordnungsgemäß ab. Um jetzt höher zu steigen, beschleunigt die Oberstufe mit kurzen Impulsen gezielt weiter, sodass sie am äußersten Ende dieser Hohmann-Ellipse in eine Kreisbahn um die Erde einschwenkt. Damit gelingt es ihr, auf fast sechsunddreißigtausend Kilometer über die Erdoberfläche aufzusteigen. Dort angekommen, schwenkt sie in eine geostationäre Transferbahn ein. Das Vinci-Triebwerk zündet erneut. Die Rakete ist nun über elf Kilometer pro Sekunde schnell. Diese wird Fluchtgeschwindigkeit oder zweite kosmische Geschwindigkeit genannt. Erst wenn die Oberstufe diese erreicht hat, ist es überhaupt erst möglich, die europäische Raumsonde Juice weit hinaus zu den äußeren Planeten zu entsenden, um dort die Deep-Space-Mission JUICE der ESA zu erfüllen.

Das Manöver gelingt. Alles verläuft planmäßig. Die präzise eingehaltene Flugbahn wird von den Lageregelungstriebwerken justiert. Die lange Reise zum Gasplaneten Jupiter tritt in die nächste Phase ein. Dazu schaltet die Automatik den Raketenmotor ab und öffnet die Nutzlastverkleidung. Oberstufe und Raumsonde trennen sich. Die Raketenstufe fällt durch kurze Impulse ihrer Bremsraketen zurück. Ihr temperamentvolles Treiben ist beendet, ihr Lebenszweck erfüllt. Sie wird verglühen und als Staub auf die Erde niedergehen.

Die Sonde jedoch, der oberste Raketenstummel, wird nun vertrauensvoll der Himmelsmechanik übergeben. Deren Naturgesetze werden in den nächsten Jahren den Flug dieses Samenkorn der industriellen Welt vorgeben.

Erika gerät in Gefangenschaft

Sie spürte das leichte, unkontrollierte Flattern ihrer Lider. Der Puls hämmerte von innen an ihre Schläfen. Ihre Gelassenheit war längst desertiert. Alle Muskeln, die spürbar unter ihrer Haut vibrierten, machten sich zur Flucht bereit. Doch ihr Kopf gab keinen Befehl dazu. Ein starker Wille verhinderte es.

Man wird mich entdecken, dachte sie. Mir bleibt nicht viel Zeit. Aber so kurz vor dem Ziel aufgeben? Das kam für sie nicht in Frage.

Irgendwann werden sie meine Augen sehen. Dann werden sie wissen, dass ich keine von ihnen bin. Was erwartet mich dann?

Unerkannt bleiben, so ihre Hoffnung. Und alles versuchen, nicht aufzufallen. Ihr roter Polaranzug bot Wärmeschutz und Tarnung zugleich, denn alle liefen hier mit so etwas herum. Sie zupfte an ihrer Skimütze und schob die Kapuze weit nach vorne. Schneebrille und Schal verdeckten ihr Gesicht nahezu vollständig. Eine brutale Kälte raubte ihr trotzdem den Atem.

Sie hatte den Forschern ihren Rücken zugewandt. Nun begann die rasche Fahrt senkrecht in die Tiefe. Sicher auf beiden Beinen stehend und ohne sich am Gitter festzuhalten schoss sie mit der metallischen Kapsel abwärts. Der eisige Schlund erweckte den Eindruck, bodenlos zu sein.

In ihr entstand das Gefühl, in einem gigantischen Schacht kobaltblauen Dunstes zu versinken. Mit hohem Tempo sank sie hinein in diesen gefrorenen Süßwasserozean. Er war so gewaltig wie ein ganzer Kontinent. Unberührtes Weiß blieb oben zurück, während sie hineinfiel in ein mittlerweile rasant vorbeihuschendes, sanft pulsierendes Blaugrün.

Mehr als dieses Pulsieren brachte das künstliche Licht des Transportmittels nicht zustande. Das bläuliche Schwirren wirkte fremd, ja geradezu abweisend und war in keiner Weise mit der Erhabenheit des lichtblauen Frühsommerhimmels darüber zu vergleichen.

Schier endlos stürzte sie fadengerade hinab in die Tiefe. So tief wie ein Gebirge hoch ist. Die steil abfallenden, glatt polierten Wände zeigten keine Änderungen.

Unvermittelt setzten die Seilbremsen ein. Langsam verlor der Gitterkorb an Fahrt. Unter sonderbarem Ruckeln kam er schließlich zum Stehen.

Metallisch kreischend öffnete sich die Verriegelung. Die in ihren Polaranzügen geschützten Insassen verließen den Stahlkäfig. Bedächtigen Schrittes glitten sie gekonnt über den schlüpfrigen Boden, bis der Eingang eines nahen Stollens erkennbar wurde. Die Beleuchtung darin war karg und verdiente ihren Namen nicht.

Die anderen Mitreisenden schienen ihre Aufgaben zu kennen, denn sie schalteten die Stirnlampen an und liefen wortlos nebeneinanderher.

Jetzt war es an ihr, den Käfig zu verlassen, wollte sie weiterhin nicht auffallen. Es blieb ihr keine Wahl. Sie musste sich ihnen anschließen. Eine starke Neugier hatte Besitz von ihr ergriffen und ließ sich nun nicht mehr abschütteln. Ohne zu zögern, schloss sie sich dem Ensemble roter Polaranzüge an. Jemand hinter ihr verriegelte das Gitter.

Sie folgte den gelben, taumelnden Lichtern, die ihr den Weg wiesen. In den zahlreichen Gängen, die links und rechts auftauchten, lauerte angsteinflößende, klirrendkalte Finsternis. Es war eine Dunkelheit, in der lange Verborgenes zu schlummern schien.

Ihr war bewusst, dass sie ein großes Risiko eingegangen war. Sie befand sich in höchster Gefahr. Was würde passieren, wenn man sie als Fremdkörper enttarnen sollte? Die knappen Botschaften, die man in der Gruppe austauschte, verstand sie nicht. Die Sprache war ihr fremd.

Sollte man sie ansprechen, würde sie nicht antworten können.

Durch einen leicht abschüssigen Stollen führte nun der Weg weithin in die Tiefe. Es ging hinein in den gefrorenen Ozean, hinein in pechschwarze Dunkelheit. Eine Finsternis, die sie fürchtete und die ihre Gedanken lähmte und den Atem gefrieren ließ.

Nie zuvor hatte sie davon gehört, dass es Menschen gelungen war, in diese knochentrockene, tiefgefrorene Zone zwischen der kilometerdicken Eisschicht und dem Boden darunter hinabzubohren.

Ihre Nervosität wollte sich nicht legen. Sie musste sich beruhigen, durfte sich nicht verrückt machen. Sie nahm ihre Umgebung näher in Augenschein. Das künstliche Licht ließ Myriaden, im blauen Eis eingeschlossener Luftblasen erkennen.

Dieses sorgte für ein fremdartiges, geradezu überirdisches Funkeln. Obwohl sie weit ins Eis eingedrungen waren, entstand das Gefühl, durch die kalte Schwärze des Weltraums zu schweben. Beeindruckt vom kristallklaren Flimmern einer unterirdischen Milchstraße verlangsamten sich ihre Schritte.

Ständig angespannt und als Letzte in der Gruppe wurde ihr bewusst, dass hier unten keine Möglichkeit zur Flucht bestand.

Die einzige Verbindung zu der Welt da oben war der Fahrkorb, der unverändert reglos hinter ihr im matten Licht einiger Lampen kauerte. Er war die Nabelschnur nach oben, in die Freiheit des offenen Geländes.

Gleich wieder umzukehren würde auffallen. Besser war es, einfach in der Kolonne mitzuschwimmen. Aber das war ihr noch nie gelungen. Nicht in der Schule, nicht im Job und erst recht nicht in der Familie. Ihr ausgeprägter Dickkopf sorgte dafür. Alles hatte sie sich hart erkämpft. Und was sie sich erst einmal erarbeitet hatte, musste sie unablässig verteidigen, denn das Leben war zornig mit ihr. Ihr Eigensinn war es, der ihr Halt gab. Und der es ihr erlaubte, zu erreichen, was immer sie wollte.

Nach einer Weile begann ein sphärisches Leuchten die Höhlenforscher wie magisch anzuziehen. Ein essigsaurer Geruch stieg ihr in die Nase. Eingehüllt in LED-Licht tauchte neben dem Stollengang ein stattliches Labor auf. Auf zahlreichen Tischen aus purem Eis, dem Werkstoff, der hier zur Verfügung stand, entdeckte sie Probengläser, Messgeräte und Mikroskope. Regale und Hocker bestanden aus Bambus.

Sie suchte vergeblich jemanden, der in dieser ungewöhnlichen Umgebung seinen Dienst tat. Entdecken konnte sie niemanden. Während sie den Anderen folgte, ging ihr eine Idee durch den Kopf.

Unbeeindruckt von der Umgebung, dem gefühlten Druck der Tonnen Eises über ihren Köpfen, marschierte die Gruppe weiter, hinein in ein schier endloses Labyrinth aus Gängen und Stollen. Die Zielstrebigkeit der Forscher, aber auch deren Gelassenheit versetzte sie in Erstaunen. Wie oft waren sie wohl schon hier unterwegs gewesen, in dieser Forschungsstation unter Tage? Sie existierte vermutlich schon mehrere Monate.

Der von der Gruppe eingeschlagene Weg wollte nicht enden und ging stetig leicht bergab. Was tun sie hier, was ist ihr Ziel?, fragte sie sich. Sie erwartete jeden Moment, mit ihren Polarstiefeln über harten Fels oder geeisten Schlamm zu laufen. Dies musste unweigerlich passieren. Da gab es keine Zweifel. Schließlich ruhte diese kilometerdicke Eisschicht auf einem Steinsockel von der Größe Europas.

Noch in Gedanken versunken nahm sie wahr, wie Aufregung die Gruppe durchzog. Doch was verursachte das Stimmengewirr, das laute Diskutieren der Polarforscher? Die Unruhe ließ ihren Puls deutlich höher schlagen. Sie blieb am Rande der Gruppe stehen, nicht zu weit weg, nicht zu nah, den Blick gesenkt. Mit einer Hand musste sie sich an der eisigen Wand abstützen, so sehr raste ihr Herz. Hatte man sie entlarvt?

War ihr riskantes Spiel nun zu Ende?

Noch fühlte sie sich in ihrer Kleidung sicher. Sie bot ihr Schutz vor der Kälte und war Tarnung zugleich. Dies hatte bis jetzt funktioniert. Angespannt beobachtete sie die Forscher.

Da begann sich die Kolonne plötzlich aufzulösen. Wie selbstverständlich verteilte sich das Ensemble monochromer Polaranzüge. Sie verschwanden allesamt in den Gängen und Stollen, die von hier in alle Himmelsrichtungen abzweigten. Jeder schien seine Aufgaben zu kennen und wusste, welcher Weg einzuschlagen war. Glücklicherweise schenkte ihr niemand Beachtung.

Stille kehrte an ihren vertrauten Platz zurück. Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass sie allein zurückgeblieben war. Bis jetzt hatte das keiner bemerkt.

Sie atmete tief ein und aus, zwang ihren Puls, sich zu beruhigen. Der Schwindel ließ langsam nach. Nun nahm sie ihre Umgebung genauer in Augenschein. Welche Möglichkeiten boten sich ihr? Bisher war alles gut gelaufen, überraschend gut, bis sie eine folgenschwere Fehleinschätzung traf.

Aus den vielen Stollen und Gängen wählte sie den mit Abstand größten. Keiner der Forscher, der mit ihr ins Eis eingefahren war, hatte diesen Weg gewählt. Das gab ihr ein Gefühl trügerischer Sicherheit. Schritt für Schritt führte der Gang sie weiter abwärts und endete zwangsläufig in einer Halle von beeindruckenden Ausmaßen. Sie war beeindruckt. So etwas hatte sie hier unten nicht erwartet.

Ihr war, als beträte sie eine Kathedrale in stockfinsterer Nacht. Dieser Weg war jedoch eine Sackgasse. Weiter ging es nicht. Egal, wohin sie auch mit ihrer Helmlampe blickte, nicht das Geringste weckte in dieser sterilen Eintönigkeit ihr Interesse. Erst als der Lichtstrahl ihrer Lampe auf den Boden fiel, erkannte sie handtellergroße Luftblasen, die langsam unter ihr entlangzogen.

Ein ständiger Strom von unten aufgestiegener, perlengroßer Luftbläschen stieß ans Eis, um sich mit anderen zu vereinen und weiterzuziehen. Der Eisboden zu ihren Füßen erweckte den Anschein, nur wenige Zentimeter dick zu sein. Darunter gab es fließendes Wasser.

Ihr war nicht sofort bewusst, was sie da herausgefunden hatte. Das hing mit ihrer inneren Unruhe zusammen, die kaum unter Kontrolle zu bekommen war und ihren sonst so klaren Verstand bremste.

Erstaunt über die Situation, sich auf dem Eis eines Flusses zu bewegen, trat sie einen Schritt zurück, kam dabei ins Stolpern und fiel auf den Po.

Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei. Die Angst vor Entdeckung beherrschte sie völlig.

Durch ihre Handschuhe hindurch ertastete sie den Grund für ihren Sturz. Ein im Eis festgefrorenes, unterarmdickes Tau, eins von der Sorte, die Seeleute zum Festmachen von Schiffen benötigen, lag dort. Zum Klettern war es ungeeignet. Ihr war nur nicht klar, was man zum Teufel in dieser Dunkelheit damit festmachte. Was konnte man hier vertäuen? Und die wichtigste Frage, die sich ihr stellte: Wo befindet sich das Festgemachte jetzt?

Sorgsam setzte ihr Verstand nach und nach die Puzzleteile zusammen. Sie fing an, zu begreifen, was hier passiert sein musste.

Sie stand in einer großen, kuppelförmigen Eishalle mit enormen Ausmaßen. Der Raum mochte vielleicht an die fünfzehn Meter breit und bestimmt viermal so lang sein. Unter ihr existierte so etwas wie ein Fluss, die frostige Trennschicht dazwischen war glasklar, ließ aber außer Luftbläschen nicht das Mindeste erkennen. Ein Boot war hier nicht zu Wasser gelassen worden. Das hätte nicht gepasst. Es wäre kein Stück vorangekommen, denn zwischen der Wasseroberfläche und dem Eisschild bestand kaum eine Lücke.

Was also hatte man bloß an dieser Stelle ins Wasser gelassen? Es gab für sie nur eine Erklärung. Es musste sich um ein Tauchgerät handeln. Ein ziemlich großes obendrein. Und es wäre nicht nur im Gletscherwasser unterwegs, sondern zugleich auch unterhalb eines kilometerdicken Eispanzers. Zusammen ergab das eine Tauchtiefe von über viertausend Meter.

Sie schoss ein paar nichtssagende Fotos. Die eigentliche Sensation war damit in keinster Weise einzufangen.

Zu gerne hätte sie den Zusammenbau und den Stapellauf des Unterseebootes in dieser Eishöhle beobachtet. Vermutlich hatte man dieses Tauchfahrzeug wieder auseinandergenommen, verstaut und abtransportiert. Sie entschied sich, die Uboot-Halle hinter sich zu lassen und zum Fahrkorb zurückzukehren.

Auf dem Rückweg hatte sie vor, dem Labor einen Besuch abzustatten, um es zu inspizieren. Wieder stampfte sie durch die dunklen, kaum erhellten Gänge und Galerien, der kreisrunde Schein ihrer Stirnlampe als einzige, vorauseilende Begleitung. Sie hoffte inständig, den richtigen Weg zurückzufinden. Sobald dieser in eine falsche Richtung wies, würde sie umkehren. Immer wieder stieg Panik in ihr auf. Es gelang ihr nur mit großer Mühe, sie zu unterdrücken. Das ewige Eis über ihr, die Abermillionen Tonnen davon, drückten schwer auf ihr Gemüt.

Sollte man sie hier entdecken und kaltmachen, würde ihre Familie nie von ihrem Tod erfahren. Es wäre ein einsames, ewig bitterkaltes Grab, so tief wie am Grund eines Ozeans. Das gleiche Schicksal drohte ihr, wenn sie sich verlief.

Das Licht des Korridors vor ihr wurde heller. Sie sog den Schein der Lampen ein wie eine Ertrinkende die Luft. Vor ihr lag das Labor. Sie lächelte tapfer in sich hinein, denn sie hatte den Rückweg gefunden. Sie schien völlig allein in diesem Sektor zu sein! Dann, im Hellen angekommen beruhigte sich ihr Herzschlag langsam wieder.

Neugierig näherte sie sich einem der Tische, die allesamt nichts anderes waren als aus bläulichem, fast transparentem Eis geschlagene Blöcke.

Sie stand im hellen Schein der künstlichen Beleuchtung und schaute sich um. Hier lagerten, in Folie geschützt, Dutzende glitzernder runder Stäbe aus purem Eis. Das mussten Eisbohrkerne sein, mutmaßte sie. Sie versuchte erst gar nicht, die Aufschriften zu entziffern, wohl aber die arabischen Zahlen daneben. Diese waren bei jeder Probe unterschiedlich, doch deren Inhalt blieb stets gleich: Schnee, vor einer Ewigkeit gefallen, zu Eis verpresst und schließlich Schicht um Schicht abgelagert, bis es letzten Endes gänzlich vom großen, weltumspannenden Wasserkreislauf der Natur vergessen wurde. Das war lange vor dem Bau dieser Schächte geschehen. Aber dieser künstliche Zugang erlaubte es den Erbauern, die Eiskappe nun von unten zu betrachten.

Am anderen Ende des Labortisches bemerkte sie Probengläser mit graubrauner oder rötlicher Füllung. Das könnte Sediment sein, oder etwas aus dem Fluss, den sie entdeckt hatten, ging es ihr durch den Kopf.

Sie wählte eine der Sedimentproben aus, entfernte den Deckel, schabte mit einem Bambusspatel, der dort bereitlag, eine dünne, himbeerrote Schicht ab und übertrug diese behutsam auf ein Präparationsglas. Zu guter Letzt musste das Ganze noch unter ein Mikroskop bugsiert werden. Routiniert suchte sie den Lichtschalter für die Beleuchtung des Strahlenganges.

Ihre dicken Handschuhe hinderten sie jedoch daran. Sie wollte sie gerade abstreifen, als plötzlich hinter ihr Schritte erklangen.

Es war der dumpfe, in diesem Eisstollen merkwürdig hallende Klang von einem einzigen Paar Polarstiefeln. In ihrem Brustkorb begann ihr Herz dumpf zu pochen. Die Schritte kamen näher. Sofort erstarrte sie in ihrer Bewegung.

In einer Gruppe rotgekleideter Menschen hatte sie unauffällig gewirkt, aber ohne die Anderen in dieser Umgebung kam sie sich so unauffällig vor wie ein leuchtendroter Granatapfel auf einem weiß gedeckten Tisch.

Sie war unübersehbar. Und sie gehörte nicht hier hin. In diesem lichtdurchfluteten Eislabor gab es kein Versteck. Jetzt hieß es Ruhe bewahren, beschäftigt wirken. Vielleicht ging dieser Jemand einfach vorbei. Sie beugte sich zitternd über das Mikroskop, die Anwesenheit des anderen wie durch ein Brennglas hinter ihr spürend. Mehrere schnelle Herzschläge lang wartete sie, dass er ging.

Sie wandte dem Unbekannten nach wie vor den Rücken zu und blieb, so gut es ging, unbeweglich am Labortisch stehen. Die Schritte waren nur wenige Meter von ihr entfernt und kamen genau auf sie zu. Dieser jemand stand jetzt direkt hinter ihr.

Herausgestoßene, hastig gesprochene Worte prasselten auf sie ein. Sie verstand die Sprache nicht, doch es war die fordernde Stimme eines Mannes, der eine Antwort erwartete. Sie hielt ihm weiterhin den Rücken zugewandt, blieb über das Gerät gebeugt, während sich Schweiß unter ihrem Anzug bildete.

Was sollte sie tun, etwas erwidern? Wie hätte sie antworten können? Wie konnte sie überhaupt so verrückt gewesen sein, zu glauben, sie würde hier unten nicht auffallen?

Ein rettender Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Da es nur einer war, konnte sie es vielleicht bis zum Fahrkorb schaffen.

Mit einer Hand zog sie nach und nach das Gerät zu sich heran, während der Fremde ununterbrochen mit ihr sprach. Zunehmend schwang eine Aggression in seiner Stimme mit. Seine Worte waren unmissverständlich. Doch merkwürdigerweise gab gerade das ihr die Kaltblütigkeit, die sie in diesem Augenblick brauchte.

Seine Größe mit einem Seitenblick abschätzend, umklammerte sie mit ihrer rechten Hand den Objektivrevolver des Mikroskops.

Dann, sämtliche Muskeln anspannend, drehte sie sich schlagartig um die eigene Achse. Mit aller Kraft schlug sie das Messgerät dem völlig überraschten Mann an die Schläfe. Der riss die Augen auf, bevor er lautlos zusammensackte. Seine Stimme, die gerade noch in ihren Ohren dröhnte, verstummte. Kein Laut kam mehr über seine Lippen, die plötzliche Stille kam wie ein Schock. Jetzt erst merkte sie, dass sie keuchte, dass ihr Herz raste. Aber sie hatte ihren Schwung und seine Größe richtig eingeschätzt. Dieser Mann und die Gefahr, die von ihm ausging, war für diesen Moment gebannt.

Das Mikroskop glitt ihr aus der Hand und fiel krachend zu Boden.

Jetzt musste alles schnell gehen. Ihr Puls war auf Hochtouren, ihr Verstand hellwach. Ihr war bewusst, dass sie jetzt keine Sekunde zögern durfte. Jeden Moment konnten die Kollegen des Bewusstlosen anrücken, vielleicht hatten sie seine laute Stimme bereits vernommen, gefolgt von plötzlicher Stille. Ihre einzige Hoffnung war, mit dem Fahrstuhl nach oben zu gelangen und von dort unbemerkt zu entkommen. Andernfalls saß sie jetzt in einer perfekten Falle, tausende Meter unter der Oberfläche. Gefangen in einem dunklen Tunnellabyrinth aus uraltem Eis.

Geistesgegenwärtig steckte sie die zwei Sedimentproben in ihren Overall, packte eine Bohrkernprobe und sprintete, ohne sich umzuschauen, in die Richtung, in der sie den Fahrkorb vermutete. Unter dem Polaranzug kroch Angst wie ein armdicker Tausendfüßler über ihren Rücken und drohte, sie zu lähmen. Die zusätzliche Last verlangsamte ihre Fortbewegung enorm. Es kam ihr vor, als würde sie kriechen, obwohl ihre Muskeln alles gaben. Es war wie in einem ihrer dunklen Träume, in denen eine unsichtbare Macht all ihre Bewegungen hemmte.

Vor Erschöpfung stolperte sie und blieb keuchend stehen. Mit wachsendem Entsetzen stellte sie fest, dass sie einen abschüssigen Weg nach unten gerannt war. Sie musste sich in ihrer Panik verlaufen haben. Das Entsetzen gab ihr neue Kraft, die Vorstellung, allein unter den Tonnen und Abertonnen von Eis begraben zu sein, spornte sie an. Sie wandte sich um, kam erneut am Labor vorbei, wo der neugierige Mann immer noch bewegungslos auf dem Boden lag. Sie nahm nun den Gang in entgegengesetzter Richtung. Jetzt ging es bergauf. Das war richtig. Nach bangen Minuten erblickte sie in einiger Entfernung den spärlich beleuchteten Lift. Eine weitere Begegnung blieb ihr erspart.

Kaum dort angekommen, zerrte sie das Schutzgitter nach oben, schlüpfte darunter her und drückte es von innen kräftig zu. Der Sicherheitsbolzen rastete hörbar ein. Ihre zittrigen Finger suchten den entscheidenden Knopf, fanden ihn und es ging augenblicklich im rasanten Tempo nach oben. Das war geschafft.

Das Rumpeln des Aufzugs beruhigte sie kaum. Das Gefühl von Angst wollte nicht weichen. Diese riskante Unternehmung hatte all ihre mentale Kraft erfordert. Ihren Rücken an die rappelnde Wandung gepresst ließ sie sich langsam daran nach unten gleiten.

Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, enthielten die Proben neben brisanten Klimadaten Sporen aus einer Zeit vor achthunderttausend Jahren. Eins war sicher: Die Chefin ihres Mannes, Emmanuelle Charpentier vom Max-Planck-Institut in Berlin würde sich freudig darüber hermachen, denn in dem Erbgut schlummern unfassbare wertvolle Informationen. Sie nannte sie schon jetzt ‘Tiefblaue Gene‘, ‘Deep Blue Genes‘ entsprechend der hier vorherrschenden Farbe. Sollte es ihr gelingen, diese Proben sicher nach Hause zu bringen, würden sie und ihr Team Tag und Nacht daran arbeiten. Eine freudige Erregung ließ sie erschaudern. Diesen Proben sämtliche Geheimnisse zu entreißen, das war ihr Ziel, das ihr alles wert war. Es war nicht ausgeschlossen, dass damit die Klimakatastrophe abzuwenden wäre.

Nach über zwanzig quälenden Minuten war sie endlich oben angekommen. Ohne zu zögern, öffnete sie den Fahrkorb und trat ins Freie. Sie musste zielstrebig wirken, als gehöre sie dazu. Sie hatte erneut Glück: Niemand erwartete sie hier oben. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren. Ihre Stimmung schlug in angespannte Euphorie um.

Es fiel ihr schwer, ohne Hast auf den Abfallcontainer zuzugehen, der in einigen hundert Metern Entfernung abseits der Leichtbauhütten stand. Doch es gelang ihr. Mit jedem bangen Schritt befürchtete sie, dass jemand einen Alarm auslösen würde. Aber der blieb aus.

Dort, im Sichtschutz der Container, stand ihr Ski-doo, ein in die Jahre gekommener, grüngelber Motorschlitten. Niemand schien ihn in der Zwischenzeit bemerkt zu haben. Er befand sich in der gleichen Position, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Mit einem wachsenden Gefühl der Erleichterung nahm sie rittlings Platz und startete den Motor. Mit leichtem Ruck fuhr sie an. Um das Galileo-Navigationssystem würde sie sich später kümmern. Jetzt ging es erst einmal darum, schnellstmöglich Abstand zu gewinnen und endgültig von hier zu entkommen. Ihr Ski-doo glitt über Schnee und Eis und es erforderte ihre gesamte übrig gebliebene Konzentration, in der rasenden Geschwindigkeit gefährlichen Unebenheiten am Boden auszuweichen.

Um zu sehen, ob man sie verfolgte, wandte sie immer wieder ihren Blick zurück zur Forschungsstation. Plötzlich erkannte sie einen Schatten, der sie beunruhigte. Sie schaute nochmals zurück. Tatsächlich, bei einer der Leichtbauhütten waren zwei Menschen in Polaranzügen auszumachen, die in ihre Richtung zeigten. Sie konnte gerade so erkennen, wie die beiden auf ein Ski-doo sprangen und begannen, die Verfolgung aufzunehmen. Fluchend versuchte sie, alles aus ihrem Ski-doo herauszuholen. Sie hatte es doch fast geschafft. Es konnte doch nicht sein, dass man sie jetzt noch aufhielt! Anfänglich war die Distanz zwischen ihnen beträchtlich, doch es war abzusehen, dass diese schnell schrumpfen würde, da die Verfolger auf einem deutlich leistungsstärkeren Motorschlitten saßen.

Mit jedem ihrer Herzschläge verringerte sich die Entfernung zueinander und schrumpfte bald auf wenige Meter zusammen. Mit einem ängstlichen Gefühl in der Magengegend versuchte sie, ihre Geschwindigkeit noch zu steigern, raste unachtsam übers Eis, ohne auf den Untergrund zu achten. Sie musste entkommen. Auf das laute Rufen der Männer reagierte sie nicht. Sie verstand zwar die Sprache nicht, aber das erschien nicht nötig zu sein, denn deren Absicht war offensichtlich. Sich erneut kurz zu ihnen umdrehend stellte sie fest, dass der hinten Sitzende einen langen Bambusstab in seiner Rechten hielt, den sie vorher nicht bemerkt hatte. Er schien nur auf einen günstigen Augenblick zu warten, um sie damit zu treffen. Als er dicht genug an sie herankam, holte er weit aus. Sie riss den Lenker zur Seite, schlingerte gefährlich, entging jedoch knapp seinem kraftvoll geführten Hieb.

Augenblicklich begann sie in Zickzacklinien zu fahren, um ihnen auszuweichen. Doch das war nur ein Aufschub des Unvermeidbaren. Die beiden folgten ihr in immer kürzer werdendem Abstand.

Noch einmal versuchten die Verfolger, die ihr Rufen schon lange aufgegeben hatten, die ungleiche Jagd mit einem entscheidenden Stockschlag zu beenden. Sie fuhren an ihrem Ski-doo vorbei und riefen ein letztes Mal zu ihr hinüber, jetzt auch auf Englisch. Wieder ignorierte sie die eindeutige Aufforderung, anzuhalten.

Da stellte sich der Beifahrer auf, während er am Vordermann Halt suchte und schlug zu. Er zielte auf ihren Rücken. Sie reagierte schnell und konnte gerade noch ausweichen.

Dadurch verfehlte der kräftig geführte Schlag sein eigentliches Ziel, traf aber ihr linkes Bein mit großer Wucht. Ein heißer Schmerz explodierte in ihrem Knie und ließ sie völlig verkrampfen. Dann stürzte sie kopfüber aufs Eis.

Professor Peters in Nuuk

Ein feuchtkühler Nordwestwind blies durch die Straßen der Hauptstadt Nuuk. Unter dem behäbigen Grau des anbrechenden Tages schienen sich auch die Gebäude des Geologischen und Geographischen Instituts der Naturskab og Biovidenskab zu verbergen. Das Wetter sollte so bleiben. Die Vorhersage versprach kaum Änderung.

Professor Jonas Peters, der mit Taqtu, einer Studentin des fünften Semesters im Schlepptau den Hörsaal betrat, war guter Dinge. Die heute bestens besuchte Vorlesung freute ihn. Vielleicht sollte man grundsätzlich Unis nur dort bauen, wo eine hohe Wahrscheinlichkeit auf schlechtes Wetter bestand, dachte er. Er lachte in sich hinein. Offenbar spielte aber das heutige Thema eine Rolle.

Der Hörsaal war so voll, dass einige tatsächlich auf mitgebrachten Klappstühlen saßen und damit sämtliche Bereiche, sogar den schmalen Streifen vor der ersten Sitzreihe, beanspruchten. Womöglich könnte das auch bedeuten, dass keine Schüler zu spät kommen oder früher gehen würden, denn das störte ihn immer. Peters, heute in grauer Cargohose und schwarzem Polo-Shirt stellte sich vor das Auditorium.

»Ich bin beeindruckt.« Er lächelte breit. »Da habe ich ja anscheinend ein Thema gefunden, dass viele neugierig gemacht hat. Es freut mich zu sehen, dass die Thematik um die Zukunft der Inuit in Grönland auf großes Interesse stößt.«, rief er den Studenten entgegen. Er nahm seine Brille ab. Unvermittelt wurde es still im Hörsaal, so als hätte jemand einen imaginären Schallschluckerknopf gedrückt. Kein Gescharre mit Füßen, kein Gequassel mit Sitznachbarn, kein Gewusel mit Taschen. Mit demonstrativer Gelassenheit bewegte sich der Professor vor der beamererhellten Wand, die Reihen der Anwesenden dabei genau betrachtend. Er redete frei, ohne seinen mitgebrachten Notizen Beachtung zu schenken. Seine grauen Haare bedurften dringend eines neuen Schnitts. Sein Kinn war jedoch perfekt rasiert. Das war es immer. Er rieb es und schien nach Worten zu suchen, um in die Materie einzusteigen.

»Seit mindestens hundert Generationen leben die Inuit nun schon auf Grönland. Sie haben es stets verstanden, sich dem extremen Klima anzupassen. Geschickt und innovativ machten sie aus dem, was sie vorfanden, alles, was sie benötigten. Die Norweger kamen in ihr Land, blieben eine Weile und scheiterten schließlich, weil sie sich nicht anpassen wollten. Die Inuit blieben. Doch die letzten drei Generationen haben ihrer Kultur mehr zugesetzt als all die anderen davor.

Was ist also in den letzten drei Generationen geschehen? Das will ich ihnen sagen. Zwei Dinge sind geschehen: Erstens hat der weiße Mann, der Quallunaaq, ihnen ihre Jagdbedingungen vorgeschrieben, hat krasse Verbote erteilt. Das führte dazu, das den Menschen etwas Lebensnotwendiges genommen wurde, nämlich ihre Selbstachtung und damit ihren Stolz. Erstmals in ihrer langen Geschichte waren die Jäger nicht mehr in der Lage, ihre Familie, ihren Clan zu ernähren. Zum Ausgleich dafür gab es Geld vom Staat.

Der zweite Grund ist die Klimaveränderung. Sie ist dabei, die Geschichte der Inuit auf Grönland komplett umzuschreiben. Die Warnungen aller indigenen Völker vor drastischer Klimabeeinflussung blieb von den Industrieländern ungehört. Auch den Inuit schenkte man keine Aufmerksamkeit. Die westliche Welt interessierte solche Nachrichten nicht. Sie orientierte sich nur an Profit und Shareholder Value.

Die Inuit verstanden und verstehen bis heute die habgierige, westliche Denkweise nicht. Sie sind mit ihren Ressourcen stets rücksichtsvoll umgegangen. Ihrer Meinung nach wird das westliche Denken und Handeln unweigerlich in eine Katastrophe münden. Und die westlichen Industrienationen, da ist sich die Wissenschaft heute einig, sind verantwortlich dafür. Ich brauche sie nicht an das gescheiterte Pariser Klimaabkommen von 2015 zu erinnern. Es gibt weltweit keinen Klimaschutz. Heute ist das Eis des Nordens weitgehend verschwunden. Die Erderwärmung hat aber noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Geschätztes Auditorium, Ihre Generation wird in der ersten Reihe sitzen, wenn das Klima neue Maximaltemperaturen erreicht. Die Inuitkultur Grönlands wird das drastisch verändern.«

Er grabschte sich die Fernbedienung, um nun Fotos und Graphiken zu präsentieren. Die aktuellen Forschungsergebnisse zusammenfassend kam er zum Ende seiner Vorlesung.

»Interessanterweise haben die Inuit recht früh diese dramatische Klimaveränderung bemerkt. Es begann damit, dass eines Tages am Himmel Wanderdrosseln auftauchten, die ihre Brutgebiete unaufhaltsam nach Norden ausgedehnt hatten. Die Inuit waren bestürzt, denn in ihrer Sprache gab es keinen Namen für diese Vögel. So etwas war nie zuvor in ihrer langen Kulturgeschichte vorgekommen. Diese Tiernamenlosigkeit war somit der Beginn des Endes ihrer traditionellen Lebensweise.

Diesen Vögeln war es gelungen, sich sehr schnell den neuen Klimaverhältnissen anzupassen. Sie zogen auf den Schwingen der Veränderung gen Norden. Allerdings ist geographisch ein Rückzug für die Inuit und die Tiere, die sie jagen, nicht möglich.«

Er räusperte sich leise, bevor er sich umschaute. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Seine hohe, glatte Stirn legte sich in Falten, bevor er wieder das Wort ergriff.

»Ich stelle Ihnen jetzt eine wichtige Frage: Was wird in den nächsten 50 bis 70 Jahren in Grönland passieren? Welche Befürchtungen, aber auch, welche Hoffnungen haben sie? Ich erwarte von Ihnen in den kommenden drei Wochen eine Hausarbeit zu diesem Thema. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich …«

»… nicht mehr als drei Seiten…«, schallte es aus vielen Mündern. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Professors.

»… von jedem von Ihnen erhalten möchte. Wenn man es nicht auf drei Seiten zuwege bringt, hat man noch nicht den richtigen Abstand zum Thema. Auf ihre Antworten bin ich gespannt. Denken sie dabei an die Regeln der Zukunftsforschung. Arbeiten Sie stets mit Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen. Was erwarten sie? Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.«

Knöchel klopften auf Klapptische. Mehrere Minuten blieb Professor Peters von Studenten umringt. Schließlich verwies er auf einen Folgetermin und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zu einem der Konferenzräume.

Der Norweger Reidar Rogalla erwartete ihn. Nach freundlicher Begrüßung kam Peters auf das einvernehmliche Thema zu sprechen. Seiner Studentin Taqtu war es gelungen, eine Aktionsgemeinschaft zusammenzustellen und ein gemeinsames Projekt zu Papier zu bringen. Voll überzeugt vom eigenen Projekt gelang es der Gruppe schließlich, Kontakt zu dem nur durch die Presse bekannten Milliardär Reidar Rogalla aufzunehmen. Sie stellten ihm ihre einzigartige Unternehmung vor und baten ihn, sie bei der Umsetzung finanziell zu unterstützen.

»Ich halte dieses Umsiedlungsprojekt für mehr als gefährlich. Und es ist viel zu teuer. Eine Umsiedlung in die Antarktis ist mit viel zu vielen Risiken verbunden. Man denke nur …«

Rogalla hob die Hand, was den Redefluss des Professors sofort unterbrach.

»Ich kenne ihre Sichtweise. Das haben wir schon alles in zahlreichen Meetings und Telekon`s diskutiert. Diese jungen Inuit haben eine ganz großartige Idee. Und sie haben sich nicht an sie gewandt, Herr Professor, sondern direkt an mich.« Rogalla war aufgestanden. Mit dem Rücken zum Fenster stehend blickte er Peters in die Augen. »Sie mögen fachlich gut sein, aber Zauderer und Ja-Aber-Sager gibt es schon zu viele auf dieser Welt. Jetzt sind Taten gefragt.« Er lächelte die Studentin an. »Die Gruppe um Taqtu hat großartige Vorarbeit geleistet. Und ich werde das unterstützen, unabhängig davon, was Sie davon halten.«

»Was die Gruppe betrifft, hatte ich um eine gründliche, medizinische Untersuchung aller Teilnehmer gebeten. Ist das erfolgt?«

»Der aktuelle Stand ist, das man alle 49 Teilnehmer der Pressure Group auf Herz und Nieren untersucht hat. Außnahmslos alle sind körperlich und mental den kommenden Strapazen gewachsen. Ihre Bedenken sind haltlos.«

»Für mich ist das Vorhaben nicht sicher. Es ist lebensgefährlich. Ich sage Ihnen auch warum. In der Antarktis wurden interessante Rohstoffe gefunden. Einige Staaten wollen und können nicht mehr warten. Sie wittern das große Geschäft. Länder wie Argentinien und Australien haben bereits ihr Militär dort aufgeboten. Dazu kommen Unternehmen wie Glencore, die schon längst in Grönland ihre Claims abgesteckt haben. Die Antarktis war noch nie so gefährlich wie jetzt.«

»Reden sie keinen Quatsch, Peters! Die Antarktis ist nicht gefährlich, die Antarktis ist gefährdet. Und diese jungen Menschen werden einen Beitrag dazu leisten, das sich das ändert. Wenn wir vor allem weglaufen, was gefährlich ist, hätte es weder Fridtjof Nansen noch Alfred Nobel gegeben.«

Er atmete tief durch und wischte sich mir der Hand übers Kinn. »Jetzt ist diese Diskussion für mich beendet! Ich frage Sie jetzt noch ein letztes Mal. Wollen sie dieses Projekt wissenschaftlich begleiten? Wollen Sie etwas tun, auf das Sie und diese Uni eines Tages stolz sein können?«

Peters zauderte. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Die Unterstützung würde sein Institut zwar in eine komfortable Lage versetzen, vielleicht sogar das Ranking der Uni anheben. Doch das würde sich schlagartig ändern, wenn bei dieser Umsiedlung Menschen ums Leben kämen. Grönland ist eine Sache, aber die Antarktis ist ein völlig anderes Kaliber. Unter einer kilometerdicken Eisschicht steckt da ein unberührter Kontinent.

Reidar legte den Vorvertrag auf den Tisch und unterschrieb. Langsam schob er ihn zu Peters hinüber. Nach einer quälend langen Minute unterschrieb er, jedoch mit verkrampfter, schweißnasser Hand.

Als Taqtu wenig später die Zimmertür ihrer Wohngemeinschaft öffnete, saß ihr Bruder Iqualluk bereits dort. Seine Füße lagen lässig auf ihrem Schreibtisch.

»Und?«, fragte er.

»Sie haben beide das Projekt unterschrieben. Und darin steht, das ich die Projektleiterin bin. Jetzt biste wohl sprachlos?«

Sie grinste ihn herausfordernd an und erwartete ein respektvolles Nicken. Aber das wollte er ihr nicht entgegenbringen. Stattdessen betrachtete er sie aus den Augenwinkeln und fuhr sich dabei durch die Haare, überlegte, was er ihr antworten sollte. Er entschied sich für die ungeschönte Wahrheit.

»Ihr seid ein Haufen Verrückter. Lebensmüde und verrückt, das seid ihr. Und was ist mit dem Job, den ich dir besorgt habe? Grönlandrubine sind weltweit gefragt und die Preise steigen. Das ist ein krisensicherer, gut bezahlter Job.«

Er nahm die Füße vom Tisch und schenkte seiner Schwester ein spärliches Lächeln. »Mit Sprengstoff kann keine so geschickt umgehen wie du. Und du hast die richtigen Qualifikationen bereits in der Tasche. Das neue Abbaugebiet in der Nähe von Thule ist doch was für dich.«

»Halt den Mund,« fuhr sie ihm in die Parade. »Seit Wochen habe ich dir gesagt, dass ich das nicht mehr machen will. Ich habe eigene Pläne. Und darin kommen Grönlandrubine nicht vor. Versteh das doch endlich.« Sie war wütend und straffte ihren Rücken. Ihre Blicke versuchten, ihn zu vergraulen.

»Sei vernünftig und überleg es dir noch mal in Ruhe. Schlaf doch nochmal drüber.« Ihr Bruder schaute sie sanftmütig an, doch Taqtu reagierte nicht darauf. Sie hätte sich gerne freundschaftlich von ihm verabschiedet, ihm erklärt, dass der Schiffseigner bereit war, sie und ihre Freunde für das Projekt nach Joinville Island mitzunehmen. Doch in diesem Fall hätte sie über ihren Schatten springen müssen. Dazu fühlte sie sich nicht in der Lage.

Iqualluk nahm die Hände nach oben und prustete, bevor er sich anschickte, zu gehen. »Wir sprechen uns morgen.«

»Das werden wir garantiert nicht. Da gibt es nichts zu überlegen oder zu besprechen. Ich bin morgen weg. Das Schiff, die Reval, legt gleich morgen früh ab.«

»Was, schon morgen früh!« Der Inuk war erstaunt und entrüstet. »Und deine Hunde?«

»Nehme ich mit an Bord!«

»Ihr seid nichts anderes als lebensmüde und verrückt. Ja, das seid ihr.«

Hinter der Beleidigung spürte sie seinen tiefliegenden Zorn. Ihr Bruder erhob sich und ging. Die Tür fiel ins Schloss.

Als wäre es ein Startsignal, begann Taqtu ihre Taschen zu packen, während passend zu ihrer Stimmung Rapmusik der grönländischen Gruppe Prussic in ihrem Spotify erklang.

Den Lebensstil ihres Bruders lehnte sie ab. Ihr war bewusst, das Iqualluk ihre Absage auch als Absage an ihre Gemeinschaft, ja, auch an Grönland selbst verstand. Vielmehr aber an einen Verrat an ihn, da sie ohne ihre Eltern aufgewachsen waren und nur sich hatten. Sie war sich nicht sicher, ob er ihre Entscheidung eines Tages verstehen würde. Sie würde ihn in ein paar Tagen anrufen. Aber erst, wenn sie sich dazu in der Lage fühlte.

Taqtu vermutete, das Iqualluk seine Studentenbude aufsuchte, doch das tat er nicht. Verärgert wie er war, ging er geradewegs zu einem seiner besten Freunde. Der arbeitete beim einzigen grönländischen TV-Sender in Nuuk. Ihm würde er die Story von seiner Schwester und deren Projekt erzählen. Während er seinem Zorn Luft machte, bemerkte Iqualluk das Funkeln im Auge seines Kumpels nicht.

Die leuchtstarken Scheinwerfer der Reval bestrahlten Schiff und Pier im Hafen von Nuuk. Finsterentschlossen fing der Tag an, denn immer wieder schwebten tieffliegende Wolkenfetzen vorbei. Mit ihren leuchtendroten Schnäbeln und flinken Manövern zog ein Schwarm Küstenseeschwalben vorüber. Jedes Jahr legen diese Vögel fünfunddreißigtausend Kilometer über dem Meer zurück, um im antarktischen Sommer vom Fischreichtum des Südpolarmeeres zu profitieren. Das Forschungsschiff Reval würde ihrer Route folgen, denn Taqtu und weitere achtundvierzig Inuit an Bord hatten vor, ihren neuen Lebensmittelpunkt zum südlichen Polarkreis zu verlegen. Das war der Sinn ihres Projekts und einmalig in der langen Geschichte der Inuit. Für die jungen Auswanderer an Bord war das, was vor ihnen lag, ein einziges, großes Abenteuer.

Bernd Bogner, Kourou (2026)

Der Bilderbuchstart der Ariane mit dem Ziel Jupiter war schon Raumfahrtgeschichte, als der jährliche Raumfahrt-Kongress in Kourou stattfand. Der Vormittag war ausgefüllt mit belanglosen Vorträgen, die er alle ignorierte. Heute interessierte ihn nur einer der späteren Diskussionsbeiträge mit dem Thema »Die Europäer auf Jupiters Eismond. Ein Himmel ohne Sterne!« Doch bis dahin hatte er noch Zeit. Da dieser Tag dazu einlud, ans Meer zu fahren, verließ er die Veranstaltung, schnappte sich sein Pedelec und radelte zum Strand.

Das Salzwasser empfing ihn wie einen Vertrauten. Beim Schwimmen fühlte er sich unbeschwert. Er konnte seinen Bungalow in Strandnähe erkennen, den er seit einem halben Jahr allein bewohnte. Seit seine Frau aus bisher nicht geklärten Umständen in Tansania ums Leben gekommen war, dümpelte sein Leben in der tropischen Äquatorhitze so dahin. Seine Frau hatte sich, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, bei einem Konfuzius-Institut beworben. Zu ihrer Überraschung erhielt sie nach zahlreichen Besprechungen einen Arbeitsvertrag für ein Jahr in Tansania. Dort verschwand sie urplötzlich. Keiner konnte ihm sagen, wo sie war. Nach intensiver Suche fand man sie Tage später in einem Straßengraben wieder. Sie war nahe der Landstraße, die zum chinesischen Raketenstartzentrum Nantian Men auf dem Kilimandscharo führte, ums Leben gekommen. Bernd hatte das schwer getroffen. Er machte sich Vorwürfe. Hätte er ihr abraten sollen, diesen Job anzunehmen? Doch für Lilo ging ein Traum in Erfüllung und sie nahm ihre neue Aufgabe mit Freude und Begeisterung an. Sie wollte der Abgeschiedenheit des Urwalds in Französisch Guayana entkommen, wollte mit Menschen aus Fleisch und Blut zu tun haben, nicht mit Technikern. Nur sehr zögerlich kam Bernd wieder auf die Beine. Er fühlte sich wie gelähmt und brauchte eine Auszeit. Schließlich bat er seinen Chef, seinen Job beim DLR fürs Erste ruhen zu lassen. Congé Sabbatique, so nannte es sein Chef und zeigte großes Verständnis für seine Reaktion auf den Verlust.

Sofort stimmte er zu, hatte jedoch den Einfall, ihm nach wie vor den Zugang zu seinem Arbeitsplatz zu ermöglichen. Insgeheim hegte er die Hoffnung, Bernd würde dadurch den Sabbatique kurz halten und schnell wieder in den Arbeitsalltag zurückfinden.

So in den Tag hinein zu leben war für ihn gewöhnungsbedürftig. Aber es half ihm, den Tod seiner Frau zu bewältigen. Eines Tages rief Bernd seine Kinder Linus und Erika an und bat sie, ihn in absehbarer Zeit in Kourou zu besuchen. Doch sie hatten sich anders entschieden, denn sie beschäftigten sich mehr als sonst mit ihren Aufgaben, Linus als Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst DWD, Erika als Biochemikerin bei Glencore. Überraschend rief sein Sohn an und teilte mit, ihn in wenigen Tagen besuchen zu wollen. Auch plane er, gleich ein paar Wochen in Kourou zu bleiben, denn er stand vor einem Arbeitgeberwechsel. Der noch zu nehmende Resturlaub erlaubte es seinem Sohn, vor dem beruflichen Neubeginn ausgiebige Segeltouren im Atlantik vor Kourou zu unternehmen.

Bernd freute sich in höchstem Maße darüber. Die gut gepflegte Hirondelle, eine moderne Segelyacht, die er schon kannte, war schnell reserviert. Er nahm die günstige Gelegenheit wahr, seiner Tochter Bescheid zu geben. Vielleicht war es auch ihr möglich, zumindest für in paar Tage kommen. Doch alle Versuche, sie zu kontaktieren, liefen ins Leere. Er bekam sie einfach nicht ans Telefon. Selbst Kurznachrichten lies sie unbeantwortet. Sie wird schon ihre Gründe haben, beruhigte er sich.

Ganz in Gedanken schwamm er zum Steg zurück, kletterte daran hoch und ergriff sein Handtuch. Beim Abtrocknen fiel sein Blick hinüber zum Hafen, wo gerade ein auffallend modernes Schiff einlief, das ihm hier nie zuvor aufgefallen war. Mit norwegischer Flagge am Heck und mittschiffs mit einem abgefahrenen Kran wirkte es, als sei es auf dem neuesten Stand der Technik. Welchem Zweck diente es? Seine Neugierde war geweckt. Er rieb sich seinen feuchten Vollbart und schmunzelte dabei. Was suchte dieses Boot hier?

Wenig später auf seiner Terrasse griff er sich seinen Feldstecher und fixierte das moderne Schiff. Zahlreiche Menschen liefen dort an Deck herum. Er zoomte sie näher heran, konnte aber beim besten willen nicht erkennen, was sich da abspielte. Doch als er den Schiffsnamen Reval las, erinnerte er sich unversehens an einen Artikel in einer Fachzeitschrift. Dies war das erste private Forschungsschiff. Der Schiffseigner, ein Milliardär, setzte sich für die Erforschung der Polregionen ein. Doch hier befand sich das Schiff in unmittelbarer Äquatornähe. Weiter entfernt von beiden Polargebieten konnte man sich kaum aufhalten. Das erschien ihm paradox. Er griff auf der Stelle zu seinem Tabletcomputer und recherchierte gründlich. Schnell brachte er in Erfahrungen, dass der Eigner Reidar Rogalla hieß und das sich eine junge Inuitfrau mit Namen Taqtu und etliche Umsiedler an Bord befanden. Insgesamt waren die Informationen über das Schiff ziemlich spärlich. Doch der Grund, warum dieses Forschungsschiff gerade in Kourou angelegt hatte, blieb ein Rätsel.

Ohne Zweifel würde er ihn gerne kennenlernen, diesen Rogalla. Menschen, die von ihren Ideen völlig überzeugt sind, findet man selten. Noch seltener ist es, wenn es ihnen gelingt, ihre Ideen zu verwirklichen und ihnen Leben einzuhauchen. Elon Musk war das gelungen. Solche Typen verdienten Bernds ganzen Respekt.

Später am Abend und nach einem raschen Sonnenuntergang wölbte sich ein glasklarer Nachthimmel über Kourou. Auf dem Schiff war inzwischen niemand mehr auszumachen. Es wurde Zeit für ihn, sich auf den Weg zum Kongress zu begeben. Er betrat den großen Konferenzraum erst kurz vor Beginn des letzten Vortrages, der bei gedimmten Licht gehalten wurde. Im Gegensatz zu ihm wirkte das Publikum am Ende des Tages müde, entsprechend still war es. Durch das Panoramafenster gab sich der Planet Jupiter als kleiner Lichtpunkt zu erkennen.

Als der letzte Vortrag endete, schaltete jemand das Licht an. Leicht benommen standen die Zuhörer auf und schauten sich um. Eine Reihe hinter ihm tauchte neben vielen bekannten Gesichtern eins auf, das er heute schon im Internet gesehen hatte, Rogalla. Er musste sich hier hereingeschlichen haben, kurz nachdem die Deckenbeleuchtung ausgeblendet wurde.

Sein Chef stellte sich in den Mittelgang, rief etliche Namen auf und nannte einen gemeinsamen Treffpunkt. Ein paar Ausgesuchte fanden sich vor dem sich leerenden Vortragssaal zusammen. Dort angekommen steuerten sie zum anderen Ende der Empfangshalle, wo sich die Sotalia Bar befand. Bernd schloss sich gerne der Runde an, denn sein Name war genannt worden. Er freute sich darauf, diesen Norweger kennenzulernen und von ihm zu erfahren, was er mit der Reval, seinem Forschungsschiff, denn so vorhatte. Aber zunächst ging es darum, den letzten und zugleich beeindruckenden Vortrag zu diskutieren. Unter der Überschrift ‘Ein Himmel ohne Sterne‘ erfuhr man von einem Gedankenexperiment. Die Autoren, ein Team von Planetenforschern, beschrieben die erfolgreiche Evolution intelligenter Bewohner des Mondes Europa, der etwa die Größe des Erdmondes einnahm. Arthur C. Clarke hatte vor vielen Jahren geschrieben, dass die Amerikaner nie versuchen sollten, dort zu landen, denn diese Welt sei friedfertig.

Seit langem dienten die galileischen Monde als ausgezeichnete Kandidaten für wilde Spekulationen. Allein schon die Vorstellungen von extraterrestrischen Lebewesen in unserem Sonnensystem beschäftigte die Gemüter. Wo Wasser ist, da entwickelt sich vielfältiges, aquatisches Leben! Das war bekannt. Aber träfe das auch für einige Jupitermonde zu? Im Rahmen der Mission JUICE bekam Europa in Kürze Besuch von einem Landemodul. Eine sanfte Landung allein wäre schon eine technische Sensation, die alle bisherigen Leistungen der Raumfahrt in den Schatten stellen würde. Die anspruchsvolle Mondmission der ESA hatte aber noch größere Ziele. Um zu dem Ozean vorzustoßen, war geplant, dass eine Schmelzsonde den Eispanzer durchdringen und in das Mondmeer darunter abtauchen sollte.

Der Referent hatte alle Teilnehmer begeistert. Es ging ihm darum, dass sich die Zuhörer auf ein Gedankenspiel einließen. Wie könnte es den Europäern des Eismondes gelingen, Weltraumfahrt zu betreiben? Gäbe es auf diesem Mond intelligentes Leben, hätte es von Anfang an mit beträchtlichen Problemen zu tun. Über dem Ozean befände sich ein Himmel ohne Sterne, also eine Eisschicht, die jeden Versuch, Teleskope auf der Mondoberfläche aufzubauen oder gar den Mond zu verlassen, zunichtemachen würde. Dieser feste Himmel würde Luft- und Raumfahrt, wie wir sie kennen, dauerhaft verhindern. Selbst wenn es ihnen gelänge, zur Mondoberfläche vorzustoßen, so könnte dort nichts von Dauer errichtet werden. Denn die Oberfläche besteht aus plattenförmigem Eis, das in ständiger Bewegung ist.