Die Frau in der Themse - Steven Price - E-Book

Die Frau in der Themse E-Book

Steven Price

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Beschreibung

Charlotte Reckitt ist schön, stolz und gesetzlos. Ihre Coups sind phänomenal, ihre Erfolge beachtlich. Und sie ist eine Schlüsselfigur im Leben zweier Männer: William Pinkerton, berühmt-berüchtigter Detektiv, und Adam Foole, Gentleman-Dieb mit Witz und Chuzpe. Für den einen war sie einst die Erfüllung all seiner Träume, für den anderen ist sie die letzte Spur einer lebenslangen Besessenheit. Eine atemlose Jagd beginnt.

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Steven Price

Die Frau in der Themse

Roman

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll und Lisa Kögeböhn

Diogenes

Für Cleo & Maddox und in Erinnerung an Ellen Seligman

Wenn ein Mann bereit ist, Konsequenzen zu tragen,

sind seiner Tatkraft keine Grenzen gesetzt.

 

Alles, woran wir uns erinnern, wird eines Tages vergessen sein.

 

Nimm dir alles.

Adam Foole

Ich bin wirklich und wahrhaftig überzeugt zu wissen, wie ich diesen Mann anpacken muss. Ich kann ihn uns zunutze machen.

William Pinkerton

TEIL IDie Frau in der Themse

Eins

WILLIAM PINKERTON

LONDON 1885

Er war der älteste Sohn.

Er trug seinen schwarzen Schnauzbart lang wie ein Gesetzloser, sein rechter Daumen steckte dort im Gürtel, wo ein Colt Navy hätte sein sollen. Er war keine vierzig, und doch wurde sein linkes Knie bei feuchtkaltem Wetter steif, einer explodierenden Konföderiertengranate am Antietam sei Dank. Er war sechzehn gewesen, und der Granatsplitter hatte aus seinem Knie geragt wie ein überzähliger Knochen, während die Erde um ihn herum spritzte und stob. Seitdem war er zweimal für ermordet gehalten worden und zweimal über seine vermeintlichen Mörder gekommen wie ein Rachegeist. Er hatte dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen, allesamt Gesetzlose, und nur der Tod des Jungen verfolgte ihn nicht. Er betrat Banken mit gesenktem Kopf und zusammengezogenen Augenbrauen, die bedrohlich großen Hände leer, Pranken, zum Würgen bereit. Wenn er auf eine volle Pferdebahn aufsprang, wichen Männer instinktiv zurück, Frauen verfolgten ihn mit Blicken, die Hauben gesenkt. Er war seit fünf Jahren nie länger als einen Monat am Stück zu Hause gewesen, obwohl er seine Frau und seine Töchter liebte, sie mit der Angst des starken Mannes vor Zerbrechlichem liebte. Er hatte lange gelbe Zähne, ein breites Gesicht, eingesunkene Augen und Pupillen so dunkel wie die Schlingen seiner Eingeweide.

So weit, so gut.

Er verabscheute London. Das Kopfsteinpflaster war dreckig, selbst für einen Mann, dessen Geschäft der Dreck war, der den Sattel einem Bett vorzog und die ganze Nacht mit gezogenem Colt auf dem Abort eines Bordells hockte, bis der richtige Arsch hereintorkelte. Hier hatte er seit einem Monat nichts Grünes zu Gesicht bekommen, das nicht entweder Stechpalme oder irgendein anderer Zweig war, den man aus einer Landschaft herangekarrt hatte, die er sich nicht einmal vorstellen konnte. Zu Weihnachten hatte er beobachtet, wie sich die Armen auf einen Mann stürzten, ein Knäuel aus Lumpen und Gier; zu Neujahr hatte er gesehen, wie eine Dame ein Brunnenkressemädchen mit dem Fuß vom Trittbrett einer Kutsche stieß und sodann darüber fluchte, dass das Blut des Kindes ihre Schnürsenkel befleckte. Fäulnis fraß sich durch London, ein Elend, das älter und ärger war als alles, was er aus Chicago kannte.

Er war nicht das Gesetz. Dennoch. In Amerika gab es keinen Dieb, der ihn nicht fürchtete. Er selbst fürchtete keinen Lebenden und nur einen Toten, und das war sein Vater.

 

Es war bitterkalter Januar und jener Vater seit sechs Monaten begraben, als er sich schließlich nach Bermondsey hinab begab. Mit dem getrockneten Blut eines anderen Mannes an den Fingerknöcheln watete er durch den nächtlichen Nebel, seine eigenen Angelegenheiten in London waren beinahe erledigt. Jetzt suchte er nach einem Agenten seines Vaters, einem alten Freund.

Er war gekleidet wie ein Gentleman, obgleich er seine Handschuhe verloren hatte und seinen Spazierstock in der Faust trug wie einen Knüppel. Seine Manschette wies einen Fleck auf, der Ruß oder Erde hätte sein können, aber keines von beidem war. Als der Morgen anbrach, oder das, was in diesem elendigen Winter wohl als Morgen durchgehen musste, machte er halt in einer schmalen Gasse hinter Snow Fields, den Zylinder in der Hand, während der Frost im Gebälk der Ladenfronten knackte. Nebel ergoss sich faulig und gelb über das Kopfsteinpflaster, gesättigt von Kohlenrauch und einem beißenden Gestank, der die Nasenlöcher verklebte und im Rachen brannte. Dieser Nebel war überall, unentwegt, wehte durch die Straßen und waberte am Boden auseinander, ein lebendiges Wesen. In manchen Nächten zischte er leise, wie Dampf aus einem Ventil.

Vor sechs Wochen war er in diese Stadt gekommen, um eine Frau zu verhören, die gestern Abend nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge von der Balustrade gesprungen und im Fluss verschwunden war. Er erinnerte sich an die Dunkelheit, das schwarze Wasser, das schäumend über ihr zusammenschlug, das Klatschen der Polizistenstiefel auf dem Granitpflaster. Er spürte noch immer feucht und rauh die Brüstung an seinen Handgelenken.

Die Frau war vor dem Gesetz in dieser Stadt nicht auffällig geworden, als hätte sie sich dadurch ehrbar machen und von einem bewegten Leben freisprechen können, doch es hatte ebenso wenig geholfen wie alles andere. Sie hatte sich LeRoche genannt, in Wirklichkeit hieß sie jedoch Reckitt und war zehn Jahre zuvor Komplizin des berüchtigten Tresorknackers und Diebs Edward Shade gewesen. Shade war derjenige, hinter dem er eigentlich her war, und bis gestern Nacht war diese Reckitt seine einzige sichere Spur gewesen. Sie hatte kleine scharfe Zähne gehabt, lange weiße Finger und eine Stimme, die tief und teuflisch und betörend gewesen war.

Die Nacht schwand dahin, die Straßen füllten sich. In den oberen Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes schimmerte ein blasser Himmel, spiegelten sich die verschwommenen Silhouetten darunter, die vorbeiziehenden Umrisse der ersten Zugpferde vor ihren Wagen, die Schiebermützen der Stadtstreicher auf ihren Säcken, eingehüllt in dicke Wollschichten. Die eisenbeschlagenen Räder ratterten und quietschten in der Kälte. Er hustete, zündete sich eine Zigarre an und rauchte schweigend, die kleinen, tiefliegenden Augen wie die eines Meuchelmörders.

Nach einer Weile trat er die Zigarre aus, brachte seinen Hut mit einem Schlag in Form und setzte ihn auf. Er zog einen Revolver aus der Tasche, öffnete die Trommel mit einem Klicken, drehte sie und sah die Kammern durch, um etwas zu tun zu haben, und als er nicht mehr länger warten konnte, zog er eine Schulter hoch und ging über die Straße.

 

Wenn man ihn fragte, pflegte er zu sagen, er habe noch nie einen Gauner getroffen, der es nicht vorgezogen hätte, rechtschaffen zu sein. Es gebe keinen Gaukler, der nicht vor seinem eigenen Schatten zusammenzucke, sagte er. Dann fuhr er sich mit der Hand über das unrasierte Kinn und blickte grimmig auf gleich welchen Reporter herab, der gerade vor ihm stand, murmelte irgendeine undruckbare Gotteslästerung im Unterweltjargon, beugte sich vor und riss beiläufig die Seite aus dessen Notizblock. Fehlende Bildung führe geradewegs in die kriminelle Unterschicht und Recht und Gesetz ließen das Land im Stich, sagte er. Ein Mann sei immer mehr wert als ein Pferd, auch wenn man das nicht meinen sollte. Der schlauste Kerl, den er je getroffen habe, sei ein Gauner und das gutherzigste Weib eine Hure, denn auf der Welt gebe es solche und solche. Nur Schwachköpfe glaubten, die Dinge seien immer, wie sie scheinen.

 

Er ging nicht gleich hinein, sondern drückte sich stattdessen in eine Seitengasse. Hinter den mit Zeitungspapier beklebten Fenstern regte sich etwas, als er vorbeikam. Die Gasse war der reinste Schlammfluss, vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Durch die Lücken in den Holzwänden erspähte er die zusammengekauerten Umrisse von Kindern, bloß Haut und Knochen, halbnackt, der Atem hing bei der Kälte in Wolken vor ihren Mündern. Unerschrocken hielten sie seinem Blick stand. Der Nebel war hier weniger dicht, der Gestank hingegen noch übler und beißender. Er duckte sich unter einem Tor hindurch in eine schmale Passage, stieg eine schiefe hölzerne Treppe hinab und öffnete eine unscheinbare Tür zu seiner Linken.

In der plötzlichen Stille konnte er das Schwappen des Flusses hören, das von den Abflussrohren unter den Bodendielen verstärkt wurde. Die Wände knarzten wie der Bauch eines Schiffs.

In der Pension roch es nach altem Fleisch, nach nassem, verrottendem Holz. Die gestreifte Tapete starrte vor Ruß, den jeder Rußsammler für einen halben Shilling mit dem Messer abgekratzt hätte. Auf dem Weg nach oben gab er acht, das Geländer nicht zu berühren. Im zweiten Stock verließ er das unbeleuchtete Treppenhaus, zählte fünf Türen ab und blieb vor der sechsten stehen. Nun, da sie nicht mehr der Kälte ausgesetzt waren, hatten seine aufgesprungenen Fingerknöchel zu schmerzen begonnen. Er klopfte nicht, sondern drückte vorsichtig die Klinke und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war. Ein Blick in die Richtung, aus der er gekommen war, dann öffnete er die Tür.

Mr Porter?, rief er.

Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren rauh, heiser, wie die Stimme eines wesentlich älteren Mannes.

Benjamin Porter? Hallo?

Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte er einen kleinen Schreibtisch ausmachen, eine Kommode und in einer Nische neben dem Fenster etwas, das wohl eine Spülküche sein sollte. In einem Winkel stand eine Pritsche, deren billige, mit Wollflocken gefüllte Matratze durchhing und an einer Ecke aufgeplatzt war. Der nackte Matratzenbezug war anscheinend schon geraume Zeit weder gewachst noch gereinigt worden. All das nahmen seine Augen mit der Macht der Gewohnheit wahr. Dann ächzte das Bett unter dem Gewicht von etwas, von jemandem, der in eine Decke gehüllt an der Wand lag.

Ben?

Wer ist denn da?

Die Stimme gehörte einer Frau. Sie drehte sich zu ihm um, eine grauhaarige Schwarze mit kurzgeschorenem Haar und runzligem, schrundigem Gesicht. Er kannte sie nicht. Doch dann blinzelte sie und reckte den Kopf, als wollte sie ihm über die Schulter schauen, und er entdeckte die lange, sichelförmige Narbe, die sich über Stirn und Wange zog.

Sally, sagte er leise.

Eine Ahnung flackerte in ihrem Blick auf, loderte dort eine Sekunde lang. Billy?

Vorsichtig trat er einen Schritt nach vorn.

Komm mal her zu mir. Lass dich angucken. Kleiner Laternen-Billy. Meine Güte.

So hat mich schon lange niemand mehr genannt.

Na, verflixt noch mal. Wie du gewachsen bist. Traut sich keiner mehr.

Er nahm den Hut ab, drehte ihn unbehaglich vor sich hin. In der Luft hingen Schweiß und Rauch und der fischige Gestank ungeleerter Nachttöpfe, wodurch die Wände näherzukommen und die Decke von oben herabzudrücken schien. Er kam sich groß, ungelenk, tolpatschig vor.

Tut mir leid, dass ich so früh vorbeikomme, sagte er. Er lächelte traurig. Sie war so alt geworden.

Ach papperlapapp, schnaubte sie. So früh isses nu auch wieder nich.

Ich war gerade in der Stadt und dachte, ich schau mal vorbei. Wollt mal sehen, wie es euch geht.

Auf dem Boden um den kleinen Schreibtisch stapelte sich das Papier, und eins der Beine des derben Stuhls davor war kürzer als die anderen drei. Selbst aus der Entfernung konnte er den Datumsstempel seines Büros in Chicago auf mehreren Blättern erkennen, er sah den Briefkopf seines Vaters und dessen altvertraute Unterschrift. Die Vorhänge waren zugezogen, doch so fadenscheinig, dass allmählich graues Licht ins Zimmer drang. Der Kamin war erloschen, die Asche kalt, an einer Schnur daneben hing ein uralter Bratspieß. Auf dem Sims ein glasierter Tonelefant, dessen Bemalung an den Beinen abplatzte. Oben in einer der Zimmerecken bewegte sich brodelnd der Putz, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um eine Traube von Käfern handelte. Er wandte den Blick ab. Es gab keine Lampe, bloß einen einzelnen Kerzenstummel, der neben dem Bett auf dem Boden festgeschmolzen war. Er sah sie jetzt deutlicher. Ihre Hände waren schmutzig.

Wo ist Ben?, fragte er.

Och, er hätt dich gern gesehn. Hat dich immer so gemocht.

Habe ich ihn verpasst?

Kann man so sagen.

Er hob den Blick. Dann kamen ihre Worte bei ihm an.

Ach ja, sagte sie. Is schon gut.

Wann?

August. Da hat sein Herz nich mehr mitgemacht. Einfach so.

Das wusste ich nicht.

Nee.

Mein Vater hat immer nur Gutes von ihm erzählt.

Sie winkte unwirsch ab, die Fingerknöchel geschwollen und vernarbt.

Wieso hast du uns nicht geschrieben? Wir hätten bei den Kosten aushelfen können. Das weißt du.

Ach. Du hast eigene Sorgen.

Ich wusste nicht, ob du meinen Brief bekommen hast, sagte er leise. Ich meine, ob Ben ihn bekommen hat. Ich habe ihn an eure alte Adresse geschickt …

Hab ihn gekriegt.

Ben Porter. Ich habe ihn immer für unverwüstlich gehalten.

Und er sich erst.

Er war erstaunt über die Wut, die ihn überkam. Eine ganze Generation schien von der Erde zu verschwinden. Jene Nacht in Chicago vor fast dreißig Jahren. Der Regen, der auf den Wagen niederprasselte, die Plane, die unter dem Ansturm knatterte, die Räder, die sich tief in den Schlamm der Straßen jener Stadt gruben. Er war noch ein Kind gewesen, hatte vorn neben seinem Vater im Regen gesessen, die Laterne umklammert und mühsam versucht, sie trocken und am Brennen zu halten, während sein Vater vor sich hin fluchte, die Zügel knallen ließ und in die Dunkelheit spähte. Die Gruppe entlaufener Sklaven wurde vom grimmigen John Brown angeführt, und die elf Menschen hatten sich tagelang im Haus seines Vaters versteckt. Sie alle sollten schließlich wie Frachtstücke in einen Güterwaggon verladen und gen Norden nach Kanada geschickt werden. Acht Wochen lang waren sie auf gestohlenen Pferden durch die winterliche Prärie geritten und hatten dabei einen Mann verloren. Er kannte Benjamin und Sally und zwei andere, aber die Übrigen waren nur Bündel des Leids für ihn, starke Männer, die von der langen Reise dünne Arme bekommen hatten, Frauen mit fahlen Gesichtern und blutunterlaufenen Augen. Keine zwei Meilen vor dem Verladebahnhof war ihre Kutsche in einer tiefen Schlammpfütze stecken geblieben, er erinnerte sich noch gut an Ben Porters kräftige Gestalt, die sich gegen das Heck stemmte, die in die Hocke ging und den Wagen aus der Pfütze hievte, während der Regen in Strömen an seinen Armen und seinen kraftstrotzenden Beinen hinablief, und an den fremdartigen leisen Gesang der Frauen in der tosenden Dunkelheit.

Sally betrachtete ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Du kannst bestimmt nen Tee gebrauchen, sagte sie.

Er sah sich in ihrem bescheidenen Zimmer um. Nickte. Danke. Tee wäre gut. Er machte Anstalten, ihr zur Hand zu gehen, aber sie wimmelte ihn ab und bedeutete ihm, sich zu setzen.

So schlimm is es auch noch nich, dass mich die alten Hufe hier nich mehr tragen.

Sie kam schwerfällig auf die Beine, packte einen der Bettpfosten und stützte sich mit ihrem krummen Unterarm darauf ab, dann humpelte sie zum Kamin. Sie brach ein Streichholz aus einem nahezu zahnlosen Kamm Überallzünder und zog es durch ein gefaltetes Stück Sandpapier. Er hörte ein Zischen, der beißende Geruch von Phosphor stieg ihm in die Nase, schließlich entzündete sie ein gezwirbeltes Stück Papier und beugte sich über den eisernen Kaminrost mit dem niedrigen Stapel aus Holzresten. Die Backsteinrückseite des Kamins war verrußt, als hätte sie versäumt, das letzte Feuer, das dort gebrannt hatte, zu löschen.

Milch oder Zucker?, fragte sie.

Schwarz.

Na, versüßt hast du dir den Tag ja schon anderweitig, wie ich sehe. Sie zeigte auf seine geschwollenen Knöchel.

Er lächelte.

Umständlich bugsierte sie den gusseisernen Kessel über den Kaminrost. Du bist umgezogen, sagte er vorsichtig. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Ich hatte deine neue Adresse nicht.

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Ein Auge zugekniffen, der Rücken unter dem Nachthemd gekrümmt und bucklig. Ich dachte, du bist Detektiv?

Wohl kein sonderlich guter. Was kann ich tun?

Och, das kocht gleich. Gibt nix zu helfen.

Den Tee meinte ich nicht.

Ich weiß, was du gemeint hast.

Er nickte.

Macht nich viel her, aber besser als wie gar kein Dach überm Kopf. Und meine Arme und Beine haben den Geist auf ihre alten Tage auch noch nich aufgegeben. Kann nu wirklich nich klagen.

Er hatte seinen Spazierstock an das Mauerwerk unter dem Kaminsims gelehnt und beobachtete nun, wie Sally mit ihren rauhen Händen über die silberne Greifenklaue fuhr, die den Knauf zierte. Wieder und wieder, als wollte sie sie glattpolieren. Als das Wasser kochte, wandte sie sich dem Feuer zu, goss den Tee auf und schlurfte hinüber zur Spüle, wo sie eine zarte weiße Porzellantasse auskippte.

Du bist geschäftlich hier, sagst du?, fragte sie durch den Raum.

Genau.

Hab gedacht, vielleicht bist du hinter dem einen Mörder her, von dem man so viel liest. Aus Leicester der.

Er hob schwer die Schultern. Beim Zustand ihrer Augen bezweifelte er, dass sie überhaupt noch lesen konnte. Ich war einer Betrügerin auf der Spur, in Philadelphia hatte sie eine Pechsträhne. Ben kannte sie.

Gewiss.

Gestern Nacht hätte ich sie fast gehabt, aber dann ist sie in den Fluss gesprungen. Wahrscheinlich wird ihre Leiche in ein, zwei Tagen angespült. Ich habe Shore informiert, dass ich hier bin, falls er mich braucht. Zumindest so lange, wie die Detektei mich entbehren kann.

Wen? Doch nich etwa Inspector Shore?

Chief Inspector Shore.

Sie schnaubte. Chief Inspector! Dieser Shore is nix Halbes und nix Ganzes, das sag ich dir.

Tja. Er ist ein Freund.

Ein Halunke is das.

Er runzelte unbehaglich die Stirn. Ich staune, dass Ben über ihn gesprochen hat, sagte er zögernd.

Zwischen uns gabs keine Geheimnisse, nich eins in zweiundsechzig Jahren. Und wenns um John Shore ging, erst recht nich. Sally trug die Tasse Tee mit zitternden Händen zu ihm herüber, beugte sich ganz nah zu ihm herunter und schenkte ihm ein langes, trauriges Lächeln, als wollte sie ihm damit etwas sagen. Hast n gutes Herz, Billy. Bloß erkennts nich immer, aus welchem Holz einer geschnitzt ist.

Sie setzte sich wieder auf ihr Bett. Sich selbst hatte sie keinen Tee eingeschenkt, was ihm mit Unbehagen auffiel. Unvermittelt schaute sie zu ihm auf und fragte: Wie lang, sagst du, bist du schon hier? Solltest du nich mal machen, dass du nach Hause kommst?

Tja.

Denk an deine Frau.

Margaret, ja. Und die Mädchen.

Is nich gut, so lange voneinander weg zu sein.

Stimmt.

Wider die Natur.

Tja.

Trinkst du den Tee noch, oder is der für die Ratten?

Er nahm einen Schluck. Die zarte Porzellantasse in seiner Pranke.

Sie nickte vor sich hin. Gutes Herz, ich sags ja.

Sonderlich gut kann es nicht sein, sagte er. Dafür ist zu viel Hass in mir. Er setzte seinen Hut auf und erhob sich langsam. Meinem Vater ging es genauso, fügte er hinzu.

Sie betrachtete ihn aus feuchten, runzligen Augen. Mein Mister Porter hat immer gesagt, wenn du ein Pferd beschlagen willst, frag am besten vorher nich nach.

Wie bitte?

Du willst dich doch wohl nich aus dem Staub machen, ohne mir zu sagen, warum du hergekommen bist?

Er war bereits auf halbem Weg zur Tür gewesen. Nein, sagte er. Na ja. Ich will dir keine Umstände machen.

Sie faltete die Hände über dem Bauch und lehnte ihren dürren Körper zurück in die grauen Laken. Umstände, sagte sie und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Weißt du, dies Jahr werd ich dreiundachtzig Jahre alt. Ich kenn keinen mehr, der noch nich tot is. Jeden Morgen wundere ich mich, dass ich noch da bin. Aber eins is sicher, wenn du das nächste Mal auf dieser Seite des Ozeans bist, will ich mausetot und begraben sein. Sterben müssen wir alle mal, da is nix Schlimmes dabei. Aber wenn du mich was fragen willst, dann tus jetzt.

Er sah sie lange an.

Na los. Spucks aus.

Er schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht, wie viel Ben dir von seiner Arbeit erzählt hat. Von dem, was er für meinen Vater gemacht hat.

Hab deinen Brief gelesen. Die ollen Papiere liegen noch auf seinem Schreibtisch. Kannst sie alle haben.

Ja. Tja. Die werde ich mitnehmen müssen.

Aber das is nich alles.

Er räusperte sich. Nach dem Tod meines Vaters habe ich eine Akte in seinem privaten Tresor gefunden. Hunderte von Schriftstücken, Quittungen, Berichten. Am Aktendeckel hing ein Zettel, mit Bens Namen, mehreren Zahlen und einem Datum. Er zog aus seiner Innentasche einen gefalteten Umschlag, öffnete die komplizierte Verschlusslasche und nahm ein Blatt Papier heraus. Er gab es ihr. Sie hielt das Papier in der Hand, las jedoch nicht.

Bens Name steht bestimmt in vielen alten Akten.

Er nickte. Auf der Akte stand der Name Shade. Edward Shade.

Ihr Blick verfinsterte sich.

Sie lag nicht im Büro, sondern zu Hause im Tresor. Ich hatte gehofft, Ben könnte mir da weiterhelfen.

Unten auf der Straße klapperte ein Brougham vorbei.

Sally?

Edward Shade. Verflixt noch mal.

Du hast den Namen also schon mal gehört?

Nix anderes hab ich je zu hören gekriegt. Sie wandte das Gesicht dem schwachen Licht entgegen, das durchs Fenster fiel. Ben hat diesem Shade im Auftrag deines Vaters hier drüben jahrelang nachgestellt. Hat nie auch nur die geringste Spur gefunden, in zehn Jahren nich. Der Unmut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Egal, wen du fragst, Billy, jeder hat seine eigene Version von Edward Shade. Ich will nich so tun, als wär meine die einzig wahre.

Ich würde sie gern hören.

Is aber eine ziemlich seltsame Geschichte.

Na los, erzähl schon.

Sie kniff die Augen zusammen, als schmerzten sie. Nickte. Das war ein paar Jahre nachm Krieg, sagte sie. Siebenundsechzig, achtundsechzig. Shade, oder einer, der sich als Shade ausgab, beging eine Reihe von Einbrüchen in New York und Baltimore. In Privathäuser, Villen. Vom Herrenhaus von einem Senator weiß ich. Hat Bilder gestohlen und Skulpturen, so was eben. Das hat er alles an die Privatadresse von deinem Vater in Chicago geschickt, ein Brief war dabei, in dem er sich bekannt und den rechtmäßigen Besitzer genannt hat. Wer Edward Shade war, das wusste keiner. Niemand hatte ihn je gesehen. Es war ein Name auf einem Brief, das war alles, was man sicher wusste. Die ersten Pakete kommen an, dein Vater gibt die Sachen diskret zurück an die Besitzer, und die fallen ihm fast um den Hals vor Freude. Aber als das immer so weiterging, kamen langsam Fragen auf. Jeden Monat aufs Neue, das wirkte verflucht verdächtig. Als wär das alles ein Schmierentheater, damit die Detektei besser dasteht. Eine New Yorker Zeitung hat die Geschichte aufgegriffen und sie wochenlang ausgeschlachtet. Kein gutes Haar haben die an der Detektei gelassen. Hat deinen Vater schlimm in die Bredouille gebracht, das sag ich dir.

Ich erinnere mich dunkel.

Bestimmt. Aber was hätt er machen sollen? Das war Diebesgut, da hat ein Mann wie dein Vater ja gar keine andere Wahl, als den Besitzern alles zurückzugeben.

Ja.

Und dann war der Fall gelöst und der Skandal aus der Welt. Stellt sich raus, dass es gar keinen Shade gab. War ein ganzer Ring von Gaunern, die mit deinem Vater noch eine Rechnung offen hatten. Wollten ihn eigentlich erpressen, und wenn sie schon kein Druckmittel finden konnten, wollten sie ihm wenigstens sonst wie schaden. Edward Shade, das war nur ein Name, den die sich ausgedacht hatten.

Aber er hat Ben doch noch Jahre später nach ihm suchen lassen.

Bis zum Schluss. Dein Vater hatte da so seine Vermutungen.

Davon stand nichts in der Akte.

Sally nickte. Ein Geheimnis bewahrt man bestimmt nich dadurch, dass mans aufschreibt.

Hat Ben auch mal von einer Charlotte Reckitt gesprochen?

Sally legte zwei Finger an die Lippen und musterte ihn. Reckitt?

Charlotte Reckitt. In der Akte lag eine Fotografie von ihr. Ihre Körpermaße standen auf der Rückseite, in Bens Handschrift. Es war auch ein Protokoll dabei, ein Verhör von neunundsiebzig. Darin befragt Ben sie zu irgendeinem Komplizen. Ben zufolge gab es in den Spelunken von Chicago Gerüchte über die beiden, aber sie wusste nichts oder tat jedenfalls so. Am Ende hat er sie laufenlassen. Diamantenraub, Bankraub, in Frankreich und den Niederlanden im Umlauf befindliche Fälschungen, solche Sachen. Den Aufzeichnungen meines Vaters zufolge muss dieser Komplize Shade gewesen sein. Im September habe ich ein Telegramm mit einer Beschreibung von Charlotte Reckitt hierher und nach Paris und an unsere Zweigstellen im Westen geschickt. Shore hat mir im November geantwortet, sie wäre hier in London. Und hier stand Ben auf der Gehaltsliste meines Vaters.

Billy.

Vor seinem Tod, bei meinem letzten Besuch, hat er mir in die Augen gesehen und mich Edward genannt.

Billy.

Fast wären es die letzten Worte gewesen, die er zu mir gesagt hat.

Jetzt wirkte sie traurig. Mein Mister Porter war am Ende auch mächtig verwirrt. Ich hab deinen Vater geliebt, das weißt du. Und du weißt auch, dass mein Mister Porter und ich ein Leben lang in seiner Schuld standen. Aber vergiss diesen Edward Shade. Nimm die Papiere mit, mach nur. Lies sie, und du wirst sehen. Dein Vater hat mehr draus gemacht, als da war. Er war besessen. Shade hat ihn richtig krank gemacht.

Er musterte sie im Halbdunkel. Ich habe sie gefunden, Sally. Die Frau, die ich gestern Nacht verfolgt habe, die Frau, die sich das Leben genommen hat. Das war Charlotte Reckitt.

Verflixt noch eins.

Ich habe mit ihr gesprochen, bevor sie gesprungen ist, ich habe sie nach Shade gefragt. Sie kannte ihn.

Das hat sie dir gesagt?

Er schwieg, dann sagte er leise: Nicht direkt.

Sally breitete die Hände aus. Ach, Billy, sagte sie. Wenn du dem Atem von einem Mann nachjagst, was jagst du dann?

Er antwortete nicht.

Mein Mister Porter hat immer gesagt: Man muss sich jeden Morgen von neuem fragen, wem oder was man eigentlich nachjagt.

Na schön.

Wonach suchst du?

Er ging zum Fenster und schaute durch den Frost und den Ruß an der Scheibe zu den windschiefen Dächern der Lagerhäuser am Flussufer hinüber, spürte ihre Blicke im Rücken. Das Geräusch ihres Atems in der Dunkelheit. Was willst du damit sagen? Dass es Shade nie gegeben hat?

Sie schüttelte den Kopf. Geister kann man nich einfangen, Billy.

 

Ab wann geht es im Leben bergab?

Er dachte an die Porters von damals zurück, so wie er sie noch immer vor seinem inneren Auge sah. Sein regenglänzender Brustkorb im orangefarbenen Licht der Laterne, an der Haut klebte ein Wollhemd, die starken Schultern, die den Wagen aus dem Matsch hievten. Ihr leises Klagelied, das sie schutzlos und ohne Mantel im Wasser kniend gesungen hatte. Er dachte an die vergangenen Wochen, in denen er Charlotte Reckitt verfolgt hatte, von ihrem Reihenhaus in Hampstead zu den Galerien am Piccadilly, bis hinunter zu den Passagierdampfern auf der Themse war er ihr nachgegangen, hatte im Schein der Gaslaternen die zugezogenen Fenster ihres Hauses beobachtet. Immer in der Hoffnung, einen Blick auf Edward Shade zu erhaschen. Sie war eine kleine Frau mit feuchten Augen und schwarzem Haar gewesen, und plötzlich musste er daran denken, wie sie ihn auf der Treppe des Theaters auf der St. Martin’s Lane angesehen hatte. Die Furcht in ihrem Blick. Ihre kleinen Hände. Sie war über die Brüstung in einen eiskalten Fluss gesprungen, wahrscheinlich würde man ihre Leiche am Morgen oder am Tag darauf finden.

So weit, so gut.

Er wurde dieses Jahr neununddreißig Jahre alt und war schon lange berühmt und schon lange einsam. In Chicago starb seine Frau langsam, aber sicher an einem Tumor von der Größe eines Vierteldollars, der hinter ihrem rechten Auge wucherte, wenngleich weder er noch sie zum jetzigen Zeitpunkt davon wussten. Weitere zehn Jahre sollten vergehen, ehe er sie niederrang. Er hatte den Sarg seines Vaters am Seil ins Grab gelassen und die erste Schaufel Erde hineingeworfen. Das Geräusch würde bis in alle Ewigkeit in ihm widerhallen. Ob er achtzig wurde oder nicht, ein Gutteil seines Lebens lag hinter ihm.

Ab wann geht es im Leben bergab? Er starrte in den roten Himmel und dachte an die Atlantiküberquerung und dann an seine Heimat. Der Nebel um ihn herum lichtete sich, die Passanten warfen gespenstische Schatten. Dann ging er hinunter zur Tooley Street, um die Pferdebahn zu seinem Hotel zu nehmen.

Und der Name? Ach ja.

Sein Name war William Pinkerton.

Zwei

ADAM FOOLE

LIVERPOOL 1885

Nun zu jemand anderem.

In seinen Augen glänzte der Widerschein des Lichts, selbst wenn es gelöscht war, wie in Katzenaugen. Sie waren violett und hart wie Amethyst, und sie waren der Dunkelheit zugetan. Seinen Backenbart trug er modisch gestutzt, auch wenn das tiefe Schwarz darin längst zu Weiß geblichen war. Obwohl es eine rauhe Überfahrt gewesen war, hatte er selbst bei stürmischstem Wetter im Rauchsalon der RMSAurania gesessen und mit einem befeuchteten Finger die geplätteten Seiten der Times umgeblättert. Auf diese Weise war er gesehen worden, und zwar von denen, auf die es ankam. Mit der hellbraunen Haut, die sich von seinem gestärkten weißen Kragen abhob, und den langen Fingern. In maßgeschneidertem Anzug und elegant geschnittener Weste, als wäre er Juwelier oder Fabrikant, eben zurück aus Bombay, dabei steckte er gerade finanziell schwer in der Klemme, und ehe er die Beine übereinanderschlug, zupfte er stets zwei Fingervoll Hosenstoff hoch, aus Sorge, er könne ausbeulen. Doch seine Manschettenknöpfe waren in Blattgold gefasste Smaragde, seine Krawattennadel diamantbesetzt. Fragte man ihn, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dem Erscheinungsbild eines Mannes und dem, was dahintersteckte, lächelte er ein trauriges, wissendes Lächeln, als hätte er ein langes Leben hinter sich und zu viel von der Welt gesehen, um irgendetwas als gegeben anzunehmen.

Weiter.

Nein, er war kein Lügner. Er war nur nicht der, der er zu sein schien. Er reiste mit einem kleinen Mädchen, das er als seine Tochter vorzustellen pflegte. Seine Stimme war leise und eigenartig hoch. Seine Mutter kam in einem schmalen Haus in Kalkutta zur Welt und hatte sich, als sie dreizehn und noch immer nicht verheiratet war, am Ufer des Hugli entlang zum Meer aufgemacht. An sonnigen Tagen leuchtete auch in seinem Gesicht das Goldbraun ihrer Haut, und die Schatten um seine Augen blühten lila wie Kaltwasser-Anemonen. Er war klein, wie sie klein gewesen war, mit starken, schmalen Schultern und kräftigen Handgelenken, und obwohl er sich seine ganze Kindheit hindurch Geschichten über die Leibesgröße seines aus Yorkshire stammenden Vaters hatte anhören müssen, hatte er selbst davon nicht das Geringste abbekommen. Er hatte sowohl in großer Armut als auch in großem Reichtum gelebt und wusste genau, welche der beiden Welten er bevorzugte. Nichtsdestotrotz brachte er keinerlei Verständnis für Verstöße gegen das Sittengesetz auf, denn für ihn war dieses Gesetz unumstößlich, und alle Menschen, die auf Gottes Erde wandelten, mussten sich an ihm messen. Kein Mensch sollte sich der Gewalt hingeben. Kein Mensch hatte das Recht, einen anderen zu benachteiligen. Um Notleidende musste man sich kümmern. Geriet er bei einer Partie Whist in Bedrängnis, räumte er schon mal ein, die Wahrheit sei seiner Erfahrung nach lediglich eine zur Eleganz veredelte Lüge und nichts auf dieser Welt heilig, im Jenseits aber womöglich alles. Im Zeitalter der Fabrikanten und Blaublüter war er aus eigener Kraft emporgekommen und schämte sich nicht, das zuzugeben.

Schon seit dreiundzwanzig Jahren hörte er auf den Namen Adam Foole. Er hatte bereits mehrfach ein Vermögen gemacht und es wieder verpulvert. In einigen Banken an der Ostküste war sein Name inzwischen geächtet, in anderen noch immer geachtet, in wieder anderen setzten die Direktoren hastig die Zwicker ab und sprangen von ihren Schreibtischen auf, um sich sein neuestes Wagnis anzuhören. Ein eleganter New Yorker Club reservierte ihm wochenlang einen eichenholzvertäfelten Raum, wenn er in der Stadt weilte, obschon er seine Rechnung seit drei Jahren nicht beglichen hatte. Seine Geschäfte waren vielfältig und breit gefächert und wie bei Privatanlegern üblich entsprechend vage, er ging mit seinen Kenntnissen nicht hausieren.

Sechs Wochen erst war er aus England fort gewesen, und es war einem Brief mit weiblicher Handschrift zu verdanken, dass es ihn so schnell wieder dorthin zurückzog. Worum es ging? Worum wohl.

Man konnte nie reich genug sein.

 

Nun stand er an der Reling des Ozeandampfers und spürte, wie das Stampfen der Maschinen unter seinen Füßen anschwoll und wie sie dann allmählich gedrosselt wurden. Es waren noch andere in der Kälte an Deck, wenn auch nicht viele, in dicke Schals oder Schiffsdecken mit dem Cunard-Schriftzug gehüllt, lehnten sie sich in den peitschenden Wind, schlangen die Arme um die Brust und zogen ihre Gehröcke fester um sich. Er trug die Mode der letzten Saison, einen zweireihigen Tweedmantel, eine zugeknöpfte Anzugjacke und einen braunen Bowler, an dem der Wind riss.

Er spürte, wie sein Backenbart flatterte, und hob den Blick. Der Himmel war wolkenverhangen, aber hell genug, um sich leuchtend von den weißen Rümpfen der Rettungsboote abzuheben, die unter ihren Persennings über Deck hingen. Im Osten konnte er Liverpool wie einen Tintenfleck im Grau ausmachen. Die Fabrikschlote, ihre windschrägen braunen Rauchsäulen.

In diesem Augenblick kam ein Kind, noch keine elf Jahre alt, durch die Salontür, es zerrte am Band seiner Haube.

Um Himmels willen, Molly, rief er. Schau dich bloß einmal an. Deine Stiefel.

Das weiche Leder war von der Schuhspitze bis hinauf zu den Schnürsenkeln mit roter Kreide beschmutzt, als hätte sie gegen Gott weiß was getreten. Ich seh vielleicht schlimm aus, was?, fragte sie grinsend.

Komm her.

Ihr kühler Blick, ihre sommersprossige Nase. Sie warf sich gegen die Reling und legte die Arme darauf. Der Wind drückte ihr das Kleid gegen die Beine, der Umriss ihrer jungenhaften Hüften wurde sichtbar, und er wusste, dass ihre geknöpften Handschuhe ungepflegte, abgekaute Fingernägel verbargen. Er band ihr die Haube fester.

Was ist das fürn Geruch?, fragte sie.

Halt doch mal still. Kreosot.

Lautlos formte sie das Wort mit den Lippen nach.

Hat der Gepäckträger die Taschen abgeholt?, fragte er.

Ich hab sie im Gang stehen lassen. Genau als wie du mir gesagt hast.

Wie ich dir gesagt habe. Wie. Foole streckte die leere Hand aus, und sie richtete blinzelnd den dunklen Blick darauf.

Was?

Das weißt du genau.

Sie verzog das Gesicht, griff in ihren Ärmel, holte die fünf Pfund Trinkgeld hervor, die er ihr für den Gepäckträger gegeben hatte, und reichte sie ihm. Ich mag dich lieber, wenn wir reich sind, sagte sie.

Wortlos nahm er das Geld. Doch als sie sich abwandte, um über den Fluss zu blicken, fiel ihm etwas ins Auge, er griff in die Falten ihres Kleides und zog ein Gipspüppchen heraus. Wo hast du die her?, fragte er barsch.

Sie riss sie ihm aus der Hand, auf einmal ganz ungehalten.

Ist das die Puppe, mit der das Webster-Mädchen gespielt hat?

Nee.

Eingehend betrachtete er den schaumigen Wellenkamm, der vom Rumpf des Schiffes wegrollte, und sah sie dann erneut an. Was ist bloß in dich gefahren?

Sie weiß nicht, dass ich das war.

Darum geht es nicht.

Das Mädchen errötete und wich seinem Blick aus. Soll ich sie etwa zurückgeben?

Was denn sonst?

Dann wissen die aber, dass ich das war.

Er schüttelte den Kopf.

Sie schwieg einen Augenblick und starrte im silbrigen Glanz des River Mersey auf ihre Stiefel, dann sah sie ihn wieder an. Eh egal, sagte sie bockig. Sie hat noch tausend andere.

Er sah an ihr vorbei. Ein dünner Mann in begräbnisschwarzem Mantel und Hut war an Deck getreten und hielt die schwere Tür des Rauchsalons mit einer Hand auf. Er blinzelte in den Wind, dann hob er grüßend die Hand und ließ die Tür hinter sich zuschwingen. Auf dem weißgetünchten weitläufigen Deck gab es Nischen, in denen Messingspucknäpfe an den Boden genietet waren, und Bullaugen, die im grauen Tageslicht glänzten. Als der Mann auf sie zukam, waberte sein düsteres Spiegelbild neben ihm her.

Molly folgte Fooles Blick über ihre Schulter, murmelte etwas, um sich schließlich mit einem sarkastischen Knicks davonzustehlen und unterwegs mit der behandschuhten Hand auf die Reling zu schlagen. Die andere Hand hatte sie fest um den Hals der Puppe geschlossen.

In zehn Minuten in unserer Kabine, rief er ihr nach. Molly? Ich meine es ernst.

Sie hob einen Arm in den Wind, ohne sich umzudrehen.

Ihre Tochter?, fragte der Mann im Näherkommen. Ein hübsches Mädchen, Sir. Ist mir während der Überfahrt gar nicht aufgefallen.

Foole hob ergeben die Hände.

Der Gentleman lachte. Ich habe selbst jede Menge Nichten, Sir. Man sieht ihr den guten Stammbaum sofort an. Die Mutter ist?

Tot, sagte Foole leise. Er winkte ab. Das Leben geht weiter, obgleich unsere Herzen das anders sehen mögen.

Sie muss eine wahre Schönheit gewesen sein, Sir.

Foole räusperte sich.

Das sieht man den Zügen des Mädchens gleich an, fuhr der Mann fort. Ihre Tochter scheint wahrlich mit vielen Vorzügen gesegnet zu sein. Ein bemerkenswertes Exemplar.

Exemplar?

Der Gentleman lachte. Verzeihen Sie. Ich praktiziere schon so lange, dass mir die Alltagssprache abhandenkommt. Deformation professionelle.

Was war noch gleich Ihr Fachgebiet? Phrenologie?

Er nickte zufrieden. Phrenologie, Sir, genau. Die Wissenschaft des menschlichen Potentials. Verzeihung, und Ihr Spezialgebiet, sagten Sie, war …?

Ich sagte gar nichts.

Whist ist es jedenfalls nicht.

Schließlich erwiderte Foole sein Lächeln, wenn auch missmutig. Ich hatte eigentlich gehofft, in den letzten Tagen etwas davon zurückzugewinnen, sagte er. Zumindest hatte ich gehofft, nicht alles zu verlieren.

Das hatte ich auch für Sie gehofft, Sir.

Die Karten waren mir wohl nicht hold.

Der Phrenologe räusperte sich. Ich möchte nicht unverschämt sein, aber …

Foole griff in seine Weste, löste die Kette und hielt sie ihm hin, wog sie in der Hand. Die hat meinem Vater gehört.

Ein exquisites Stück.

Es war eine silberne Taschenuhr, die zwanzig Jahre zuvor in Philadelphia hergestellt worden war, mit schmaler Kupferumrandung und gitterartig gearbeitetem Goldfiligran in Form eines offenen Auges. Mit einem Klicken öffnete sich der Deckel, und darin eingraviert prangte die Inschrift: FÜR MEINEN SOHN.

Er schloss sie wieder. Wenn Sie so gut wären, setzte Foole an, würde ich Ihnen die Summe bei meiner Ankunft in London –

Bedauernd hob der Phrenologe den Zeigefinger, dessen Gelenke krumm und geschwollen waren. Er hatte den Blick kaum von der Uhr abgewandt.

Ich bin mir sicher, dass auf Sie Verlass ist, Sir. Aber hier geht es ums Prinzip, Sie verstehen? Man kann sich nicht einfach an einen Tisch setzen und sein Glück überstrapazieren, ohne die Konsequenzen zu tragen. Der Phrenologe nickte nun betrübt. Alles hat Konsequenzen, fuhr er fort. So ist es nun einmal. Das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. So halten wir es hier in England mit der Ehre.

Selbstverständlich. Ich dachte nur, vielleicht –

Nein, nein.

Er war ein hochgewachsener Mann, wenn auch dünn, und nun trat er einen Schritt vor und baute sich vor Foole auf. Diese Bewegung war zugleich bedrohlich und um Zurückhaltung bemüht, und Foole spürte, wie sich die Reling in seine Rippen bohrte, er räusperte sich und gab dem Mann schließlich die Uhr. Etwas stach, schmerzte ihn in seinem Innern.

Der Phrenologe hielt die Uhr ins Licht, öffnete sie, ließ sie zuschnappen, schloss dann seine klauenartige Hand darum und ließ sie mit einer einzelnen fließenden Bewegung in seine Westentasche gleiten.

Foole verzog gequält das Gesicht. Ich begleiche stets meine Schuld, sagte er.

Gewiss, Sir.

Foole drehte sich um und betrachtete das langgestreckte flache Dach der Landebrücke von Pier Head, dessen Kai mit den breiten Bohlen gerade eben sichtbar wurde, dahinter tauchten die Verwaltungsgebäude auf. Flussaufwärts konnte er die gedrungenen, rußigen Ziegelbauten des Albert Dock erkennen. Die Luft war kalt und schneidend.

Und wie lange planen Sie, in Liverpool zu bleiben, Sir, wenn ich fragen darf?, fragte der Phrenologe. Sie nächtigen gewiss im Adelphi?

Wir reisen noch heute Abend weiter nach London. Mit der London North Western.

Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Dürfte ich Ihnen die American Bar im Criterion am Piccadilly Circus empfehlen?

Foole ächzte. Und Sie sind auf dem Heimweg, nehme ich an.

In meine Praxis, ja. Ich habe mir in Boston eine überaus faszinierende Sammlung indianischer Schädel angeschaut. Höchst bemerkenswert. Foole beobachtete die linke Hand des Mannes, die seine Uhr unaufhörlich in der Manteltasche zwischen den Fingern drehte.

Das Stück ist von einigem persönlichen Wert, sagte Foole nach einer Weile. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Tasche des Mannes. Vielleicht können wir uns in naher Zukunft auf einen Rückkaufspreis einigen? Inklusive Zinsen natürlich.

Der Phrenologe zog die Hand aus der Tasche, strich sich über den Backenbart und spähte zum Frachthafen mit seinen Kränen und Flaschenzügen hinüber, deren Taue im Wind schaukelten. Wir werden sicher zu einer Einigung finden, Sir. Ich würde Ihnen ungern etwas entwenden, das für Sie von solcher Bedeutung ist. Hier meine Visitenkarte. Sollten Sie in Liverpool je einen Arzt benötigen oder einfach einen Abend in Gesellschaft verbringen wollen, wäre ich hocherfreut.

Ich fürchte, das könnte ich mir nicht leisten. Den Abend, meine ich.

Vielleicht gewinnen Sie ja Ihren Chronometer zurück.

Oder ich verliere mein letztes Hemd.

Der Phrenologe nahm demonstrativ Kragen und Manschetten des kleineren Mannes unter die Lupe. Hm, sagte er lächelnd. Eher unwahrscheinlich.

Foole war es plötzlich leid. Die dunklen Umrisse der Bootsrampen und die Arkaden des Anlegers glitten näher.

Der Phrenologe beobachtete ihn. Sie sind keine Spielernatur, Sir.

Foole lächelte verkniffen. Wer ist das schon.

 

Es war ein stählerner Koloss mit einer Verdrängung von knapp über siebentausend Tonnen, einer einzelnen Schiffsschraube und zwei rauchheißen Schornsteinen. Die Überfahrt hatte trotz düsteren Wetters gerade einmal elf Tage gedauert, der Rumpf hatte sich gehoben, die kalten grauen Wogen erklommen, ein jähes Abfallen, ehe er sich wieder anhob, bis niemand an Bord nicht mindestens einmal seekrank geworden war und die Messe sich bis auf einen einzigen Esser geleert hatte. Das Schiff war getakelt wie ein Dreimaster und hatte einen Mast vorn und zwei achtern, als wollte es an frühere Zeiten erinnern, aber sein opulenter Salon war mit all dem polierten Messing und dem genieteten Leder wie einer der modernen Raddampfer auf dem Mississippi ausgestattet. Jeden zweiten Abend gab ein französischer Magier in Frack und Zylinder seine Zaubertricks zum Besten, wobei ihn eine Dame auf dem Klavier begleitete. Bevor er schlafen ging, zog Foole einen kleinen braunen Umschlag hervor, öffnete den Brief darin und las ihn, formte die Worte lautlos mit den Lippen, dann lauschte er Mollys leisem Schnarchen, schob den Brief zurück in den Umschlag und legte ihn unter sein Kissen.

Ihre Handschrift hatte sich verändert in den zehn Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, und er fragte sich, was wohl aus ihr geworden war. Ihr Tonfall ließ ihn nichts Gutes ahnen. Sie schrieb mit einer Milde, die ihn angesichts ihrer gemeinsamen Vergangenheit erstaunte, und erwähnte mit keiner Silbe die Verfehlungen und den Verrat von damals. Jeden Morgen umklammerte er das glänzend lackierte Bettgestell, spürte das Schwanken des Schiffs und dachte daran, um wie viel näher er jetzt schon sein musste, und in ihm regte sich etwas, das er lange nicht gefühlt hatte. Unter denen, die in den Frühstückssalon taumelten, befanden sich auch ein amerikanischer Senator, den er aus der Zeitung kannte, sowie ein korpulenter Arzt aus Edinburgh, der unter Männern laut lachte, in Anwesenheit von Damen jedoch einwandfreie Manieren an den Tag legte. Er schien sich auf nahezu jedem Gebiet auszukennen und sprach beim Mittagessen von Boxkämpfen mit bloßen Fäusten, der Rechtmäßigkeit des britischen Empires sowie kürzlich in Frankreich durchgeführten obskuren Operationen. Des Nachts postulierte er die mögliche Existenz von Geistern, Foole hatte ihn vom ersten Augenblick an sehr gemocht. Eines Abends beklagte der Arzt sich über Detektivgeschichten, in denen die Kriminellen durch ihre eigene Dummheit zu Fall gebracht wurden, statt dass sich die Detektive durch ihre Intelligenz hervortäten, und Foole hatte angesichts dieser treffenden Beobachtung schmunzeln müssen, doch der Arzt hatte bloß gelacht und gesagt, Deduktion, mein Lieber, Deduktion. Er war auch unter jenen, die sich zusammengefunden hatten, um bis spät in die Nacht Whist zu spielen, und während die Getränke im Seegang Ellipsenform annahmen und die Männer geraucht und gelacht hatten, war es nur dem Arzt gelungen, sein wahres Gesicht zu verbergen. Oder vielmehr, dem Arzt und Foole. Er hatte noch niemanden getroffen, der sich besser bedeckt halten konnte. Nach fünf Tagen auf offener See hatte Foole sich an die beißende Salzluft und das Heben und Senken des Decks gewöhnt, auf dem er gegen den Wind gestemmt seinen allabendlichen Gesundheitsspaziergang absolvierte und danach nass bis auf die Haut und in die eiskalten Hände klatschend wieder hereinkam, worüber Molly jedes Mal voller Unverständnis den Kopf schüttelte.

Nichts davon spielte jetzt noch eine Rolle.

Die Tage waren vergangen. England nahte.

 

Am Vormittag hatte der Dampfer angelegt und seine beiden Gangways vertäut, Foole beobachtete, wie die Truhen und Kisten der Passagiere der ersten Klasse in Netzen auf den Kai hinabschaukelten. Wer sich über die Reling des Oberdecks lehnte, konnte es aus den Eingeweiden des Schiffs hervorbrodeln sehen, ein Gewühl aus Familien, Arbeitern und Herumtreibern, die Koffer oder Säcke schleppten, manche kauten Dauerwurst, andere hielten Flaschen in der Hand, ein Meer zerknautschter grauer Schiebermützen und brauner Hauben und verblichener Schals, das sich unter den tief dahinziehenden grauen Dampfwolken verlor und wieder sichtbar wurde, während die großen Kessel unter Deck ihren Druck herunterfuhren.

Foole durchquerte den Salon, nahm die Marmortreppe hinunter aufs zweite Deck und ging den breiten gasbeleuchteten Gang entlang zu der Zweite-Klasse-Kabine, die er mit Molly teilte. Dort wimmelten Gepäckträger und Passagiere durcheinander, einige hielten sich in der Eile die Hüte, er drehte den schweren Knauf seiner Tür, doch das Kind war nicht zu sehen.

Molly?, rief er.

Die Kabine war leer, die Betten waren gemacht und die Laken gemangelt, der Mahagonischreibtisch war wieder auf Hochglanz poliert. Er legte die fünf Pfund auf den Schreibtisch, dann besann er sich eines Besseren und steckte sie wieder ein. Ein Besatzungsmitglied klopfte an die Tür, sagte die verbleibenden Minuten an und ging weiter.

Er betrachtete sein Gesicht in dem kleinen an die Wand genieteten Spiegel. Die Falten um seine Augenwinkel wie Craquelé auf einem Ölgemälde. Das weiße Haar, die Sorgenfalten auf seiner dunklen Stirn. Die buschigen Augenbrauen mit einzelnen störrisch abstehenden Haaren. Wann war er alt geworden. Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihn jetzt so sah.

Was würde sie sagen.

Ein Beben ging durch den Schiffsrumpf. Er setzte seinen Bowler auf, zog die gestärkten Manschetten zurecht, nahm den Spazierstock und ging hinaus an Deck. Die erste Klasse war mit sechsundneunzig registrierten Passagieren nahezu voll belegt gewesen, und Foole schob sich durch die Herumstehenden, bis er die Schlange an der Gangway erreicht hatte. Von Molly war weit und breit keine Spur, doch sie musste in der Nähe sein, irgendwo in der Menge.

Er arbeitete sich weiter vor, bis er hinter einem riesigen Mann in schlichtem Mantel und grober Leinenhose stand, der einen abgestoßenen Lederkoffer auf der Schulter trug. Er konnte den Kochwurstgestank auf der Haut des Mannes riechen, die graue Dreckschicht an seinem Hals sehen. Um sie herum die manikürten, maßgeschneiderten Silhouetten der Männer von Rang.

Ein Zollbeamter in Weiß kontrollierte auf der oberen Plattform des Piers die Fahrkarten und hielt den Riesen an, hob dessen Karte mit spitzen Fingern hoch.

Sie befinden sich in der falschen Klasse, Sir, sagte der Beamte. Wie sind Sie denn hier heraufgekommen?

Foole hörte den Riesen etwas Einsilbiges murmeln, woraufhin der Beamte die Fahrkarte sinken ließ.

Wie bitte?

Der Riese schwieg mürrisch.

Sie steigen dort unten aus, Sir, sagte der Beamte.

Er deutete hinunter in die dritte Klasse, auf die drangvolle Enge schiebender und fluchender ungewaschener Körper. Fooles Blick folgte dem behandschuhten Finger.

Der Riese zuckte mit einer gewaltigen fleischigen Schulter und drehte sich zur Seite. Seinem Äußeren nach zu urteilen, hätte er durchaus einer von diesen Faustkämpfern sein können.

Verzeihen Sie, Sir, rief Foole nach vorn. Könnten Sie den Gesellen nicht durchlassen? Wir haben heute noch andere Verpflichtungen, Sir.

Der Beamte wandte sich an Foole. Gehören Sie zusammen?

Der Riese funkelte ihn an.

Foole hob die Hände, den Stock an den Daumen gehängt. Er machte Anstalten, einen Schritt zurückzutreten, und stellte erstaunt fest, dass sich hinter ihm eine Lücke aufgetan hatte.

Ich lasse mir hier nichts befehlen, sagte der Beamte. Nicht von Ihnen, Sir, und ganz sicher nicht von so einem.

So einem? Was soll das denn heißen?, knurrte der Riese.

Der Beamte schnaubte und blickte an ihm vorbei. Treten Sie beiseite, Sir. Der Nächste.

Meine Papiere sind sauber, Mann.

Der Nächste!

Niemand rührte sich. Plötzlich ließ der Riese seinen Koffer auf die Rampe fallen, packte den Zollbeamten vorn an der Weste und hob ihn halb in die Luft.

Er flüsterte dem Mann etwas ins Ohr, Foole erkannte die Furcht in den Augen des Beamten. Er war auf einmal sehr müde. Trotzdem trat er vor. In Ordnung, sagte er. Das reicht.

Er hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.

Der Hemdkragen des Riesen stand offen, weil er zu eng war für seinen Hals, und halb versteckt in einem fleckigen Ärmel hielt er eine Flasche mit Hochprozentigem, die er nicht losließ, während er den Beamten in der Luft baumeln ließ. Die Lippen unter seinem schwarzen Bart waren rot und feucht.

Lassen Sie den Mann runter, sagte Foole. Das ist absolut unangemessen, Sir.

Der Zollbeamte röchelte. Die rosa Zunge, das Weiß seiner vorquellenden Augen. Die Messingknöpfe an seinem Kragen funkelten im Tageslicht wie Münzen.

Du, schnauzte der Riese. Du hältst die Klappe. Das geht dich nix an.

Foole nickte bedauernd. Er roch den Knoblauchatem des Mannes. Er war davon ausgegangen, dass noch andere vortreten würden, doch er blieb allein. Hier und da sah er Mollys rote Haube in der Menge auftauchen, als versuchte sie näher zu kommen. Ein Grauen durchfuhr ihn, ganz heiß erst, dann sehr kalt. Er nahm seinen Gehstock jetzt fest in die Hand.

Lassen Sie ihn runter, sagte er mit mehr Entschlossenheit.

Alles wurde still. Das Schiff in seiner Vertäuung, die Menschenmenge, die Möwen, die in Schwärmen über die Docks segelten.

Der Riese holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Er langte herüber, und ehe Foole sich’s versah, hatte er ihn träge geschubst, die Wucht des Stoßes war gewaltig, und Foole taumelte mit rudernden Armen rückwärts, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Klappe halten, hab ich gesagt!

Foole strich sich den Mantel glatt. Wut loderte plötzlich in ihm auf, er machte einen Schritt nach vorn und stieß den bulligen Mann mit aller Kraft in den Rücken. Der Riese ließ den Zollbeamten fallen und drehte sich um, starrte Foole entgeistert an.

Was isn jetz los?, fragte er mit gesenkter Stimme, mit einem Male unsicher. Sein Blick überflog die versammelte Menge.

Es sind Damen anwesend, Sir, sagte Foole laut. Es gibt Zeugen. Gehen Sie, Sir.

Verwirrung huschte wie ein Schatten über das Gesicht des Riesen. Foole holte tief Luft.

Und dann stürzte sich der Riese ohne Vorwarnung auf ihn. Er hob beide Fäuste, dick wie die Blöcke eines Flaschenzugs, und schwang sie über dem Kopf, als wolle er Foole den Schädel einschlagen. Der Mann hatte einen ziemlichen Wanst und holte aus, um sein ganzes Gewicht in den Schlag zu legen, trotz seiner Größe war er flink. Doch als er die Fäuste niederschmetterte, wich Foole geschmeidig zurück und dann nach links aus und spürte den Luftzug dort, wo er gestanden hatte. Mit dem Stock verpasste er dem Riesen zwei schnelle feste Hiebe gegen die Schläfe, und der große Mann ging zu Boden.

Ein Knacken war zu hören, wie von einer Niete, die aus einem eisernen Kessel platzt. Foole sah, wie sich das Auge des Riesen mit Blut füllte und dann unter dessen Bart hervor ein rotes Rinnsal auf die Holzplanken und durch die Stahlverbindungen lief.

Bestürztes Schweigen legte sich über die Menge. Dann ein Wirbel von Stimmen, rempelnden Ellbogen, aschfahlen Gesichtern.

Du lieber Himmel, schrie ein Gepäckträger. Macht Platz, Platz da!

Foole ließ sich zur Seite drängeln. Dann trat er an die Reling und stand schweigend und reglos da, während die Möwen jenseits der Rampe in der Luft kreisten und Sturzflüge vollführten. Weit unter sich konnte er das gelbe Wasser des Mersey brodeln sehen.

Am silbernen Knauf seines Stocks schillerte ein kleiner Blutstropfen wie Öl, er zog sein gestärktes Taschentuch hervor und wischte ihn sorgfältig weg.

 

Es war der Brief einer Frau, der ihn zurück nach England gebracht hatte.

In einer Innentasche seines Überseekoffers verwahrte er in einen alten Wollschal gewickelt eine Daguerreotypie, gerahmt und abgewetzt. Eine junge Frau mit Reifrock und Haube saß beinahe unkenntlich geworden in der offenen Tür eines Studios, hinter ihr stand er selbst als junger Mann, am Rand des Bildes ein sonnenbeschienenes Balkongeländer. Doch die Wärme dieser Sonne war längst erkaltet, ihr Gesicht längst verblasst, vom Grauschleier verzehrt, nur noch dunkle Striche, wo ihre Lippen und Augen einst finster gefunkelt hatten. Es spielte keine Rolle. Er kannte dieses Gesicht in- und auswendig. Ihr Hals, erinnerte er sich, hatte nach wilden Himbeeren im Sommer geduftet.

Diese Daguerreotypie war im September 1874 in der geschäftigen Hafenstadt Port Elizabeth in Südafrika aufgenommen worden. Damals war er arm gewesen. Der Name des Fotografen war de Hoeck und sein Studio ein schummriges Labyrinth von Räumen unmittelbar nördlich der Gartenanlagen, es stank nach Fixativ und anderen Chemikalien, die in Gläsern mit nachlässig verschraubten Deckeln außer Sichtweite hinter einem Vorhang standen. Foole hatte in einer Ecke gesessen und ihren Schal in den Fäusten gewrungen, während der Mann seine Linsen einstellte und sie betrübt in all ihrer Schönheit dagesessen hatte, dann war er aufgestanden und hatte sich zu ihr gestellt. Es war ihre letzte Woche in Afrika gewesen. Seine letzte Woche mit ihr. Soweit er wusste, lebte sie irgendwo in London und war unglücklich. Inzwischen musste sie dreißig sein und war sicher nicht mehr die, die sie einmal gewesen war.

Spielte das eine Rolle? Nein, es spielte keine Rolle.

Ihr Name war Charlotte Reckitt, und er hatte sie geliebt und liebte sie noch immer.

Drei

WILLIAM PINKERTON

LONDON 1885

William Pinkerton durchmaß die kurze Lobby des Grand Metropolitan Hotel, ohne an der Rezeption seine Post abzuholen. Unter den Zwergpalmen, wo der Messingfußlauf der Bar in den Lobbybereich überging, saß ein Mann mit flachem Bowler und studierte die Zeitung. William bemerkte den Mann und wie er ihn ansah, doch verlangsamte er seine Schritte nicht. Er verspürte einen leichten Schwindel, eine Enge im Hals, ein Zittern in den Händen. Der Schein der Gaslampen wurde vom Messing, von den Spiegeln und dem Marmor am Boden zurückgeworfen, und irgendetwas daran verursachte ihm Übelkeit. Als das Faltgitter des Lifts geschlossen war, nickte der Liftboy, betätigte den Hebel, so dass der Aufzug sich unter seinem Gewicht ächzend in Bewegung setzte, fragte nicht nach der Etage. Auf dem Weg nach oben sah er, wie der Mann unter den Palmen seine Zeitung zusammenfaltete, sie unter den Arm schob und hinausging.

Als er aufschließen wollte, öffnete sich seine Zimmertür von selbst. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

Hallo?, rief er hinein.

Alles war still.

Zeigen Sie sich, rief er jetzt in schärferem Ton.

Schließlich verzog er das Gesicht, legte Spazierstock und Hut auf der Konsole im Flur ab und schloss die Tür. Er machte sich nur verrückt, dachte er. Er rollte die Papiere von Sally Porter auseinander, öffnete das flache Zigarrenschränkchen und legte sie hinein. Trat zurück auf die Fußmatte und säuberte sich erschöpft die Schuhe am Stiefelschaber, schüttelte seinen Chesterf‌ield ab und hängte ihn an den Mantelständer aus Eichenholz. In dem kleinen Salon zu seiner Linken konnte er die schemenhaften Umrisse von Sofas, Korbstühlen und Zargentischchen ausmachen, die dort zusammengekauert warteten. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken.

Benjamin Porter war tot.

Das war doch nicht richtig. Er wusste, dass die Welt kein sonderlich gerechter Ort war, und trotzdem war ihm nach seinem Besuch bei Sally beklommen zumute. Er spürte, wie sich die altbekannte Melancholie über ihn legte, die träge, drückende Müdigkeit einer Ermittlung, die zu Ende ging. Immer, wenn er einen Fall abgeschlossen hatte, wanderte er ruhelos, grüblerisch Zimmer für Zimmer durch sein Haus in Chicago, wie ein Mann, der gerade vom Krankenbett aufgestanden war. Margaret wusste, dass sie ihn in solchen Momenten nicht ansprechen durfte, dass sie ihn seiner Einsamkeit und Schwermut überlassen musste. Doch diesmal war es anders. Seit er Sallys Zimmerchen verlassen hatte, wurde er das Gefühl nicht los, eine Gestalt husche vor ihm her und verlasse den Raum immer genau dann, wenn er ihn betrat, immer nur fast sichtbar. Geister kann man nich einfangen, hatte Sally gesagt. Beiden war bewusst gewesen, welchen Geist sie meinte. Er hatte seinen Vater im Leben nicht geliebt, und er liebte ihn auch im Tode nicht. Aber Trauer, das wusste er, wog schwerer als die Liebe zwischen den Lebenden und den Toten.

Das Zimmermädchen war da gewesen. Er wusste nicht, wie viel Uhr es war, aber es musste noch immer früh sein. Die Matratze war gewendet, Laken und Kissenbezüge gewechselt worden. Die grünen Vorhänge an den Messingstangen im Schlafzimmer waren offen und fielen mit elegantem Schwung zu beiden Seiten der großen Fenster zur Straße. Mit einem metallischen Schaben der Ringe zog er sie zu. Fenster für Fenster verdunkelte sich der Raum, bis nur noch dünne Streifen Tageslicht schräg auf den Boden fielen. Als er sich umdrehte, konnte er noch immer die feuchten Abdrücke seiner Schuhe auf dem Teppich erkennen. Aber das war ihm egal. Er dachte an Sally Porters heruntergekommenes Zimmer und schämte sich.

In der Mitte des Raums stand ein altmodisches Himmelbett aus spanischem Mahagoni, das groß genug für zwei war. William schälte sich aus seinem Cutaway, zog die Krawattennadel heraus und lockerte seine Krawatte. Dann legte er sich auf das frischbezogene Bett und schloss die Augen. Er öffnete weder seine Weste noch den gestärkten Kragen und zog auch den schweren Vorhang des Himmelbetts nicht zu. Im Halbdunkel schaute ihn das graue Gesicht seiner Frau aus ihrem silbernen Rahmen an.

 

Er wachte von einem Hämmern an der Tür auf, von einer gedämpften Stimme, die ihn rief. Er drehte sich um, schloss die Augen wieder und zog sich ein rüschenbesetztes Kissen über den Kopf.

Als er das nächste Mal erwachte, hatte sich das Klopfgeräusch verändert. Eine hohe, nasale Stimme rief durch das Holz.

Mr Pinkerton, Sir? Mr Pinkerton?

Er befeuchtete seine Lippen.

Sind Sie wach, Sir? Mr Pinkerton?

Er öffnete ein träges Auge.

Sir? Chief Inspector Shore schickt mich.

Taumelnd kam er auf die Beine und schaute sich angestrengt im Raum um, ohne etwas wiederzuerkennen. Er hörte das leise Hufgeklapper der Pferde auf der Straße, die Rufe der fliegenden Händler an der Ecke. Es war noch immer Morgen.

Sir?

Sekunde!, bellte er.

Als er aufschloss und die Tür öffnete, stand vor ihm ein Junge in Cordhose, dicker Jacke und einer zerknautschten Kappe aus nasser roter Wolle. Keine zehn Jahre alt, wenn überhaupt. Die gerötete Nase glänzte, und er leckte erst an der feucht glitzernden Oberlippe und blinzelte zweimal, dann nahm er die Kappe ab. Seine Fingernägel waren schwarz. William kannte ihn nicht.

Er spähte in beide Richtungen den Korridor hinunter und schaute dann finster auf den Jungen hinab.

Hast eine ganz schöne Ausdauer, du kleiner Teufel, was?

Sir?

Wie viel Uhr haben wir?

Halb elf, Sir.

Und du hast vorhin nicht geklopft?

Sir?

Er schüttelte den Kopf. Egal. Was will Shore denn?

Der Junge richtete sich auf. Wenn Sie mitkommen würden, Sir. Sie sollen sich etwas ansehen.

Was denn?

Bitte, Sir. Er hat gesagt, ich soll nichts sagen.

Du bist ein Kurier vom Yard?

Ja, Sir.

Hat er die Leiche gefunden?

Welche Leiche denn, Sir?

Gegenüber öffnete sich eine Tür. Ein Mann mit rotem Haar und gewachstem Schnurrbart kam in Hemdsärmeln heraus, mit Tinte an den Fingern, und William funkelte ihn an und fuhr sich dann mit einer geschundenen Hand durchs Gesicht.

Herrgott noch mal, sagte er und schob den Jungen an der Schulter aus dem Korridor. Wehe, es geht nicht um Charlotte Reckitt.

 

Offiziell war er gar nicht in London.

Er war am letzten Freitag im November angekommen, als das Geschäft in der Chicagoer Niederlassung zum Jahresende abflaute, und seitdem waren bereits sechs Wochen vergangen. Es war das erste Weihnachten nach dem Tod seines Vaters gewesen, und er dachte mit schlechtem Gewissen an seine Töchter und voller Kummer an die vorwurfsvollen Briefe seiner Frau. Sein Bruder hatte von der New Yorker Niederlassung aus geschrieben und sich über seine Abwesenheit gewundert, aber er schrieb nicht zurück.

Seit der Beerdigung des Vaters hielten sie nur sporadisch Kontakt, aber zwischen den Brüdern war es nie anders gewesen, es war also nicht so bedeutsam, wie es hätte sein können. Robert war der Zweitgeborene und hatte in den Augen des Vaters kaum etwas richtig machen können, William wusste das und hatte seinen Bruder auf dem Friedhof mit schwerem Herzen beobachtet. Sie waren die Unterlagen im Büro ihres Vaters nach ausstehenden Aufträgen durchgegangen, aber für den alten Mann hatte es in jenen letzten Monaten nicht viel zu tun gegeben, und sein Schreibtisch war ungewöhnlich aufgeräumt gewesen. Robert nahm eine Rennpferdstatuette aus Messing mit, sonst nichts. Den ganzen Juli hindurch hatte William schlecht geschlafen und so lange gearbeitet, wie es draußen hell war, um sein Herz zum Schweigen zu bringen, aber nichts schien helfen zu wollen. Im September fuhr er schließlich zu seiner Mutter und aß schweigend mit ihr zu Abend, während die Kerzen in den Wandhaltern flackerten, und als sie ihm einen Gutenachtkuss gab, folgte er ihr schwerfällig die Treppe hinauf und begab sich in das Arbeitszimmer seines Vaters. Er saß eine Weile im Dunkeln. Dann machte er ein Feuer im Kamin und fing an, die Unterlagen durchzusehen.

Es war Mitternacht, er hatte den Tresor seines Vaters geöffnet und war dabei auf die Akte Shade