Die Frau in Weiß - Wilkie Collins - E-Book

Die Frau in Weiß E-Book

Wilkie Collins

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITK. Mörderische Intrigen und dunkle Familiengeheimnisse, eine mysteriöse Erbschaft und eine große Liebe – dieser Klassiker des englischen Kriminalromans, kongenial übersetzt von Arno Schmidt, ist spannend von der ersten bis zur letzten Zeile. Die beiden Hauptfiguren sind ein echt viktorianisches Liebespaar, und für die Aufklärung des Verbrechens bedient sich Collins einer sehr modernen Methode: Nicht ein allwissender Erzähler, sondern die Personen der Handlung selbst enthüllen nach und nach in raffinierten Briefen und Berichten das Geheimnis um Die Frau in Weiß.

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Seitenzahl: 1328

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Wilkie Collins

Die Frau in Weiß

Roman

Aus dem Englischen von Arno Schmidt

Fischer e-books

I. Zeitraum

Bericht begonnen von Walter Hartright

(Clement’s Inn, Zeichenlehrer)

I

Was hier folgt, ist die Darstellung dessen, was die Geduld eines Weibes zu ertragen und die Entschlossenheit eines Mannes zu vollbringen vermag.

Wenn man sich darauf verlassen könnte, daß jeglicher verdächtige Fall letzten Endes doch in das Räderwerk der Justiz geriete, und bei dem sich anschließenden Untersuchungsverfahren das Gold wenigstens nur mit Maßen seine Rolle als Schmiermittel spielt, dann wäre den Ereignissen, die diese Blätter füllen, sowohl ein Gerichtshof als auch ein gerüttelter Anteil des öffentlichen Interesses sicher gewesen.

Aber noch sind Recht und Gesetz, in gewissen unvermeidlichen Fällen, eben zunächst einmal die voreingenommenen Diener des größeren Portemonnaies; und deshalb bleibt nichts übrig, als die ganze Geschichte zum erstenmal hier und in dieser Form vorzulegen. So wie ein Richter sie ihrerzeit vernommen haben würde, genau so soll der Leser sie jetzt vernehmen. Vom Anfang der Enthüllungen an, bis zu ihrem Ende soll über keinen auch nur einigermaßen wichtigen Punkt bloß vom Hörensagen berichtet werden. Wenn der Schreiber dieser einleitenden Zeilen, Walter Hartright mit Namen, mit einem Teil der vorzutragenden Ereignisse näher bekannt und vertraut ist als sonst Jemand, wird er in eigener Person darüber referieren. Sobald sein Zeugnis nicht ausreicht, und er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, wird er an dem Punkt, wo er abbricht, seine Rolle als Berichterstatter sogleich auf- und an die anderen Personen weitergeben, die sich zu den betreffenden fraglichen Umständen aus eigener Erfahrung ebenso klar und positiv äußern können, wie er selbst sich zuvor bemüht hat.

Folglich wird der hier vorgelegte Bericht mehr als nur einer Feder entstammen; genauso, wie über einen Verstoß gegen die Gesetze im Gerichtssaal von mehr als einem Zeugen berichtet zu werden pflegt – hier wie dort mit derselben Absicht: um die Wahrheit stets in ihrer direktesten und faßlichsten Form darzustellen; und um den Verlauf einer größeren geschlossenen Kette von Ereignissen, Glied nach Glied, am verläßlichsten dadurch zu erkennen, daß man die Personen, die die Nächstbeteiligten dabei waren, ihre eigenen Eindrücke mit eigenen Worten schildern läßt.

Hören wir also als Ersten Walter Hartright, Zeichenlehrer, Alter 28 Jahre.

II

Es war der letzte Tag im Juli. Der endlose heiße Sommer begann sich seinem Ende zu nähern; und wir, müde Pilgrime auf Londons Pflaster, fingen an, von Wolkenschatten über weiten Kornfeldern zu träumen oder frischen Herbstbrisen am Meeresstrande.

Was speziell mein bescheidenes Selbst anbelangt, so hinterließ mich der scheidende Sommer körperlich in nicht gerade erfreulicher, geistig in lustloser und finanziell sogar in ausgesprochen dürftiger Verfassung. Ich hatte während des vergangenen Jahres meine beruflichen Möglichkeiten nicht so sorgfältig wie sonst ausgeschöpft; eine Unbesonnenheit, infolge deren sich mir die Aussicht eröffnete, den Herbst fein sparsam und abwechselnd in dem kleinen Landhäuschen meiner Mutter in Hampstead und meiner eigenen Stadtwohnung zu verbringen.

Ich erinnere mich, daß der Abend still war und wolkig. Die Londoner Luft so drückend wie nur möglich; das ferne Gesumme des Straßenverkehrs denkbar schwach; mein eigener kleiner Puls in mir und der mächtige Herzschlag der Großstadt um mich herum schienen im gleichen Takt nachzulassen, und, wie die Sonne sank, immer schlaffer matter flauer zu werden. Ich raffte mich mit Gewalt von dem Buch auf, über dem ich mehr gedöst als wirklich darin gelesen hatte, und verließ meine Wohnung, um mich bei der Abendkühle wenigstens schon in den Außenbezirken der Stadt zu befinden. Es war auch einer der beiden Abende, die ich allwöchentlich draußen bei meiner Mutter und Schwester zu verbringen pflegte; also richtete ich meine Schritte nordwärts, in Richtung Hampstead.

Ereignisse, die ich noch des Näheren zu schildern haben werde, machen hier die Einschaltung nötig, daß mein Vater zu der Zeit, von der ich zu berichten im Begriff stehe, bereits seit mehreren Jahren tot war, und daß meine Schwester Sarah und ich die einzigen Überlebenden aus einer ursprünglich fünfköpfigen Kinderschar waren. Schon mein Vater war Zeichenlehrer gewesen. Sein Fleiß hatte ihn ungewöhnlich erfolgreich in seinem Beruf gemacht, und seine liebevolle Besorgnis, die Zukunft derjenigen, die von seinen Bemühungen abhingen, sicher zu stellen, ihn bewogen, gleich vom Augenblick seiner Verheiratung an einen weit größeren Teil seines Einkommens für eine Lebensversicherung aufzuwenden, als sonst die meisten Männer für diesen Zweck notwendig erachten. Dank dieser seiner bewundernswerten vorausschauenden Bedachtsamkeit und Selbstverleugnung fanden sich meine Mutter und Schwester nach seinem Tode ebenso unabhängig von der Außenwelt, wie sie es während seinen Lebzeiten gewesen waren. Ich meinesteils wurde sein Nachfolger bei seiner Kundschaft, und hatte jeglichen Grund, mich ob der günstigen Aussichten, die mich zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn erwarteten, glücklich zu schätzen.

Noch webte stilles Zwielicht über den höchsten Bodenwellen der Heide; und der Anblick Londons unter mir war in die Schatten einer bewölkten Nacht wie in eine schwarze See versunken, als ich vorm Tor zum Landhäuschen meiner Mutter stand. Ich hatte kaum die Glocke recht gezogen, als auch schon die Haustür heftig aufflog; anstelle des Dienstmädchens erschien mein verehrter italienischer Freund, Professor Pesca, und stürmte mir mit der schrill-ausländischen Verballhornung eines gutenglischen ›Hurrah‹ zu freudigem Empfang entgegen.

Um seiner – und es sei mir gestattet hinzuzufügen, auch um meiner – selbst willen verdient der Professor die Ehre einer förmlichen Vorstellung; der Zufall hat ihn zum Ausgangspunkt der seltsamen Familienereignisse gemacht, die ausführlich darzulegen der Zweck dieser Seiten ist.

Ursprünglich war ich mit meinem italienischen Freund dadurch bekannt geworden, daß ich ihn in einigen der großen Häuser traf, wo er seine eigene Sprache lehrte, und ich Zeichnen. Alles was ich bis dahin von seinem Lebenslauf wußte, war, daß er einmal eine Stelle an der Universität Padua inne gehabt; Italien jedoch dann aus politischen Gründen (über deren spezielle Natur er sich grundsätzlich niemandem gegenüber näher ausließ), verlassen und sich seit nun schon so manchem Jahr als geachteter und geschätzter Sprachlehrer in London etabliert hatte.

Ohne daß man ihn direkt einen Zwerg hätte nennen können – denn er war von Kopf bis Fuß ausgesprochen wohlproportioniert – stellte Pesca meines Erachtens doch das kleinste menschliche Wesen dar, das ich jemals außerhalb eines Jahrmarkts erblickt habe. Und wenn er schon durch diese seine persönliche Erscheinung überall auffiel, so zeichnete ihn doch vor dem Heer der gewöhnlichen Sterblichen die, obwohl harmlose, Excentrizität seines Wesens noch mehr aus. Die ihn beherrschende fixe Idee seines Lebens schien vor allem zu sein, daß er dem Lande, das ihm Asyl und Lebensunterhalt gewährt hatte, seine Dankbarkeit dadurch dartun müsse, daß er sich nun auch aus Leibeskräften in einen waschechten Engländer verwandele. Nicht zufrieden damit, der Nation ein allgemeines Kompliment dadurch zu machen, daß er grundsätzlich einen Regenschirm mit sich führte und ebenso standhaft in Gamaschen und einem weißen Hute einherkam, hatte der Professor den Ehrgeiz, auch was Sitten und Freizeitgestaltung angeht, nicht minder ein Engländer zu werden als in seiner äußeren Erscheinung. Sobald er erkannt hatte, daß zu unseren Nationaleigentümlichkeiten auch die Neigung zu sportlicher Betätigung gehört, widmete sich der kleine Mann, wann und wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab, in der Unschuld seines Herzens und völlig aus dem Stegreif unsern sämtlichen englischen Sport- und Leibesübungen, fest überzeugt davon, daß es nur von einem festen Entschluß abhänge, der nationalen Leichtathletik ebenso Herr zu werden, wie er sich der nationalen Gamaschen und des nationalen weißen Hutes bemächtigt hatte.

Ich war Zeuge gewesen, wie er seine Gliederchen blindlings bei der Fuchsjagd und auf dem Kricketfeld aufs Spiel setzte, und kurz darauf sah ich ihn, in gleicher Verblendung, sein Leben riskieren, und zwar im Meer bei Brighton.

Wir hatten uns zufällig dort getroffen, wir waren zusammen Baden gegangen; und falls es sich um eine spezielle, nur unserm Volk eigentümliche Leibesübung gehandelt hätte, wäre es selbstverständlich mein Erstes gewesen, ein Auge immer sorgfältig auf Pesca zu haben; aber da im allgemeinen Ausländer im Wasser genau so gut imstande sind, auf sich aufzupassen, wie Engländer, kam es mir überhaupt nicht in den Sinn, daß es sich auch bei der Schwimmkunst wieder nur um eine der männlichen Leibesübungen mehr handeln könne, von denen der Professor glaubte, daß er sie gewissermaßen von selbst beherrsche. Als wir erst ein kurzes Stück vom Strand entfernt waren, hielt ich, als ich merkte, daß mein Bekannter mich nicht einholte, inne, und drehte mich um, um Ausschau nach ihm zu halten – wer beschreibt mein Entsetzen und meine Aufregung, als ich zwischen mir und dem Sandstrand nichts erblickte als 2 kleine weiße Ärmchen, die noch einen Moment über der Wasseroberfläche herumfuchtelten, und dann endgültig ganz verschwanden. Als ich nach ihm tauchte, fand ich den armen kleinen Mann ganz ruhig zusammengerollt in einer Delle auf dem kiesigen Meeresgrund liegen; wobei er noch um diverse Grade kleiner wirkte, als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Während der paar Minuten, die verstrichen, während ich ihn näher strandwärts brachte, erholte er sich an der Luft bereits wieder etwas, und vermochte die Stufen zu den Badekabinen mit meiner Unterstützung selbst hinaufzusteigen. Aber mit der teilweisen Wiedererlangung der Lebensgeister kehrte auch schon die wundersame Illusion hinsichtlich Schwimmen bei ihm zurück; sobald er vor lauter Zähneklappern nur wieder reden konnte, lächelte er abwesend und bemerkte, er müsse wohl den Krampf bekommen haben.

Als er sich dann freilich endgültig erholt und wieder am Strande zu mir gesellt hatte, durchbrach sein warmes südliches Temperament augenblicklich alle angekünstelte englische Zurückhaltung. Er überschüttete mich mit den Ausdrücken stürmischster Zärtlichkeit – rief in seiner übertriebenen italienischen Art mit Leidenschaft aus, daß künftighin sein Leben zu meiner Verfügung stände – und erklärte sich feierlich dahin, wie er nicht eher wieder glücklich und zufrieden sein könnte, bis er nicht Gelegenheit gefunden, mir seine Dankbarkeit durch einen Gegendienst zu beweisen, so groß, daß auch ich mich meinerseits, bis an das Ende meiner Tage, seiner erfreuen könne.

Ich tat mein Bestes, dem Sturzbach von Tränen und Beteuerungen dadurch ein Ende zu machen, daß ich das ganze Abenteuer bagatellisierte und lediglich als Gegenstand eines guten Scherzes behandelte; und hatte auch, wie ich mir einbildete, zuletzt wenigstens den Erfolg, Pescas Gefühl einer übermäßigen Verpflichtung mir gegenüber etwas zu vermindern. Wenig kam es mir damals zu Sinn – und ebensowenig späterhin, als unser erfreulicher Ferienaufenthalt seinem Ende zugegangen war – daß die Gelegenheit mir einen Dienst zu leisten, nach der mein dankbarer Gefährte so sehnsüchtig brannte, sich so bald ergeben, daß er sie derart eifrig ergreifen, dadurch den ganzen Lauf meines Lebens in neue Bahnen lenken, und mich selbst nahezu bis zur Unkenntlichkeit verändern würde.

Dennoch ist es so gekommen. Wenn ich nicht nach Professor Pesca getaucht wäre, als er unter Wasserdecken auf seinem kiesigen Bettchen lag, wäre ich aller menschlichen Voraussicht nach nie und nimmer mit den Ereignissen in Verbindung gekommen, von denen diese Seiten berichten werden; hätte nie und nimmer den Namen der Frau vernommen, die seitdem in all meinen Gedanken gelebt und gewebt hat, der seitdem alle meine Bemühungen gegolten haben, und die nach und nach das eine große Leitbild geworden ist, das nun Sinn und Zweck meines Lebens ausmacht.

III

Als wir uns an jenem Abend am Gartentor meiner Mutter gegenüberstanden, waren Pescas Gesichtsausdruck und Benehmen sogleich mehr als genug, mich zu informieren, daß irgendetwas außergewöhnliches vorgefallen sein mußte. Trotzdem war es völlig nutzlos, ihn um eine rasche Erklärung zu ersuchen; das einzige was ich, während er mich an beiden Händen hineinzog, aus ihm herausbekommen konnte, war, wie er – der meine diesbezügliche Gewohnheit kannte – zu unserm Landhäuschen hier herausgekommen wäre, um mich auf jeden Fall heut Abend noch zu sprechen, und daß die Neuigkeit, die er zu berichten habe, von ausgesprochen angenehmer Art sei.

So kamen wir recht wenig würdevoll und hochgradig überstürzt ins Wohnzimmer geplatzt, wo meine Mutter schon lachend und sich fächelnd am offenen Fenster saß. Pesca war einer ihrer besonderen Lieblinge und deshalb selbst seine ausgefallensten Bizarrerien in ihren Augen immer irgendwie verzeihlich. Ach, die Gute!; vom ersten Augenblick an, als sie erkannt hatte, daß der kleine Professor ihrem Sohn innig und in tiefer Dankbarkeit zugetan sei, öffnete sie ihm vorbehaltlos ihr ganzes Herz und akzeptierte ihn kurzerhand mitsamt all seinen kuriosen ausländischen Eigentümlichkeiten, ohne sich lange damit aufzuhalten, erst die ein- oder andere davon begreifen zu wollen.

Meine Schwester Sarah, obwohl sie doch eigentlich den Vorteil der größeren Jugend hatte, reagierte seltsamerweise weit starrer. Sie ließ zwar Pescas trefflichem Charakter und goldenem Herzen alle Gerechtigkeit widerfahren; aber ihn, wie meine Mutter tat, um meinetwillen vorbehaltlos zu verbrauchen wie er war, vermochte sie einfach nicht. Ihre insularen Grundsätze bezüglich Schicklichkeit befanden sich in einer Art Dauerrevolte gegenüber Pescas angeborener Geringschätzung für gravitätische Würde; und sie war immer aufs neue unverhohlen erstaunt ob der Vertraulichkeit ihrer Mutter mit dem excentrischen kleinen Fremdling. Ich habe übrigens nicht nur im Fall meiner Schwester, sondern auch schon bei mehreren anderen Gelegenheiten die Beobachtung gemacht, daß wir, von der sogenannten Jüngeren Generation, nicht mehr entfernt so herzlich und aufgeschlossen reagieren, wie manche unserer Eltern. Immer wieder sehe ich ältere Leute angenehm erregt sein, ja erröten vor Freude, ob des bloßen Vorgeschmacks einer bevorstehenden kleinen Vergnüglichkeit, die die Seelenruhe ihrer abgeklärten Enkel überhaupt nicht mehr zu berühren vermag. Ich mache mir wirklich oft Gedanken darüber, ob die Jungen und Mädchen heutiger Tage genau so frisch und unverfälscht sind, wie es unsere Eltern zu ihrer Zeit waren? Hat der allgemeine Fortschritt vielleicht hinsichtlich Jugenderziehung einen etwas zu weiten Schritt getan und sind wir, die Modernen unserer Tage, vielleicht um ein entscheidendes Spürchen zu gut erzogen?

Ohne diese kaptiose Frage jetzt und hier entscheiden zu wollen, will ich wenigstens das zu Protokoll geben, daß ich, wenn Pesca anwesend war, nie meine Mutter und Schwester nebeneinander gesehen habe, und meine Mutter mir nicht als die, und zwar mit Abstand, jugendlichere von beiden Frauen erschienen wäre. Während zum Beispiel heute wieder die alte Dame herzlich über die jungenhafte Manier lachte, mit der wir ins Wohnzimmer getobt kamen, sammelte Sarah ihrerseits verstört die Scherben einer Teetasse vom Fußboden zusammen, die der Professor in seinem Feuer, mich am Tor in Empfang zu nehmen, vom Tisch gestoßen hatte.

»Also, wenn Du noch lange geblieben wärst, Walter,« sagte meine Mutter, »ich weiß nicht, was hier alles noch passiert wäre. Pesca ist bereits halb toll vor Ungeduld; und ich, was mich anbelangt, vor Neugierde. Der Professor hat irgendeine wundersame Neuigkeit mitgebracht, die wie er behauptet, vor allem Dich angeht; und hat sich bis jetzt aufs grausamste geweigert, uns auch nur die kleinste Andeutung zu machen, ehe nicht sein Freund Walter erschienen wäre.«

»Wie ärgerlich; jetzt ist das Service nicht mehr komplett,« hörte ich Sarah, trübe trauernd über den Trümmern der Teetasse, vor sich hin murmeln.

Während diese Worte gesprochen wurden, zerrte Pesca lärmend (und in glücklicher Ahnungslosigkeit des unersetzlichen Schadens, der dem Geschirrvorrat des Hauses durch ihn widerfahren war) einen großen Armsessel an das fernste Ende des Zimmers, um uns alle Drei von dort aus, im Stil eines öffentlichen Redners, der sich an eine Hörerschaft wendet, zu haranguieren. Als er den Stuhl, mit der Lehne zu uns hin, glücklich aufgebaut hatte, sprang er mit den Knien darauf, und begann, sein kleines Auditorium von drei Mann, von seinem Stegreifkatheder her aufgeregt anzureden.

»Nun, meine Werten Lieben,« begann Pesca (der immer ›Werte Liebe‹ da sagte, wo er ›Teure Freunde‹ meinte), »hört mich an. Die Zeit ist da – ich verkünde meine gute Nachricht – ich spreche endlich!«

»Hört, hört,« sagte meine Mutter, die auf den Scherz einging.

»Oh, Mama, das nächste, was der kaputt macht,« flüsterte Sarah, »ist die Rückenlehne von unserm besten Sessel.«

»Ich greife tief zurück in meine eigene Vergangenheit, und wende mich vor allem an das edelste aller lebenden Wesen,« fuhr Pesca fort, indem er über den Oberteil der Sessellehne hinweg mit Hitze meine Wenigkeit apostrophierte: »Wer war es, der mich tot auf dem Grunde des Meeres fand? (Infolge Krampf). Wer beförderte mich wieder hinauf an seine Oberfläche? Und was war es, daß ich beteuerte, nachdem ich wieder in mein Leben und meine eigenen Kleider zurückgekehrt war?!«

»Weit mehr, als nötig gewesen wäre,« erwiderte ich so störrisch wie möglich; denn bei diesem Gegenstand genügte die geringste Ermutigung meinerseits, und die Erregung des Professors machte sich sogleich Luft in einem Strom von Tränen.

»Ich beteuerte,« beharrte Pesca, »daß mein Leben nunmehr für den Rest meiner Tage meinem teuren Freunde Walter gehöre – und so ist es auch. Ich sagte, daß ich nicht eher wieder glücklich sein könnte, bis ich nicht Gelegenheit gefunden hätte, irgendetwas Gutes für Walter zu tun – und nie-nie-nie bin ich seitdem mit mir selbst zufrieden gewesen, bis auf den heutigen allergesegnetsten Tag. Nunmehr jedoch,« rief der enthusiastische kleine Mann, so laut er nur immer konnte, »nunmehr jedoch bricht überströmendes Glück mir aus jeglicher Pore meiner Haut, einer Transpiration vergleichbar; denn auf mein Wort, und meine Seele und meine Ehre, das erwähnte Irgendetwas-Gute ist endlich getan, und nun gibt es nur noch ein Wort zu sagen: right, right-allright!«

An diesem Punkt mag die Erklärung von Nutzen sein, daß Pesca sich nicht nur hinsichtlich Kleidung, Manieren und Freizeitgestaltung einbildete, ein perfekter Engländer zu sein, sondern vor allem auch, was die Sprache anbelangt. Er hatte zu diesem Zweck eine Handvoll unserer gängigsten Redewendungen aufgeschnappt, und verflocht sie seitdem in seine Unterhaltung, wann immer sie ihm nur einfielen; wobei er sie, ganz entzückt von ihrem bloßen Klang, und meist in Unkenntnis ihrer eigentlichen Bedeutung, in Wortschlangen und Gebilde eigener Erfindung verwandelte, und sie vor allem grundsätzlich in einem Zuge aussprach, wie wenn sie nur aus einer einzigen Silbe beständen.

»Unter den feinen Londoner Häusern, wo ich die Sprache meines Vaterlandes lehre,« sagte der Professor sich nunmehr ohne jedes weitere einleitende Wort kopfüber in seine so lange zurückgehaltene Erklärung stürzend, »ist eines besonders fein, und es steht auf dem weiten Platz, den man hierzulande Portland nennt. Sie wissen alle, wo das ist? Ja, ja – türlich-natürlich. Dies feine Haus, meine werten Lieben, birgt in seinem Innern auch eine feine Familie. Eine Mama, hübsch und dick; drei junge Fräulein, hübsch und dick; zwei junge Herren, hübsch und dick; und einen Papa, den hübschesten und dicksten von allen, und er ist ein gewaltiger Kaufmann und sitzt im Gold bis an die Nasenspitze – einst ein feiner Mann; doch in Anbetracht dessen, daß er einen nackten Kopf mit zwei Kinnen daran bekommen hat, in diesem Augenblick nicht länger fein zu nennen. Jetzt aufpassen, bitte! Ich lehre die jungen Damen den erhabenen Dante; und, oh! – Du meine Güte-meine-Güte-meine-Güte! – die menschliche Sprache hat kein Wort es auszudrücken, in welche Verwirrung der erhabene Dante die hübschen Köpfe von allen Dreien setzt! Nun, es tut nichts – alles zu seiner Zeit – und je mehr Stunden, desto besser ja für mich. Jetzt aufpassen, bitte! Stellen Sie sich das Bild vor, wie ich auch heute wieder, wie gewöhnlich, die jungen Damen unterrichte: alle Vier wir, vereint zusammen, tief unten in Dantes HÖLLE. Im ›Siebenten Kreise‹ nebenbei bemerkt – aber sei’s drum; sind ihnen doch letztlich sämtliche Kreise gleich, meinen drei junge Damen, hübsch und dick – dennoch befinden wir uns nichtsdestoweniger im Siebenten Kreise, wo meine Schülerinnen festsitzen; ich meinerseits, um sie wieder in Gang zu bringen, rezitiere, erläutere und erhitze mich vor lauter unangebrachter Begeisterung förmlich bis zur Rotglut – da! Auf einmal ein Knarren von Stiefeln draußen im Korridor; und herein tritt der goldene Papa, der gewaltige Kaufmann mit dem nackten Kopf und den zwei Kinnen daran. – Ha, meine werten Lieben, ich bin schon weit-weit näher an dem entscheidenden Punkt, als Sie glauben, jetzt, in diesem Augenblick! Sind Sie mir so weit geduldig gefolgt? Oder haben Sie bereits zu sich selbst gesagt: ›Teufel noch eins und Teufel noch zwei: hat Pesca aber heut eine lange Leitung!‹?«

Wir erklärten, daß wir uns in größter Spannung befänden. Und der Professor fuhr fort:

»In seiner Hand hält der Goldene Papa einen Brief; und nach einer Entschuldigung, daß er uns, in unsern Infernalischen Regionen unten mit einer banalen sterblichen geschäftlichen Angelegenheit des Hauses zu stören kam, wendet er sich an seine drei jungen Damen und beginnt seine Rede, wie Ihr Engländer Alles was Ihr in dieser besten der Welten zu sagen habt, mit einem großen ›O‹. ›O, meine Lieben,‹ sagt dieser gewaltige Kaufmann, ›hier habe ich einen Brief bekommen, von meinem Freund, Herrn-ä –‹ (der Name ist meinem Gedächtnis entfallen; aber sei’s drum; wir kommen noch darauf zurück; jawohljawohl: right, right-allright!). Also der Papa sagt: ›Hier hab’ ich einen Brief bekommen, von meinem Freund, dem Herrn; und er bittet mich, ihm einen Zeichenlehrer zu empfehlen, der in seinem Haus, auf dem Lande, Unterricht erteilen kann.‹ Meine Güte, meine-Güte-meine-Güte! Als ich den Goldenen Papa diese Worte aussprechen höre – also ich hätte ihm die Arme um den Hals schlingen, und ihn an meinen Busen drücken mögen, in einer langen und dankbaren Umarmung, wenn ich nur groß genug gewesen wäre, um zu ihm hinauf zu reichen! Da das aber nicht sein kann, beginne ich lediglich auf meinem Stuhl zu hüpfen. Ich sitze wie auf Dornen, und meine Seele steht in hellen Flammen; ich will reden, halte aber noch meine Zunge im Zaum, und lasse Papa fortfahren. ›Vielleicht wüßtet Ihr,‹ sagt dieser treffliche Geldmann, und drehte dabei jenen Brief seines Freundes zwischen seinen goldenen Fingern und Daumen erst so und dann wieder so herum: ›Vielleicht wüßtet Ihr, meine Lieben, einen Zeichenlehrer, den ich empfehlen könnte?‹ Die drei jungen Damen sehen erst Alle einander an, und sagen dann (und das unvermeidliche große ›O‹ zu Anfang fehlt mit nichten): ›O, das nicht, Papa. Aber Herr Pesca hier –.‹ Und nun, wo ich selbst erwähnt werde, vermag ich nicht länger an mich zu halten – der Gedanke an Euch, meine werten Lieben, steigt mir mitsamt dem Blut zu Kopf – ich schnelle hoch von meinem Stuhl, als wäre ein Stachel aus dem Boden emporgewachsen, und durch meinen Sitz hindurch – ich wende mich direkt an den gewaltigen Kaufmann, und spreche es aus, in echt englischen Wendungen: ›Verehrter Herr, ich weiß den Mann für Sie! Den ersten und besten aller Zeichenlehrer der Welt! Empfehlen Sie ihn postwendend noch heute Abend; und schicken Sie ihn ab, mit Sack und Pack (urenglische Wendung: Ha!) morgen Früh mit dem ersten Zug!‹ ›Sachte, sachte,‹ sagte Papa, ›auch ein Ausländer, oder ein Brite?‹ ›Britisch bis zum Grat seines Rückens,‹ entgegne ich. ›Respektabel?‹ fragt Papa. ›Sir‹ sage ich, (denn diese seine letzte Frage hat mich empört, und mich ihm auf ewig entfremdet): ›Sir! In der Brust dieses Briten brennt die unsterbliche Flamme des Genius; und, was noch mehr ist, schon sein Vater hatte den gleichen Brand!‹ ›Lassen wir,‹ sagte dieser Goldene Barbar von einem Papa, ›lassen wir mal den Genius beiseite, Herr Pesca. Genius ist hierzulande unerwünscht, wenn er nicht von Respektabilität begleitet wird – dann allerdings ist er uns willkommen, ausgesprochen willkommen. Kann Ihr Freund irgendwelche Zeugnisse vorlegen? Etwa briefliche Empfehlungen, aus denen man seinen Charakter ersieht?‹ Ich schlenkere nur verächtlich mit der Hand. ›Briefe?‹ sage ich. ›Ha! Meine Güte, meine-Güte-meine-Güte; in der Tat, das will ich meinen! Ganze Bände von Briefen, und Mappen voll mit Zeugnissen, wenn Sie wollen!‹ ›Ein oder zwei genügen mir,‹ sagte dieser Mann, pomadig und golden: ›Sagen Sie ihm doch, daß er sie mir, zusammen mit Namen und Adresse, mal herschickt. Und – stop, stop, Herr Pesca – ehe Sie zu Ihrem Freund aufbrechen, nehmen Sie doch lieber eine Note mit.‹ ›Bank-Note?!‹ rufe ich entrüstet: ›Nichts von Bank-Noten, bitte sehr; nicht ehe mein wackerer Brite sie sich ehrlich verdient hat!‹ ›Bank-Note?‹ sagt Papa, unverkennbar sehr überrascht: ›Wer hat von Bank-Note gesprochen? Ich meinte eine Note, ein kleines Memorandum, bezüglich der Bedingungen die ihn dort erwarten. Setzen Sie Ihre Lektion nur weiter fort, Herr Pesca; ich mache Ihnen unterdes den erforderlichen Auszug aus dem Brief meines Freundes.‹ Und hin setzt sich der Mann der Waren und des Geldes zu Feder, Tinte und Papier; während ich erneut frisch in Dantes HÖLLE hinab tauche, und meine drei jungen Damen hinter mir her. Binnen 10 Minuten ist die Notiz geschrieben, und Papas Stiefel knarren draußen im Korridor von dannen. Auf Ehre und Seele und Gewissen: von diesem Augenblick an weiß ich nichts mehr! Der gloriose Gedanke, daß ich endlich meine günstige Gelegenheit beim Schopfe ergriffen habe, und meinem besten Freund auf der Welt ein Liebesdienst bereits so gut wie erwiesen ist, steigt mir zu Kopf, und macht mich trunken. Wie ich meine jungen Damen und mich selbst aus unsern infernalischen Regionen wieder ans Licht des Tages befördere, wie ich meine anderweitigen beruflichen Verpflichtungen danach noch erfülle, wie mein bißchen Abendbrot sich selbst durch meine Gurgel hinunter befördert – ich weiß davon so wenig, wie der Mann im Mond. Genug für mich, daß ich mich hier befinde, das Schreiben des gewaltigen Kaufmanns in meiner Hand; ich, in Lebensgröße, feurig wie Höllenglut, und so glücklich wie ein König! Ha, ha, ha!: Right-right-right-all-Right!!«. Hier schwenkte der Professor den Brief mit den Bedingungen hoch über seinem Kopf; und schloß seinen langen und wortreichen Bericht mit der gewohnten italienisch-schrillen Verballhornung eines englischen ›Hurrah!‹.

Den Augenblick als er geendet hatte, erhob sich meine Mutter auch schon, mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen. Mit Wärme nahm sie den kleinen Mann bei beiden Händen.

»Mein lieber, guter Pesca,« sagte sie, »ich habe zwar nie an der Aufrichtigkeit Ihrer Zuneigung zu Walter gezweifelt – aber jetzt bin ich mehr davon überzeugt, denn je!«

»Ja, ich bin überzeugt, wir sind Professor Pesca ungemein verpflichtet, um Walters willen,« fügte auch Sarah hinzu. Sie erhob sich halb, während sie sprach, wie um sich ihrerseits ebenfalls dem Sessel zu nähern; da sie jedoch sah, wie Pesca meiner Mutter hingerissen die Hände küßte, schaute sie erneut ernsthaft drein, und nahm wieder Platz. ›Wenn der kleine Mann derart familiär mit meiner Mutter umgeht, was wird er dann erst mit mir anstellen?‹ Gesichter verraten ja manchmal die Wahrheit; und genau das war fraglos Sarahs Gedankengang, als sie sich wieder hinsetzte.

Obgleich auch ich dankbar anerkannte, wie gut Pesca es mit mir meinte, war ich doch nicht annähernd so erfreut, wie ich ob der sich hier Öffnenden Aussicht auf künftige berufliche Betätigung eigentlich hätte sein müssen. Als der Professor mit der Hand meiner Mutter endgültig fertig war, und auch ich ihm wärmstens für seine Verwendung in meinem Interesse gedankt hatte, bat ich, mir nun auch den Brief mit den Bedingungen ansehen zu dürfen, den sein Geschäftsgewaltiger zu meiner Information entworfen hatte.

Mit einem triumphierenden Schwung der Hand händigte Pesca mir das Schriftstück aus.

»Lesen Sie!« sagte der kleine Mann majestätisch. »Ich verspreche Ihnen, mein Freund, das Schreiben des goldnen Papas wird für sich selbst reden, und zwar mit Trompetenstimme.«

Das Schriftstück war einfach gehalten, ohne Umschweife, und auf jeden Fall zumindest klar verständlich. Ich erfuhr daraus,

daß Herr Frederick Fairlie, Hochwohlgeboren, von Limmeridge-Haus, Cumberland, sich der Dienste eines guten, fachmännisch ausgebildeten Zeichenlehrers zu versichern wünsche, und zwar auf die Dauer von mindestens vier Monaten;

daß die von dem betreffenden Lehrer zu erfüllenden Obliegenheiten von zweifacher Art wären. Einmal Anleitung und Unterricht zweier junger Damen in der Kunst, mit Wasserfarben zu malen (also Aquarellieren); anschließend müsse er einen Teil seiner Stunden der Aufgabe widmen, eine wertvolle Sammlung von Handzeichnungen, die man leider vernachlässigt und völlig verfallen lassen habe, sorgfältig zu restaurieren und aufzuziehen;

daß das Gehalt der Person, die besagte Obliegenheiten zu übernehmen und angemessen auszuführen sich verpflichte, 4 Guineas pro Woche betragen werde; daß der Betreffende in Limmeridge-Haus essen und wohnen und dort als Gentleman behandelt werden würde.

und letztens: daß Niemand sich erst um diesen Posten zu bewerben brauche, der nicht die untadeligsten Referenzen hinsichtlich Lebenswandel und beruflicher Fähigkeiten vorzulegen imstande sei. Die betreffenden Unterlagen seien Herrn Fairlies Freund in London einzuschicken, der Vollmacht habe, über alle notwendigen Einzelheiten abzuschließen.

Was dann noch folgte, war nicht viel mehr, als Name und Anschrift von Pescas Brotherrn in Portland Place – und damit war das Schreiben, beziehungsweise Memorandum, zu Ende.

Die Aussichten, die dies Stellenangebot eröffnete, waren zweifellos anziehend genug. Die Arbeit schien sowohl leicht als auch angenehm; der Vorschlag kam mir im Herbst des Jahres, wo ich am wenigsten zu tun hatte; und die Bedingungen waren, meiner persönlichen Erfahrung im Beruf nach, erstaunlich großzügig. Ich wußte das wohl; wußte, daß ich mich ausgesprochen glücklich zu schätzen hätte, falls es mir gelänge, mir die offene Stelle zu sichern – und dennoch, ich hatte das Schreiben kaum recht gelesen und verarbeitet, als ich auch schon spürte, wie sich in meinem Innern der unerklärlichste Widerstand regte, etwas in der Angelegenheit zu unternehmen. Noch nie in meiner ganzen bisherigen Erfahrung war es mir begegnet, daß Pflicht und Neigung derart peinlich und irrational miteinander im Zwiespalt lagen, wie es mir diesmal widerfuhr.

»Oh, Walter, so eine Chance hat dein Vater in seinem ganzen Leben nicht gehabt!« sagte meine Mutter, nachdem sie die Bedingungen gelesen und mir den Brief wieder ausgehändigt hatte.

»Allein die Bekanntschaft mit so einflußreichen Leuten,« bemerkte Sarah und richtete sich gerader in ihrem Stuhl auf; »und vor allem die wohltuende Behandlung auf gleichem Fuße!«

»Ja, ja; alles recht, die Bedingungen sind verführerisch genug,« antwortete ich ungeduldig. »Aber ehe ich meine Zeugnisse einreiche, möchte ich ganz gern ein bißchen Zeit zum Überlegen haben –«

»Überlegen!« rief meine Mutter aus. »Aber Walter, was ist denn mit dir los?«

»Überlegen!« echote meine Schwester. »Was für ein merkwürdiger Ausdruck, bei den Bedingungen!«

»Überlegen!« stimmte nun auch Pesca mit ein. »Was gibt es hier noch zu überlegen? Beantworten Sie mir das! Haben Sie nicht letzthin über Ihre Gesundheit geklagt, und sich ausdrücklich nach dem gesehnt, was Sie einen Hauch reiner Landluft nannten? Also!: dort in Ihrer Hand halten Sie das Papier, das Ihnen knüppeldick, pausenlos, haufenweis’, vier Monate lang Landluft nach Herzenslust garantiert: Also! Sind 4 goldne Guineas pro Woche etwa nichts? Meine Güte, meine-Güte-meine-Güte! Wenn ich das nur hätte – meine Stiefel sollten knarren, wie die des goldenen Papas, im Vollgefühl des überwältigenden Reichtums des Mannes, der in ihnen einherschreitet! 4 Guineas die Woche; ja, mehr als das: die Gesellschaft zweier reizender junger Damen! Ja, mehr als das: Bett, Frühstück, Dinner, all Eure pompösen englischen Tees, Imbisse, hochschäumende Biergläser, alles-alles frei – Walter, mein Liebster, bester Freund – Teufel-noch-eins, Teufel-noch-zwei! – zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht Augen genug im Kopf, Sie anzustarren und mich über Sie zu wundern!«

Aber weder meiner Mutter ungekünsteltes Erstaunen ob meines Gebarens, noch Pescas hitzige Herzählung sämtlicher mit der neuen Stelle verbundenen Vorteile vermochten irgend eine Verminderung meiner verstandesmäßig nicht zu begründenden Abneigung, nach Limmeridge-Haus zu gehen, zu bewirken. Nachdem ich erst einmal alle kleineren Einwände, die mir einfielen, hergezählt hatte, warum ich nicht nach Cumberland gehen könnte; und sie mir, einer nach dem andern, zu meinem eigenen nicht geringen Mißvergnügen widerlegt worden waren, versuchte ich, ein letztes echtes Hindernis aufzurichten, indem ich zu bedenken gab: was denn aus meinen anderen Londoner Schülern werden solle, in der Zeit, wo ich Herrn Fairlies junge Damen anlernen würde, nach der Natur zu zeichnen? Die Antwort war schlicht die, daß der größere Teil von ihnen sich ja ebenfalls in Ferien und auf Reisen befinden würde; und die paar, die wirklich daheim geblieben wären, könnte ich wahrlich der Betreuung eines meiner Kollegen anvertrauen, dem ich bei ähnlicher Gelegenheit einmal den gleichen Dienst erwiesen hatte. Meine Schwester erinnerte mich noch daran, daß der betreffende Herr sich gerade für die laufende Saison ausdrücklich in diesem Sinne zu meiner Verfügung gestellt hätte, im Falle ich die Stadt verlassen wollte; meine Mutter redete mir ernstlich ins Gewissen, meine Gesundheit und meine ureigensten Interessen doch nicht einer müßigen Laune aufzuopfern; und Pesca beschwor mich aufs erbarmungswürdigste, ihn doch nicht dadurch bis ins Herz zu verwunden, daß ich, wo sich ihm jetzt zum ersten Mal eine kleine Möglichkeit zeigte, mir, dem Freund, der ihm das Leben gerettet hätte, einen Dankesdienst zu erweisen, diesen einfach schnöde von mir wiese.

Die nicht wegzuleugnende Richtigkeit und Zuneigung, die aus allen diesen Vorstellungen sprach, würde wohl auf jeglichen Menschen, der noch ein Atom ehrlichen Gefühls in seiner Seele zurückbehalten hatte, nicht ohne Wirkung geblieben sein. Obschon ich zwar meiner eigenen wunderlichen Verdrehtheit nicht Herr zu werden vermochte, war ich am Ende doch verständig genug, mich ihrer wenigstens herzlich zu schämen, und der Diskussion dadurch ein erquickliches Ende zu bereiten, daß ich nachgab, und alles zu unternehmen versprach, was man von mir verlangte.

Der Rest des Abends verging dann noch heiter genug, in humorvollen Schilderungen des mir bevorstehenden Lebens mit jenen zwei jungen cumberländischen Damen. Pesca, höchlich befeuert von unserem nationalen Grog – der, keine 5 Minuten nachdem er seine Kehle passiert hatte, ihm auch schon aufs wundersamste zu Kopfe zu steigen schien – verfocht seinen Anspruch, als vollgültiger Engländer zu gelten, vermittelst einer ganzen Serie von Ansprachen, in immer rascherer Reihenfolge; wobei er erst die Gesundheit meiner Mutter, dann die meiner Schwester, dann die meinige, und endlich, en bloc, die jenes unbekannten Herrn Fairlie und seiner zwei jungen Damen ausbrachte; worauf er sofort anschließend, im Namen aller Anwesenden, sich selbst pathetischen Dank aussprach. »Unter uns, Walter,« sagte mein kleiner Freund vertraulich, als wir dann zusammen heimgingen, »ich bin ganz außer mir, wenn ich mir meine heutige eigene Beredsamkeit so vergegenwärtige. Meine Brust schwillt vor Ehrgeiz. Eines schönen Tages ziehe ich noch in euer nobles Parlament ein – es ist der Traum meines Lebens, der Sehr Ehrenwerte Herr Pesca, M.d.P., zu werden!«

Am nächsten Morgen schickte ich meine Referenzen nach Portland Place, an den Brotherrn des Professors. Drei Tage gingen hin, und ich sagte mir schon, mit geheimer Befriedigung, daß man meine Unterlagen als nicht hinreichend befunden hätte. Am vierten Tage jedoch erhielt ich eine Antwort. Sie bestand darin, daß Herr Fairlie meine Dienste annahm, und mich ersuchte, unverzüglich nach Cumberland aufzubrechen. Ein Postscriptum enthielt ausführlich und sehr klar, alle Instruktionen, die zu meiner Reise notwendig waren.

Ich traf also, obschon widerwillig genug, meine Vorbereitungen, London am nächsten Tag, in aller Frühe, zu verlassen. Gegen Abend schaute Pesca, auf dem Wege zu einer Abendgesellschaft, noch einmal bei mir herein, um mir Lebewohl zu sagen.

»Meine Tränen während Ihrer Abwesenheit,« sagte der Professor lustig, »werde ich mit der grandiosen Vorstellung zu stillen versuchen: daß es diese meine glückverheißende Hand gewesen ist, die den ersten Anstoß zu Ihrem Vorkommen in der Großen Welt gegeben hat. Reisen Sie, mein Freund. Und wenn Ihnen in Cumberland die Sonne lacht – ein englisches Sprichwort! – machen Sie, in des Himmels Namen, Ihr Heu. Heiraten Sie eine jener beiden jungen Damen; werden Sie der Sehr Ehrenwerte Herr Hartright, Mitglied des Parlaments; und dann, wenn Sie auf der obersten Stufe der Leiter stehen, erinnern Sie sich zuweilen daran, daß Pesca, unten am Fuße der Leiter, der eigentliche Urheber von Allem gewesen ist!«

Ich mühte mich, mit meinem kleinen Freund zusammen über seinen Abschiedsscherz zu lachen; aber ich vermochte meiner Gefühle nicht Meister zu werden – während er leichthin seine Abschiedsworte sprach, schnarrte irgendeine Saite mißtönend in meinem Innern.

Als ich dann wieder allein war, blieb mir eigentlich nichts weiter mehr zu tun, als noch einmal zu dem Häuschen in Hampstead hinaus zu pilgern, und meiner Mutter und Sarah ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen.

IV

Den ganzen Tag über war die Hitze buchstäblich eine Qual gewesen, und die Nacht jetzt schwül und drückend.

Meine Mutter und Schwester hatten so viele Letzte Worte gesprochen, und mich so oft gebeten, doch noch fünf Minuten zu bleiben, daß es nicht mehr weit von Mitternacht war, als das Dienstmädchen endgültig das Gartentor hinter mir zuschloß. Ich tat ein paar Schritte auf dem Weg, der der kürzeste nach London zurück war; hielt dann inne und zögerte.

Der Mond stand rund und groß an einem dunkelblauen sternenlosen Himmel, und die rauhen Haideflächen wirkten in seinem geheimnisvollen Licht derart wild und öde, als läge die große Stadt wohl hundert Meilen weit entfernt in ihren Niederungen. Die bloße Vorstellung, eher als unbedingt notwendig wieder in die Dusternis und Treibhausluft Londons hinabsteigen zu müssen, widerte mich an. Die Aussicht, in der stagnierenden Luft meiner Kammer zu Bett zu gehen, schien mir in meiner augenblicklichen ruhelosen Stimmung von Körper und Gemüt identisch mit der Aussicht auf langsamen Erstickungstod.

Ich beschloß deshalb, mich in reinerer Luft, langsam und auf dem größtmöglichen Umweg nach Hause zu verfügen; erst den weißen geschlängelten Sandpfaden hier über die einsame Haide zu folgen; mich dann London durch die am lockersten besiedelte seiner Vorstädte zu nähern, also auf der Finchley Road; und dergestalt, in der Frische und Kühle des neuen Morgens, an der Westseite des Regent Parkes anzukommen.

Gemächlich verfolgte ich also meinen Weg über die Haide; genoß die unirdische Stille der Landschaft, und bewunderte das sanfte Gemisch von Lichtern und Schatten, wie zu beiden Seiten von mir eins das andere auf dem unebenen Grunde aufs zierlichste ablöste. Solange ich mich auf diesem ersten und hübschesten Teil meines nächtlichen Spazierganges befand, stand mein Gemüt gewissermaßen passiv all den bildhaften Eindrücken geöffnet, und ich dachte kaum an ein bestimmtes Thema – ja, mehr noch, wenn ich mein eigenes Gefühl befrage und ehrlich sein will: ich dachte eigentlich überhaupt nicht.

Aber als ich die Haiden hinter mir gelassen hatte, und in einen Weg eingebogen war, wo es weniger zu sehen gab, zogen die Fantasiebilder, die der mir nahe bevorstehende Wechsel in Lebensgewohnheiten und Betätigung natürlicherweise erzeugte, meine Aufmerksamkeit immer ausschließlicher auf sich allein.

Zu der Zeit, als ich am Ende dieses Weges anlangte, war ich bereits ganz in wunderliche Fantasiegebilde von Limmeridge-Haus vertieft, von Herrn Fairlie und den beiden Damen, deren Übungen in der Kunst zu aquarellieren ich nun so bald zu beaufsichtigen haben würde.

Ich war nunmehr an dem speziellen Punkt meines Spazierganges angelangt, wo sich 4 Landstraßen treffen – die nach Hampstead, auf der ich gekommen war; die Straße nach Finchley; die nach West End; und endlich, die die zurück nach London führt. Ich hatte bereits automatisch die Richtung dieser letzteren eingeschlagen, und schlenderte weiter die ganz einsame Landstraße entlang – ich entsinne mich, daß ich gerade müßigerweise dabei war, mir auszumalen, wie jene beiden jungen cumberländischen Damen wohl aussehen möchten – als, binnen dem Bruchteil einer Sekunde, jeglicher Blutstropfen in meinem Körper erstarrte, unter der Berührung einer Hand, die sich mir urplötzlich und ganz leicht von hinten auf die Schulter legte.

Ich fuhr sogleich herum, während meine Finger sich um den Griff meines Spazierstocks krampften. Dort, mitten auf der breiten mondhellen Landstraße – dort, wie wenn sie im selben Augenblick aus der Erde emporgeschossen oder vom Himmel herunter gefallen wäre – stand die Gestalt einer einzelnen Frau, von Kopf bis Fuß in weiße Gewänder gekleidet, ihr Gesicht in ernster Frage mir zugeneigt, mit einer Hand, die auf das dunkle, London überlagernde Gewölk hinzeigte, während ich sie meinerseits nur anstarren konnte.

Ich war viel zu ernstlich erschrocken ob der Plötzlichkeit, mit der diese außerordentliche Erscheinung, mitten in der Totenstille der Nacht und an einem so einsamen Ort, vor mir aufgetaucht war, um fragen zu können, was sie von mir wolle. Das seltsame Frauenwesen sprach zuerst.

»Ist das hier die Straße nach London?« sagte sie.

Ich betrachtete sie aufs aufmerksamste, während sie diese merkwürdige Frage an mich richtete. Es war jetzt kurz von 1 Uhr. Alles, was ich beim Schein des Mondes zu unterscheiden vermochte, war ein farbloses jugendliches Antlitz, mager anzuschauen und zumal um Backenknochen und Kinn scharf geschnitten; große, ernste, schier sehnsüchtig aufmerksame Augen; ein nervöser, unsicherer Mund; auffällig feines Haar von blaß braungelber Farbe. Keinerlei Verwilderung oder Unverschämtheit in ihrem Auftreten: es war vollkommen ruhig und selbstbeherrscht, ein bißchen Schwermut mit einem kleinen Schuß Argwohn; nicht direkt das Benehmen einer großen Dame, und gleichzeitig doch auch wieder nicht das Benehmen einer Frau aus den untersten Volksschichten. Im Klang der Stimme, wenig wie ich bis jetzt davon gehört hatte, schien etwas merkwürdig verhaltenes und mechanisches zu liegen, obwohl sie ganz auffällig schnell gesprochen hatte. In der Hand trug sie einen kleinen Pompadour; und ihre Kleidung – alles in Weiß übrigens, Hut, Schal, Gewand – bestand, soweit ich im Augenblick ausmachen konnte, sicher nicht aus sehr feinen oder übermäßig kostbaren Stoffen. Ihre Gestalt war sehr schlank und unverkennbar über Mittelgröße; ihre Haltung und Gebärdung frei von auch der geringsten Spur irgend einer Auffälligkeit. Das war Alles, was ich bei dem unsicheren Licht und unter den überaus befremdlichen Umständen unseres Zusammentreffens von ihr erkennen konnte. Was für eine Art Frau sie sein, und wie sie dazu kommen mochte, eine Stunde hinter Mitternacht allein auf einer öden Landstraße zu stehen, das zu erraten überstieg meine Verstandeskräfte. Das einzige, dessen ich mich sicher deuchte, war, daß trotz der verdächtig späten Stunde und des verdächtig einsamen Ortes, selbst das grobschlächtigste Menschenkind ihre Anrede nicht hätte mißdeuten können.

»Haben Sie mich verstanden?« Fragte sie, immer ganz ruhig, und obwohl mit rapider Aussprache, doch ohne jedwede Gereiztheit oder Ungeduld. »Ich bat Sie um Auskunft, ob dies der Weg nach London sei.«

»Ja,« entgegnete ich; »das ist der richtige Weg: er führt über St. Johns Wood und Regents Park. – Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht schon eher geantwortet habe. Aber ich war etwas erschrocken, als Sie so unversehens auf der Straße auftauchten; und, offen gestanden, kann ich es mir selbst jetzt noch nicht ganz erklären.«

»Sie haben mich nicht im Verdacht, daß ich irgendwie Böses getan hätte, nein? Ich habe bestimmt nichts Böses getan. Ich habe lediglich einen Unfall – ich bin selbst sehr unglücklich darüber, daß ich allein und so spät hier stehen muß. Warum haben Sie mich im Verdacht, daß ich Böses getan haben könnte?«

Sie sprach mit unangebrachtem Ernst und aufgeregt, und wich diverse Schritte von mir zurück. Ich tat mein Bestes, sie wieder zu beruhigen. »Bitte, glauben Sie nicht, daß ich dem geringsten Gedanken an einen Verdacht gegen Sie Raum gäbe,« sagte ich, »oder irgend einen anderen Wunsch hegte, als den, Ihnen nach Kräften behilflich zu sein. Ich habe mich doch nur über Ihr plötzliches Erscheinen auf der Straße hier gewundert; einer Straße, die mir den Augenblick zuvor noch gänzlich leer schien.«

Sie drehte sich kurz um, und wies auf einen Fleck nahe der Stelle, wo die Straße nach London und die nach Hampstead ineinander mündeten und sich eine Lücke in der Hecke befand.

»Ich hab’ Sie kommen hören,« sagte sie, »und mich dort versteckt; um, ehe ich Sie anredete, zu sehen, was für eine Art Mensch Sie wären. Ich scheute mich und zögerte, bis Sie vorüber waren; und dann blieb mir ja weiter nichts, als mich hinter Ihnen her zu stehlen, und Sie anzurühren.«

Hinter mir her zu stehlen und mich anzurühren. Warum nicht einfach rufen? Merkwürdig; um mich ganz vorsichtig auszudrücken.

»Darf ich Ihnen vertrauen?« fragte sie. »Sie denken deswegen nicht schlechter von mir, weil ich einen Unfall gehabt habe?« Verwirrt hielt sie inne; nahm ihren Pompadour aus der einen Hand in die andere; und seufzte bitterlich.

Die Verlassenheit und Hilflosigkeit dieser Frau berührten mich tief. Der natürliche Trieb, ihr zu helfen und sie mit Nachsicht zu behandeln, gewann bei mir die Oberhand über Besonnenheit, Vorsicht und weltliche Bedenklichkeiten, wie sie einem älteren, weiseren und ergo kälteren Manne vielleicht bei einem ähnlich befremdlichen Vorkommnis zu Gebote gestanden hätten.

»Soweit es sich um nichts Ungesetzliches handelt,« sagte ich, »können Sie mir voll vertrauen. Falls es Ihnen peinlich sein sollte, mir Ihre seltsame Lage des breiten zu erläutern, lassen Sie das Thema getrost fallen. Ich habe kein Recht, Sie um großartige Erklärungen zu ersuchen. Sagen Sie mir lediglich, inwiefern ich Ihnen nützlich sein kann; und ich werde es nach Kräften sein.«

»Sie sind sehr freundlich; und ich sehr-sehr dankbar, gerade Sie getroffen zu haben.« Die erste Spur weiblichen Empfindens, die ich von ihr vernommen hatte, schwang jetzt in ihrer Stimme, als sie die Worte aussprach; aber nichts einer Träne ähnliches glitzerte in diesen großen, sehnsüchtig aufmerksamen Augen, die immer noch unverwandt auf mich gerichtet waren. »Ich bin vordem lediglich ein Mal in London gewesen,« fuhr sie fort, immer rascher und rascher, »und speziell über diese Gegend hier, weiß ich gar nichts. Meinen Sie, daß ich eine Droschke, oder sonst irgend einen Wagen bekommen könnte? Oder ist das zu spät? Ich hab’ keine Ahnung. Wenn Sie mir zeigen könnten, wo ich eine Droschke bekommen kann – und mir versprechen würden, sich nicht weiter um mich zu bekümmern, und mich sofort allein zu lassen, wann und wo ich will – ich weiß eine Bekannte in London, die mich mit Freuden aufnehmen wird – weiter will ich nichts – versprechen Sie mir das?«

Ihr Blick glitt angstvoll die Straße auf und nieder, und der Pompadour wanderte wiederum aus einer Hand in die andere; die Worte »Versprechen Sie mir das?« wurden wiederholt; und sie sah mir dazu ins Gesicht, mit einem Ausdruck von bettelnder Furcht und Verwirrung, daß es mich fast überwältigte.

Was sollte ich machen? Hier war ein Fremdling, der sich mir auf Gedeih und Verderb anvertraute – und nicht nur ein Fremdling, sondern eine hülflose Frau. Kein Haus in der Nähe; kein Passant, mit dem ich mich hätte beraten können; und keinerlei Spur auch nur des Scheines eines Rechts meinerseits, das ich über sie hätte ausüben können, selbst wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, wie mich seiner zu bedienen. Ich schreibe diese Zeilen nieder, erfüllt von tiefem Selbst-Mißtrauen; auf einem Papier, das ob des Wissens um das, was erfolgte, zu ergrauen scheint – und trotzdem muß ich fragen: Was hätte ich machen sollen?!

Was ich damals tat, war, Zeit und Besonnenheit zu gewinnen, indem ich sie weiter befragte:

»Wissen Sie auch bestimmt, daß Ihre Londoner Bekannte Sie zu so später Stunde noch aufnehmen wird?« fragte ich.

»Ja, ganz bestimmt. Versprechen Sie mir nur, daß Sie mich sofort allein lassen, wann und wo ich will – versprechen Sie mir, daß Sie sich nicht weiter um mich bekümmern werden. Versprechen Sie mir das?«

Während sie die gleichen Worte nunmehr zum dritten Mal wiederholte, kam sie ganz dicht heran, und legte mir unversehens, mit einer sanften, verstohlenen Heimlichkeit die Hand auf die Brust – eine dünne Hand; und eine kalte Hand, selbst in dieser schwülen Nacht (ich merkte es, als ich sie mit der meinen fortnahm). (Und man behalte zusätzlich immer im Auge, daß ich jung war; und die Hand, die mich anrührte, eine Frauenhand.)

»Versprechen Sie mir das?«

»Ja.«

Ein Wort! Jenes kleinste, allergebräuchlichste Wort, das Jedermann im Munde führt, jeglichen Tag, zu jeder Stunde. Oh weh!; und jetzt, wo ich es niederschreibe, erfaßt mich ein Zittern.

Wir richteten also die Gesichter London-wärts, und schritten einträchtig fürbaß, in der ersten stillen Stunde des neuen Tages – ich und diese Frau, deren Name, Stand, Geschichte, Lebenszweck, ja, deren bloße Anwesenheit zu meiner Seite, in diesem Augenblick, für mich unauslotbare Geheimnisse waren. Es war wie im Traum. War ich Walter Hartright? War das die wohlbekannte nüchterne Landstraße, auf der die Leute in ihrer Freizeit die Sonntagsspaziergänge machten? Hatte ich tatsächlich erst vor wenig mehr denn einer Stunde die ruhige, korrekte, gutbürgerliche Atmosfäre des mütterlichen Landhäuschens verlassen? Ich war allzu benommen – mir auch des schattenhaften Gefühls, daß ich selbst irgendwie zu tadeln sei, undeutlich bewußt – als daß ich meine seltsame Begleiterin während der ersten Minuten hätte anreden können. Wiederum war es ihre Stimme, die das Schweigen zwischen uns zuerst brach.

»Ich möchte Sie etwas fragen,« sagte sie plötzlich: »Kennen Sie viele Leute in London?«

»Ja; sehr viele.«

»Viele Männer von Rang und Namen?«. Ein nicht zu überhörender Klang des Argwohns lag in der befremdlichen Erkundigung. Ich zögerte etwas mit meiner Antwort.

»Einige ja –« sagte ich nach einer momentanen Pause.

»Viele?« – sie blieb wie angewurzelt stehen, und blickte mir dringlich forschend ins Gesicht – »Viele Männer im Baronsrange?«

Zu erstaunt, um zu antworten, erkundigte ich mich jetzt meinerseits.

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Weil ich, in meinem eigensten Interesse, hoffe, daß es einen Baron gibt, den Sie nicht kennen.«

»Wollen Sie mir seinen Namen nennen?«

»Ich kann nicht – ich trau’ mich nicht – ich vergesse mich selbst, wenn ich ihn ausspreche!« Sie hatte laut und schier mit Wildheit gesprochen, auch die geballte Faust hoch in die Luft gehoben, und leidenschaftlich geschüttelt; dann, ohne jedweden Übergang, schien sie ihre Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen, und fügte, mit einer Stimme, die zum Wispern herabgesunken war, hinzu: »Sagen Sie mir lieber, welche von ihnen Sie kennen.«

Ich sah keinen Grund zur Weigerung, ihr in einer solchen Kleinigkeit zu Willen zu sein, und zählte ihr die drei Namen her. Zwei davon waren Familienväter, deren Töchter ich unterrichtete; der Dritte ein Junggeselle, der mich einmal zu einer längeren Fahrt auf seiner Yacht mitgenommen hatte, um in seinem Auftrag Skizzen zu machen.

»Ah! Sie kennen ihn also nicht,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sind Sie selbst etwa ein Mann von Rang und Namen?«

»Weit gefehlt. Ich bin nichts als ein einfacher Zeichenlehrer.«

Noch während ich diese Auskunft gab – ein klein bißchen bitter, vielleicht – nahm sie auch schon meinen Arm, mit der Fahrigkeit, die alle ihre Bewegungen charakterisierte.

»Kein Mann von Rang und Namen,« wiederholte sie es sich selbst: »Gott sei Dank! Dem kann ich trauen.«

Bis dahin hatte ich aus Rücksicht auf meine Begleiterin immer noch vermocht, meine Neugier in Schranken zu halten; aber nun gewann sie doch einmal die Oberhand.

»Ich nehme an, Sie haben gewichtige Gründe, sich über einen Mann von Rang und Namen zu beklagen?« fragte ich. »Ich fürchte, jener Baron, dessen Namen Sie mir gegenüber nicht über die Lippen bringen wollen, hat Ihnen irgend ein empfindliches Unrecht angetan? Ist er die Ursache, daß Sie sich zu dieser Nachtzeit hier im Freien befinden?«

»Fragen Sie mich nicht; versuchen Sie nicht, mich, was das anbelangt, zum Sprechen zu bringen,« antwortete sie. »Ich bin im Augenblick nicht dazu im Stande. Mir ist aufs grausamste Unrecht geschehen, und die grausamste Behandlung zuteil geworden. Krönen Sie Ihre bisherige Güte dadurch, daß Sie möglichst rasch ausschreiten, und gar nicht mit mir sprechen. Ich muß, wenn irgend möglich, mich zu beruhigen versuchen, und zwar ganz dringend.«

Wir schritten also erneut und rascher aus; und, wohl mindestens eine halbe Stunde lang, erfolgte von keiner Seite ein Wort. Da mir untersagt worden war, weitere Fragen zu stellen, richtete ich von Zeit zu Zeit verstohlen einen Seitenblick auf ihr Gesicht – es war immer das nämliche: die Lippen fest geschlossen, die Stirn leicht gerunzelt, die Augen schauten strack nach vorn, einerseits eifrig, andrerseits wiederum wie abwesend. Wir hatten allmählich die ersten Häuser erreicht, und waren dicht beim neuen Wesley College, und nun erst begannen ihre Züge sich einigermaßen zu entspannen, und sie hob neuerlich an, zu sprechen.

»Wohnen Sie in London?« fragte sie.

»Ja.« Noch während ich sprach, durchzuckte mich der Gedanke, daß sie möglicherweise auf den Einfall geraten sei, sich des weiteren um Hülfe oder Beratung an mich zu wenden, und daß ich gut daran täte, sie von meiner dicht bevorstehenden Abreise zu unterrichten, um ihr etwaige Enttäuschungen zu ersparen. Also setzte ich noch hinzu:

»Allerdings werde ich morgen schon London für einige Zeit verlassen. Ich muß eine Reise in die Provinz tun, aufs Land.«

»Welche Richtung?« fragte sie. »Nach Norden oder Süden?«

»Norden – nach Cumberland.«

»Cumberland!« sie wiederholte das Wort mit unverkennbarer Zärtlichkeit. »Ach, ich wollte, ich wäre ebenfalls dahin unterwegs. Ich war einmal sehr glücklich in Cumberland.«

Erneut versuchte ich, einen Zipfel des Schleiers zu lüften, der zwischen mir und dieser Frau hing. »Sind Sie etwa in dem Land der schönen Seen geboren?« fragte ich.

»Nein,« erwiderte sie; »geboren bin ich in Hampshire. Aber in Cumberland bin ich einmal für kürzere Zeit in die Schule gegangen. – Seen? An irgendwelche Seen kann ich mich nicht erinnern. Nein, was ich wiedersehen möchte ist das Dorf Limmeridge, und Limmeridge-Haus.«

Jetzt war die Reihe an mir, wie angewurzelt stehen zu bleiben. Bei dem ohnehin aufgeregten Zustand meiner Fantasie und Neugier, machte mich die beiläufige Erwährung von Herrn Fairlies Wohnsitz aus dem Munde meiner seltsamen Begleiterin fast straucheln vor Bestürzung.

»Haben Sie etwa Jemanden hinter uns rufen hören?!« fragte sie, in dem Augenblick, wo sie mich derart stutzen sah, und ließ den Blick entsetzt die Straße auf und nieder irren.

»Nein, nicht doch. Ich war lediglich frappiert ob des Namens ›Limmeridge-Haus‹. Ich hab’ ihn erst vor ein paar Tagen von Bekannten aus Cumberland nennen hören.«

»Ach, nicht von meinen Bekannten. Madame Fairlie ist tot; und ihr Gatte ist tot; und selbst ihr kleines Mädchen dürfte schon längst verheiratet und fortgezogen sein. Ich weiß nicht, wer zur Stunde in Limmeridge wohnen mag. Ich kann nur sagen: falls noch jemand des Namens dort übrig sein sollte, ist er mir um Madame Fairlies willen teuer.«

Es schien, als stünde sie im Begriff noch mehr zu sagen; aber schon während ihrer letzten Worte war der Schlagbaum am Eingang von Avenue Road in Sicht gekommen. Ihre Hand schloß sich sogleich fester um meinen Arm, und ihr Blick irrte ängstlich über das Hindernis vor uns.

»Hält der Schlagbaumwächter Ausschau?« fragte sie.

Nein, er hielt keine Ausschau; nichts und niemand war in Sicht, während wir den Durchgang passierten. Der Anblick der Gaslaternen und der Häuser schien sie aufzuregen und ungeduldig zu machen.

»Wir sind in London,« sagte sie. »Können Sie irgendeinen Wagen sehen, den ich bekommen könnte? Ich bin müde und etwas ängstlich. Ich möchte die Tür hinter mir zu machen, und davon gefahren werden.«

Ich erklärte ihr, daß wir noch ein kleines Stück Weges weiter zu gehen hätten, bis zur nächsten Droschken-Haltestelle – es sei denn, wir hätten Glück und begegneten einem leeren Gefährt; dann versuchte ich, wieder auf das Thema Cumberland zurückzukommen. Jedoch vergeblich. Sie schien von der neuen Vorstellung, eine Tür hinter sich zu zu machen und davon gefahren zu werden, völlig eingenommen zu sein; sie konnte anscheinend an nichts anderes mehr denken und von nichts anderem reden.

Wir waren Avenue Road noch nicht zum Drittel hinunter, als ich, ein paar Häuser vor uns, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Droschke herankommen und halten sah. Ein Herr stieg aus, und schloß sich dann ein Vorgartentor auf. Als der Kutscher wieder auf den Bock steigen wollte, rief ich ihn an. Während wir den Fahrdamm überquerten, erreichte die Ungeduld meiner Begleiterin einen solchen Grad, daß sie mich fast zum Laufschritt nötigte.

»Es ist schon so spät,« sagte sie. »Ich hab’ es nur deshalb so eilig, weil es schon so spät ist.«

»Ich könnte die Fahrt aber lediglich noch übernehmen, wenn Sie in Richtung Tottenham Court Road wollten, Sir,« sagte der Kutscher höflich, als ich die Wagentür öffnete. »Mein Pferd ist total ermüdet; und weiter als bis in’n Stall krieg ich’s heute nicht mehr.«

»Ja, gut. Genügt mir vollständig. Ich will in die Richtung – ich will in die Richtung.« Sie sprach, atemlos vor Eifer, und zwängte sich an mir vorbei ins Kutscheninnere.

Ich hatte mich, bevor ich sie in das Gefährt einsteigen ließ, vergewissert, daß der Mann nicht nur höflich, sondern vor allem auch nüchtern sei. Und, als sie drinnen saß, gab ich ihr dringend zu bedenken, sie möchte sich doch sicherheitshalber von mir zu ihrem Bestimmungsort begleiten lassen.

»Nein, nein, nein!« sagte sie heftig. »Ich bin ganz sicher jetzt; und ganz glücklich. Wenn Sie ein Gentleman sind, denken Sie an das, was Sie mir versprochen haben. Sagen Sie ihm, er solle fahren, bis ich ›Halt!‹ sage. Und aufrichtigen Dank – oh, Dank, Dank!«

Meine Hand lag auf dem Kutschenschlag. Sie nahm sie in ihre beiden, küßte sie, und stieß sie dann von sich. Im gleichen Augenblick zog das Pferd an – ich wollte hinterher starten, vielleicht in der vagen Absicht, sie noch einmal anzuhalten, ›warum‹ hätte ich allerdings schwerlich zu sagen vermocht – zögerte, aus Furcht, sie zu erschrecken oder zu beunruhigen – rief endlich; jedoch nicht laut genug, um die Aufmerksamkeit des Kutschers zu erregen. Schon wurde das Geräusch der Räder schwächer in der Entfernung – die Droschke war unkenntlich eins geworden mit der schwarzen Schattenreihe der Häuser – die Frau in Weiß war verschwunden.

 

Zehn Minuten oder mehr mochten vergangen sein. Ich befand mich noch immer auf derselben Straßenseite; jetzt mechanisch ausschreitend, dann wieder, wie geistesabwesend, stehen bleibend. Einen Augenblick zweifelte ich allen Ernstes an der Realität des bestandenen Abenteuers; im nächsten verspürte ich unleugbares Unbehagen bei dem undeutlichen Gefühl, irgend etwas Unrechtes begangen zu haben, und war doch wiederum ganz konfus vor Unsicherheit, wie ich mich denn am richtigsten verhalten hätte. Ich wußte kaum noch, wohin ich ging, oder was ich als nächstes vorhatte; das einzige, dessen ich mir sicher bewußt war, war eine große Verwirrung in meinen Gedanken – als ich plötzlich wieder zu mir selbst zurückgerufen wurde – geweckt, möchte ich beinahe sagen – durch ein sich rapide näherndes Rollen von Rädern, dicht hinter mir.

Ich befand mich auf der finsteren Seite der Straße und überdem gerade noch zusätzlich im dichten Schatten einiger Gartenbäume, als ich stehen blieb, um mich umzusehen. Unweit von mir, auf der gegenüberliegenden hellen Seite der Straße, kam eben, geruhsamen Schritts, ein Polizist in Richtung Regents Park patrouilliert.

Das Gefährt flog an mir vorbei – ein offener Wagen, mit zwei Männern darin.

»Stop!« rief der Eine. »Da ist ein Polizist. Fragen wir ihn.«

Das Pferd wurde nur ein paar Meter von der dusteren Stelle, wo ich stand, zum Anhalten gebracht.

»Wachtmeister!« rief der Sprecher von vorhin. »Haben Sie etwa zufällig eine Frau des Wegs kommen sehen?«

»Was für ’ne Frau sollte das gewesen sein, Sir?«

»Eine Frau in einem lila Kleid –«

»Nein, nicht doch,« griff jetzt der zweite Mann ein. »Die Kleidung, die sie von uns hat, lag doch auf dem Bett. Sie muß in den Kleidern gegangen sein, die sie trug, als sie zu uns kam. In Weiß, Wachtmeister. Eine Frau in Weiß.«

»Nichts von ihr gesehen, Sir.«

»Falls Sie oder einer Ihrer Kollegen auf die Frau stoßen sollten: sofort festhalten; und sie unter sorgfältiger Bewachung an diese Adresse hier weiter transportieren. Alle Auslagen werden vergütet, und ’ne feine Belohnung winkt außerdem noch.«

Der Polizist sah sich die Visitenkarte an, die ihm hinunter gereicht wurde.

»Warum sollen wir sie anhalten, Sir? Was hat sie angestellt?«

»Angestellt?!: Aus meinem Sanatorium ist sie entkommen! – Also nicht vergessen: eine Frau in Weiß. – Los, weiter!«

V

»Aus meinem Sanatorium ist sie entkommen!«.

Ich kann, wenn ich aufrichtig sein will, nicht direkt sagen, daß die schreckliche Schlußfolgerung, die sich aus diesen Worten zu ergeben schien, mir nun wie eine unerwartete Offenbarung gekommen wäre. Einige der wunderlichen Fragen, die die Frau in Weiß mir nach meinem unüberlegten Versprechen, ihr nach Belieben Handlungsfreiheit zu lassen, stellte, hatten die Vermutung nahe gelegt, daß sie entweder von Natur zerstreut und fahrig sei, oder aber daß ein kürzlich erfolgter Schock oder Schreck das Gleichgewicht ihres Geistes vorübergehend beeinträchtigt habe. Aber der Gedanke an glatten Wahnsinn, wie wir ihn wohl Alle zwangsläufig mit dem bloßen Wort ›Sanatorium‹ verbinden, war mir, das kann ich ehrlich beteuern, in Bezug auf sie zu keiner Sekunde gekommen. Weder an ihrer Ausdrucks- noch Handlungsweise war mir vorhin irgendetwas aufgefallen, was einen solchen Verdacht hätte rechtfertigen können; und selbst in dem neuen Licht jetzt, das die an den Polizisten gerichteten Worte des Fremden auf den Fall warfen – selbst jetzt noch schien er mir durch nichts gerechtfertigt.

Aber was hatte ich hier angerichtet? Einem Opfer der grausigsten aller unrechtmäßigen Einsperrungen zur Flucht verholfen; oder aber auf das Großstadtmeer von London ein unseliges Geschöpf losgelassen, dessen Handlungen nachsichtig zu überwachen nicht nur meine, sondern die Pflicht jedes Menschen überhaupt war? Mir wurde ganz übel, als diese Frage sich mir stellte; vor allem, als ich reuig erkennen mußte, daß sie sich mir zu spät stellte.

Als ich dann zuguterletzt meine Wohnung in Clement’s Inn erreichte, war ich in einem derart verstörten Gemütszustand, daß der Gedanke an Schlafengehen sinnlos erschien. Binnen wenigen Stunden würde ich ja doch meine Reise nach Cumberland antreten müssen. Ich setzte mich also lieber hin, und versuchte erst etwas zu zeichnen, dann zu lesen – aber stets geriet die Frau in Weiß zwischen mich und den Bleistift, zwischen mich und mein Buch. Ob dem unseligen Wesen etwas zugestoßen war? Das war mein erster Gedanke; obwohl ich ihn selbstsüchtigerweise gleich wieder verdrängte. Andere, auf denen zu verweilen weniger peinvoll war, schlossen sich an. Wo hatte sie die Droschke wohl halten lassen? Was mochte in diesem Augenblick mit ihr sein? War sie aufgespürt und von den Männern im Wagen wieder festgenommen worden? Oder war sie noch im vollen Besitz ihrer Handlungsfreiheit; und folgten wir Jeder unsern weit auseinanderliegenden Wegen durchs Leben zu einem fernen Punkt in geheimnisvoller Zukunft, wo sie sich erneut kreuzen würden?

Es war eine ausgesprochene Erleichterung, als die Stunde geschlagen hatte, wo ich meine Wohnungstür abschloß, Londoner Freunden, Londoner Schülern und Londoner Betätigungen Ade sagte, und mich in Richtung auf ein neues Dasein mit neuen Interessen in Bewegung setzen konnte. Selbst Lärm und Wirrwarr auf dem Bahnhof, wo der Zug eingesetzt wurde, so störend und lästig sie zu anderen Zeiten auch sein mochten, ermunterten mich heute und taten mir gut.