Die Namenlosen - Wilkie Collins - E-Book

Die Namenlosen E-Book

Wilkie Collins

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Beschreibung

Die Schwestern Norah und Magdalen Vanstone leben mit ihren Eltern und ihrer Gouvernante glücklich und zufrieden auf dem Landgut Combe- Raven. Aber dann schlägt das Schicksal zu, und die beiden jungen Frauen müssen erfahren, dass dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit ihres Vaters sie eingeholt haben. Die Folge: Ein grausames Gesetz beraubt sie nicht nur ihres Vermögens, sondern sogar ihres Familiennamens. Und Magdalen verliert auch noch den Mann, den sie liebt. Norah, die Ältere und Ruhigere, fügt sich in ihr Schicksal und fängt in aller Bescheidenheit ein neues, tugendhaftes Leben an. Magdalen ist dafür viel zu impulsiv: Sie setzt alles daran, das verlorene Glück zurückzuholen. Dazu versichert sie sich der Mithilfe des Spitzbuben Captain Wragge, dem es mit seinen zweifelhaften Methoden gelingt, das Familienvermögen in Magdalens greifbare Nähe zu rücken. Wird es ihr und ihrer geliebten Schwester gelingen, am Ende wieder in Glück und Wohlstand zu leben? In seinem spannenden, 1862 erstmals erschienenen Roman "Die ­Namenlosen", der hier in einer völlig neuen deutschen Übersetzung vorliegt, zeichnet Wilkie Collins mit großer Erzählkunst und einem gehörigen Schuss Humor ein Sitten­gemälde des viktorianischen England mit seinen Wider­sprüchlich­keiten und Absurditäten.

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Wilkie Collins: Die Namenlosen

Wilkie Collins

Die Namenlosen

Roman

Aus dem Englischen neu

übersetzt von Sebastian Vogel

Unter dem Titel No Name erstmals erschienen 1862.

Übersetzung © Sebastian Vogel

Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel

Umschlagbild: www.pixabay.com

Verlag: Sebastian Vogel

Erikaweg 5

50169 Kerpen

[email protected]

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7450-5186-5

Vorwort

Diese Geschichte verfolgt vor allem den Zweck, das Interesse des Lesers an einem Gegenstand zu wecken, welcher das Thema einiger der größten lebenden und verstorbenen Schriftsteller war – und das dennoch nie erschöpfend behandelt wurde oder behandelt werden kann. Es ist nämlich ein Thema, welches ewig interessant für die gesamte Menschheit ist. Hier ist wieder einmal ein Buch, welches den Kampf eines Menschen unter den gegensätzlichen Einflüssen von Gut und Böse nachzeichnet, Einflüssen, die wir alle schon gespürt haben, die wir alle kennen. Es war mein Ziel, der Gestalt der „Magdalen“, die diesen Kampf verkörpert, noch in all ihrer Widersprüchlichkeit und ihren Irrungen einen bedauernswerten Charakter zu verleihen; und ich habe mich sehr darum bemüht, dieses Ergebnis mit dem am wenigsten aufdringlichen und künstlichen Mittel zu erzielen: durch entschlossenes Festhalten an der Wahrheit, wie sie in der Natur liegt. Eine solche Gestaltung zu bewerkstelligen, war nicht einfach; und es war für mich (während der Veröffentlichung meiner Geschichte in Form von Fortsetzungen) eine große Ermutigung, durch die Kompetenz vieler Leser zu erfahren, dass ich das Ziel, welches ich mir selbst gesetzt hatte, wohl bis zu einem gewissen Grade als erreicht betrachten kann.

Um die Hauptfigur der Erzählung werden sich andere Gestalten gruppieren, die einen scharfen Kontrast bilden – einen Kontrast, für den ich größtenteils bestrebt war, dem Element des Humors eine beherrschende Bedeutung zu verschaffen. Den ernsteren Passagen des Buches eine solche Auflockerung hinzuzufügen, habe ich nicht nur deshalb versucht, weil ich mich dazu durch die Gesetze der Kunst berechtigt fühle, sondern auch weil die Erfahrung mich gelehrt hat (was meine Leser auf Grund ihrer Erfahrungen zweifellos bestätigen werden), dass ein moralisches Phänomen wie die unvermischte Tragödie in der Welt um uns herum nicht zu finden ist. Wohin wir auch blicken, im Gewebe des menschlichen Lebens überkreuzen sich ständig die Fäden der Dunkelheit und des Lichts.

Kommen wir von den Figuren zur Geschichte, so wird sich zeigen, dass die auf den folgenden Seiten wiedergegebene Handlung nach einem Plan aufgebaut ist, welcher sich von dem Plan, dem ich in meinem letzten Roman und in anderen, zuvor veröffentlichten Werken gefolgt bin, unterscheidet. Das einzige Geheimnis, das in diesem Buch enthalten ist, wird schon in der Mitte des ersten Bandes gelüftet. Von da an werfen die wichtigsten Ereignisse der Geschichte ihre Schatten absichtsvoll voraus, bevor sie stattfinden. Mit dieser Gestaltung möchte ich das Interesse des Lesers auf die Abfolge von Umständen lenken, durch die diese vorhersehbaren Ereignisse eintreten. Indem ich derart neues Terrain betrete, wende ich dem Gelände, das ich bereits passiert habe, nicht zweifelnd den Rücken zu. Wenn ich einen neuen Kurs einschlage, verfolge ich damit nur ein einziges Ziel: Ich möchte das Spektrum meiner Studien in der Kunst des Schreibens und die Vielfalt der Form, mit der ich mich an den Leser wende, erweitern und so reizvoll wie möglich machen.

Es besteht keine Notwendigkeit, zu diesen einleitenden Worten mehr hinzuzufügen, als hier geschrieben steht. Wenn ich sonst an dieser Stelle vielleicht noch etwas hätte sagen wollen, so war ich bestrebt, es das Buch für mich sagen zu lassen.

Für Francis Carr Beard (Fellow des Royal College of Surgeons of England) in Erinnerung an die Zeit, zu der die abschließenden Szenen der vorliegenden Geschichte geschrieben wurden.

Inhalt

Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Zweite Szene: Skeldergate, York

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zwischenakt: Chronik der Ereignisse, ­festgehalten in Captain Wragges Depeschentasche

Dritte Szene: Vauxhall Walk, Lambeth

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Vierte Szene: Aldborough, Suffolk

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Fünfte Szene: Baliol Cottage, Dumfries

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Sechste Szene: St. John’s Wood

Kapitel 1

Kapitel 2

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Siebte Szene: St. Crux-in-the-Marsh

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Letzte Szene: Aaron’s Buildings

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire

Kapitel 1

Die Zeiger der Uhr in der Halle standen auf halb sieben am Morgen. Das Haus, ein Landsitz im Westen von Somersetshire, hieß ­Combe-Raven. Es war der vierte März des Jahres achtzehnhundertsechsundvierzig.

Abgesehen vom stetigen Ticken der Uhr und dem trägen Schnarchen eines großen Hundes, der vor der Esszimmertür auf einer Matte hingestreckt lag, störte kein Geräusch die rätselhafte Stille in Halle und Treppenhaus. Wer waren die Schlafenden, die sich in den oberen Regionen verbargen? Lassen wir das Haus selbst seine Geheimnisse offenbaren; und lassen wir die Schlafenden sich zeigen, wenn sie aufgestanden sind und einer nach dem anderen die Treppe herunterkommen.

Als die Uhr Viertel vor sieben zeigte, wachte der Hund auf und schüttelte sich. Nachdem er vergeblich auf den Diener gewartet hatte, der ihn gewöhnlich hinausließ, wanderte er ruhelos im Erdgeschoss von einer verschlossenen Tür zur anderen; und nachdem er mit großer Verblüffung zu seiner Matte zurückgekehrt war, wandte er sich mit einem langen, melancholischen Heulen an die schlafende Familie.

Noch bevor die letzten Töne der Beschwerde des Hundes verklungen waren, knarrten die Eichenstufen in den höheren Gefilden des Hauses unter langsam herabsteigenden Schritten. Nach einer weiteren Minute erschien die erste Dienerin mit einem schäbigen Wollschal über den Schultern – der Märzmorgen war kalt, und der Rheumatismus und die Köchin waren alte Bekannte.

Nachdem sie die herzliche Begrüßung des Hundes mit der geringstmöglichen Anmut entgegengenommen hatte, öffnete die Köchin langsam die Tür der Halle und ließ das Tier hinaus. Es war ein ungestümer Morgen. Über einer geräumigen Rasenfläche und hinter einem schwarzen Tannengehölz bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen aus zerklüfteten grauen Wolken; in großen Abständen fielen wenige schwere Regentropfen; der Märzwind fegte um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge.

Es schlug sieben; jetzt zeigten sich die Anzeichen des häuslichen Lebens in schnellerer Folge.

Das Hausmädchen kam – groß und schlank, mit der rot auf die Nase geschriebenen Frühlingstemperatur – die Treppe herunter. Ihr folgte – jung, schlau, dicklich und schläfrig – das Dienstmädchen der Lady. Als Nächste kam das Küchenmädchen – sie hatte Schmerzen im Gesicht und machte kein Geheimnis aus ihrem Leiden. Als Letzter erschien, bedrückt gähnend, der Hausdiener, das lebende Abbild eines Mannes, der das Gefühl hat, um seine wohlverdiente Nachtruhe betrogen worden zu sein.

Das Gespräch der Dienstboten, die sich vor dem langsam aufflammenden Küchenfeuer versammelt hatten, drehte sich um ein Familienereignis aus jüngster Zeit und wandte sich zu Beginn einer einzigen Frage zu: Hatte Thomas, der Hausdiener, irgendetwas von dem Konzert in Clifton gesehen, bei dem sein Herr und die beiden jungen Damen am Abend zuvor zugegen gewesen waren? Ja; Thomas hatte das Konzert gehört; man hatte ihn dafür bezahlt, dass er in der hintersten Reihe stand; es war ein lautes Konzert gewesen; ein lebhaftes Konzert; es wurde in der Überschrift des Programms als groß bezeichnet; ob es sich lohnte, sechzehn Meilen mit der Eisenbahn zu fahren, um es zu hören, wobei man als zusätzliche Beschwernis um halb zwei Uhr morgens neunzehn Meilen auf der Straße zurückfahren musste – das war eine Frage, die zu entscheiden er seinem Herrn und den jungen Damen überlassen wollte; seine eigene Antwort lautete vorerst ohne Zögern: nein. Weitere Erkundigungen, welche nacheinander von allen Seiten der weiblichen Dienerschaft kamen, förderten keinerlei zusätzliche Informationen zutage. Thomas konnte keines der Lieder summen und kein Kleidungsstück der Damen beschreiben. Entsprechend ließ sein Publikum ihn voller Verzweiflung gehen, und die Unterhaltung in der Küche verlief wieder in den gewohnten Bahnen, bis die Uhr acht schlug und die versammelten Dienerinnen veranlasste, sich zum Zweck ihrer morgendlichen Tätigkeiten zu trennen.

Viertel nach acht, und nichts geschah. Halb neun – jetzt kamen weitere Lebenszeichen aus den Regionen der Schlafzimmer. Das nächste Familienmitglied, das die Treppe herunterstieg, war Mr. Andrew Vanstone, der Hausherr.

Groß, kräftig, aufrecht – mit leuchtend blauen Augen und gesundem, rosigem Teint; den vornehmen braunen Jagdrock achtlos falsch geknöpft; mit seinem zänkischen kleinen Scotchterrier, der ohne Zurechtweisung hinter seinen Fersen kläffte; eine Hand in die Westentasche geschoben, die andere fröhlich auf das Geländer klopfend, während er, eine Melodie summend, die Stufen herabkam – so zeigte Mr. Vanstone freimütig allen Menschen seinen Charakter. Ein unbefangener, herzlicher, gut aussehender, humorvoller Gentleman, der auf der Sonnenseite des Lebensweges wandelte und sich nichts Schöneres wünschte als dass auch alle seine Mitpassagiere in dieser Welt auf der Sonnenseite standen. Schätzte man seine Jahre, so war er vor Kurzem fünfzig geworden. Beurteilte man ihn nach der Leichtigkeit des Herzens, der Stärke seiner Konstitution und seiner Begeisterungsfähigkeit, so war er nicht älter als die meisten Männer, die gerade erst dreißig sind.

„Thomas“, rief Mr. Vanstone, wobei er seine alte Pelzmütze und den dicken Spazierstock vom Tisch in der Halle nahm, „Frühstück heute um zehn. Die jungen Damen werden nach dem Konzert gestern Abend wahrscheinlich nicht früher aufstehen. Ach übrigens, wie hat Ihnen eigentlich das Konzert gefallen, hm? Sie fanden es prachtvoll? Ganz recht, es war prachtvoll. Nichts als Krach-bum, und zur Abwechslung hier und da auch Bum-krach; alle Frauen sind in ihren Kleidern fast gestorben; sengende Hitze, loderndes Gas, und drangvolle Enge – ja, ja, Thomas, prachtvoll ist das richtige Wort dafür, aber angenehm war es nicht.“ Nach dieser Meinungsäußerung pfiff Mr. Vanstone nach seinem Terrier, schwenkte an der Tür der Halle in fröhlicher Missachtung des Regens seinen Stock und machte sich bei Wind und Wetter auf seinen Morgenspaziergang.

Die Zeiger schlichen auf ihrem stetigen Weg weiter um das Zifferblatt der Uhr und zeigten auf zehn Minuten vor neun, als ein weiteres Familienmitglied auf den Stufen erschien: Miss Garth, die Gouvernante.

Aufmerksame Augen konnten keinen Blick auf Miss Garth werfen, ohne sofort zu bemerken, dass sie aus dem Norden des Landes kam. Ihr Gesicht mit seinen harten Zügen; ihre männlich-gewandten, entschiedenen Bewegungen; ihre hartnäckige Rechtschaffenheit in Aussehen und Manieren – all das kündete von ihrer Geburt und Ausbildung an der Grenze. Sie war kaum über vierzig Jahre alt, und doch waren ihre Haare ganz grau; darüber trug sie die schlichte Kappe einer alten Frau. Weder ihre Haare noch ihre Frisur ließen den Einklang mit dem Gesicht vermissen: Es sah älter aus, als es ihren Jahren entsprach – die harte Hand des Kummers hatte es zu irgendeiner früheren Zeit gekerbt. Die Selbstbeherrschtheit, mit er sie treppab ging, und die Ausstrahlung einer gewohnheitsmäßigen Autorität, mit der sie sich umsah, sprachen für ihre gefestigte Stellung in Mr. Vanstones Familie. Diese Frau gehörte offensichtlich nicht zur Kategorie der verlorenen, verfolgten, bedauernswert abhängigen Gouvernanten. Vielmehr war sie eine Dame, die unter gesicherten, ehrenvollen Bedingungen bei ihren Arbeitgebern lebte – eine Frau, die aussah, als könne sie allen Eltern in England die Meinung sagen, wenn sie nicht ihrem wahren Wert entsprechend eingeschätzt wurde.

„Frühstück um zehn?“, wiederholte Miss Garth, als der Hausdiener auf ihr Läuten herbeigekommen war und die Anordnung seines Herrn erwähnt hatte. „Ha! Ich habe mich schon gefragt, was bei dem Konzert gestern Abend herauskommen würde. Wenn Leute, die auf dem Land leben, öffentliche Vergnügungen aufsuchen, geben die Vergnügungen die Ehre zurück, indem sie das Familienleben anschließend tagelang durcheinander bringen. Sogar Sie sind durcheinander, Thomas. Ich sehe, dass Ihre Augen so rot sind wie die eines Frettchens, und Ihre Krawatte sieht aus, als hätten Sie damit geschlafen. Bringen Sie den Tee um Viertel vor zehn – und wenn es Ihnen im Laufe des Tages nicht besser geht, kommen Sie zu mir, dann gebe ich Ihnen eine Dosis Arznei. Das ist ein gutmütiger Bursche, man muss ihn nur in Ruhe lassen“, fuhr Miss Garth im Selbstgespräch fort, nachdem Thomas sich zurückgezogen hatte, „aber für Konzerte zwanzig Meilen weit weg ist er nicht kräftig genug. Gestern Abend wollten sie sogar, dass ich mitkomme. Das hätte mir gerade noch gefehlt!“

Es schlug neun, und der Minutenzeiger wanderte noch zwanzig Minuten über die Stunde, bevor wieder Schritte auf der Treppe zu hören waren. Am Ende dieser Zeit erschienen zwei Damen und gingen gemeinsam hinunter zur Frühstücksraum: Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter.

Wenn die persönliche Anziehungskraft von Mrs. Vanstone in einer früheren Phase ihres Lebens ausschließlich auf ihren urenglischen Reizen der Gesichtsfarbe und Frische beruht hatten, so musste sie die letzten Überreste ihres hübscheren Ich schon lange verloren haben. Aber als junge Frau hatte sie mit ihrer Schönheit die Grenzen des nationalen Durchschnitts übertroffen, und die Vorteile ihrer außerordentlichen persönlichen Gaben hatte sie sich bewahrt. Obwohl sie jetzt in ihrem vierundvierzigsten Jahre war; und obwohl sie in vergangenen Zeiten unter dem Verlust mehr als eines Kindes und langwierigen Krankheitsanfällen, welche auf solche Heimsuchungen gefolgt waren, gelitten hatte, waren ihr die ebenmäßigen Proportionen und die subtile Feinheit der Gesichtszüge erhalten geblieben, die sich einst mit einer Helligkeit und Frische der Schönheit verbunden hatten, welche nie mehr wiederkehren sollten. Ihr ältestes Kind, das jetzt an ihrer Seite die Treppe herunterkam, war der Spiegel, durch den sie zurückblicken und den Widerschein ihrer eigenen Jugend sehen konnte. Dort, dicht gewunden auf dem Kopf der Tochter, lagen die üppigen schwarzen Haare, die auf dem Haupt der Mutter schnell ergrauten. Dort, auf den Wangen der Tochter, glimmte das liebliche dunkle Rot, das auf denen der Mutter verblichen war, um nie wieder aufzublühen. Miss Vanstone hatte bereits die erste Reife des Frauseins erreicht; sie hatte ihr sechsundzwanzigstes Jahr vollendet. Auch wenn sie den dunkel-majestätischen Charakter der Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte, so besaß sie doch nicht alle ihre Reize. Die Form des Gesichts war zwar die gleiche, ihre Züge waren aber nicht ganz so zart, ihre Proportionen nicht ganz so ebenmäßig. Sie war nicht so groß. Sie hatte die dunkelbraunen Augen ihrer Mutter – voll und weich, mit dem stetigen Glühen, das Mrs. Vanstones Augen verloren hatten –, und doch war in ihrem Ausdruck weniger Interesse, weniger Feinheit und Gefühlstiefe: Er war sanft und weiblich, aber umwölkt von einer gewissen stillen Zurückhaltung, von der das Gesicht ihrer Mutter frei war. Wenn wir es wagen, genau genug hinzusehen, beobachten wir dann nicht oftmals, dass die moralische Charakterstärke und die höheren geistigen Fähigkeiten der Eltern sich während der Weitergabe an die Kinder auf rätselhafte Weise abnutzen? Ist es in unserer Zeit der heimtückischen nervösen Erschöpfung und der unterschwellig fortschreitenden nervösen Leiden nicht möglich, dass die gleiche Regel weniger selten, als wir einzuräumen bereit sind, auch auf die körperlichen Gaben zutrifft?

Gemeinsam schritten Mutter und Tochter langsam die Treppe herunter – erstere in dunkles Braun gekleidet und mit einem um die Schultern geworfenen indischen Schal, die zweite einfacher schwarz gewandet, mit schlichtem Kragen und Manschetten sowie einem orangefarbenen Band über der Brust ihres Kleides. Als sie die Halle durchquerten und das Frühstückszimmer betraten, war Miss Vanstone erfüllt von dem faszinierenden Thema des gestrigen Konzerts.

„Es ist so schade, dass du nicht mitgekommen bist, Mama“, sagte sie. „Seit dem letzten Sommer warst du immer so kräftig, und es ging dir so gut – du fühlst dich um Jahre jünger, das hast du selbst gesagt – und ich bin sicher, die Anstrengung wäre nicht zu viel für dich gewesen.“

„Vielleicht nicht, mein Liebes, aber es war gut, auf der sicheren Seite zu sein.“

„Ganz recht“, bemerkte Miss Garth, die an der Tür des Frühstückszimmers erschienen war. „Sehen Sie sich nur Norah an (guten Morgen, meine Liebe) – ich sage nur: Sehen Sie sich Norah an. Ein völliges Wrack; der lebende Beweis, wie klug es von Ihnen und mir war, zu Hause zu bleiben. Das abscheuliche Gas, die stickige Luft, die späte Uhrzeit – was soll man da erwarten? Sie ist nicht aus Eisen, und entsprechend leidet sie. Nein, meine Liebe, Sie brauchen es gar nicht abzustreiten. Ich sehe doch, dass Sie Kopfschmerzen haben.“

Norahs dunkles, hübsches Gesicht hellte sich zu einem Lächeln auf – um sich dann wieder mit der gewohnten stillen Zurückhaltung zu verdüstern.

„Ein ganz klein wenig Kopfschmerzen; nicht halb so viel, als dass ich das Konzert bereuen würde“, sagte sie und ging allein zum Fenster.

Jenseits eines Gartens und einer Pferdekoppel reichte der Blick bis zu einem Bach, einigen Bauernhäusern dahinter und der Mündung eines bewaldeten, felsigen Passes (den man in Somersetshire Combe nennt), der sich durch die Hügel, die das Panorama abschlossen, hindurchzog. In nicht allzu großer Entfernung, inmitten der gewellten, offenen Landschaft, war ein gewundenes Stück Straße zu sehen; und entlang dieses Stücks erkannte man jetzt ohne Weiteres die stattliche Gestalt von Mr. Vanstone, der von seinem Morgenspaziergang nach Hause kam. Als er seine älteste Tochter am Fenster sah, schwenkte er fröhlich seinen Stock. Sie nickte und antwortete ihrerseits mit einem anmutigen, hübschen Winken – aber in ihrem Betragen lag eine gewisse altmodische Förmlichkeit, was bei einer so jungen Frau seltsam wirkte und nicht im Einklang mit der Begrüßung zu stehen schien, die sie an ihren Vater richtete.

Die Uhr in der Halle schlug die Stunde des verspäteten Frühstücks. Als der Minutenzeiger das Verstreichen von fünf weiteren Minuten angezeigt hatte, knallte in den Regionen der Schlafzimmer eine Tür; man hörte eine helle, junge Stimme unbekümmert singen; leichte, schnelle Schritte trappelten auf der oberen Treppe, kamen mit einem Sprung auf dem Treppenabsatz an und trappelten schneller als zuvor die untere Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick stürzte die jüngste von Mrs. Vanstones beiden Töchtern (und ihrer einzigen noch lebenden Kinder) mit der Plötzlichkeit eines Lichtblitzes auf den düsteren Eichenstufen ins Blickfeld, und nachdem sie die letzten drei Stufen zur Halle mit einem Satz überwunden hatte, war der Familienkreis komplett.

Durch eine jener seltsamen Launen der Natur, die immer noch von der Wissenschaft unerklärt bleiben, zeigte das jüngste von Mr. Vanstones Kindern keine erkennbare Ähnlichkeit mit einem seiner Eltern. Wie war sie zu ihren Haaren gekommen? Wie war sie zu ihren Augen gekommen? Selbst ihr Vater und ihre Mutter hatten sich solche Fragen gestellt, als sie zum Mädchen heranwuchs, und waren, was eine Antwort anging, schmerzlich ratlos gewesen. Ihre Haare hatten jenen rein hellbraunen Farbton, der nicht mit Flachsfarbe, Gelb oder Rot vermischt ist und den man am Gefieder eines Vogels häufiger sieht als an einem Menschen. Sie waren weich und üppig und fielen von der niedrigen Stirn in regelmäßigen Wellen herab – aber für manchen Geschmack waren sie trist und tot mit ihrem völligen Mangel an Glanz, mit ihrer eintönigen Reinheit der einfachen, hellen Farbe. Augenbrauen und Wimpern waren einen Hauch dunkler als die Haare und schienen wie gemacht für jene violettblauen Augen, die ihren unwiderstehlichsten Charme versprühen, wenn sie sich mit einem hellen Teint verbinden. Aber genau an dieser Stelle hielt ihr Gesicht verblüffenderweise nicht, was es versprach. Die Augen, die dunkel hätten sein sollen, waren unbegreiflicherweise unpassend hell; sie waren von jenem nahezu farblosen Grau, das zwar für sich wenig anziehend wirkt, zum Ausgleich aber das seltene Verdienst besitzt, die feinsten Abstufungen der Gedanken, das tiefste Ungemach der Leidenschaft mit einer so erhabenen Durchsichtigkeit des Ausdrucks zu deuten, dass keine dunkleren Augen an sie heranreichen. Während also der obere Teil ihres Gesichts ein wunderlicher Widerspruch in sich war, wich der untere weniger von den anerkannten Vorstellungen von Harmonie ab. Ihre Lippen hatten die wahrhaft weibliche Zartheit der Form, ihre Wangen die liebenswürdige Rundlichkeit und Glätte der Jugend – aber der Mund war zu groß und fest, das Kinn zu eckig und kräftig für ihr Alter und Geschlecht. Ihr Teint hatte teil an der reinen Eintönigkeit des Farbtons, die auch ihre Haare kennzeichnete – er war überall von der gleichen weichen, warmen, cremigen Helligkeit, ohne einen Hauch von Farbe auf den Wangen, außer bei Gelegenheiten ungewöhnlicher körperlicher Anstrengung oder plötzlicher geistiger Verwirrung. Zusätzlichen Eindruck machte der ganze Gesichtsausdruck, der mit seinen krass gegensätzlichen Merkmalen so bemerkenswert war, durch seine ungewöhnliche Beweglichkeit. Die großen, leuchtenden, hellgrauen Augen standen kaum einmal still; alle Ausdrucksformen folgten in dem flexiblen, sich ständig verändernden Gesicht aufeinander, und das mit einer schwindelerregenden Schnelligkeit, die jede nüchterne Analyse im Rennen weit hinter sich ließ. Die überschäumende Lebenslust des Mädchens machte sich überall an ihr bemerkbar, von Kopf bis Fuß. Ihre Gestalt – größer als ihre Schwester, größer als eine durchschnittliche Frau; ausgestattet mit einer so verführerischen, schlangenhaften Geschmeidigkeit, so leicht und spielerisch anmutig, dass ihre Bewegungen ganz von selbst an eine junge Katze denken ließen – diese Gestalt war bereits vollkommen entwickelt, und niemand hätte bei ihrem Anblick vermutet, dass sie erst achtzehn war. Sie blühte in der völligen körperlichen Reife von zwanzig Jahren oder mehr – blühte natürlich und unwiderstehlich kraft ihrer unvergleichlichen Gesundheit und Stärke. Hier lag in Wahrheit der Urquell dieser so eigenartig aufgebauten Konstitution. Ihr überstürzter Lauf die Treppe hinunter; die lebhafte Aktivität aller ihrer Bewegungen; die unaufhörlich sprühenden Funken ihres Gesichtsausdrucks; die reizvolle Fröhlichkeit, die noch das Herz des ruhigsten Menschen im Sturm eroberte; selbst das unbekümmerte Schwelgen in hellen Farben, das sich an ihrem leuchtend bunt gestreiften Morgenkleid zeigte, in den flatternden Bändern, den kleinen, scharlachroten Röschen auf ihren hübschen kleinen Schuhen – all das entsprang aus derselben Quelle: aus der überschäumenden körperlichen Gesundheit, die jeden Muskel kräftigte, jeden Nerv stützte und das warme junge Blut durch ihre Adern schießen ließ wie das Blut eines heranwachsenden Kindes.

Als sie das Frühstückszimmer betrat, wurde sie mit den gewohnten Vorhaltungen begrüßt, die ihre kapriziöse Missachtung jeglicher Pünktlichkeit bei den leidgeprüften Haushaltsvorständen provozierte. Oder, wie Miss Garth es am liebsten ausdrückte: „Magdalen wurde mit allen Sinnen geboren – außer mit dem Sinn für Ordnung.“

Magdalen! War es nicht seltsam, dass man ihr diesen Namen gegeben hatte? Ja, seltsam, in der Tat; und doch war er unter nicht ungewöhnlichen Umständen ausgewählt worden. Den gleichen Namen hatte eine von Mr. Vanstones Schwestern getragen, und die war schon in früher Jugend gestorben. In liebevoller Erinnerung hatte er seine zweite Tochter nach ihr benannt – genau wie er seine älteste Tochter seiner Frau zuliebe Norah genannt hatte. Magdalen! Der große, alte, biblische Name – ein Name, der an eine traurige, düstere Würde denken lässt; der als erste Assoziation schwermütige Gedanken an Reue und Abgeschiedenheit heraufbeschwört – war doch hier sicher angesichts der Ereignisse, wie sie sich herausgestellt hatten, unzutreffenderweise vergeben worden? Dieses so widersprüchliche Mädchen hatte widersinnigerweise einen weiteren Widerspruch zuwege gebracht, in dem sie sich zu einer Persönlichkeit entwickelte, die jeden Einklang mit ihrem Vornamen vermissen ließ.

„Wieder einmal zu spät!“, sagte Mrs. Vanstone, als Magdalen sie atemlos küsste.

„Wieder einmal zu spät“, pflichtete Miss Garth bei, als Magdalen danach zu ihr kam. „Nun?“, fuhr sie fort, wobei sie vertraulich nach dem Kinn des Mädchens griff; ihre halb spöttische, halb liebevolle Aufmerksamkeit verriet, dass die jüngste Tochter trotz aller ihrer Fehler der Liebling der Gouvernante war. „Nun? Und wie war das Konzert für dich? Welche Form des Leidens hat die Zerstreuung heute Morgen in deinem Organismus hervorgerufen?

„Leiden!“, echote Magdalen, die ihren Atem und mit ihm auch die Beherrschung der Zunge wiedergewonnen hatte. „Ich weiß gar nicht, was das Wort bedeutet: Wenn mit mir überhaupt etwas los ist, dann geht es mir zu gut. Leiden! Ich bin bereit für das nächste Konzert heute Abend, und morgen einen Ball, und übermorgen ein Theaterstück. Ach“, rief Magdalen, wobei sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und die Hände verzückt auf dem Tisch faltete, „wie ich das Vergnügen liebe“.

„Nicht doch, das ist ja geradezu unanständig“, sagte Miss Garth. „Ich glaube, Pope muss dich im Sinn gehabt haben, als er seine berühmten Zeilen schrieb:

Verteilt ist Scherz und Ernst in Männerbrust,

Doch jede Frau im Herzen frönt der Lust.

„Den Teufel tut sie!“, rief Mr. Vanstone. Er hatte, die Hunde an seinen Fersen, das Zimmer betreten, während Miss Garth ihr Zitat von sich gab. „Nun ja, leben und lernen. Wenn sie alle der Lust frönen, Miss Garth, sind die Geschlechter ganz gehörig auf den Kopf gestellt; und den Männern bleibt dann nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben und die Socken zu stopfen. Jetzt wollen wir aber frühstücken!“

„Wie geht’s, Papa?“, fragte Magdalen und schlang Mr. Vanstone so ungestüm den Arm um den Hals, als gehörte er zu irgendeiner größeren Art von Neufundländern und solle nach Belieben seiner Tochter mit ihr herumtollen. „Ich bin die Vergnügungssüchtige, von der Miss Garth spricht; und ich möchte noch einmal zu einem Konzert gehen – oder zu einem Schauspiel, wenn es dir lieber ist – oder zu einem Ball, wenn du das bevorzugst – oder zu allem anderen, was dem Vergnügen dient, mir ein neues Kleid verschafft, mich in eine Menschenmenge eintauchen lässt, mich mit einer Menge Licht beleuchtet und mir ganz und gar, von Kopf bis Fuß, ein aufgeregtes Prickeln verursacht. Mir ist alles recht, so lange wir nicht um elf Uhr ins Bett gehen müssen.“

Mr. Vanstone ließ sich unter dem Redefluss seiner Tochter in aller Ruhe auf einem Stuhl nieder wie ein Mann, der verbale Sturzbäche von dieser Seite durchaus gewohnt war. „Wenn es mir erlaubt ist, das nächste Mal unter den Vergnügungen meine Wahl zu treffen“, sagte der würdige Gentleman, „so glaube ich, dass ein Schauspiel mir mehr zusagen würde als ein Konzert. Die Mädchen haben sich großartig amüsiert, mein Liebes“, fuhr er, an seine Frau gewandt, fort. „Mehr als ich, muss ich sagen. Es war viel zu hoch für mich. Sie haben ein Musikstück gespielt, das vierzig Minuten gedauert hat. Es hat dreimal zwischendurch aufgehört. Jedes Mal haben wir gedacht, es sei fertig, und geklatscht und uns gefreut, dass wir es hinter uns hatten. Aber dann ging es zu unserer großen Überraschung und Demütigung wieder weiter, bis wir verzweifelt aufgaben und uns wünschten, wir wären in Jericho. Norah, mein Liebling! Als wir vierzig Minuten Krach-Bum gehört haben, mit drei Pausen dazwischen, wie haben sie das genannt?“

„Eine Symphonie, Papa“, erwiderte Norah.

„Ja, du lieber alter Grufti, eine Symphonie von dem großen Beethoven!“, fügte Magdalen hinzu. „Du willst doch nicht etwa sagen, dass es dir keinen Spaß gemacht hat? Hast du die Ausländerin mit dem gelben Gesicht und dem unaussprechlichen Namen vergessen? Weißt du nicht mehr, was sie beim Singen für ein Gesicht gezogen hat? Und wie sie einen Knicks nach dem anderen gemacht hat, bis sie die dummen Leute überlistet hatte, so dass sie da capo gerufen haben? Sieh mal hier, Mama, sehen Sie hier, Miss Garth!“

Sie griff sich vom Tisch einen leeren Teller, hielt ihn wie ein Notenblatt in der üblichen Konzerthaltung vor sich hin und ahmte die Grimassen und Verbeugungen der unglückseligen Sängerin so genau und originalgetreu nach, dass ihr Vater in Gelächter ausbrach; sogar der Diener, der in diesem Augenblick mit der Posttasche hereingekommen war, eilte schnell wieder aus dem Zimmer und beging die Unbotmäßigkeit, es seinem Herrn auf der anderen Seite der Tür hörbar nachzumachen.

„Briefe, Papa. Ich will den Schlüssel“, sagte Magdalen und begab sich mit der unbekümmerten Plötzlichkeit, die ein Kennzeichen aller ihrer Handlungen war, von der Imitation am Frühstückstisch zu der Posttasche auf der Anrichte.

Mr. Vanstone suchte in seinen Taschen und schüttelte den Kopf. Auch wenn seine jüngste Tochter ihm ansonsten vielleicht in nichts ähnelte, so war doch leicht zu erkennen, woher Magdalen ihre unsystematischen Gewohnheiten hatte.

„Ich wage zu behaupten, dass ich ihn zusammen mit meinen anderen Schlüsseln in der Bibliothek gelassen habe“, sagte Mr. Vanstone. „Geh doch bitte und sieh nach, mein Liebling.“

„Du solltest wirklich auf Magdalen aufpassen“, bat Mrs. Vanstone, an ihren Mann gewandt, nachdem ihre Tochter das Zimmer verlassen hatte. „Diese Gewohnheit, andere nachzumachen, wird bei ihr immer stärker; und zu dir spricht sie mit einer Leichtfertigkeit, die zu hören wirklich erschreckend ist.“

„Genau was ich gesagt habe, bis ich müde war, es ständig zu wiederholen“, bemerkte Miss Garth. „Sie behandelt Mr. Vanstone, als wäre er so etwas wie ihr kleiner Bruder.“

„Du bist ja auch in allem anderen so freundlich zu uns, Papa, und du machst freundliche Zugeständnisse an Magdalens Ausgelassenheit – ist es nicht so?“, sagte die ruhige Norah und ergriff damit die Partei ihres Vaters und ihrer Schwester; an der Oberfläche ließ sie dabei so wenig Entschlossenheit erkennen, dass nur die wenigsten Beobachter scharfsinnig genug gewesen wären, dahinter den echten Gehalt zu erkennen.

„Ich danke dir, mein Liebes“, sagte der gutmütige Mr. Vanstone. „Ich danke dir für deine sehr hübsche Rede. Und was Magdalen angeht“, fuhr er fort, wobei er sich an seine Frau und Miss Garth wandte, „sie ist ein ungezähmtes Fohlen. Lasst sie auf der Koppel umhertollen und ausschlagen, wie es ihrem Herzen entspricht. Es ist noch Zeit genug, ihr den Zaum anzulegen, wenn sie ein wenig älter ist.“

Die Tür öffnete sich, und Magdalen kam mit dem Schlüssel zurück. Sie öffnete die Posttasche auf der Anrichte und schüttete die Briefe auf einen Haufen. Fröhlich hatte sie in noch nicht einmal einer Minute die Umschläge sortiert. Sie kam mit vollen Händen an den Frühstückstisch und verteilte die Briefe mit der geschäftsmäßigen Schnelligkeit eines Londoner Postboten.

„Zwei für Norah“, verkündete sie und fing bei ihrer Schwester an. „Drei für Miss Garth. Für Mama keiner. Einer für mich. Und die anderen sechs alle für Papa. Du fauler alter Schatz, du beantwortest doch nicht gern Briefe, oder?“, fuhr Magdalen fort, wobei sie die Rolle des Postboten ablegte und wieder die der Tochter annahm. „Da wirst du in deinem Arbeitszimmer wieder maulen und herumzappeln! Und du wirst dir wünschen, es gäbe auf der ganzen Welt keine Briefe! Und wie rot wird dein alter Kahlkopf auf der Oberseite werden, wenn du dich bemühst, die Antworten zu schreiben“ Das Bristol Theatre ist geöffnet, Papa“, flüsterte sie ihrem Vater plötzlich verschmitzt ins Ohr; „das habe ich in der Zeitung gelesen, als ich in die Bibliothek gegangen bin und den Schlüssel geholt habe. Gehen wir doch morgen Abend hin!“

Während seine Tochter noch plapperte, sah Mr. Vanstone mechanisch seine Briefe durch. Die ersten vier drehte er nacheinander um und blickte achtlos auf die Adressen. Als er zum fünften kam, richtete sich seine Aufmerksamkeit, die er bisher Magdalen zugewandt hatte, auf den Poststempel.

Über ihn gebeugt und mit dem Kopf auf seiner Schulter, konnte Magdalen den Stempel ebenso deutlich sehen wie ihr Vater: New Orleans.

„Ein Brief aus Amerika, Papa!“, rief sie. „Wen kennst du denn in New Orleans?“

In dem Augenblick, als Magdalen diese Worte aussprach, zuckte Mrs. Vanstone zusammen und blickte erwartungsvoll zu ihrem Mann.

Mr. Vanstone sagte nichts. In aller Ruhe nahm er den Arm seiner Tochter von seinem Hals, als wollte er sich von allen Störungen befreien. Also kehrte sie zu ihrem Platz am Frühstückstisch zurück. Ihr Vater hielt, den Brief in der Hand, eine Zeit lang inne, ohne ihn zu öffnen; ihre Mutter sah ihn währenddessen mit einer ungeduldigen, erwartungsvollen Aufmerksamkeit an, die Miss Garth ebenso auffiel wie Norah und Magdalen.

Nachdem er eine Minute oder länger gezögert hatte, öffnete Mr. Vanstone den Brief. Sobald er die ersten Zeilen gelesen hatte, veränderte sich die Farbe seines Gesichts; seine Wangen nahmen einen stumpfen, gelblichbraunen Ton an, der bei einem weniger rotgesichtigen Mann aschfahl gewirkt hätte; im gleichen Augenblick wurde sein Gesichtsausdruck traurig und düster. Norah und Magdalen sahen ihn ängstlich an, konnten aber nichts erkennen außer der Veränderung, die mit ihrem Vater vorging. Allein Miss Garth beobachtete, welche Wirkung die Veränderung bei der aufmerksamen Dame des Hauses hervorrief.

Es war nicht die Wirkung, mit der sie oder sonst irgendjemand gerechnet hatte. Mrs. Vanstone sah nicht beunruhigt, sondern eher erregt aus. Ein schwaches Rosa machte sich auf ihren Wangen breit, und in ihre Augen trat ein Leuchten. Immer wieder rührte sie den Tee in ihrer Tasse um – unruhig und ungeduldig, wie es sonst nicht ihre Art war.

Wie üblich brach Magdalen in ihrer Eigenschaft als verwöhntes Kind zuerst das Schweigen.

„Was ist denn los, Papa?“, fragte sie.

„Nichts“, sagte Mr. Vanstone knapp, ohne zu ihr aufzublicken.

„Aber da ist doch ganz bestimmt etwas“, beharrte Magdalen. „In diesem Brief aus Amerika stehen doch sicher schlechte Nachrichten.“

„In dem Brief steht nichts, was dich betrifft“, erwiderte Mr. Vanstone.

Es war die erste direkte Zurückweisung, die Magdalen jemals von ihrem Vater erlebt hatte. Sie sah ihn mit einer ungläubigen Überraschung an, die unter weniger ernsten Umständen unwiderstehlich absurd gewirkt hätte.

Mehr wurde nicht gesprochen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben saß die ganze Familie unbehaglich schweigend um den Frühstückstisch. Mr. Vanstones gesunder morgendlicher Appetit war wie seine gesunde morgendliche Stimmung verschwunden. Geistesabwesend brach er ein paar Brocken von dem trockenen Toast auf dem Ständer vor ihm ab, geistesabwesend leerte er seine erste Tasse Tee – und verlangte nach einer zweiten, die er unberührt vor sich stehen ließ.

„Norah“, sagte er nach einiger Zeit, „du brauchst nicht auf mich zu warten. Magdalen, mein Liebes, wenn du willst, kannst du gehen.“

Seine Töchter erhoben sich sofort; Miss Garth folgte bedächtig ihrem Beispiel. Wenn ein Mann mit ungezwungenem Temperament sich in seiner Familie Geltung verschafft, erzielt dieses seltene Auftreten ausnahmslos seine Wirkung, und der Wille des ungezwungenen Mannes ist Gesetz.

„Was kann denn da passiert sein?“, flüsterte Norah, als sie die Tür des Frühstückszimmers schlossen und durch die Halle gingen.

„Was bedeutet das, dass Papa sauer auf mich ist?“ rief Magdalen, die sich in ihrem eigenen Gefühl der Verletzung verzehrte.

„Darf ich fragen, welches Recht ihr habt, euch in die Privatangelegenheiten eures Vaters einzumischen?“, versetzte Miss Garth.

„Recht?“, fragte Magdalen. „Ich habe keine Geheimnisse vor Papa – was sind das für Angelegenheiten, die Papa vor mir geheim halten muss? Ich fühle mich beleidigt.“

„Wenn du in Betracht ziehen würdest, dass du zu Recht zurückgewiesen wurdest, weil du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten gekümmert hast, wärest du der Wahrheit ein Stückchen näher“, sagte Miss Garth geradeheraus. „Ach, du bist wie alle anderen Mädchen heutzutage. Unter euch weiß nicht einmal eine von hundert, wo oben und wo unten ist.“

Die drei Damen traten ins Wohnzimmer; Magdalen würdigte Miss Garth’ Zurechtweisung, indem sie die Tür zuknallte.

Eine halbe Stunde verging, und weder Mr. Vanstone noch seine Frau kamen aus dem Frühstückszimmer. Der Diener, der nicht wusste, was vorgefallen war, ging hinein, um den Tisch abzuräumen. Er fand seinen Herrn und seine Herrin dicht nebeneinander sitzend in ernster Beratung – und ging sofort wieder hinaus. Noch einmal verging eine Viertelstunde, dann öffnete sich die Tür des Frühstückszimmers; die private Besprechung von Ehemann und Ehefrau war zu Ende.

„Ich höre Mama in der Halle“, sagte Norah. „Vielleicht kommt sie und will uns etwas sagen.“

Während ihre Tochter noch sprach, trat Mrs. Vanstone ins Wohnzimmer. Die Farbe ihrer Wangen war kräftiger, und in ihren Augen glitzerte das Leuchten halb getrockneter Tränen; ihr Schritt war hastiger, alle ihre Bewegungen waren schneller als gewöhnlich.

„Ich habe euch etwas zu sagen, was euch überraschen wird“, sagte sie, an ihre Töchter gewandt. „Euer Vater und ich fahren morgen nach London.“

Magdalen griff in sprachlosem Erstaunen nach dem Arm ihrer Mutter. Miss Garth ließ ihre Handarbeit in den Schoß fallen; sogar die ruhige Norah sprang auf und wiederholte verblüfft die Worte „fahren nach London“.

„Ohne uns?“, wollte Magdalen wissen.

„Euer Vater und ich fahren allein“, sagte Mrs. Vanstone. „Vielleicht für drei Wochen, aber nicht länger. Wir fahren…“ sie zögerte, „…in einer wichtigen Familienangelegenheit. Lass’ mich los, Magdalen. Die Notwendigkeit hat sich plötzlich ergeben. Ich habe noch viel zu tun, viele Dinge zu regeln bis morgen. Ja, ja, mein Liebes, lass’ mich los.“

Sie zog ihren Arm weg, küsste ihre jüngste Tochter eilig auf die Stirn und verließ sofort das Zimmer. Sogar Magdalen sah ein, dass sie ihre Mutter nicht zwingen konnte, sich irgendetwas anzuhören oder weitere Fragen zu beantworten.

Der Vormittag zog sich hin, aber von Mr. Vanstone war nichts zu sehen. Mit der rücksichtslosen Neugier ihres Alters und Charakters fasste Magdalen den Entschluss, sich über das Verbot von Miss Garth und die Vorhaltungen ihrer Schwester hinwegzusetzen, ins Arbeitszimmer zu gehen und dort nach ihrem Vater zu suchen. Sie drückte auf die Klinke, aber die Tür war von innen verschlossen. „Ich bin’s nur, Papa“, sagte sie uns lauschte auf eine Antwort. „Ich habe zu tun, mein Liebes“, kam es zurück. „Störe mich nicht.“

Mrs. Vanstone war auf eine andere Art ebenso verschlossen. Sie blieb, die Dienerinnen um sich, in ihrem Zimmer und stürzte sich in endlose Vorbereitungen für die bevorstehende Abreise. Die Dienerinnen waren plötzliche Entschlüsse und unerwartete Befehle in der Familie kaum gewohnt; unbeholfen und verwirrt befolgen sie die Anweisungen. Sie liefen unnötigerweise von Zimmer zu Zimmer und verloren sowohl Zeit als auch Geduld, wenn sie sich auf der Treppe gegenseitig anrempelten. Wäre ein Fremder an jenem Tag ins Haus gekommen, er hätte sich ausmalen können, dass eine unerwartete Katastrophe eingetreten war und nicht nur eine unerwartete Notwendigkeit, nach London zu reisen. Nichts folgte dem üblichen Tagesablauf. Magdalen war es eigentlich gewohnt, den Vormittag am Klavier zu verbringen, aber jetzt wanderte sie rastlos durch die Treppenhäuser und Korridore, ging durch die Türen hinein und hinaus, wenn sich nur der Anflug schönen Wetters zeigte. Norah, deren Leselust in der Familie in ein Sprichwort eingeflossen war, nahm ein Buch nach dem anderen vom Tisch und vom Regal, nur um sie nach dem verzweifelten Versuch, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, wieder hinzulegen. Selbst Miss Garth spürte den alles durchdringenden Einfluss der häuslichen Unordnung und setzte sich allein an das Feuer im Wohnzimmer, schüttelte ahnungsvoll den Kopf und ließ die Handarbeit neben sich liegen.

„Familienangelegenheiten?“, fragte sie sich, als sie über Mrs. Vanstones unbestimmte erklärende Worte nachgrübelte. „Ich wohne jetzt seit zwölf Jahren auf Combe-Raven; und das hier sind nach meiner Erfahrung die ersten Familienangelegenheiten, die zwischen die Eltern und Kinder getreten sind. Was hat das zu bedeuten? Veränderungen? Ich glaube, ich werde alt. Ich mag keine Veränderungen.“

Kapitel 2

Am nächsten Morgen um zehn Uhr standen Norah und Magdalen allein in der Halle von Combe-Raven und sahen zu, wie die Kutsche abfuhr, die ihren Vater und ihre Mutter zum Zug nach London bringen sollte.

Beide Schwestern hatten bis zum letzten Augenblick auf eine Erklärung über jene rätselhafte „Familienangelegenheit“ gehofft, auf die Mrs. Vanstone am Tag zuvor so knapp angespielt hatte. Aber eine solche Erklärung war nicht gegeben worden. Selbst die Aufregung des Abschieds unter Umständen, die in der häuslichen Erfahrung von Eltern und Kindern etwas völlig Neues waren, hatten die entschlossene Diskretion von Mr. und Mrs. Vanstone nicht ins Wanken gebracht. Sie waren abgefahren – mit dem wärmsten Zeugnis der Zuwendung, mit Abschiedsumarmungen, welche leidenschaftlich immer aufs Neue wiederholt wurden, aber von Anfang bis Ende hatten sie kein Wort darüber verloren, um was für einein Vorhaben es sich handelte.

Als das knirschende Geräusch der Wagenräder an einer Straßenbiegung plötzlich verstummte, blickten die Schwestern einander ins Gesicht; beide empfanden und verrieten – jede auf ihre eigene Weise – das trübsinnige Gefühl, zum ersten Mal ganz offenkundig aus dem Vertrauen ihrer Eltern ausgeschlossen zu sein. Norahs übliche Zurückhaltung verstärkte sich und wurde zu einem mürrischen Schweigen – sie setzte sich auf einen der Stühle in der Halle und blickte mit gerunzelter Stirn durch die offene Haustür. Magdalen brachte wie immer, wenn ihr Temperament in Wallung geriet, ihre Unzufriedenheit mit unverblümten Worten zum Ausdruck. „Mich kümmert es nicht, wer es weiß – ich finde, mit uns beiden ist schändlicher Schindluder getrieben worden!“ Nach diesen Worten folgte die junge Dame dem Beispiel ihrer Schwester, setzte sich auf einen Stuhl in der Halle und blickte ziellos durch die offene Haustür nach draußen.

Fast im gleichen Augenblick trat Miss Garth aus dem Wohnzimmer in die Halle. Eine schnelle Beobachtung zeigte ihr, dass es notwendig war, sich aus praktischen Erwägungen einzumischen; und ihr stets verfügbarer gesunder Menschenverstand wies ihr sofort den Weg.

„Passt mal auf, ihr beiden, seid so nett und hört mir zu“, sagte Miss Garth. „Wenn wir es jetzt, wo wir allein sind, alle drei zusammen angenehm und glücklich haben wollen, müssen wir bei unseren üblichen Gewohnheiten bleiben und auf die übliche Weise weitermachen. Das ist, in kurzen Worten, der Stand der Dinge. Findet euch mit der Situation ab, wie die Franzosen sagen. Ich werde euch ein Beispiel geben. Ich habe gerade zur üblichen Zeit ein hervorragendes Abendessen bestellt. Als nächstes nehme ich den Medizinkasten und werde das Küchenmädchen behandeln – ein ungesundes Mädchen, das die Magenschmerzen im Gesicht trägt. In der Zwischenzeit wirst du, Norah, mein Liebes, deine Handarbeit und deine Bücher wie üblich in der Bibliothek finden. Magdalen, wie wäre es, wenn du keine Knoten mehr in dein Taschentuch machst, sondern deine Finger stattdessen über die Tasten des Klaviers bewegst? Wir essen um ein Uhr zu Mittag, und anschließend gehen wir mit den Hunden nach draußen. Seid beide genauso munter und fröhlich wie ich. Kommt, steht sofort auf. Wenn ich noch einmal diese düsteren Gesichter sehe, werde ich eurer Mutter eine schriftliche Warnung zukommen lassen und um zwölf Uhr vierzig mit dem Güter- und Personenzug zu meinen Freunden fahren, so wahr ich Garth heiße.“

Nachdem Miss Garth ihre Gardinenpredigt mit diesen Worten beendet hatte, brachte sie Norah zur Tür der Bibliothek, schob Magdalen in das Wohnzimmer und begab sich dann entschlossen in die Regionen des Medizinschrankes.

Mit ihrem halb scherzenden, halb ernsten Betragen übte sie gewöhnlich eine Art freundliche Autorität über Mr. Vanstones Töchter aus, nachdem ihre eigentliche Funktion als Gouvernante zwangsläufig ihr Ende gefunden hatte. Norah, das braucht nicht erwähnt zu werden, war schon lange nicht mehr ihre Schülerin; und auch Magdalen hatte mittlerweile ihre Ausbildung abgeschlossen. Aber Miss Garth hatte zu lange und zu vertrauensvoll unter Mr. Vanstones Dach gewohnt, als dass man sich aus rein formalen Überlegungen von ihr getrennt hätte; die erste Anspielung auf einen Weggang, die fallen zu lassen sie für ihre Pflicht gehalten hatte, war mit einem so warmherzigen Protest zurückgewiesen worden, dass sie – außer im Scherz – nie mehr darauf zurückgekommen war. Von da an lag die gesamte Haushaltsführung in ihren Händen; und zusätzlich zu diesen Pflichten stand es ihr frei, Norah bei ihrer Lektüre jede ihr zur Verfügung stehende gesellige Hilfestellung zu leisten und Magdalens Musik mit jeder freundlichen Aufsicht, welche sie noch ausüben konnte, zu begleiten. Das waren die Umstände, unter denen Miss Garth nun in Mr. Vanstones Familie wohnhaft war.

Gegen Nachmittag wurde das Wetter besser. Um halb zwei strahlte die Sonne; begleitet von den Hunden, verließen die Damen das Haus und machten sich auf ihren Spaziergang.

Sie überquerten den Bach und stiegen den kleinen, steinigen Weg zu den dahinterliegenden Hügeln hinauf; dann bogen sie nach links ab und kehrten über eine Querstraße, die durch das Dorf Combe-Raven führte, wieder zurück.

Als sie in Sichtweite der ersten Hütten waren, kamen sie an einem Mann vorüber, der sich auf der Straße herumtrieb und aufmerksam zuerst Magdalen, dann Norah ansah. Sie bemerkten nur, dass er klein war, dass er schwarz gekleidet war und dass er ihnen völlig fremd war – und setzten ihren Heimweg fort, ohne weiter an den herumlungernden Fußgänger zu denken, den sie unterwegs getroffen hatten.

Nachdem sie das Dorf hinter sich hatten und sich auf der Straße befanden, die geradewegs zum Haus führte, verkündete Magdalen zur Überraschung von Miss Garth, der Fremde in Schwarz habe sich umgedreht, nachdem sie an ihm vorübergegangen seien, und komme jetzt hinter ihnen her. „Er geht auf Norahs Straßenseite“, sagte sie spitzbübisch. „Ich bin nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit – geben Sie mir keine Schuld.“

Ob der Mann ihnen wirklich folgte oder nicht, spielte kaum noch eine Rolle – sie waren jetzt fast beim Haus. Als sie durch das Tor am Pförtnerhaus traten, blickte Miss Garth sich um; sie sah, dass der Fremde seinen Schritt beschleunigte und offensichtlich die Absicht hatte, ein Gespräch anzufangen. Als sie das sah, schickte sie die jungen Damen sofort mit den Hunden weiter zum Haus, während sie selbst am Tor der weiteren Ereignisse harrte.

Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, dieses diskrete Arrangement fertig zu stellen, da hatte der Fremde auch schon das Pförtnerhaus erreicht. Als Miss Garth sich umwandte, nahm er höflich den Hut ab. Wie sah er aus, so von Angesicht zu Angesicht? Er wirkte wie ein Geistlicher, der in Schwierigkeiten steckte.

Will man sein Porträt von Kopf bis Fuß zeichnen, so beginnt das Bild mit einem hohen Hut, welcher von einem breiten Trauerband aus zerknittertem Krepp umringt war. Unter dem Hut folgte ein schmales, langes, bleiches Gesicht, übersät von tiefen Pockennarben und bemerkenswerterweise gekennzeichnet durch Augen in zwei verschiedenen Farben – das eine gallegrün, das andere gallebraun, und beide von scharfer Intelligenz. Sein eisengraues Haar war an den Schläfen sorgfältig rund gebürstet. Wangen und Kinn zeigten das bläuliche Blühen einer glatten Rasur; die Nase war kurz und römisch, die Lippen lang, dünn und geschmeidig und an den Mundwinkeln zu einem sanft-humorvollen Lächeln aufwärts gebogen. Die weiße Krawatte war hoch, steif und schäbig; der Kragen ragte noch höher, steifer und schäbiger mit seinen starren Spitzen beiderseits über das Kinn hinaus. Weiter abwärts war die schlanke kleine Gestalt des Mannes ausschließlich in nüchtern-schäbiges Schwarz gekleidet. Sein Gehrock war um die Taille eng geknöpft und konnte sich an der Brust offen und majestätisch wölben. Seine Hände steckten in schwarzen Baumwollhandschuhen, die an den Fingern sorgfältig ausgebessert waren; der Regenschirm war an der Stockzwinge bis auf den letzten Viertelzoll abgestoßen, aber dennoch sorgfältig in einem Futteral aus Öltuch verwahrt. Die Ansicht von vorn war jene, in der er am ältesten aussah; stand man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber, konnte man ihn auf fünfzig Jahre oder mehr schätzen. Ging man hinter ihm, wirkten sein Rücken und die Schultern fast so jung, dass er für fünfunddreißig hätte durchgehen können. Sein Benehmen war durch eine ernste Gelassenheit gekennzeichnet. Wenn er die Lippen öffnete, sprach er mit volltönender Bassstimme, in leicht dahinfließender Sprache und unter strenger Beachtung der Ansprüche von Wörtern mit mehr als einer Silbe an den richtigen Vortrag. Von seinen sanft gebogenen Lippen träufelte Überzeugungskraft; und so schäbig er auch aussah, die beständigen Blumen der Höflichkeit erblühten an ihm von Kopf bis Fuß.

„Ich nehme an, dies ist der Wohnort von Mr. Vanstone?“, fing er an, wobei er eine schwungvolle Handbewegung in Richtung des Hauses vollführte. „Habe ich die Ehre, mit einem Mitglied der Familie von Mr. Vanstone zu sprechen?“

„Ja“, antwortete die geradlinige Miss Garth. „Sie sprechen mit der Gouvernante des Hauses Vanstone.“

Der überzeugungskräftige Mann wich einen Schritt zurück, bewunderte die Gouvernante des Hauses Vanstone, trat wieder einen Schritt vor und nahm die Unterhaltung erneut auf.

„Und die beiden jungen Damen“, fuhr er fort, „die beiden jungen Damen, die mit Ihnen spazieren gegangen sind, das sind doch gewiss Mr. Vanstones Töchter? Die dunklere und – so nehme ich an – ältere der beiden habe ich an der Ähnlichkeit zu ihrer gut aussehenden Mutter erkannt. Und die jüngere Dame…“

„Sie sind mit Mrs. Vanstone bekannt, nehme ich an?“, sagte Miss Garth, womit sie den Redefluss des Fremden unterbrach, der angesichts der Umstände nach ihrer Ansicht recht frei dahinzuströmen begann. Der Fremde nahm die Unterbrechung mit einer seiner höflichen Verbeugungen zur Kenntnis und überschüttete Miss Garth mit seinem nächsten Satz, als sei nichts geschehen.

„Die jüngere Dame, so vermute ich“, fuhr er fort, „kommt auf ihren Vater? Ich versichere Ihnen, ihr Gesicht ist mir aufgefallen. Als ich es mit meinem freundschaftlichen Interesse an der Familie ansah, kam es mir sehr bemerkenswert vor. Ich habe zu mir selbst gesagt: liebenswürdig, charakteristisch, denkwürdig. Nicht wie ihre Schwester, nicht wie ihre Mutter. Sie ist ohne Zweifel das Abbild ihres Vaters?“

Noch einmal unternahm Miss Garth einen Versuch, sich dem Strom seiner Worte entgegenzustemmen. Es war klar, dass er Mr. Vanstone nicht einmal vom Sehen kannte – sonst hätte er nicht den Fehler begehen können anzunehmen, dass Magdalen auf ihren Vater kam. Kannte er Mrs. Vanstone besser? In diesem Punkt hatte er Miss Garth’ Frage unbeantwortet gelassen. Um alles in der Welt, wer war er? Frechheit siegt! Was wollte er?

„Sie mögen ein Freund der Familie sein, aber ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern“, sagte Miss Garth. „Was ist Ihr Anliegen, wenn ich fragen darf? Sind Sie gekommen, um Mrs. Vanstone einen Besuch abzustatten?“

„Ich hatte mich auf das Vergnügen gefreut, mich mit Mrs. Vanstone zu unterhalten“, erwiderte der unwiderstehlich ausweichende und unwiderstehlich höfliche Mann. „Wie geht es ihr?“

„Ganz wie gewöhnlich“ sagte Miss Garth, wobei sie spürte, wie die Reserven ihrer Höflichkeit schnell zur Neige gingen.

„Ist sie zu Hause?“

„Nein.“

„Ist sie lange fort?“

„Sie ist mit Mr. Vanstone nach London gefahren.“

Das lange Gesicht des Mannes wurde plötzlich noch länger. Sein gallebraunes Auge blickte verdutzt drein, und das gallegrüne Auge folgte dem Beispiel. Sein Betragen wurde spürbar ängstlicher, und seine Worte wählte er noch sorgfältiger als zuvor.

„Wird sich Mrs. Vanstones Abwesenheit über einen längeren Zeitraum erstrecken?“, erkundigte er sich.

„Sie wird sich über drei Wochen erstrecken“, antwortete Mrs. Garth. „Ich glaube, Sie haben jetzt genug Fragen gestellt“, fuhr sie fort, wobei sie zuließ, dass die Gereiztheit immer mehr Besitz von ihr ergriff. „Wenn es Ihnen beliebt, seien Sie doch so freundlich, Ihre Anliegen und Ihren Namen zu nennen. Wenn Sie Mrs. Vanstone eine Nachricht zu hinterlassen wünschen, werde ich ihr noch heute mit der Abendpost schreiben und mich darum kümmern.“

„Tausend Dank! Ein höchst wertvoller Vorschlag. Gestatten Sie mir, sofort Gebrauch davon zu machen.“

Der Mann ließ sich durch Mrs. Garth’ strenge Blicke und Worte nicht im Mindesten beirren – er war durch ihren Vorschlag einfach erleichtert und zeigte es mit höchst gewinnender Aufrichtigkeit. Dieses Mal ergriff sein gallegrünes Auge die Initiative und wurde für das gallebraune Auge zu einem Vorbild der wiedergewonnenen Gelassenheit. Seine gekräuselten Lippen vollführten eine neue Biegung nach oben; er klemmte seinen Regenschirm forsch unter den Arm und brachte aus der Innentasche seines Mantels ein großes, altmodisches schwarzes Notizbuch zum Vorschein. Diesem entnahm er einen Bleistift und eine Karte. Er zögerte und dachte einen kurzen Moment nach, schrieb schnell etwas auf die Karte und legte sie mit der höflichsten Eilfertigkeit Miss Garth in die Hand.

„Ich werde mich Ihnen persönlich verpflichtet fühlen, wenn Sie mir die Ehre erweisen, diese Karte Ihrem Brief beizufügen“, sagte er. „Es besteht keine Notwendigkeit, Ihnen zusätzlich Mühe mit einer Nachricht zu machen. Mein Name wird völlig ausreichen, um Mrs. Vanstone eine kleine Familienangelegenheit ins Gedächtnis zu rufen, die ihrer Erinnerung zweifellos entfallen ist. Bitte nehmen Sie meinen besten Dank entgegen. Dies war für mich ein Tag der angenehmen Überraschungen. Ich habe das Land hierherum bemerkenswert hübsch vorgefunden; ich habe die beiden liebenswürdigen Töchter von Mrs. Vanstone gesehen; ich habe die Bekanntschaft einer ehrenwerten Lehrerin aus Mr. Vanstones Familie gemacht. Ich gratuliere mir selbst – ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihre kostbare Zeit beansprucht habe – ich versichere Sie noch einmal meiner Dankbarkeit – ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.“

Er lüftete den hohen Hut. Sein braunes Auge blinzelte, sein grünes Auge blinzelte, seine gekräuselten Lippen lächelten liebenswürdig. Im nächsten Augenblick machte er auf dem Absatz kehrt. Sein jugendlicher Rücken gereichte ihm zum größten Vorteil; die lebhaften kleinen Beine trugen ihn trippelnd in Richtung des Dorfes davon. Eins, zwei drei – und er erreichte die Straßenbiegung. Vier, fünf, sechs – und weg war er.

Miss Garth sah hinunter auf die Karte in ihrer Hand und hob den Blick wieder in blankem Erstaunen. Name und Adresse des geistlich aussehenden Fremden (beides mit Bleistift geschrieben) lauteten: Captain Wragge. Postamt, Bristol.

Kapitel 3

Als Miss Garth zum Haus zurückkehrte, unternahm sie keinen Versuch, ihre unvorteilhafte Meinung über den schwarz gekleideten Fremden zu verbergen. Sein Ziel bestand zweifellos darin, finanzielle Unterstützung von Mrs. Vanstone zu erlangen. Welcher Art sein Anspruch gegen sie sein mochte, war weniger leicht zu begreifen – es sei denn, es war der Anspruch eines armen Verwandten. Hatte Mrs. Vanstone jemals in Gegenwart ihrer Töchter den Namen von Captain Wragge erwähnt? Keine von beiden konnte sich erinnern, ihn schon einmal gehört zu haben. Hatte Mrs. Vanstone jemals einen armen Verwandten erwähnt, der von ihr abhängig war? Im Gegenteil: In den letzten Jahren hatte sie davon gesprochen, sie habe Zweifel, ob sie überhaupt Verwandte hätte, die noch am Leben seien. Und doch hatte Captain Wragge unverblümt erklärt, der Name auf der Karte werde Mrs. Vanstone „eine Familienangelegenheit“ ins Gedächtnis rufen. Was hatte das zu bedeuten? Eine Falschaussage auf Seiten des Fremden, die er ohne erkennbaren Grund gemacht hatte? Oder ein zweites Rätsel, das der rätselhaften Reise nach London auf dem Fuße folgte?

Aller Wahrscheinlichkeit nach bestand eine verborgene Verbindung zwischen der „Familienangelegenheit“, die Mr. und Mrs. Vanstone so plötzlich von zuhause abberufen hatte, und der „Familienangelegenheit“, die sich mit dem Namen von Captain Wragge verband. Alle Zweifel stürzten erneut unwiderstehlich auf Miss Garth’ Geist ein, als sie ihren Brief an Mrs. Vanstone, dem sie die Karte des Captain beigefügt hatte, versiegelte.

Mit der nächsten Post traf die Antwort ein.

Als der Brief gebracht wurde, war Miss Garth, die sich von den Damen des Hauses morgens stets als erste erhob, allein im Frühstückszimmer. Ein erster Blick auf den Inhalt überzeugte sie von der Notwendigkeit, das Schreiben sorgfältig und in Ruhe durchzulesen, bevor man ihr peinliche Fragen stellen konnte. Nachdem sie dem Diener eine Nachricht hinterlassen und Norah darin gebeten hatte, heute Morgen den Tee zu machen, begab sie sich umgehend nach oben in die Abgeschiedenheit und Geborgenheit ihres Zimmers.

Mrs. Vanstones Brief zog sich über eine beträchtliche Länge hin. Der erste Teil handelte von Captain Wragge und gab rückhaltlos alle notwendigen Erklärungen über den Mann selbst und das Motiv, das ihn nach Combe-Raven geführt hatte.

Aus Mrs. Vanstones Ausführungen ging hervor, dass ihre Mutter zweimal verheiratet gewesen war. Der erste Ehemann war ein gewisser Doktor Wragge gewesen – ein Witwer mit kleinen Kindern; eines dieser Kinder war heute der so gar nicht militärisch aussehende Captain, dessen Adresse „Postamt Bristol“ lautete. Mrs. Wragge hatte mit ihrem ersten Mann keine Familie hinterlassen, und später hatte sie den Vater von Mrs. Vanstone geheiratet. Der einzige Spross dieser zweiten Ehe war Mrs. Vanstone selbst. Sie hatte beide Eltern verloren, als sie noch eine junge Frau war, und im Laufe der Jahre waren ihr die Angehörigen ihrer Mutter (die nun ihre nächsten lebenden Verwandten waren) einer nach dem anderen durch den Tod genommen worden. Jetzt, da sie diesen Brief schrieb, war sie auf der ganzen Welt ohne lebende Verwandte – vielleicht mit Ausnahme gewisser Cousins, die sie nie gesehen hatte und über deren Existenz sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine sichere Kenntnis besaß.

Welchen familiären Anspruch hatte Captain Wragge unter diesen Umständen gegenüber Mrs. Vanstone?

Nicht den geringsten. Als Sohn des ersten Ehemannes ihrer Mutter und der ersten Frau dieses Ehemannes hätte man ihn beim besten Willen nicht in die Liste der weitläufigen Verwandten von Mrs. Vanstone aufnehmen können. Obwohl er das genau wusste (so fuhr der Brief fort), hatte er sich ihr hartnäckig als eine Art Familienangehöriger aufgedrängt; in ihrer Schwäche hatte sie die Aufdringlichkeit geduldet, und zwar allein auf Grund der Drohung, er werde sich sonst bei Mr. Vanstone zur Kenntnis bringen und schamlos Vorteil aus dessen Großzügigkeit ziehen. Natürlich war sie vor dem Gedanken zurückgeschreckt, ihr Mann könne von einer Person, die eine – wenn auch absurde – Behauptung über eine familiäre Verbindung zu ihr aufstellte, belästigt und womöglich auch betrogen werden. Deshalb unterstützte sie den Captain schon seit vielen Jahren aus ihrer eigenen Schatulle, allerdings unter der Bedingung, dass er nie in die Nähe des Hauses kam und sich nie erdreistete, eine wie auch immer geartete Forderung an Mr. Vanstone zu stellen.

Mrs. Vanstone räumte bereitwillig ein, ihre Handlungsweise sei unklug gewesen, und erläuterte dann, sie habe vielleicht auch deshalb zu einem solchen Vorgehen geneigt, weil sie es in ihren jungen Jahren immer gewohnt gewesen sei, den Captain einmal bei diesem und einmal bei jenem Mitglied der Familie ihrer Mutter wohnen zu sehen. Obwohl er Fähigkeiten sein eigen nannte, mit denen er es in nahezu jeder von ihm gewählten Berufslaufbahn zu Ansehen gebracht hätte, war er dennoch von früher Jugend an für alle seine Angehörigen eine Schande gewesen. Man hatte ihn aus dem Milizregimnent entlassen, in dem er früher einen Rang bekleidet hatte. Er hatte es mit einem Beruf nach dem anderen versucht und war unglaublicherweise in allen gescheitert. Er hatte sich im niedersten und gemeinsten Sinn des Wortes durchgeschlagen. Er hatte eine arme, unwissende Frau geheiratet, die als Kellnerin in einem einfachen Gasthaus gearbeitet hatte und unerwartet zu ein wenig Geld gekommen war. Das kleine Erbe hatte er erbarmungslos bis auf den letzten Farthing durchgebracht. Einfach gesagt, war er ein unverbesserlicher Spitzbube; und jetzt hatte er zu der langen Liste seiner Vergehen ein weiteres hinzugefügt, indem er dreist die Bedingungen missachtete, die Mrs. Vanstone ihm bisher auferlegt hatte. Sie hatte sofort an die auf der Karte angegebene Adresse geschrieben, und das mit solchen Worten und Absichten, dass er, so hoffte und glaubte sie, sich nie wieder in die Nähe des Hauses wagen würde. Mit diesen Worten schloss der erste Teil des Briefes, in dem Mrs. Vanstone sich ausschließlich mit Captain Wragge beschäftigt hatte.

Die so wiedergegebene Aussage ließ auf eine Schwäche in Mrs. Vanstones Charakter schließen, die Miss Garth auch nach vielen Jahren des vertrauten Umganges nie bemerkt hatte. Dennoch nahm sie die Erklärung wie selbstverständlich hin; sie zur Kenntnis zu nehmen, fiel ihr umso leichter, als man ihren Inhalt ohne Unschicklichkeit mitteilen konnte, um damit die verwirrte Neugier der beiden jungen Damen zu mildern. Insbesondere aus diesem Grund studierte sie den ersten Teil des Briefes mit einem angenehmen Gefühl der Erleichterung. Ein ganz anderer Eindruck drängte sich ihr aber auf, als sie zur zweiten Hälfte überging und als sie den Brief schließlich bis zu Ende gelesen hatte.

Der zweite Teil des Briefes war dem Grund für die Reise nach London gewidmet.

Als erstes sprach Mrs. Vanstone die lange, enge Freundschaft zwischen Miss Garth und ihr selbst an. Angesichts dieser Freundschaft hielt sie es jetzt für angebracht, der Gouvernante im Vertrauen mitzuteilen, aus welchem Motiv sie und ihr Gatte abgereist waren. Miss Garth hatte feinfühlig darauf verzichtet, es zu zeigen, aber natürlich hatte sie es als höchst überraschend empfunden, dass um die Abreise ein solches Geheimnis gemacht worden war, und sie empfand es auch jetzt noch so. Und zweifellos hatte sie sich gefragt, warum Mrs. Vanstone (in ihrer unabhängigen Position, was Verwandte anging) mit Familienangelegenheiten in Verbindung gebracht wurde, die doch sicher ausschließlich Mr. Vanstone etwas angingen.

Ohne diese Angelegenheiten zu berühren, was weder wünschenswert noch notwendig war, schrieb Mrs. Vanstone als Nächstes, sie werde Miss Garth’ Zweifel, soweit sie mit ihr selbst zusammenhingen, mit einer einfachen Bemerkung sofort ausräumen. Sie habe ihren Mann in der Absicht nach London begleitet, dort einen berühmten Arzt aufzusuchen und ihn in einer sehr heiklen, Besorgnis erregenden Frage im Zusammenhang mit ihrer Gesundheit zu konsultieren. Noch einfacher gesagt, betraf diese Besorgnis erregende Frage nichts anderes als die Möglichkeit, dass sie noch einmal Mutter werden könnte.

Als die erste Ahnung aufgetaucht war, hatte sie es als bloße Täuschung abgetan. Der lange Zeitraum, der seit der Geburt ihres letzten Kindes verstrichen war; die schwere Krankheit, an der sie gelitten hatte, nachdem dieses Kind als Säugling gestorben war; das Lebensalter, das sie mittlerweile erreicht hatte – all das bestärkte sie darin, den Gedanken abzutun, sobald er sich in ihrem Kopf erhob. Aber trotz allem war er immer wieder zurückgekehrt. Sie hatte das Bedürfnis empfunden, die höchste medizinische Autorität zu konsultieren, und gleichzeitig war sie davor zurückgeschreckt, ihre Töchter dadurch zu beunruhigen, dass sie einen Londoner Arzt in ihr Haus kommen ließ. Die medizinische Meinung, um die sie sich unter den erwähnten Umständen bemüht hatte, war nun eingeholt. Ihre Vermutungen waren mit Sicherheit bestätigt worden, und das Ergebnis, mit dem gegen Ende des Sommers zu rechnen war, gab angesichts ihres Alters und der Besonderheiten ihrer Konstitution den Anlass zu schwer wiegenden Ängsten für die Zukunft, um es gelinde auszudrücken. Der Arzt hatte sich alle Mühe gegeben, sie zu ermutigen; aber sie hatte den Unterton in seinen Fragen deutlicher verstanden, als er annahm, und sie wusste, dass er mit mehr als nur den üblichen Zweifeln in die Zukunft blickte.