Die Frauen vom Karlsplatz: Maria - Anne Stern - E-Book

Die Frauen vom Karlsplatz: Maria E-Book

Anne Stern

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Beschreibung

Die Rückkehr zum Karlsplatz Lichterfelde, 1968: Zum ersten Mal in ihrem Leben reist die junge Tänzerin Maria nach Deutschland, in die Heimat ihrer Mutter Vera. Hier an der Deutschen Oper in Berlin hat sie ihr erstes Solo-Engagement als Ballerina erhalten. Sie taucht ein in die spannende Musikszene der Stadt - und sie macht sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Herkunft. Wer wohnt heute in der Villa am Karlsplatz, die ihre Mutter 1945 überstürzt verließ? Was hat ihr Vater, der jüdische Künstler David, hier während der Naziherrschaft erlebt und erlitten? Die schwierige Beziehung ihrer Eltern gibt Maria Rätsel auf. Auch sie selbst gerät in Tuchfühlung mit der Liebe. Der Choreograph Alfred, der sie umwirbt, scheint der Richtige zu sein. Weshalb nur lässt Maria dann der Gedanke an ihren jungen Tanzpartner Juri nicht los, mit dem sie doch nur eine Freundschaft verbindet? Ein bewegendes Frauenschicksal um eine junge Berliner Tänzerin – Band 4 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern, der ursprünglich unter dem Titel "Weihnachten am Karlsplatz. Maria" erschienen ist.

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Seitenzahl: 310

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Anne Stern

Die Frauen vom Karlsplatz: Maria

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die Rückkehr zum Karlsplatz

 

Lichterfelde, 1968: Zum ersten Mal in ihrem Leben reist die junge Tänzerin Maria nach Deutschland, in die Heimat ihrer Mutter Vera. Hier an der Deutschen Oper in Berlin hat sie ihr erstes Solo-Engagement als Ballerina erhalten. Sie taucht ein in die spannende Musikszene der Stadt - und sie macht sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Herkunft. Wer wohnt heute in der Villa am Karlsplatz, die ihre Mutter 1945 überstürzt verließ? Was hat ihr Vater, der jüdische Künstler David, hier während der Naziherrschaft erlebt und erlitten? Die schwierige Beziehung ihrer Eltern gibt Maria Rätsel auf. Auch sie selbst gerät in Tuchfühlung mit der Liebe. Der Choreograph Alfred, der sie umwirbt, scheint der Richtige zu sein. Weshalb nur lässt Maria dann der Gedanke an ihren jungen Tanzpartner Juri nicht los, mit dem sie doch nur eine Freundschaft verbindet?

Ein bewegendes Frauenschicksal um eine junge Berliner Tänzerin – Band 4 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

 

Die Presse über «Fräulein Gold»:

 

«Tolle Frau plus Krimi plus Zeitgeist der Zwanziger – das ergibt einen spannenden Mix. Wer Volker Kutscher und ‹Babylon Berlin› liebt, mag diesen Roman ganz sicher auch.» Freundin

 

«Fesselnd und mit viel politischem Hintergrund und Berliner Lokalkolorit.» Saarländischer Rundfunk

 

«Atmosphärisch dichter Krimi mit selbstbewusster Hauptfigur. Starker Auftakt der Saga.» Hörzu

 

«Spannende Unterhaltung und bestens recherchierte historische Atmosphäre. Sehr lesenswert.» Ruhr Nachrichten

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik promovierte sie in deutscher Literaturwissenschaft und arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. In einer überarbeiteten Neuauflage erscheinen nun die vier Bände ihrer erfolgreichen Karlsplatzreihe, die das Schicksal von vier Generationen einer Berliner Familie erzählen.

Impressum

Das Buch erschien zunächst 2019 «Independently Published» unter dem Titel «Weihnachten am Karlsplatz. Maria».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2019 by Anne Stern

Redaktion der überarbeiteten Fassung: Katharina Rottenbacher

Redaktion: Ursula Hahnenberg

Karte Peter Palm, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt,

nach einem Entwurf von Mediabureau Di Stefano

Coverabbildung Dasha Pears/Trevillion Images; iStock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00778-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

«Es war ganz finster geworden. Fritz und Marie, fest aneinandergerückt, wagten kein Wort mehr zu reden, es war ihnen, als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen.»

E. T. A. Hoffmann: Nussknacker und Mausekönig, 1816

Prolog

Berlin, Lichterfelde, Dezember 1948

Wilhelm ließ das Papier sinken, auf das er seit einer Weile gestarrt hatte. Die Bleistiftstriche verschwammen vor seinen Augen. Er sank auf die Liege hinter ihm. Eine dicht gewebte Wolldecke lag säuberlich gefaltet darauf, er tastete mit den Fingern nach dem weichen Stoff. Alles schien wie immer im Turmzimmer, von dem aus man einen schönen Blick auf den Karlsplatz hatte. Es roch auch wie früher, nach Leder, Staub und Kräuterzucker. Wie damals als Junge, wenn er hier heraufgekommen war, um Großmamabeim Nähen zuzusehen. Später mit Vera, als sie sich kurz vor der Hochzeit heraufgeschlichen hatten, sich kichernd liebten auf der quietschenden Liege, während sie sich die Hände vor den Mund pressten, damit niemand sie hörte. In dem sicheren Wissen, dass es bald ihr Zuhause und sie Mann und Frau wären. Dass sie das Haus, das Wilhelms Familie gehörte, mit Kindern füllen würden, mit Lachen und Wärme und dem Duft von frisch gebackenem Kuchen und Glück.

Wilhelm schloss die Augen. Der Stumpf unterhalb des Knies schmerzte, er rieb stöhnend mit den Fingern über die Haut. Vor über drei Jahren hatte er das Bein verloren, doch immer noch träumte er, er ginge aufrecht und ohne Stock auf zwei Beinen umher. Immer noch juckte und schmerzte der abgetrennte Unterschenkel, doch nur im Hirn, in seiner verflixten Erinnerung, denn das Körperteil selbst lag in den Weiten der russischen Taiga, wo er abgestürzt war, damals kurz vor Kriegsende. Er hatte nur knapp überlebt, ein Fehler des Schicksals.

Sein Blick fiel durchs Fenster nach draußen. Winterlich lag der Garten da, die Zweige der Kastanie waren von einer glitzernden Eisschicht überzogen. Auf dem Straßenpflaster lag Schnee. Davon hatte er in Gefangenschaft genug gehabt, das Lager war versunken unter der weißen Last, die Felder ringsum eine einzige blendende Helle. Er wünschte, nie mehr Schnee sehen zu müssen für den Rest seines Lebens.

Wut stieg in ihm auf. Er sollte diesen Rest, diese Jahre an der Seite seiner Frau verbringen, die ihn pflegte, sich hingebungsvoll um ihn kümmerte, nachdem sie lange um seine Rückkehr gebangt hatte. Doch stattdessen hatte er nach seiner Entlassung aus dem Lager nur ein vorlautes Dienstmädchen und die uralte Käthe in der Villa vorgefunden. Seine Großmamawar nicht mehr ganz auf der Höhe, ihr Geist war verwirrt. Von versteckten Juden hatte sie gefaselt, von einem Kind, das geboren werden sollte, doch er hatte sich bisher keinen Reim darauf machen können. Als er wieder und wieder nach Vera gefragt hatte, hatten sich Käthes wasserblaue Augen auf ihn gerichtet wie Scheinwerfer.

«Weg», hatte sie gesagt. «Auf und davon, für immer.»

Und es schien, dass sie in diesem Punkt recht hatte. Im ganzen Haus gab es kein Zeichen mehr von Vera. Ihre Kleider waren fort, die Hälfte des Ehebetts, wo sie geschlafen hatte, war leer. Nur ihr Duft hing zart im Badezimmer, in dem immer ihr Parfüm in einem geschliffenen Flakon gestanden hatte, ein letzter Gruß.

Als er sich heute mithilfe des Stocks ins Turmzimmer geschleppt hatte, hatte er ein weiteres Zeichen von Veras früherer Anwesenheit in diesem Haus gefunden.

Es war eine Bleistiftzeichnung, von kundiger Hand gemalt, das erkannte er, obwohl ihn Kunst nie interessiert hatte. Auch, dass es so ein moderner Schmutzfink gewesen sein musste, der das Bild gezeichnet hatte, sah Wilhelm. Vor wenigen Jahren hätte man die seltsamen Formen, die durcheinanderwirbelnden Linien und Flächen als entartet bezeichnet. Das durfte man heute nicht mehr. Die Feiglinge, die nach Hitlers Niederlage die Politik im Land übernommen hatten, duldeten die Wahrheit nicht.

Das Bild zeigte eindeutig seine Frau. Doch Veras Gesichtsausdruck darauf kannte er nicht. Vielleicht hatte sie ihn auch einmal so angesehen, früher. Auf diesem Bild aber galten die leicht geöffneten Lippen, die leuchtenden Augen, die Mischung aus Schmerz und Hingabe offensichtlich dem Maler. Sie war nackt. Immer wieder fuhren Wilhelms Augen über ihre weichen Formen, den Schwung der breiten Hüften, ihre festen Brüste, und er schluckte. Jetzt begriff er, dass er sie verloren hatte. An einen anderen. Und der Hass, der ihn in den vergangenen Jahren so oft heimgesucht hatte, spülte heiß über ihn hinweg. Sie hatte ihn betrogen und war fortgegangen, ohne sich zu fragen, ob ihr Ehemann noch lebte. Er hatte seinen Glauben an den Krieg verloren, dort im Gefangenenlager, den Glauben an den Nationalsozialismus, selbst seinen Stolz. Doch niemals den Glauben daran, dass Vera ihm die Treue halten würde, wie sie es seit Kindheitstagen getan hatte.

Wilhelm schluchzte heiser auf und wollte das Bild zerreißen. Doch dann hielt er inne. Es war das Letzte, das er von Vera besaß. Wieder strich sein Blick über ihr trauriges Lächeln. Dann wanderten seine Augen in die rechte untere Ecke der Zeichnung, und er entzifferte mühsam die Signatur. D. Holländer. Der Name sagte ihm nichts. Doch er ätzte sich ihm ins Gedächtnis, und Wilhelm wusste, er würde fortan an diesen Mann denken, der ihm die Frau genommen hatte und alles, was für ihn nach all der Scham und dem Schmerz noch gut und heilig gewesen war.

Wilhelm ballte die Hände zu Fäusten und sah hinaus auf den Karlsplatz. Es hatte erneut zu schneien begonnen, und die weichen Flocken tanzten über die Zäune und Gärten von Lichterfelde.

1.

Über Deutschland, 29. November 1968

Die Welt, die Maria aus dem Flugzeugfenster betrachtete, war klein wie eine Puppenstube, eine Miniaturausgabe eines Landes, von dem sie schon viel gehört, aber nichts gesehen hatte. Ordentliche Felder, die Ränder wie mit dem Lineal gezogen. Kleine Häusergruppen mit roten Dächern. Bäume, weiße Punkte, die Schafe waren, und Straßen, die sich wie Schlangen durch das Grünbraun der Landschaft wanden.

Dieses Deutschland, dachte Maria, sah harmlos aus. Freundlich und geordnet. Nicht wie ein Land, in dem Menschen vor nur zwei Jahrzehnten unfassbares Leid erfahren hatten und in dem ihr Vater, den sie kaum kannte, vor Jahren verfolgt und beinahe getötet worden war.

«Möchten Sie etwas trinken?»

Die Stimme der Stewardess riss sie aus ihren Gedanken. Sie wandte den Blick von der fremden Landschaft und sah die Frau lächelnd an.

«Nein danke», sagte sie und hob dann die Partitur wieder auf, die ihr aus den Händen geglitten war. Die Stewardess nickte, ihre helmartige blonde Mähne wippte. Mit einem manikürten Finger deutete sie auf die Papiere auf Marias Schoß.

«Arbeit oder Vergnügen?», fragte sie. Der rosa Lippenstift war perfekt aufgetragen. Unwillkürlich leckte sich Maria die trockenen Lippen. Gegen diese Schönheit mit den hübschen Rundungen unter dem blauen Kostüm kam sie sich ungelenk und eckig vor.

«Arbeit», sagte sie und hielt der Frau den Titel auf dem vordersten Blatt hin, sodass diese ihn lesen konnte.

«Der Nussknacker», sagte die Stewardess und strahlte. «Oh, das kenne ich. Wird das nicht immer zu Weihnachten gespielt?»

Maria nickte und legte das Heft wieder hin. «Ich habe ein Engagement in Berlin, an der Oper», sagte sie und horchte den Worten nach. Ihr schien es, als spräche eine andere Person diesen Satz aus. Ihr Herz klopfte. Nach den vielen Jahren der Quälerei am Ballettinternat, den unzähligen Tanzstunden, war es endlich geschehen. Sie würde ein Solo tanzen, eine richtig große Rolle an einer bekannten Oper. In Berlin. Und noch dazu in einer Weihnachtsproduktion, was ein volles Haus und noch mehr Nervosität bedeutete. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sollte Premiere sein.

«Wie aufregend», sagte die Stewardess, als hätte sie Marias Gedanken gelesen. Sie wollte wohl noch etwas hinzufügen, doch ein Herr drei Reihen weiter vorn rief nach ihr und bedeutete ihr, dass sie sein Glas auffüllen solle. «Viel Erfolg», flüsterte sie und zwinkerte Maria zu, bevor sie sich mit wiegenden Schritten entfernte.

Die Frau hatte recht, dachte Maria, sie war aufgeregt. Sie war sogar schrecklich nervös, musste sie zugeben. Alles war in den vergangenen Wochen gleichzeitig geschehen. Der Abschluss an der Tanzakademie in Buenos Aires, bei dem sie die Prüfungen mit Bravour bestanden hatte, obwohl sie vorher einige Male überlegt hatte, alles hinzuschmeißen und sich irgendwo zu verkriechen, um nicht zu versagen. Das unerhörte Engagement, das ihre Ballettlehrerin ihr gleich darauf vermittelt hatte, ein Solo in der weihnachtlichen Inszenierung des weltberühmten Balletts von Tschaikowsky. Ihr dreiundzwanzigster Geburtstag, den Vera und Omi Henny, die streng genommen nicht ihre richtige Großmutter war, für sie ausgerichtet hatten, mit Gugelhupf und brennenden Kerzen wie immer, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatten ein letztes Mal beisammengesessen, wissend, dass es ein Abschied war, von ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die sie in Argentinien zurückließ. Maria hatte sie beide angefleht mitzukommen, Deutschland nach all den Jahren für ein paar Wochen zu besuchen, doch Vera hatte nur den Kopf geschüttelt und dieses ablehnende Gesicht gezeigt, das immer erschien, wenn es um die Stadt ging, die sie vor vielen Jahren verlassen hatte.

«Ich möchte die Vergangenheit ruhen lassen», hatte sie gesagt, die Lippen zusammengekniffen, und Maria hatte gewusst, dass kein weiteres Bitten half. Veras Sturheit war ihr allzu bekannt und wurde nur von ihrer eigenen übertroffen, auch wenn Maria dies nicht gern zugab. Immerhin hatte sie ihrer Mutter das Versprechen abgenommen, es sich zu überlegen, wenigstens für einige Tage zur Premiere im Dezember anzureisen.

Dann war ein Brief aus New York gekommen. Maria erkannte die steile Handschrift ihrer Halbschwester. Lia schrieb, dass David nach Jahren der Weigerung endlich einer Ausstellung in Berlin zugestimmt hatte. Eine Galerie bringe eine Werkschau heraus, alte Bilder von ihm seien wieder aufgetaucht, und er werde zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges nach Deutschland reisen. Du musst auch kommen, schrieb Lia, und Maria lächelte bei beim Gedanken an die stets etwas herrische ältere Schwester, sah sie vor sich, wie sie in der großen Wohnung in New York saß, an einem der riesigen Holztische in dem hellen Raum, und sie, Maria, nötigte, nach Berlin zu kommen. David würde sich freuen, schrieb Lia. Maria war sich nicht so sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Ihr Vater hatte bislang nicht viel Interesse an ihr gezeigt, sie hatte ihn nur ein paarmal im Leben gesehen. Und diese Begegnungen waren steif verlaufen, sie beide blieben im Umgang miteinander unbeholfen. Denn Maria, die nur mit einer Mutter und Großmutter aufgewachsen war, hatte keine Ahnung, was es bedeutete, einen Vater zu haben. Und David schien sich in ihrer Gegenwart nicht daran zu erinnern, wie man mit einer Tochter umging, obwohl ihm das mit der älteren Lia mühelos gelang.

Sie blieben sich fremd.

Doch nun, da sie ohnehin nach Berlin flog, würde sie auch Davids Ausstellung besuchen. Sie hatte Lia geschrieben, dass sie auf sie zählen könne und sie zur Eröffnung da sein werde. Und jetzt rauschte dort unter ihr die Landschaft des Landes vorbei, in dem sie die kommenden Monate verbringen würde und das sie gar nicht kannte. Wie würde es ihr in Berlin ergehen? Was würde sie dort sehen, erfahren? Ihr schien es, als zöge und zerrte sie etwas in diese Stadt, wie eine straffe Leine, und gleichzeitig sträubte sich etwas in ihr, dem Ziehen nachzugeben. Denn die wenigen Worte, die Vera über die Stadt ihrer Jugend verloren hatte, zeugten von Düsternis, Gefahr und Kälte. Berlin war ein dunkler Fleck auf einer Landkarte, von der Maria das Gefühl hatte, sie nicht entziffern zu können.

Als sie landeten, klammerte sie sich an die Armlehnen ihres Sitzes und starrte angestrengt nach draußen. Hinter dem runden Kabinenfenster tauchte die Landebahn auf, sie stürzten durch die Wolken auf sie zu. Die Sonne ließen sie hinter der dichten Wolkendecke zurück, hier unten war die Welt schwarz, weiß und grau. Das Abendlicht wirkte nicht einladend. Wie ein grauer Vorhang zog sich die Dämmerung über das Flughafengebäude. Leichter Nebel hing über dem Asphalt. Dann setzten die Räder auf, das Flugzeug raste über die Landebahn, und Maria schloss die Augen und wartete auf den Moment, da die Maschine anhalten würde. Sie hatte keine Angst vor dem Fliegen, aber ein mulmiges Gefühl blieb im Magen, solange sie sich in der Luft wusste. Erst als das Flugzeug zum Stehen kam, atmete sie auf. Ihre Augen glitten über das Gebäude, das dunkel und massig dalag, die großen Buchstaben. Tegel. Immerhin, dachte Maria, sprach sie Deutsch. Sie würde keine Probleme haben, sich zu verständigen. Es war ihre Sprache mit Mama, mit Omi. David dagegen hatte die Sprache der Nazis abgelegt, sprach mit Lia nur Englisch, und Maria hatte sich seltsam gefühlt, außen vor, denn im Internat in Buenos Aires sprach man Spanisch, beim Balletttraining Französisch und Russisch. Manchmal schwirrten diese ganzen Sprachen durch Marias Kopf, brausten wie ein Vogelschwarm über sie hinweg, und dann spürte sie diese Verlorenheit des Auswandererkindes, die sie niemals hatte abstreifen können, obwohl sie ihr ganzes Leben in Argentinien verbracht hatte. Spürte, wie sie sich an den Konturen auflöste, als gäbe es sie gar nicht wirklich.

«Fräulein?» Es war die Stimme der Stewardess. Maria fuhr auf, sie hatte selbstvergessen nach draußen gestarrt und nicht bemerkt, dass die meisten Fluggäste die Maschine bereits verlassen hatten.

«Brauchen Sie noch etwas?»

«Nein danke», sagte Maria, «ich war ganz in Gedanken.» Sie packte verlegen ihre Siebensachen in die Tasche, stand auf und schob sich an der blonden Frau vorbei Richtung Ausgang.

«Viel Erfolg», wünschte ihr die Stewardess und begann schon, liegen gebliebene Pappschachteln und leere Tassen einzusammeln. Maria murmelte ein Dankeschön und trat hinaus in die feuchte Abendluft.

Es war kühler, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Kälte biss sie wie ein kleines Tier in Arme und Gesicht. Fröstelnd hielt sich Maria den leichten – zu leichten – Baumwollmantel vor der Brust zusammen und schlang die Arme um den Leib, während sie die Treppe hinunterstieg und rasch mit den anderen Menschen Richtung Flughafengebäude lief. Die Fenster hinter den großen Glasscheiben waren erleuchtet und versprachen Wärme und Schutz. Doch als Maria ihren Koffer bekommen hatte und nach der Passkontrolle in die Empfangshalle trat, fühlte sie sich trotzdem verloren. Sie hatte ein Zimmer in einer Pension am Stadtrand gebucht und hoffte, dass sie einen Taxifahrer finden würde, der sie dort hinbrachte.

Plötzlich stutzte sie. Ein Fremder stand einige Meter entfernt und hielt ein Schild, auf dem ihr Name stand. Maria Baumgarten. Er hatte schwarze, leicht gewellte Haare und trug einen Anzug aus Bolognawolle. Sein Blick aus dunklen Augen glitt prüfend über die Menge und blieb an ihr hängen. Versuchsweise lächelte Maria ihn an, und als er ihr Lächeln erwiderte, bahnte sie sich einen Weg zu ihm.

«Guten Abend», sagte er.

Seine Stimme ähnelte der eines Schauspielers, war voll und trotzdem nicht aufdringlich. «Sie müssen Fräulein Baumgarten sein. Habe ich Sie also doch erwischt.»

«Erwischt?» Sie stellte den Koffer ab.

«Die Agentur sagte mir, Sie reisten allein an und würden nicht abgeholt. Das konnte ich nicht zulassen.»

Er nahm ihre Hand und drückte sie. Warm und fest, dachte Maria.

«Ich bin Alfred Rosen.»

«Der Choreograf der Oper?», fragte Maria verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet.

«Ja, genau der», sagte der Mann und lachte leise.

«Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Zeit haben, jede Ballerina vom Flughafen abzuholen.»

«Jede nicht», sagte er, und wieder klang in seiner Stimme das verhaltene Lachen, «aber die Zuckerfee schon.»

«Oh ja, vielen Dank noch einmal. Es ist wunderbar, dass ich diese Rolle bekommen habe», sagte Maria und lächelte. «Ich hoffe, ich kann Sie zufriedenstellen.» Plötzlich wusste sie nicht, wohin mit ihren Händen, und nestelte an ihrer Umhängetasche.

«Da bin ich mir ganz sicher», sagte Alfred Rosen und griff ungefragt nach ihrem Koffer. «Sie übertreffen meine kühnsten Erwartungen, selbst nach den Empfehlungen, die auf mich einhagelten, und den Fotografien und Videoaufnahmen von Ihnen aus Buenos Aires.»

Maria war sprachlos. Sie wusste, dass man das Können einer Ballerina erst beurteilen konnte, wenn man sie tanzen gesehen hatte, und nicht nach dem ersten Eindruck am Flughafen. Gerade wollte sie seinem Kompliment widersprechen, als er wieder lächelte, tiefer diesmal, sodass sich feine Fältchen in die Haut um seine Augen gruben. Es machte ihn noch attraktiver.

«Stehen Sie nicht da wie festgewachsen. Kommen Sie, mein Wagen parkt draußen.»

«Ich wollte eigentlich ein Taxi nehmen», sagte Maria, doch er hatte ihr schon den Rücken zugewandt und strebte, ihren Koffer in der Hand, dem Ausgang zu. An den wiegenden Schritten und den leicht auseinandergestellten Füßen erkannte sie den ehemaligen Tänzer. Alfred Rosen war eine Legende, er hatte große Erfolge an den Balletthäusern der Welt gefeiert. Soviel Maria wusste, stammte er aus einer jüdischen Familie, war von den Nazis verfolgt worden. Deswegen war die Ballettwelt überrascht gewesen, dass er nach dem Krieg ein Engagement als Hausregisseur an der Berliner Oper angenommen hatte, ausgerechnet in dem Land, das ihm und seiner Familie solches Leid angetan hatte.

Nachdenklich betrachtete Maria den schlanken Mann, wie er unbeirrt durch die kalte Novemberluft schritt, nein, schwebte, einen schwarzen Alfa Romeo aufschloss und ihren Koffer auf den Rücksitz schob. Er wirkte, als kennte er keine Angst, als wäre er hier zu Hause, und die Anspannung in ihrem Nacken, die sich dort seit Tagen wie ein Affe festgekrallt hatte, lockerte sich ein wenig.

Er fragte nach der Adresse und zog, als sie sie nannte, die Augenbrauen ein wenig nach oben, sagte jedoch nichts. Als sie neben ihm saß und er das Auto durch die dunklen Straßen Berlins lenkte, betrachtete sie die gelben Lampen und die bunten Leuchtreklamen draußen und dann ihre Knie, die nackt unter dem kurzen Faltenrock hervorsahen. Sie hatte eine Gänsehaut.

Alfred sah aus den Augenwinkeln zu ihr herüber.

«Sie müssen sich erst noch an das deutsche Klima gewöhnen. Und Sie brauchen wärmere Kleider. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – Wolle von Oktober bis März, damit machen Sie nichts falsch.»

Sie lachte, war schon wieder verlegen und ärgerte sich deswegen. In Buenos Aires war Sommer gewesen, als sie abreiste. «Sie müssen mich für eine dumme Gans halten», sagte sie, «dass ich ohne Strümpfe nach Berlin komme.»

«Ich mag viel von Ihnen denken, aber nicht, dass Sie eine dumme Gans sind», sagte er.

Wieder spürte sie seinen Blick von der Seite, er schien eine Spur länger auf ihr zu verweilen als zuvor. Doch schon sah er wieder durch die Scheibe nach vorn und lenkte den Wagen sicher und entspannt durch die Straßen. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Sie fuhren eine Allee entlang, die alten Bäume warfen dunkle Schatten. Dazwischen blinkten die Laternen und ließen ihr Licht auf dem nassen Asphalt tanzen. Maria hatte auf einmal Sehnsucht nach zu Hause. Diese Stadt schien ihr schroff und unnahbar. Wie eine mürrische Portiersfrau, die Fremde nicht willkommen hieß. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass es viel gab, worauf sie sich freute. Schon morgen würden die Proben an der Oper beginnen, und endlich einmal wäre sie nicht die Elevin, die Schülerin, sondern eine debütierende Ballerina. Eine ernst zu nehmende Künstlerin. Endlich würde sie sich beweisen können, dachte sie und spürte Aufregung und Stolz zugleich. Hoffentlich konnte sie den Choreografen überzeugen. Sie betrachtete ihn verstohlen. Seine Hände, die auf dem Lenkrad lagen, fiel ihr auf, waren schmal und zart, fast wie die einer Frau.

«So, da wären wir», sagte Alfred und hielt am Straßenrand. Während der Fahrt waren die Straßen immer ruhiger geworden, vorstädtischer. Maria sah durchs Fenster. Verschlossene Geschäfte mit dunklen Schaufenstern. Elegante Wohnhäuser, die ein oder andere Villa. Und ein Bahnhofsgebäude, das ebenfalls dunkel dalag, als schliefe es.

«Lichterfelde», sagte Alfred, der ihr die Autotür aufhielt, und ließ das Lachen hören, das Maria jetzt schon kannte. «Wie, um Himmels willen, sind Sie denn auf die Idee gekommen, hier in der Einöde ein Zimmer zu mieten, wenn wir doch in der Innenstadt derart elegante Hotels haben?»

«Meine Mutter stammt von hier», sagte Maria und stieg aus. Sie suchte mit dem Blick nach der Hausnummer, ihre Augen glitten die Fassaden der Häuser entlang. Alles wirkte dunkel und wenig einladend.

«Oh, wirklich?», fragte Alfred und wirkte überrascht. «Ich wusste nicht, dass Ihre Familie aus Berlin kommt.»

«Vera hat die Stadt vor meiner Geburt verlassen», sagte Maria. «Sie lebte in einer Villa, ich glaube, nicht weit von hier. Doch nach dem Krieg musste sie fort. Warum, hat sie mir nie wirklich erzählt.»

«Vielleicht haben Sie nicht richtig gefragt», sagte Alfred.

Maria zuckte die Schultern. Sie wusste nicht, ob er sie ärgern wollte oder es wirklich so meinte.

«Viele Menschen tragen Geheimnisse aus dem Krieg mit sich herum», fügte er hinzu, als sie schwieg, und sein Gesicht verdunkelte sich, Maria bemerkte es im Gaslicht der Laterne. «Sie werden sehen, dass die meisten hier eine Geschichte haben, über die sie nicht gern sprechen.»

«Eben», sagte sie, «aber ich dachte, wenn ich schon hier bin, kann ich doch einmal gucken, was ich von diesen alten Geschichten entdecke. Ich möchte ein Gefühl dafür bekommen, wie es war, hier aufzuwachsen. Wie die Menschen an diesem Ort gelebt haben, damals, meine Mutter und ihre Familie.»

«Sie sind sehr jung», sagte Alfred. «Man sieht es Ihnen gar nicht so sehr an, schon gar nicht auf den Szenenfotos mit all der Schminke, da wirken Sie wie eine Frau. Doch wenn man Sie reden hört, merkt man es. Sie haben nicht viel erlebt, kennen wenig Schmerz.»

Maria runzelte die Stirn. War das Geringschätzung, die er ihr entgegenbrachte? Doch bevor sie eine passende Antwort bereit hatte, lachte er wieder dieses Lachen, das alles, was er sagte, in Ironie hüllte. Man konnte ihm wohl schwer etwas übel nehmen, dachte Maria und wunderte sich, dass sie über einen Mann, den sie kaum eine Stunde kannte, so viel nachdachte. Dass sie sich heimlich fragte, was er eigentlich von ihr wollte. Wartete er auf etwas? Etwa darauf, mit hereinzukommen?

Alfred trat einen Schritt auf sie zu. Sie standen dicht voreinander, eine Winzigkeit zu nah. Doch seine Gegenwart war ihr nicht unangenehm, obwohl sie es nicht gewohnt war, mit fremden Männern nachts auf der Straße herumzustehen. Alfred flößte Vertrauen ein, er gab ihr das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.

«Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel, so bin ich eben», sagte er leise. «Sie sind eine außergewöhnliche junge Frau.» Er berührte sie sanft am Arm, nur eine Sekunde. «Andere junge Dinger würden es vorziehen, in einem Hotel am Kurfürstendamm abzusteigen, wo sie Champagner an der Bar trinken könnten. Doch Sie wohnen lieber hier draußen, wandeln auf den Spuren Ihrer Mutter und graben nach Familiengeheimnissen. Vielleicht sind Sie doch nicht so rührend naiv, haben mehr Tiefe, als ich dachte.»

Maria war verwirrt. Er schmeichelte ihr, und gleichzeitig zog er sie auf. Das kannte sie nicht von Männern. Natürlich waren ihre Erfahrungen begrenzt. Zwar hatte sie auch in Buenos Aires den ein oder anderen Blick auf sich gezogen. Mit ihrem honigfarbenen Haar, ihren großen Augen und der schlanken Figur einer Tänzerin fiel sie auf. Doch die Porteños, die Bewohner der argentinischen Stadt, waren ebenso wie die spanischen und italienischen Männer, die auf den quirligen Straßen Rotwein und Whisky tranken und Zigarren rauchten, nicht zimperlich gewesen. Ihr Werben um die vorübergehenden Mädchen hatte aus derben Worten und gellenden Pfiffen bestanden. Es war sehr angenehm, dachte Maria, sich mit einem kultivierten, älteren Mann zu unterhalten. Sie schlug die Augen nieder, damit Alfred ihre Verlegenheit nicht bemerkte.

Doch es wurde kälter, von den alten, knorrigen Bäumen tropfte immer stärker der Regen, und morgen musste sie pünktlich bei der Probe sein. Als sie das erwähnte, lachte Alfred wieder.

«Ich auch, wenn ich Sie erinnern darf», sagte er und sah sie verschmitzt an.

«Natürlich», rief Maria und schlug sich die Hand vor den Mund. «Bitte verzeihen Sie, ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass Sie mich persönlich durch die Stadt fahren.»

«Ich fürchte, dass Sie sich daran auch nicht gewöhnen dürfen, Fräulein Baumgarten», sagte Alfred. «Schließlich muss ich meine Gunst gerecht verteilen. Doch heute sind Sie nun einmal der Ehrengast, und ich hätte es mir niemals verziehen, wenn Sie an Ihrem ersten Abend in Berlin allein in der Kälte herumgeirrt wären.»

Er tippte sich an den Hut, der etwas schräg auf seinem Kopf saß, und stieg mit der Geschmeidigkeit eines Panthers in den Wagen. Marias Atem stand in einer weißen Wolke vor ihrem Mund. Sie winkte ihm zu, als er den Alfa Romeo geschickt vom Straßenrand manövrierte und wegfuhr, und spürte ein leises Bedauern, dass sie nun allein hier stand. Die Fenster der Pension waren dunkel, nur im Erdgeschoss brannte eine kleine Lampe hinter bestickten Gardinen.

Sie lief zur Tür und schellte. Drinnen erklang helles Gekläff. Nach einigem Rumoren öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein rundes Gesicht sah heraus, bekrönt von unzähligen wippenden Lockenwicklern.

«Da sindse ja», sagte die Frau, der das Gesicht gehörte, und öffnete die Tür etwas weiter. Sie trug einen Morgenmantel aus weißer Spitze, der an ein Zelt erinnerte.

«Imma rin, Fräulein, ick bin Helga Kuhvogel, ick führe die Pension hier.» Sie betrachtete Maria unverhohlen von Kopf bis Fuß. «Je später der Abend, desto schöner die Jäste, hab ick recht?»

«Wie bitte?», fragte Maria und trat ein. Sie starrte die Wirtin verwirrt an, die seltsame Mundart klang fremd.

«Zum ersten Mal in Berlin, wa?», stellte die Frau fest und schlug die Tür hinter Maria zu, dass die kleinen Scheiben darin klirrten. «Schuhe aus, wenn ich bitten darf.»

«Ich komme aus Argentinien», sagte Maria, streifte die durchweichten Schuhe ab und folgte der Wirtin ins Innere des Hauses. Ein dunkler Flur mit Holztäfelung und zwei Hirschgeweihen an den Wänden. Eine Küchentür und eine weitere Tür, die nach rechts abging. Die Frau öffnete diese und ging Maria voran in einen engen Raum, der vollgestopft war mit Porzellanfigürchen, bestickten Kissen und abgetretenen Teppichen. Es roch nach Mottenkugeln, nach Kampfer und nassem Hund, obwohl kein Hund zu sehen war. Ihre Mutter Vera hatte sich an die alte Pension von früher erinnert und die Reservierung für Maria gemacht. Es schien Maria auf einmal merkwürdig, dass in diesen Räumen hier schon vor ihrer Geburt Gäste gewohnt hatten, das Haus war wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen.

«Argentinien, so wat», sagte die Frau, «von janz weit weg also. Na, da sindse nicht die Einzige, die Stadt ist voller Ausländer.» Sie bedeutete Maria, dass sie sich auf einen verschlissenen Sessel setzen solle. Sie selbst ließ sich ächzend auf einem durchgesessenen Sofa nieder. Umständlich kramte sie in einem Papierstapel auf dem niedrigen Nierentisch vor ihr und fand ein Formular, das sie Maria hinhielt.

«Name, Geburtsdatum, Anschrift», sagte sie. «Dit is ’n ordentliches Haus, ein Landstreicher kommt mir hier nicht rein. Nun, wie eine Landstreicherin sehense mir ja nicht gerade aus, Fräuleinchen.»

Sie musterte Maria, die alle gewünschten Angaben mit einem zerkauten Bleistift auf die Linien schrieb.

«Aber so dünn, mein lieber Schwan», sagte Frau Kuhvogel und schnalzte missbilligend mit der Zunge, «habense denn in Argentinien ’ne Hungersnot?»

«Ich bin Tänzerin», sagte Maria, als erklärte das alles.

«Ach!», rief Frau Kuhvogel. «So eine wie im Theater des Westens? Wat hab ick jeheult bei My Fair Lady, seinerzeit.» Sie lächelte versonnen und trällerte mit rostiger Stimme: «Mit nem kleenen Stückchen Glück …»

Maria wusste nicht, von welchem Stück Frau Kuhvogel sprach. «Nein, ich bin keine Revuetänzerin. Klassisches Ballett», sagte sie und reichte das Anmeldeformular und den Stift zurück an die Wirtin. Die leise Enttäuschung in deren Gesicht entging ihr nicht.

«Na denn», sagte die Frau und las Marias Angaben auf dem Papier. «Schreibense hier noch den Namen Ihres Herrn Vaters hin?», sagte sie. «Ick habe jerne alle Informationen beisammen, auch wennse schon volljährig sind. Heutzutage darf ja jedes Kind allet alleene, aber ick weiß gern wat über meine Jäste.»

«Mein Vater ist unbekannt», sagte Maria und hielt dem Blick der Wirtin stand. David hatte sie nie offiziell als Tochter anerkannt, sie war immer nur Veras Kind gewesen. Ganz offiziell, dachte sie verwirrt, stand wohl in irgendeinem Geburtenregister der Name von Veras Ehemann, Wilhelm, als der ihres Vaters, doch den wollte sie nicht nennen. Er hatte nichts mit ihr zu tun.

«Denn sindse also nich verwandt mit den Baumgartens vom Karlsplatz?», fragte die Frau und kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, in Marias Zügen eine Familienähnlichkeit zu erkennen. Doch offenbar gelang es ihr nicht, denn sie schüttelte als Antwort auf ihre eigene Frage unschlüssig den Kopf. Maria atmete auf.

«Die kenne ich leider nicht», sagte sie einsilbig.

Glücklicherweise ließ Frau Kuhvogel es auf sich beruhen, begnügte sich lediglich mit einem leisen Schnauben und sagte dann: «Is jut, das war alles. Frühstück ist um sieben, ’n jekochtes Ei kostet zwanzig Pfennige extra. Und keen Herrenbesuch selbstverständlich.»

Ihre Augen glitten wieder über Maria, taxierten ihre Frisur und die schmale Taille, als schätzte sie das Risiko ab, dass sie sich über diese Regel hinwegsetzen würde.

«Keine Sorge, Frau Kuhvogel», sagte Maria schnell. «Ich werde den ganzen Tag an der Oper proben und abends hundemüde ins Bett fallen.»

«Dit sagense immer», sagte Frau Kuhvogel, «und denn loofense dem erstbesten Charmeur übern Weg. Sie werden schon sehen, von Hallodris haben wa hier in Berlin ’ne Schwemme, und denn vergessense sich, die dummen Gören.» Sie hob warnend den Zeigefinger, händigte aber Maria den Zimmerschlüssel aus, beschrieb ihr den Weg nach oben und schlurfte dann in die Küche, nicht ohne sie zu bitten, wegen der anderen Gäste leise zu sein. Maria nickte und schleppte ihren Koffer die Treppe hinauf, fand das Zimmer mit der richtigen Nummer und öffnete die Tür. Sie knarrte leise. Drinnen war es dunkel, und es roch nach Staub und einer Schäbigkeit, die gerade noch behaglich war. Seufzend knipste Maria das Licht an und schloss die Tür hinter sich. Ein schmales Bett mit geblümter Bettwäsche, eine Kommode, die aussah, als klemmte jede ihrer Schubladen, und ein Holzstuhl. Maria schlüpfte aus den Kleidern, löschte das Licht wieder und stieg ins Bett. Sie legte sich unter die dicke Steppdecke, die in einem Bettbezug mit Knöpfen steckte, etwas, das sie aus Buenos Aires nicht kannte, auch nicht aus dem Internat. Dort legte man in kühlen Nächten eine Wolldecke über das Laken, das als Zudecke diente.

Für einen Moment bekam sie schlecht Luft unter der schweren Decke, doch dann spürte sie, wie sich ihre Zehenspitzen erwärmten, wie ihr Atem darunter eine warme Höhle schuf, und sie schmiegte sich tiefer hinein und schloss erschöpft die Augen. Der Regen hatte wieder eingesetzt, ein sanftes Rauschen, wie ferner Applaus. Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, erfasste sie, als wäre sie ein kleines Mädchen, und Vera deckte sie vorm Schlafengehen zu. Seltsam, dachte sie noch, bevor sie einschlief, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Gefühl vermisst hatte.

2.

Berlin, 30. November 1968

«Dit isse», sagte der Taxifahrer und nickte zu einem riesigen Steinquader hinüber, der im Nieselregen entlang der breiten Bismarckstraße lag wie ein gestrandeter Wal. «Unsere Oper. Na ja, seitse die Mauer jebaut haben, kann man ja nicht mehr in die andere Oper Unter den Lindenjehn. Nu muss der Klops herhalten.»

Maria lachte. «Ein Klops? Das ist aber reichlich hart. Ich finde, das Haus ist sehr modern.»

«Sie sind nicht von hier, oder?», fragte der Fahrer und kratzte sich unter seiner speckigen Schirmmütze.

Maria fiel auf, dass Frau Kuhvogel gestern genau dasselbe gefragt hatte. Sie bekam den Stempel der Fremden hier schnell aufgedrückt. Offenbar verriet sie sich durch etwas, das ihr akzentfreies Deutsch nicht aufwog.

«Macht acht Mark fuffzig», sagte der Taxifahrer von vorn und nahm die Münzen entgegen. «Schönen Tach auch, Fräulein», sagte er und zog einen Kamm aus der Tasche, nahm die Mütze ab und kämmte sich die spärlichen Haare sorgfältig über die Glatze, während er sein Werk im Rückspiegel betrachtete.

«Danke», sagte Maria, stieg aus, schlug die Autotür zu und blinzelte ins graue Licht. Innerhalb einer Minute war sie schon wieder durchgefroren, weil die Feuchtigkeit durch die dünne Baumwolle ihres Kleides drang. Sie nahm sich fest vor, so bald wie möglich ein Kaufhaus zu suchen. Sie hatte zwar nicht viel Geld und bereute schon die Ausgabe für das Taxi, doch eine wollene Hose und ein Paar Strumpfhosen würde sie sich leisten, um nicht in dieser kalten Stadt zu erfrieren. Zur Not musste sie eben den Sparstrumpf aufschnüren.

Was hatte der Taxifahrer gesagt? Seit sie die Mauer gebaut haben. Maria hatte, seit sie gestern angekommen war, seltsamerweise gar nicht an die Mauer gedacht, die Berlin durchzog. Erst nach der Bemerkung des Fahrers fiel sie ihr wieder ein, und sie überlegte, was sie darüber wusste. Deutschland war geteilt, bestand aus einem sozialistischen Staat, der DDR, und Westdeutschland. Und Berlin war vor Jahren einfach mittendurch geschnitten worden. Maria wusste nicht mehr ganz genau, wann das gewesen war. Sie erinnerte sich nur noch an Veras fassungsloses Gesicht bei den Nachrichten, die Zeitung, die ihrer Mutter aus den Händen geglitten war und unter den Tisch segelte, als hätten die Schlagzeilen und die Bilder von Stacheldraht und verzweifelten Menschen, die aus Fenstern auf die andere Seite der Stadt sprangen, sie zu Fall gebracht. Maria selbst war damals eine Jugendliche gewesen, mit ersten Verliebtheiten und komplizierten Ballettsprüngen im Kopf, und was da in der Kindheitsstadt ihrer Mutter am anderen Ende der Welt passierte, hatte sie nicht sonderlich berührt. Viel aufwühlender und beängstigender waren die politischen Vorgänge, die in ihrem eigenen Land geschahen. Argentinien wurde, seit Maria denken konnte, von Putschversuchen gebeutelt, auf die Neuwahlen folgten, ständig war Ausnahmesituation, wurde das Parlament aufgelöst, regierten selbst ernannte Präsidenten wie Diktatoren. In den letzten Jahren hatte es schwere Unruhen gegeben, die Arbeiter und Gewerkschaften waren auf die Straßen gegangen und hatten gegen die Diktatur des Generals Juan Carlos Onganía protestiert. Das Militär zerschlug die Demonstrationen mit Gewalt, und Vera hatte immer wieder gesagt, dass sie nicht länger in diesem Land leben wolle. Es sei faschistisch und trete die Rechte des Einzelnen mit Füßen. Doch Omi Henny konnten sie keinen Ortswechsel mehr zumuten, die alte Dame war über siebzig. Und Vera hatte auch nicht gewusst, wohin. Nach Amerika? Außer David, der dort lebte, gab es keine Verbindung, es würde schwierig werden, ein Visum zu bekommen. Nach Deutschland?

«Dorthin kann ich nicht zurück», hatte Vera gesagt, obwohl sie noch einen deutschen Pass besaß. Es wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch Vera wollte nicht über Deutschland reden, und damit war die Diskussion im Keim erstickt worden.

Maria seufzte und sah gedankenverloren zu, wie das Taxi langsam anfuhr. Der Fahrer setzte den Blinker und machte Anstalten, sich in den fließenden Verkehr der Bismarckstraße einzureihen, als Maria siedend heiß einfiel, dass ihre Tasche mit ihren Ballettschuhen noch auf dem Rücksitz lag.

«Halt, warten Sie», schrie sie, doch der Fahrer schien sie nicht zu hören. «Meine Tasche», brüllte sie, so laut sie konnte, und lief hinterher. Ein junger Mann, der soeben die Straße überquerte und auf das Taxi zukam, hörte ihr Schreien und warf sich vor das Auto, trommelte auf die Kühlerhaube und brachte es zum Stehen.

Der Taxifahrer kurbelte das Fenster herunter und schimpfte: «Verdammter Spinner, willste, dass ich dich totfahre?»