Die Frauen von Helgoland. Windflüchterin - Thesche Wulff - E-Book

Die Frauen von Helgoland. Windflüchterin E-Book

Thesche Wulff

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Beschreibung

Die stürmische Schönheit Helgolands, die Schatten der Vergangenheit und eine Frau auf der Suche nach Antworten In ihrem ebenso bewegenden wie lebensklugen Familienroman »Die Frauen von Helgoland. Windflüchterin« erzählt Thesche Wulff von unausgesprochener Schuld, vererbtem Schmerz und der transformierenden Kraft von Wind und Meer. Für die 38-jährige Doro ist mit ihrem Job in einem Offshore-Windpark ein Traum in Erfüllung gegangen – bis sie während eines Sturms von einem Windrad evakuiert werden muss. Doro erleidet eine Panikattacke, die sie auch am nächsten Tag noch fest in ihren Klauen hält: Von Helgoland möchte sie eigentlich nur aufs Festland übersetzen, nach Hause zu ihrer Großmutter Elsie. Doch sobald sie sich der Uferkante nähert, wird sie von Schwindel und einem heftigen Zittern erfasst. Ist es das, wovor Elsie sie immer wieder gewarnt hatte? Aber woher rührt diese unerklärliche Angst? In ihrem Selbstverständnis erschüttert, beginnt die pragmatische Doro endlich all die Fragen zu stellen, die in ihrer Familie nie ausgesprochen werden durften. Vier Generationen von Frauen und eine tragische Familiengeschichte, die bis heute nachwirkt In Tagebucheinträgen von Elsies Mutter offenbart sich Doro das Schicksal ihrer Familie, die 1945 von Helgoland fliehen musste. Geheimnisse und Schweigen lenken seitdem die Geschicke der Frauen, bis Doro den Mut fasst, sich der Vergangenheit zu stellen. Doros Geschichte wird im 2. Band der »Nordsee-Dilogie« fortgesetzt: »Die Frauen von Helgoland. Sturmflüsterin«. Entdecken Sie auch »Schwestern wie Ebbe und Flut«, Thesche Wulffs Roman über eine schicksalhafte Schwesternbeziehung auf der Nordsee-Insel Amrum: »In kraftvollen Bildern erzählt Thesche Wulff vom Leben an der Küste und dem Wellengang des Schicksals. Eine packende Familiengeschichte – ganz große Leseempfehlung!« Bestseller-Autorin Gisa Pauly

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Thesche Wulff

Windflüchterin

Die Frauen von HelgolandRoman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Für die 38-jährige Doro ist mit ihrem Job in einem Offshore-Windpark ein Traum in Erfüllung gegangen – bis sie während eines Sturms von einem Windrad evakuiert werden muss. Doro erleidet eine Panikattacke, die auch am nächsten Tag noch nachwirkt: Von Helgoland möchte sie eigentlich nur aufs Festland übersetzen, nach Hause zu ihrer Großmutter Elsie. Doch sobald sie sich der Uferkante nähert, wird sie von Schwindel und einem heftigen Zittern erfasst. Ist es das, wovor Elsie sie immer wieder gewarnt hatte? Aber woher rührt diese unerklärliche Angst? In ihrem Selbstverständnis erschüttert, beginnt die pragmatische Doro endlich all die Fragen zu stellen, die in ihrer Familie nie ausgesprochen werden durften.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Herzlichen Dank

Prolog

WilliamsGeburtstag. Und plötzlich steht Vati vor der Tür. Mutti fliegt ihm um den Hals. Mir bleibt nur sein raues Hosenbein. Er beugt sich herunter. Natürlich zu William. Er hebt ihn hoch und wirbelt ihn durch die Luft. Und Vati lacht mit ihm. Dann setzt er ihn wieder ab. »Ist groß geworden, unser Junge«, sagt er zu Mutti. Sie nickt mit glänzenden Augen. Er legt den Arm um sie, und sie gehen ins Haus. Seit William da ist, ist Vati weg. Nur manchmal kommt ein Brief von ihm. Oder eine Karte, wie zu meinem Geburtstag. Feldpost steht da drauf. »Das ist die neue Zeit«, hat die Ooti gesagt. Und geschluchzt. Und der Opa musste sie stützen.

Vati packt seinen Tornister aus. Eine Blume für Mutti. Sie lächelt schon wieder. Ganz sanft. Riecht an der Blume, als ob die gar nicht so zerrupft ist. Ich sehe alles ganz genau, von der Tür aus. Wage mich nicht näher heran. Es ist Williams Geburtstag. Vati zieht ein Stöckchen aus der Tasche. Mit Flügeln dran. Sonnengelb. Grasgrün. Himmelblau. Und rot wie der Felsen. Er sieht nicht mal her zu mir, sondern drückt es William in die Hand. Vati pustet kräftig, und die Flügel drehen sich. William juchzt. Er lässt seine Windmühle nicht mehr los. Nicht mal beim Essen, und niemand verbietet es. Beim Mittagsschlaf und in der Nacht liegt sie in seinem Bett.

Am nächsten Tag muss Vati wieder weg. »Bin bald zurück«, flüstert er Mutti zu. Ganz leise. »Dauert nicht mehr lange.« Ich höre es genau.

Wie das Brummen. Das höre ich auch im Schlaf. Und bin gleich hellwach. Mutti stürzt herein und reißt William aus dem Bett. Der schreit nach seiner Windmühle, aber Mutti achtet nicht darauf. Ich schnappe sie mir und renne hinterher. Drücke sie ihm in die Hand. Und er gibt Ruhe. Mutti setzt ihn ab, lauscht. »Die Flak!«, ruft sie. Ich weiß. Wir müssen in den Bunker. Sie greift nach dem Korb und der Tasche. Ich packe Williams Hand, so fest ich kann. Wir stürmen hinaus. Laufen los. Alle laufen. Gegen den Wind. Ich höre Klickern. Wie beim Murmelspielen. Und doch anders. »Flaksplitter«, sagt Mutti. Die fallen um uns herum. Da lässt William die Windmühle los. Eine Böe treibt sie vor sich her. Und William brüllt. Er reißt an meiner Hand. Seine Fingerchen rutschen. Ich packe fester zu. Noch fester. Ich bin die Ältere, ich komme bald zur Schule. Ich muss den Kleinen festhalten, zerre ihn weiter. Meine Hand tut weh und mein Arm. William brüllt und brüllt und stemmt sich gegen mich. Mutti ist einen Schritt voraus. Die Windmühle treibt an ihren Füßen vorbei. Sie sieht es nicht. Sieht nur den Bunker, den Eingang zur Spirale. Der Wind zerfetzt die Flügel. Den sonnengelben. Den grasgrünen. Den himmelblauen. Nur der rote ist noch heil. Das Stöckchen trudelt auf den Abhang zu. Und William reißt sich los.

1

Rastloser Westwind über dem Meer und über der Insel, in Böen stürmisch. Sie hörte es genau. Obwohl das Fenster geschlossen war. Doro zog sich die Decke über den Kopf. Fünf Uhr früh und gleich würde der Wecker klingeln. Noch so ein Tag an Land. Weil das Meer zu aufgewühlt war. Der achte in dieser Schicht. Wieder nur bis zum Hafen gehen und nicht an Bord. Nicht hinausfahren in den Windpark, sondern auf Station arbeiten. Diese Wettertage erschienen ihr endlos. Stunde um Stunde zogen sie sich hin. Wenn es hinausging zu einem Windrad, kam ihr das nie so lange vor. Dabei dauerte so eine Schicht sogar sechs Stunden bis zur Mittagspause und danach noch einmal sechs bis zum Feierabend.

Sie gähnte. Heute würde sie nicht die Erste beim Frühstück sein. Sie schob die Beine über die Bettkante und richtete sich langsam auf. Vielleicht hätte sie ein paar Tage freinehmen sollen. Heimfahren. Zur Großmutter aufs Festland. Elsie damit überraschen. Und sich selber auch. Sie brach selten aus diesem vorgegebenen Rhythmus aus: vierzehn Arbeitstage und vierzehn Tage frei. Doch wenn der Wind weiter zulegte, fuhr nicht einmal mehr das Schiff nach Cuxhaven. Dann kam auch keine Ablösung. Und sie saß hier fest. Auf diesem kahlen roten Felsen.

Doro drehte die Dusche auf. Bloß nicht daran denken, dass es so weit kommen konnte. Dass sie über ihre Schicht hinaus noch tagelang bleiben musste. In den vier Jahren, die sie hier arbeitete, war das selten vorgekommen. Sie erinnerte sich kaum noch daran. Das heiße Wasser lief über ihre Schultern. Die Anspannung wegspülen. Einfach so, mit dem Wasser den Rücken hinunter, in den Abfluss. Sie schloss die Augen, zögerte den Moment hinaus, in dem sie ihre Hand auf den Edelstahlknauf legen und den Regler von heiß auf kalt stellen würde. Eiskalt.

Wenig später setzte sie sich zu Steffen, einem der Schlosser, an den Frühstückstisch. »Moin.«

Er nickte ihr zu und wischte sich Krümel aus dem Bart.

Sie blies in ihre Kaffeetasse.

»Jetzt machst du auch noch Wind.« Er grinste.

»Und was sagt der Wetterbericht?«, fragte Doro.

Steffen winkte ab. »Wir müssen noch zwei, drei Tage Geduld haben.«

Gegen sechs Uhr brachen sie alle auf. Es war dunkel draußen und kalt. Doro schlug den Kragen hoch. Ein paar Grad über null. Wenigstens fühlte es sich im Wind so an. Sie gingen zügig. Einige Männer unterhielten sich über ein Handballspiel, das sie am Abend zuvor im Sportkanal gesehen hatten. Doro dagegen hatte sich früh zurückgezogen. Das Handy stumm, das Tablet ausgeschaltet. Hatte sich nach Ruhe gesehnt und nach Alleinsein. Manchmal brauchte sie das. Besonders nach so einer Reihe von Wettertagen.

Gut zwanzig Minuten später erreichten sie das Gelände am Südhafen. Die neongrünen Streifen auf Jespers Montur leuchteten ihnen bereits von Weitem entgegen. Der Leiter der Station erwartete sie an der Tür zum Servicegebäude. Er verteilte die Tagesaufgaben, erteilte die Freigabe und schickte die Männer in die Halle. Dann wandte er sich Doro zu. »Komm mit.« Sie steuerten sein Büro an. »Hast du es dir inzwischen überlegt?« Er deutete auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Du hast doch das Zeug dazu, die Station zu leiten!«

Doro sah ihn nachdenklich an. »Dann bin ich aber nicht mehr jeden Tag mit draußen.«

Er legte seine Unterlagen ab. »Hin und wieder schon. Und bei allen Schulungen, Übungen und Sicherheitstrainings natürlich auch. Das Abwinschen vom Heli bleibt dir jedenfalls nicht erspart.«

Als ob sie es darauf anlegte! Sich vom Hubschrauber abzuseilen, gehörte zu ihren Lieblingsübungen. Sie musste dazu zwar auch in den unförmigen Überlebensanzug steigen, aber wenig später sicher am Haken zu hängen und durch die Luft zu schweben, fühlte sich für Doro nach Freiheit an. Obwohl ihr dieses Wort nicht über die Lippen kam. Ebenso wenig wie irgendein Wort, das auch nur ansatzweise die Erfahrung beschrieb, sich unter Wasser aus einem Helikopter zu befreien.

»Du leistest gute Arbeit, sonst hätte ich dich gar nicht erst gefragt. Beim Troubleshooting bist du spitze, und das weißt du auch.«

Doro setzte sich hin. »Ich brauche jemanden, auf den die Männer hören. Nicht nur die Azubis. Die Handwerker, die Techniker, die ITler. Und die Crews auf den Schiffen. Du hast mehr als das nötige Wissen, die Erfahrung – und ein Händchen dafür.« Jesper sah sie erwartungsvoll an. »So verkaufst du dich unter Wert.«

Doro verschränkte die Arme.

Jesper blätterte kurz in einer Mappe auf dem Schreibtisch.

Doro sah sich in dem winzigen Büro um. Auf einem der Monitore war die Karte des Windparks mit den Symbolen für jede der achtzig Turbinen zu sehen. Die Betriebsdaten wurden angezeigt und wiesen die Windgeschwindigkeit, produzierte Leistung, Drehzahl und Statusmeldungen der Steuerung aus. Im Moment liefen sie alle.

»Am besten du siehst mir die nächsten zwei, drei Tage über die Schulter, damit du einen Eindruck von den Aufgaben hier bekommst«, sagte Jesper. »Und wenn du zusagst, sorge ich für den Rest und leite alles in die Wege.«

Doro zögerte. Einerseits liebte sie neue Herausforderungen, und Jespers Job zu übernehmen, Site Managerin zu werden, schien eine zu sein. Andererseits fand sie es jeden Morgen aufs Neue spannend, zu den Windrädern oder zum ›dicken Malte‹, wie sie die Trafostation nannten, hinauszufahren und dort mit zwei Kollegen zu arbeiten. Sie konnte sich kaum vorstellen, stundenlang in diesem Büro vor den Bildschirmen zu hocken. Und immer Rücksprache mit der Leitwarte in Bremerhaven zu halten. Am besten auf Englisch, wegen der Mitarbeiter aus Skandinavien. Und wer weiß, was noch alles dazukam.

»Sind wir uns einig?«, drängte Jesper.

»Tja, einverstanden – was die nächsten zwei, drei Tage angeht.«

»Fein! Dann mal los.«

 

In den folgenden achtundvierzig Stunden flaute der Wind tatsächlich ab. »Deutsche Bucht nord- bis nordostdrehend um 4, abnehmend um 3, später schwach umlaufend, See 1 Meter«, notierte Jesper. Nicht mehr als eine mäßige Brise, um die zwanzig Stundenkilometer. Leicht bewegte See, die Wellenhöhe deutlich unter einem Meter fünfzig, wusste Doro. Also konnten die Männer wieder zu den Windrädern hinausfahren. Jesper teilte die Teams ein, überprüfte, ob jeder seine persönliche Schutzausrüstung angelegt hatte und die benötigten Werkzeuge und Ersatzteile gepackt waren. Doro fröstelte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn zu. Ein wenig beneidete sie die Männer jetzt. Dann fragte sie sich, ob es wohl auch jemanden unter ihnen gab, der lieber an ihrer Stelle an Land bliebe. Der fand, dass ihm die Leitung der Station eher zustand als ihr. Der länger dabei war oder sich für qualifizierter hielt. Gehört hatte sie bisher nichts. Nicht einmal Sticheleien. Doro hielt das Klemmbrett mit den Listen fest in beiden Händen. Sie beobachtete das Boarding an der Kaikante, rührte sich nicht, als das Schiff ablegte. Sie sah ihm länger als nötig hinterher, gerade so, als müsste sie es mit ihrem Blick aus dem Hafen lotsen. Rasch verschwand es in der Dunkelheit. Nur die weiße Gischtspur wies noch einen Moment lang nach Norden, bevor sie verging. Schließlich folgte Doro dem Site Manager wieder ins Büro.

»Vielleicht bist du irgendwann froh, nicht mehr jeden Tag in den Turm klettern zu müssen«, sagte Jesper.

Vielleicht, dachte Doro, irgendwann.

»Dann kümmern wir uns heute erst mal um die Ersatzteilbestände und sehen, was nachbestellt werden muss. Aber nie das Büro ohne den Funk verlassen!« Jesper reichte ihr sein Tablet. »Gib gleich alles in die Tabelle ein.«

 

Der Tag verlief ohne Zwischenfälle. Und doch atmete Doro auf, als die Männer abends gegen sieben wieder an Land kamen. Die Feierabendroutinen nahmen ihren Lauf, und eine halbe Stunde später gingen sie gemeinsam zurück zum Hotel.

Am nächsten Morgen meldete sich ein Elektriker krank. Jesper musterte den Dienstplan eingehend.

»Ich fahr mit raus!«, rief Doro, noch bevor er fragen konnte.

»War’s denn so schrecklich, hier mit mir im Büro?«

Doro schüttelte den Kopf.

Jesper grinste. »Schon gut. Das war ja wohl nicht dein letztes Wort, was die Stationsleitung angeht?«

»Nein. Bestimmt nicht.«

Doro eilte zu den anderen hinüber. Die Teamleiter packten mit den Lageristen die Ausrüstung und verstauten die Ersatzteile, die sie da draußen möglicherweise brauchten, in den orangefarbenen Lifting Bags. Jeder Handgriff saß. Sie verstanden sich wie immer ohne viele Worte. Wenig später überprüfte Jesper noch einmal, wer zu welchem Team gehörte, stellte klar, was auf welcher Mühle zu tun war, und erteilte schließlich die Freigabe.

Als das Zubringerschiff den Hafen Richtung Windpark verließ, entspannte sich Doro. Insgeheim hatte sie befürchtet, dass Jesper sie im letzten Moment doch noch zurückrufen und auf der Station behalten würde. Sie rieb sich die Hände, spürte, wie die Vorfreude auf die Arbeit in der Gondel ihren Körper flutete. Am liebsten hätte sie die ganze Fahrt über an der Reling gestanden und nach den rot blinkenden Leuchtfeuern Ausschau gehalten, nach der Hindernisbeleuchtung, die signalisierte, dass sie sich den Anlagen näherten. Doch im Morgengrauen zehrten Kälte und Wind schnell an ihren Kräften. So blieb Doro unter Deck und streckte sich, wie die Männer, in ihrem Sitz aus. Die meisten dösten vor sich hin. Einige wiegte das Schaukeln sogar wieder in den Schlaf. Doro lauschte dem Motorengeräusch. Es kam ihr behaglich vor. Früher war das Schiff eine Fähre gewesen, die in den rauen Fjorden Norwegens verkehrte. Heute hieß es nur kurz CTV – Crew Transport Vessel – und war umgebaut und verstärkt worden für seine größte Belastung, das Manöver zum Überstieg der Teams auf die Turbinen oder die Umspannplattform. Es dauerte knapp eine Stunde, bis sie den Windpark, der fünfundzwanzig Kilometer nordwestlich von Helgoland lag, erreichten.

Doro richtete ihre Montur und zurrte den Helm fest.

»Wir sind noch lange nicht dran.« Steffen lehnte sich in seinen Sitz und gähnte.

»Als Dritte«, erwiderte Doro.

»Wenn du den Halt beim ›dicken Malte‹ nicht mitzählst!«

Doro setzte sich wieder hin. Sie beobachtete Mark, den IT-Spezialisten ihres Teams. Er tastete gerade nach den Karabinern und Gurten, als wollte er sich erneut vergewissern, dass sie richtig lagen, um später die Sicherheitsleinen einzuhaken. Er zog seine Rettungsweste zurecht und überprüfte, ob sie sorgfältig verschlossen war. Mark gehörte erst seit drei Monaten zum Wartungsteam, und manchmal kam es Doro so vor, als würde er die Abläufe für sich im Stillen durchgehen wie den Plan für einen Schaltschrank. Immerhin sah er nicht mehr so aus, als kämpfe er gegen Seekrankheit an und schäme sich dafür.

Richtung Osten wurde der Himmel heller. Sonnenaufgang. Irgendwo hinter den Wolken. Wenn der Wind weiter abnahm, liefen die Anlagen nur noch im Trudelbetrieb. Wenn der Wind wieder zulegte, wurde das Übersteigen für Doro und die Männer unmöglich. Jedenfalls bis es den neuen Hightech-Katamaran mit den hydraulisch gefederten Kufen auch für ihren Park gab. So lange blieb für die schweren Störfälle nur noch das Abseilen vom Hubschrauber, hinunter auf die schmale Plattform oben auf der Gondel. Jedenfalls bis Windstärke acht oder neun. Bis der Wind Sturm hieß und selbst für die Windräder zu stark blies. In Abschaltgeschwindigkeit. Durchs Fenster sah Doro die endlose Reihe der Riesen im Meer. Jeweils das unterste Segment war gelb lackiert. Endlich näherten sie sich der Turbine mit der Kennung MSO32. Sie war bereits abgeschaltet.

Doro überquerte das Deck, das sonnengelbe Transition Piece, kurz TP, des Turms mit der Leiter fest im Blick. Steffen und Mark konnten kaum Schritt halten mit ihr. Der Kapitän steuerte das Schiff mit dem Bug gegen das TP. Der Stoß brachte niemanden aus dem Gleichgewicht, aber die Gummipuffer quietschten, als sie auf die Leiter trafen. Der Kapitän gab Schub, um das Schiff stabil zu halten. Das Wasser schien zu brodeln. Doro spürte die Vibrationen in jeder Faser ihres Körpers. Sie sog die salzhaltige Luft ein. So wach und lebendig fühlte sie sich sonst nirgends.

Ein Crewmitglied gab den Überstieg frei. Doro ging als Erste hinüber, hakte die Sicherheitsleine ein und stieg die Stufen hinauf zum Eingang in den Turm. Mark folgte ihr. Steffen blieb vorerst zurück, denn er musste sich heute darum kümmern, dass ihre Lifting Bags mit dem Material an den Haken des Krans kamen. Doro und Mark fuhren in dem schmalen Aufzug hinauf und kletterten die letzten zwanzig Meter über die Leiter zum Eingang der Gondel. Doro stieß die Luke auf. Einhaken. Aushaken. Einhaken. Anfangs waren ihr die Karabiner zum Sichern an den Leitern und am Einstieg der Gondel riesig vorgekommen. Inzwischen arbeiteten ihre Finger selbst in den Handschuhen wie von alleine. Und das Geschirr, in dem sie steckte, all die Gurte, Verbindungsmittel, Läufer, Falldämpfer, fürs Auffangen und gegen das Abstürzen und Anprallen, nahm sie kaum noch wahr. Sie wusste, dass ihr Leben davon abhing und das ihrer Kollegen gleich mit, wenn es zu einem Notfall kam.

Doro stieg durch die Luke ins Maschinenhaus. Es war genauso kalt wie draußen und schwankte im Wind. Sie meldete das Team bei der Leitwarte an. Dann öffnete sie das Dach. Frische Luft strömte ihr durch den Hub entgegen und die Geräusche, die von den anderen Anlagen herüberwehten. Die riesigen Rotorblätter der MSO32 standen reglos. Doro ließ den Blick kurz aus neunzig Metern Höhe übers Meer schweifen. Sie konnte einfach nicht widerstehen. Ob die Wellen nun im Sonnenlicht glitzerten und sie sah, wie sich ein Fischschwarm im Schatten der Mühle sammelte, ob Seenebel waberte, Regen aus tief hängenden Wolken fiel oder Eiskristalle an der Außenhaut des Turms schimmerten. Schnell wandte sie sich wieder ab und dem Kran zu. Ein Seehund tauchte aus dem Wasser auf. Er reckte den Kopf. Mit seinen großen, hell umrandeten Augen verfolgte er ihre Aktion. Mark stand nicht weit von Doro entfernt. Sie gab ihm ein Zeichen, doch er wandte sich ab. Er wirkte blass. Vielleicht sollte sie mit ihm reden, bevor es der Stationsleiter tat. Am besten allein. Nach Feierabend. Vorerst würde sie auf ihn achten. Musste sichergehen, dass er hundertprozentig einsatzbereit war.

»Alles in Ordnung bei dir?«, rief sie ihm zu.

Er nickte. »Passt schon.«

»Sicher?«

Sein Ja schien im Wind zu trudeln.

Doro überlegte, ob ihr das reichte. Jeder hatte bessere und schlechtere Tage. Aber hier oben mussten sie funktionieren. Mark kam näher und half ihr, die Seesäcke abzunehmen.

Doro gab das Okay nach unten, sodass auch Steffen übersteigen konnte. Der Seehund tauchte ab. Das Schiff fuhr weiter zur nächsten Mühle. Danach dümpelte es im Park, bis es sie gegen Abend abholen kam. Wenig später schlossen sie das Dach der Gondel wieder. Steffen stieß zu ihnen, und sie begannen mit ihrer Arbeit.

Die Männer und sie hielten den Park am Laufen. Waren gewissermaßen die Schnittstelle zwischen Hardware und Software. Sorgten eigenhändig dafür, dass sich die Rotoren in Bewegung setzen konnten. Der Generator störungsfrei arbeitete. Ebenso die Subsysteme. Dass die Messelektronik funktionierte und die Steuerelemente wie vorgesehen reagierten. Dass sich die Gondel in den Wind drehte und so die Energie aus der Luft zu Strom wurde, der schließlich ins Seekabel floss. Tag für Tag. Nur den Wind konnten sie nicht beeinflussen. Und was er manchmal mit sich brachte.

Doro hielt inne. Irgendetwas ging vor da draußen. Sie hörte es genau. Die anderen Turbinen schienen auszutrudeln. Sie sah auf. Steffen schien es auch zu bemerken. Er ließ den Schlagschrauber sinken, lauschte. Die Rotoren mussten stillstehen. Alle. Doro schloss einen Moment die Augen, als ob sie so noch besser hörte. Keine Flaute. Zweifellos. Der Wind strich weiter um die Türme. Doch er bewegte nichts. Blieb nur zu hoffen, dass die Anlagen gleich wieder anlaufen würden.

Steffen seufzte.

»Zwangspause?«, fragte Mark, ohne den Blick vom Laptop mit dem Diagnosetool zu heben.

»Für alle«, brummte Steffen. Er legte das Werkzeug weg und faltete die Stühle auf.

Wenn es nur nicht zu lange dauerte, dachte Doro. Nichts war schlimmer als Warten, als ausharren zu müssen, ohne etwas tun zu können. Außer die Station anzufunken, wenn gar keine Nachricht oder Anweisung kam.

Aber dort oder in der Leitwarte waren sie der Störung sicher schon auf der Spur. Womöglich eine Überlastung im Netz. Wieder mal. Oder einfach ein technischer Defekt.

»Vielleicht brauchen wir heute die Notration«, unkte Mark.

Doro verdrehte die Augen. »Willst du jetzt schon auf die Überlebensplattform gehen?«

»Nein, nein!«, versicherte Mark schnell.

»Drei Stunden dauert’s mindestens.« Steffen strich sich über den Bart. »Vielleicht auch vier.«

»Ich wette, eher sechs!« Mark klang fast euphorisch.

»Wie kommst du denn darauf?«, wollte Doro wissen.

Mark zuckte die Schultern.

»Und du«, fragte Steffen, »willst du mit einsteigen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Komm schon«, drängte er, »wetten wir ums Feierabendbier!«

»Wann immer wir das kriegen«, warf Mark ein.

»Oder um eine Runde Eiergrog«, schlug Steffen vor, »den magst du doch so gerne, bevor’s nach Hause aufs Festland geht.«

»Na schön«, gab Doro nach. »Ich sage, in spätestens einer Stunde laufen die Turbinen wieder an.«

Steffen verschluckte sich fast vor Lachen.

Doro presste die Lippen zusammen. Eine Weile würde das Licht hier drinnen noch leuchten, doch dann ging ihnen der Strom aus. Um den Hub wieder zu öffnen, reichte er sicher nicht mehr.

»Sie werden doch das Dieselaggregat anwerfen?«, fragte Mark. Er schien plötzlich verunsichert.

»Erst wenn gar nichts mehr geht«, wusste Steffen. Für ihn und Doro war es nicht das erste Mal, dass sie so eine Situation erlebten. Für Mark dagegen war es die Feuertaufe.

 

Doro wusste, auch ohne auf die Uhr zu sehen, dass sie schon seit Stunden im Dunkeln saßen. Länger als je zuvor. Jesper hatte sich nur einmal kurz von der Station aus gemeldet. Die Störung musste schwierig zu lokalisieren sein. Hier in der Gondel konnten sie nichts dazu tun. Sie hörte Steffen schnarchen. Mark war still. Einmal hatte er seine Helmlampe kurz eingeschaltet. Jetzt packte er seinen Proviant aus und begann zu essen. Doro konzentrierte sich darauf, tief ein- und auszuatmen. Sie mochte sich nicht vorstellen, an Jespers Stelle im Servicehaus zu sitzen, Kontakt mit den Wartungsteams im Park zu halten, ohne ihnen etwas Genaueres sagen oder ihre Fragen beantworten zu können. Die Konferenzschaltung mit der Leitwarte in Bremerhaven anzumelden, auf eine stabile Verbindung zu hoffen und auf Nachrichten, die den Stillstand beendeten. Immerhin wäre sie dort beschäftigt und würde nicht tatenlos ins Dunkel starren. Vor allem nicht stundenlang. Wie zuletzt als kleines Mädchen.

Doro musste plötzlich an damals denken. Damals, als sie gehofft hatte, dass ihre Mutter zurückkam, sie wieder mit hinaus in die Welt nahm und sie nicht bei Großmutter Elsie und Großvater Hannes zurückließ. Weil sie doch schon so groß und vernünftig war mit ihren sechs Jahren. Weil sie in eine ordentliche Schule gehen sollte. Weil sich jemand um sie kümmern musste, während ihre Mutter sich um fremde, um kranke, um hungernde Kinder kümmerte. Doro hatte seit Langem nicht mehr an diese ersten Nächte allein bei den Großeltern gedacht. Mindestens seit die letzte Postkarte ihrer Mutter angekommen war. Vor einem halben Jahr vielleicht. Oder vor acht Monaten. Aus Bhutan. Oder war das die vorletzte Karte gewesen? Aus Peru? Aus irgendeinem entlegenen Winkel der Welt jedenfalls. Elsie hob die Karten noch immer in der Schublade vom Küchentisch auf, obwohl keiner von beiden sie mehr als einmal las. Nicht nur, weil die Schublade klemmte. Der Mutter ging es immer gut. Es gab viel zu tun. Es war zu heiß, zu kalt, zu trocken, zu nass, zu windig. Unvorstellbar, diese Bedingungen zum Leben und zum Arbeiten, behauptete sie. Und kritzelte ›San‹ unter ihre Zeilen, als wäre Sandra schon zu viel verlangt. Briefe schrieb sie nie. Anfangs war sie selten zu Besuch gekommen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren gar nicht mehr. Doro hatte schon mit neun Jahren aufgehört, darauf zu hoffen und zu warten. Damals hatte sie beschlossen, nachts nicht mehr wach zu liegen. Nicht mehr in die Dunkelheit zu starren, als könnte sie dadurch Bilder heraufbeschwören aus der Zeit, in der sie an der Seite ihrer Mutter in fernen Ländern unterwegs gewesen war. In der sie Wärme gespürt hatte und den Wind auf der Haut.

Doro blinzelte in die Finsternis. Mark kaute immer noch. Und Steffen schlief. Sie tastete nach dem Funkgerät. Es hing unverändert an ihrer Montur. Stumm. Damals hatte sie sich die Ohren zugehalten, wenn sie in der Stille glaubte, die Stimme ihrer Mutter zu hören. Doch Sandras Worte wollten sich einfach nicht aussperren lassen. Sie rumorten in Doros Kopf. Tag und Nacht. Kaperten ihre Gedanken. Trugen sie fort aus dem Schulunterricht. Schnürten ihr den Hals beim Essen zu. Sie stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum, bis die Großmutter schimpfte. Großvater Hannes winkte ab. Doch Elsie ereiferte sich: »So geht das nicht weiter! Die Kleine sieht auch bald aus wie ein Biafra-Kind. Die Nachbarn glauben noch, wir lassen sie verhungern!«

»Sie braucht Ablenkung.« Der Großvater entschied, Doro nachmittags mit in seine Werkstatt zu nehmen.

»Das ist doch nichts für ein kleines Mädchen«, widersprach Elsie.

»Darum ja gerade.« Er streckte die Hand nach Doro aus.

Sie sprang auf und griff danach.

»Wenn dir langweilig wird, kommst du zurück!«, rief Elsie ihr nach.

Als die Haustür hinter ihnen zufiel, neigte der Großvater den Kopf. »Davon versteht sie nichts«, sagte er zu Doro. »Aber wir beide!«

Gemeinsam gingen sie die paar Schritte über den Hof zu seiner Werkstatt. Dort reparierte er Fernseh- und Radioapparate für Stammkunden aus der Siedlung. Einige kamen sogar von außerhalb. Die meisten fuhren aber schon in die Stadt, weil der Elektromarkt eine größere Auswahl neuer Geräte anbot.

Zunächst saß Doro still bei ihm, beobachtete jeden seiner Handgriffe, folgte seinen Fingern in das Gewirr aus Drähten und Röhren. Sie spürte seine Konzentration dabei und seine Zufriedenheit, wenn er die Rückseite eines Geräts verschloss, es einschaltete und es tadellos funktionierte. Er schaffte es. Jedes Mal aufs Neue. Fand den Fehler, brachte die alte Technik wieder zum Laufen. Doro strahlte ihn an, und er nickte ihr zu. Stolz. Sie sah es noch genau vor sich.

Am liebsten wäre ihr Großvater dann sofort zum nächsten Auftrag übergegangen, wenn er nicht eine Rechnung hätte schreiben müssen. Anfangs schien ihm das lästig zu sein. Denn er sah seinen Verdienst vor allem darin, Radio- und Fernsehgeräte zu verkaufen. Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten, gehörte für ihn praktisch dazu. Und so manches Mal behauptete er, die Reparatur sei ein Garantiefall gewesen, auch wenn die Großmutter ihm das nicht glauben wollte. Bald jedoch fand er sich damit ab, detaillierte Rechnungen zu schreiben. Weil er seine Arbeitsschritte dabei noch einmal rekapitulieren konnte. Für Doro. Die jede Erklärung gierig aufsog.

Als die Aufträge spärlicher hereinkamen, zerlegte er mit ihr gemeinsam Geräte, die keiner mehr haben wollte. Manche sollten zu Ersatzteilspendern werden, andere durfte Doro wieder zusammenbauen. Dabei sollte natürlich kein Teil übrig bleiben. Eine wahre Herausforderung. Doro liebte diese Nachmittage mit Großvater Hannes in seiner Werkstatt. Er fand, dass sie sich schon als Grundschülerin geschickter anstellte als so mancher Lehrling, den er ausgebildet hatte. Und sagte ihr das auch. Sie wollte immer mehr darüber wissen, wie die Dinge funktionierten und wie sie sich wieder in Gang bringen ließen. Später langweilte sie sich im Physikunterricht, fachsimpelte mit den Nerds, ergatterte Praktikumsplätze, um die sie so mancher Mitschüler beneidete.

»Du schaffst das schon, mein Mädchen«, hatte Großvater Hannes immer zu ihr gesagt. Auch an ihrem letzten gemeinsamen Tag in der Werkstatt.

Doro seufzte. Sie dachte selten an diese frühen Jahre bei ihren Großeltern. Jetzt tauchten plötzlich Szenen aus der Finsternis auf wie aus einem alten Videofilm. Einem, der sich nicht anhalten ließ. Sie wollte eigentlich nicht daran erinnert werden, wie ihr Großvater umfiel und nicht wieder aufstand. Wie die Großmutter vergeblich darauf wartete, dass ihre Tochter zur Beerdigung anreiste, aber nicht einmal eine Postkarte von Sandra kam. Und vor allem, wie die Großmutter schon wenige Tage später die Werkstatt ausräumen ließ. Doros Betteln half nichts, und ihre Tränen auch nicht. Und schließlich verstummte sie, als sie eines Nachmittags nach Schulschluss entdeckte, dass nicht mehr ein einziger Stein im Hof an ihre Werkstatt erinnerte. Weil Großmutter Elsie sie hatte abreißen und Erde aufschütten lassen, um ihren Gemüsegarten zu erweitern.

Doro wusste nicht mehr, wie lange sie es ausgehalten hatte, Elsie anzuschweigen. Doch eines Tages, als sie aus der Schule kam, stand die Großmutter nicht wie üblich am Herd und kochte Mittagessen für sie beide. Elsie saß am Tisch. Ihre Schultern bebten. Doro umklammerte die Türklinke. Die Großmutter schluchzte. So wie sie nicht einmal auf der Beerdigung vom Großvater geschluchzt hatte. Doro wagte kaum, sich zu rühren. Ihre Schläfen pochten und ihr Herz. Die Großmutter tastete nach etwas, das auf dem Tisch lag. Zwischen den Tellern und Tassen vom Frühstück. Doro konnte nicht sehen, was es war. Sie zitterte. Es war noch nie vorgekommen, dass die Großmutter nicht aufgeräumt hatte. Wenn es nur keine Postkarte war, die da vor dem offenen Glas mit Marmelade lag, eine Postkarte von Sandra. Eine, die von den üblichen abwich. Die mitteilte, dass eine Windböe sie auf einer steilen Bergstraße ins Schleudern gebracht hatte. Sie in einem Wirbelsturm vermisst wurde. Oder sie und ihre Klippenspringerfreunde sich doch einmal verrechnet hatten. Doro löste ihre schwitzigen Finger von der Türklinke. Sie schob sich in die Küche. Und noch einen Schritt weiter. Elsie schien sie nicht zu bemerken. Jedenfalls drehte sie sich nicht nach ihr um. Endlich konnte Doro an der Großmutter vorbeilugen. Ihr zerknittertes Stofftaschentuch lag zwischen den Krümeln vom Frühstücksbrot. Keine Postkarte! Doro lief auf Elsie zu und umarmte sie. Sie drückte sie, so fest sie konnte. »Sei mir nicht böse, Omi. Bitte, bitte sei mir nicht böse!«, brach es aus Doro heraus. Dann ließ sie die Großmutter wieder los, hockte sich neben ihren Stuhl und legte den Kopf in ihren Schoß.

Elsie sah aus rot geweinten Augen auf sie herab. »Ich … ich …«, die Worte kamen mühsam, die Stimme klang heiser. »Ich bin dir nicht böse.« Ihre Hand sank auf Doros Haarschopf. Und blieb dort liegen. Lange. Sehr lange.

Doro strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie hatten nie mehr darüber gesprochen. Elsie hatte nichts erklärt, und Doro hatte nicht gewagt, ihre Großmutter danach zu fragen. Wozu auch? Doro wunderte sich nur darüber, dass es ihr ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn kam, nach all den Jahren.

Doro hörte, dass Mark seine Proviantbox verstaute und leise seufzte.

Sie wandte sich in seine Richtung. »Alles verputzt?«

»So ziemlich. Und du?«

»Hab keinen Hunger.«

»Aber die Mittagspause muss längst vorbei sein.«

»Spielt keine Rolle heute.«

»Verstehe. Meinst du, es geht überhaupt noch weiter?«

»Klar! Warum denn nicht?«

»Habt ihr schon mal hier oben übernachtet?«

Doro überlegte, ob sie ihm wirklich davon erzählen sollte. Von dem Nachmittag, als plötzlich ein Gewittersturm über dem Windpark wütete. Der sich einfach nicht verziehen wollte, sodass eine sichere Rückkehr zur Station unmöglich war. Da mussten sie ohne zu zögern, hinunter in die Überlebensplattform steigen. Dort, in der zusätzlichen Ebene, waren sie zum Übernachten in die Schlafsäcke gekrochen. Die meisten Männer hatten das so gelassen hingenommen wie sie. Aber eben nicht jeder. Starkregen und Graupelschauer hatten auf den Turm eingehämmert. Und die Sturmböen ließen ihn schwanken. Es war eisig kalt gewesen. Damals hatten sie immerhin Strom gehabt. Hatten sich aus den Vorräten sogar einen heißen Energiedrink aufbrühen können.

»Warst du schon mal zelten?«, fragte Doro, weil ihr nichts anderes einfiel. Sie wollte verhindern, dass Mark herumgrübelte und womöglich in finstere Gedanken verfiel.

»Na klar!«

»So ähnlich ist das hier auch. Und die Notrationen reichen für drei bis vier Tage. Für jeden von uns.«

Er rieb sich die Hände. »Wann geht’s denn nach unten, in die Safe Zone?«

»Du kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, was?«

»Doch, doch«, versicherte er schnell.

Doro war Team Lead, entschied, was in so einer Situation zu tun war und wann. Natürlich in Rücksprache mit Jesper auf der Station. Noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie ihr Tagewerk zu Ende bringen konnten. Dass sie später am Abend alle zusammensitzen und Witze darüber machen würden. Der Park war abgeschaltet worden. Na und? Der Park lief auch wieder an. Nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal. Das war morgen schon vergessen. Spätestens übermorgen. Vielleicht nicht für einen Neuling wie Mark. Für alle anderen schon. Warum sollte es ausgerechnet diesmal anders sein? Warum sollten sie nicht gemeinsam lachen darüber, dass sich alle scheuten, das Trockenklo zu benutzen, die Dauerkekse mehr als bissfest waren, die Getränkeauswahl in der Gondel sehr zu wünschen übrig ließ? Vielleicht würden sie dann früher zu Bett gehen als gewöhnlich. Vielleicht auch später. Vielleicht würden sie morgen nicht zur üblichen Zeit anfangen müssen. Erst eine Bewertung des Vorgangs abwarten. Oder dass Spezialisten vom Festland eingeflogen wurden. Aber vermutlich würden die Anlagen einfach wieder laufen, und sie würden zu ihrer Arbeit hinausfahren können wie immer.

Steffen gähnte.

»Na, ausgeschlafen?«, rief Doro ihm zu.

»Hm. Hab ich was versäumt?«

»Hat er was versäumt, Mark?«

»Was?« Mark klang irritiert.

»Unser Steffen will wissen, ob wir Party gemacht haben, während er im Tiefschlaf war.«

»Ach so. Ja. Nein! Natürlich nicht.«

»Da bin ich ja erleichtert.«

Doro meinte fast, Steffen grinsen zu sehen. Aber dazu war es zu dunkel. »Also, ich hab beim ersten Mal gedacht, dass das so ein Psychotest ist«, sagte sie.

»Ja, genau«, stimmte Steffen ein, »so ging’s mir auch.«

»Wie, ihr glaubt, sie wollen sehen, wann der Erste durchdreht, wenn wir stundenlang im Dunkeln sitzen?«

»Das war meine Vermutung damals. Ehrlich.« Doro wartete ab.

Mark sagte nichts.

»Panik kann doch jeder mal schieben«, brummte Steffen.

»Aber diese Trainings«, überlegte Mark, »die bereiten einen auf alles vor und …«

»Fühlst du dich denn darauf vorbereitet?«, hakte Doro ein.

»Hier zu sitzen und abzuwarten?«, vergewisserte sich Mark.

»In dieser schwarzen Finsternis«, unkte Steffen.

»Kein Problem.«

Doro und Steffen schwiegen.

»Wirklich nicht!«, beharrte Mark. »Als kleiner Junge bin ich nächtelang allein durch den Wald gerannt!«

»Ein Abenteurer durch und durch, was?«

Doro fragte sich, ob Steffen etwa Mark provozieren wollte. Dann musste sie gegensteuern. Sofort.

In dem Moment meldete sich Jesper über Funk. »Evakuieren!«

Mark sprang auf. Sein Stuhl polterte zu Boden.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragten Steffen und Doro gleichzeitig.

»Ja, ja, alles gut«, kam es zurück.

Steffen schaltete seine Helmlampe ein, um sich davon zu überzeugen. Er griff sich den Stuhl, faltete ihn zusammen und verstaute ihn.

Jesper wies sie an, Werkzeug und Ersatzteile in der Gondel zurückzulassen. Das bedeutete auch, er, beziehungsweise die Leitstelle, wollte oder konnte das Dieselaggregat diesmal nicht einschalten. Es gab also keinen Notstrom, um das Dach zu öffnen, den Kran zu bedienen oder auch den Aufzug. Sie würden aus der Gondel ganz und gar im Inneren des Turms hinunterklettern müssen. Allerdings versperrte ihnen der Aufzug, mit dem Steffen als Letzter heraufgekommen war, ein Stück der Leiter. Also hieß es für Doro als Team Lead, herauszufinden, ob sie hinter dem Aufzug absteigen konnten. Oder einen Anschlagpunkt fürs Abseilen zu finden. Auch das hatten sie immer wieder trainiert. Im Arbeitsalltag kam es jedoch kaum jemals vor. Sie schlüpfte in die Rettungsweste, die unbedingt zur persönlichen Schutzausrüstung gehörte, auch wenn sie ihre Bewegungsfreiheit und die Sicht einschränkte. Dann kontrollierte sie die Gurte und Karabiner, schaltete ihre Helmlampe ein und öffnete die Luke zur Leiter im Turm. Sie hakte den Läufer ein und stieg die ersten Sprossen hinab. Jeder Tritt ihrer Sicherheitsschuhe schickte ein metallisches Echo in die Dunkelheit. Steffen und Mark blieben an der Luke stehen. Weit konnten sie nicht in die Stahlbetonröhre hinuntersehen. Doch sie würden das schwankende Licht, das von Doros Helm ausging, nicht aus den Augen lassen. Doro näherte sich langsam, Schritt für Schritt, der Aufzugskabine. Sie wusste, die Männer oben würden auf ihr Zeichen warten. Am besten über den Funkkanal.

Sie sondierte die Lage, wie sie es in den Übungen schon unzählige Male getan hatte. Das war keine Übung. Konnte aber genauso gut eine sein. Das Wort Ernstfall schlich sich an und bemächtigte sich ihrer Gedanken. Doro versuchte, es zu ignorieren. Es widersetzte sich. Boxte sich vehement in den Ring ihres Bewusstseins zurück. Mit jedem einzelnen Buchstaben. Doro ermahnte sich, im Hier und Jetzt zu bleiben. Sie brauchte jeden ihrer Sinne für die Aufgabe, den sicheren Abstieg aus der Gondel für sich und die Männer zu gewährleisten. Sie atmete tief aus und nutzte den Schub, um jeden anderen Gedanken zu verdrängen. Doch ihr Puls beschleunigte rasant. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen, sich auf das zu konzentrieren, was sie sah, was sie hier vorfand. Hinter dem Aufzug gab es keinen Halt. Nicht für die Hände. Und auch nicht für die Füße. Also abseilen. All die einstudierten Griffe schafften ihre Finger wie von selbst. Hinunter bis zum nächsten Absatz. Schon kam sie auf dem Gitter dieser Plattform auf. Spürte den Stoß. Hörte es scheppern. Und einen Schrei. Ein grollender Donner schien durch den engen Turm heranzurollen, dröhnte in ihren Ohren, ließ sie erzittern. Irgendwo weit weg rief jemand ihren Namen. Ihr Herz raste. Das spärliche Licht flimmerte vor ihren Augen. Sie spürte den Druck auf ihrer Brust. Schnappte nach Luft. Der Hals war wie zugeschnürt. Sie sank in die Knie. Klammerte sich an den kantigen Metallsprossen der Leiter fest. Schweiß strömte aus jeder Pore ihres Körpers. Nicht loslassen. Nur nicht loslassen. Auch wenn die Wände des Turms auf sie zukamen, sie wie in einem Wirbel in die Tiefe reißen wollten. Nein, nein, das konnte nicht sein! Sie spürte ihre Arme und Beine kaum noch. Dafür diese Übelkeit. Sie schloss die Augen. Und riss sie gleich wieder auf. Ihr Kopf war leer. Bis auf diese eine, helle Stimme. Die einen Namen rief. Nicht ihren. Sie spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Immer noch viel zu schnell. Sie hörte Laute aus dem Funkgerät. Wenn das nur nicht Jesper war. Sie musste sich melden. Musste wenigstens Ja sagen. Musste. Musste. Musste. Nicht mal ein Krächzen kam über ihre Lippen. Sie würgte, schluckte, rang nach Luft.

Langsam, ganz langsam ebbte die Übelkeit ab. Jetzt hörte sie Steffens Bass. Sie brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass seine Stimme nicht von oben, sondern aus dem Funkgerät kam. Sie löste die Finger von der Leiter, lehnte sich an. Ein tieferer Atemzug gelang ihr. Dann noch einer. Die Finger schmerzten. Und die Hände. Die Knie zitterten immer noch. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Endlich schaffte sie es, sich zu melden. Steffen antwortete sofort. Er schien erleichtert. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und rückte ihren Helm wieder gerade. Sie spürte das Kribbeln in den Waden und in den Füßen. Ihre Montur klebte am Rücken und am Bauch. Die Gurte fühlten sich zentnerschwer an. Sie fröstelte. Jetzt hörte sie auch Marks Stimme über Funk. Und wieder Steffen. Er wirkte nicht so gelassen wie sonst. Eher konfus. Das war ihre Schuld. Ganz bestimmt ihre Schuld. Weil sie nicht reagiert hat, wie sie hätte reagieren sollen. Weil sie einen Aussetzer gehabt hat. Sie, die Erfahrenste von allen. Ausgerechnet sie. Team Lead. Und dann so was. Wie konnte das sein? Sie hatte die Männer und sich in Gefahr gebracht. Das war noch nie passiert. Niemals zuvor. Wie sollte sie ihnen bloß wieder gegenübertreten? Dafür gab es keine Entschuldigung. Absolut nicht.

»Es tut mir so leid! Hörst du mich, Doro, es tut mir so leid!« Das war Steffens Stimme. »So ein dummer Anfängerfehler! Ich weiß auch nicht, wo ich mit meinen Gedanken war. Wenigstens ist dir nichts passiert. Dir ist doch nichts passiert? Doro?«

»Ne-ne-… nein«, stotterte Doro. Sie verstand allerdings nicht, was Steffen meinte. Warum entschuldigte er sich bei ihr? Sie hatte doch gepatzt. Hatte versagt, als es darauf angekommen war.

»Ich muss den Schlagschrauber wohl aus Versehen in die Tasche gesteckt haben.« Seine Stimme schien den ganzen Turm zu fluten. »Dabei weiß doch jeder, dass das nicht geht. Dass das gefährlich ist, wenn der rausfällt, runterfällt, jemanden trifft. Lebensgefährlich!«

Langsam verstand Doro. Während Steffen sich über die Luke gebeugt hatte, um ihren Abstieg zu überwachen, war ihm der Schlagschrauber hinunter in den Turm gefallen. Obwohl der eigentlich in der Werkzeugtasche hätte sicher verstaut sein sollen.

»Doro?«, rief Steffen da schon wieder. »Er hat dich doch nicht getroffen, oder?«

»Nein.« Doro bemühte sich, ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. »Mir geht’s gut.« Sie hoffte, die Männer würden ihren kläglichen Singsang der Akustik im Turm zuschreiben. Jedenfalls fragten sie nicht nach. Vermutlich bereiteten sie sich auf den Abstieg vor. Doro seufzte. Sie lehnte immer noch an der kalten Betonwand. Wagte den Schritt nicht wieder auf die Leiter zu. Dabei war das gar kein Schritt. Ein halber vielleicht. Wenn überhaupt. Doch sie fühlte sich kraftlos. All ihre Energie schien verbraucht. Was, wenn es ihr nicht einmal mehr gelang, den Fuß zu heben? Ein paar Zentimeter nur? Einen Zentimeter? Was, wenn die Männer sie bergen mussten? Auch dafür hatte es Übungen gegeben. Aber nein! Nein. So weit würde es nicht kommen. Sie schloss einen Moment lang die Augen. Hatte es so etwas wie einen Kurzschluss gegeben, irgendwo in ihrem Körper? Sie fand keine Antwort darauf. Über ihren Funkkanal meldeten Steffen und Mark, dass sie bereit waren, die Gondel zu verlassen. Doro räusperte sich. Sie gab den Männern ein, zwei Hinweise mit auf den Weg. Ihr Hirn schien wieder angemessen zu funktionieren. Langsam richtete sie sich auf und löste sich von der Wand. Sie streckte den Arm aus und mit einem Schritt vorwärts erreichte sie die Leiter. Ihre Finger schlossen sich um eine Sprosse. Und öffneten sich auch wieder, wenn sie es wollte. Endlich kehrte Leben in ihre Glieder zurück, ließ sie funktionieren. Wenigstens das. Gerade als sie den Abstieg für die Männer freigeben wollte, kam ihr in den Sinn, ob es wirklich der herabstürzende Schlagschrauber gewesen sein konnte, der diese Geräuschlawine und ihre Panik ausgelöst hatte. Oder musste sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln? Sie sah sich um und entdeckte im Schein der Helmlampe das Werkzeug vor ihren Füßen. Doro ging vorsichtig in die Knie. Sie schwankte, aber es gelang ihr, den Schlagschrauber aufzuheben und an ihrem Gürtel einzuhaken.

Wenig später erreichten die beiden Männer die Plattform, auf der Doro stand. Sie schienen ihre Ruhe wiedergefunden zu haben. Nacheinander stiegen sie weiter ab, langsam, bis hinunter in den Fuß des Turms. Wenigstens sahen die Männer im Dunkeln nicht, dass Doro vor Anstrengung zitterte. Der Schweiß lief ihr permanent über die Stirn und brannte in den Augen. Sie umklammerte die kantigen Sprossen der Leiter. Nur nicht loslassen. Nur nicht abrutschen. Auch wenn sie an der Sicherheitsleine hing. Weiter, immer weiter. Schritt für Schritt. Bis sie den Läufer aushaken konnte. Sie trat zur Seite. Mark folgte ihr. Danach kam Steffen. Es gelang Doro, die Tür zu öffnen. Sie sog die frische Meeresluft tief ein. Doch ein Rest Benommenheit wollte sich immer noch nicht verflüchtigen.

Das Zubringerschiff steuerte durch den sternenklaren Winterabend heran. Nur noch wenige Meter bis zum Transition Piece. Doro sicherte sich an der gelben Leiter. Sie sah die letzten zwanzig Meter aufs Meer hinab. Nein. Ihr wurde nie schwindlig. Niemals. Weder ganz oben auf dem Dach der Anlage noch in der Gondel oder beim Abseilen. Dieses merkwürdige Gefühl – das konnte nur an der beschlagenen Schutzbrille liegen, redete sie sich ein. Und die Wellenhöhe? Doro wandte sich wieder den gelben Sprossen zu. Wenn das CTV sie abholen kam, konnte der Seegang nicht zu hoch zum Überstieg sein.

 

Als sie gut zwei Stunden später in ihrem Bett lag, wusste sie nicht mehr, wie sie auf den Zubringer und später an Land gekommen war. Sie erinnerte sich auch nicht daran, was Jesper auf Station für den nächsten Tag vorgegeben hatte und wie sie gemeinsam zum Hotel zurückgegangen waren. Sie hoffte nur darauf, dass sich die schwarze Wolke in ihrem Kopf in Schlaf verwandeln würde. Und darauf, dass ihr morgen früh alles nur noch wie ein Albtraum vorkam. Am besten einer, der sich bei Licht sofort verflüchtigte.

 

Die Frühstückstische waren noch spärlicher besetzt als sonst. Sie entdeckte weder Steffen noch Mark noch Jesper. Aber Jesper war vielleicht schon auf Station. Hier und da gab es das übliche morgendliche Hallo. Doro goss sich Kaffee ein. Sie hörte einige Männer halblaut miteinander reden. Die meisten kamen erst kurz vor Aufbruch aus ihren Zimmern, schnappten sich ihr Proviantpaket und gingen gleich los Richtung Hafen. Auch solche Tage hatte es schon gegeben. Heute musste sicher einiges aufgearbeitet werden. Und wenn der Park wieder am Netz war, würden sie hinausfahren, um die Aufträge von gestern zu beenden. Schweigend trottete Doro neben den Männern her. Einige schmiedeten Pläne für die Zeit auf dem Festland. Übermorgen endete ihre Schicht. Vielleicht würde Doro für ein paar Einkäufe Hamburg ansteuern. Vielleicht würde sie auch direkt nach Hause fahren. Heim zu Großmutter Elsie.

Jesper erklärte ihnen kurz die Lage. Jedenfalls war der technische Defekt behoben, die Windkraftanlagen liefen wieder. Er fragte noch einmal nach, ob es Probleme bei der Evakuierung gegeben hatte. Doro kniff die Lippen zusammen. Sollte sie das Probleme nennen? Hier, vor allen? Brachte sie sich oder sogar ihr Team in Gefahr, wenn sie den Vorfall verschwieg? Welchen Vorfall überhaupt? Dass Steffen den Schlagschrauber nicht nach Vorschrift verstaut hatte? Oder dass sie im Turm weiche Knie bekommen hatte? Als Jesper zu ihr herübersah, schüttelte sie den Kopf. Auch die anderen Teams meldeten keine Schwierigkeiten. Jesper wiederholte die Einteilung und die Aufträge vom Vortag, bevor sie ihre persönliche Schutzausrüstung anlegten. Dann gingen sie zum Boarding hinaus. Jesper erteilte die Freigabe, und die Männer gingen an Bord. Doro und ihr Team näherten sich der Kaikante als Letzte. Und plötzlich war es wieder da, dieses Kribbeln in den Beinen. Sie ließ Steffen und Mark vorbei. Die Schritte der beiden hallten von der Gangway wider. Sie rückte auf, griff nach dem Handlauf. Ihre Finger zitterten. Hoffentlich bemerkte das niemand, hier unter der grellen Hafenlaterne. Vor allem nicht Jesper. Sie sah hinab auf das schwarze Wasser, hörte es gegen die Mauer klatschen. Und sie hörte ihren Atem ebenso laut. Der immer schneller ging, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Und gegen das Flimmern vor den Augen. Und …

2

Elsie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Und dann wieder auf den Rücken. Seit zwei Stunden. Warum sollte sie um fünf Uhr früh aufstehen, oder um sechs? Der Marmorkuchen stand seit gestern Abend auf dem Rost zum Auskühlen. Grete hatte letzten Samstag danach gefragt, und Elsie hatte ihr einen versprochen. Vermutlich wusste sie heute gar nichts mehr davon. Und wenn schon. Elsie wusste es ja noch. Und Marmorkuchen mochten sie beide. Sie musste ihn nur noch mit Puderzucker bestreuen und einpacken.

Elsie besuchte ihre ehemalige Nachbarin regelmäßig einmal in der Woche. Vor etwa einem Jahr war Grete in diese altersgerechte Wohnung am Stadtrand gezogen. Anderthalb Zimmer, in denen sie sich zurechtfand. In einem weitläufigen Gebäude mit anderen Siebzig-, Achtzig-, Neunzigjährigen, in dem sich je nach Bedarf Verpflegung und Pflege dazubuchen ließen.

Elsie starrte an die Decke. Sie meinte, den Riss im Putz sehen zu können, obwohl es dazu noch zu dunkel war. Er zog sich schon bis zur Lampe hin. Ihre Gedanken wanderten weiter in der Nachbarschaft herum. Die hatte sich verändert in den letzten Jahren. Zunächst war es Elsie kaum aufgefallen. Inge und Wolf mussten die Ersten gewesen sein, die ihr Haus aufgaben. Das große Eckgrundstück direkt an der Hauptstraße verlangte ihnen einfach zu viel ab. Sie wohnten jetzt irgendwo im Münsterland, weil ihre Kinder und Enkel dort lebten und arbeiteten. Im Moment jedenfalls. Und Elsie hörte nur noch am zweiten Weihnachtsfeiertag von ihnen. Karla, die pensionierte Lehrerin, die immer nur im Vorbeigehen gegrüßt hatte, war zu einem alten Kollegen gezogen. Und Annemarie von gegenüber hatte eines Morgens ihre Jalousien nicht mehr hochgezogen, war nicht ans Telefon gegangen, hatte auf Klingeln und Klopfen nicht geöffnet. Elsie hatte schließlich die Feuerwehr gerufen, und schon wenige Tage später hatte sie den Container und den Wagen mit der Aufschrift »Haushaltsauflösung« entdeckt. Da konnte sie die Augen vor den Veränderungen nicht mehr verschließen.

Weiter unten in der Straße hatte der hagere Freddy allein in seinem Haus ausgeharrt und jeden vertrieben, der ihn besuchen wollte. Selbst Elsie hatte er angeschnauzt. Doch sie stellte ihm trotzdem hin und wieder Suppe auf die Schwelle und beobachtete heimlich von ihrem Küchenfenster aus, wie er die Tür einen Spaltbreit öffnete, nach dem Schüssel langte und sie in den Flur zog. Aber auch in seinem Haus wohnte inzwischen ein Paar mit zwei kleinen Kindern. Sie hatten sich nicht bei ihr vorgestellt, nachdem sie eingezogen waren. Und eigentlich sah Elsie sie nur, wenn sie die Kleinen morgens in ihren Kombi bugsierten und wegfuhren oder nach Feierabend zurückkamen. So verhielt es sich jetzt mit den meisten Bewohnern der Straße.

Kein Vergleich mehr zu der Zeit, als Elsie hierhergezogen war. 1962. Nach der Hochzeit mit Hannes. Als in jedem der Häuschen, die größtenteils in Eigenleistung entstanden waren, eine junge Familie wohnte, die Kinder gemeinsam spielten, sich die Frauen mit einer Tasse Mehl oder einem Ei aushalfen, die Straße ungepflastert, nicht beleuchtet und kaum befahren war. In der es eine Bäckerei, eine Drogerie, einen Herrenfriseur gab, und das Radio- und Fernsehgeschäft, das ihrem Hannes gehört hatte.

Elsie schloss die Augen, damit der Riss in der Schlafzimmerdecke aus ihrer Vorstellung verschwand. Vielleicht sollte sie einen Maler bestellen. Es fiel ihr nicht mehr ein, wann hier zuletzt renoviert worden war. Vielleicht sollte sie auch erst mit Doro darüber reden, wenn sie übermorgen heimkam. Na, vielleicht nicht gleich am Montagabend. Am Dienstag würde Elsie jedenfalls wie immer ihre Schwägerin Martha besuchen. Manchmal kochten und aßen sie dann zusammen. Und donnerstags fuhr sie meistens in die Stadt, um sich mit Vera zu treffen, die genau wie sie Lehrmädchen in einem Schirmgeschäft gewesen war.

Genug, sagte sich Elsie und stand auf. Sie ließ die Morgengymnastik aus, ging geradewegs in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Ihr Blick streifte die Reihe der Dosen mit den Kräutertees. Weißdorn wäre die richtige Wahl für Herz und Kreislauf. Doch sie öffnete die Schranktür und griff nach der Tüte mit dem Kaffee. Sie schaltete den Wasserkocher ein, setzte sich auf den Stuhl und klemmte sich die hölzerne Kaffeemühle mit der langen Kurbel zwischen die Knie. Sie liebte es, ihre Handvoll Bohnen so zu mahlen, und genoss den Duft, der sich langsam in der Küche ausbreitete. Dann spülte sie die Kanne heiß aus und bereitete den Kaffeefilter vor. Immer noch den lindgrünen aus Keramik. Denn warum sollte sie ihn durch irgend so ein Plastikding ersetzen, wenn er nicht einmal angeschlagen war? Elsie goss ein wenig kochendes Wasser zum Anbrühen auf. Sie hörte dem leisen Tropfen in die vorgewärmte Kanne zu. Früher hatte es diesen Luxus nur am Sonntag gegeben. Heute konnte sie ihn jeden Tag haben, wenn sie wollte. Noch schmeckte er ihr und sie vertrug ihn. Nicht so wie Grete, die selbst von Schonkaffee Gallenkoliken bekam.