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Ein lebenskluger Roman über Aufbruch und Neuanfang einer Frau, über Selbstzweifel und Selbstfindung und die Sehnsucht nach Heimat und Familie Das große Debüt einer meisterhaften Erzählerin erzählt von einer Frau auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Mira kehrt nach langer Zeit auf ihre Herzensinsel Amrum zurück. Hier lebte ihr Patenonkel Ocko, mit dem sie früher stundenlang Treibholz gesammelt hat und der ihr tausend Geschichten dazu erzählte. Doch nun ist Ocko tot, und Miras Schwester drängt sie, sein altes Kapitänshaus abreißen zu lassen. Als ein Sturm die Insel heimsucht und auch Ockos Haus zerstört, fällt Mira ein ganz besonderes Stück Treibgut in die Hände, und sie erinnert sich an eine von Ockos Geschichten, in der sie selbst eine besondere Rolle spielte. Und plötzlich muss sich Mira fragen, ob diese Geschichte mehr war als nur Seemannsgarn. Hatte sie nicht vielmehr mit ihrem eigenen Leben zu tun? Eine schicksalhafte Schwesternbeziehung vor der grandiosen Kulisse der Nordsee-Insel Amrum "In kraftvollen Bildern erzählt Thesche Wulff vom Leben an der Küste und dem Wellengang des Schicksals. Eine packende Familiengeschichte – ganz große Leseempfehlung!" Bestsellerautorin Gisa Pauly
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Seitenzahl: 569
Veröffentlichungsjahr: 2023
Thesche Wulff
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Mira kehrt nach langer Zeit auf ihre Herzensinsel Amrum zurück. Hier lebte ihr Patenonkel Ocko, mit dem sie früher stundenlang Treibholz gesammelt hat und der ihr tausend Geschichten dazu erzählte. Doch nun ist Ocko tot, und Miras Schwester drängt sie, sein altes Kapitänshaus abreißen zu lassen. Als ein Sturm die Insel heimsucht und auch Ockos Haus zerstört, fällt Mira ein ganz spezielles Stück Treibgut in die Hände, und sie erinnert sich an eine von Ockos Geschichten, in der sie selbst eine besondere Rolle spielte. Und plötzlich muss sich Mira fragen, ob diese Geschichte mehr war als nur Seemannsgarn. Hatte sie nicht vielmehr mit ihrem eigenen Leben zu tun?
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Herzlichen Dank
Vor den Fenstern stöhnte der Ostwind. Lud all den Kummer ab, den er vom Festland mitbrachte und nicht verloren hatte über dem Meer. Sie hörte es. Mit jeder Böe deutlicher. Und sie verstand. Er rief sie hinaus. Er würde nicht weichen, bevor sie mit ihm ging. Sie stand auf. Traf Vorkehrungen. Lauschte. Schon wurde er ungeduldig. Rüttelte am Fenster. Und sie nahm, was sie mitnehmen musste, mit hinaus über die Schwelle. Ihre Füße fanden den Weg von allein in die mondlose Nacht. Doch er blies ihr seinen Atem in den Nacken. Trieb sie voran. Eiskalt. In die Dünen. Über die Stege und über den Sand. Er wusste, wohin. Und sie wusste es auch. Bevor sie den Strand sah. Die Weite. Die Sandbank. Freigespült vom Ebbstrom. Das Meer zog sich zurück. Er lachte sein heiseres Lachen dicht an ihrem Ohr. Sie legte ab, was abzulegen war. Hier und jetzt. Er fauchte. Sie wandte sich den Wellen zu. Schritt für Schritt übers Watt. Bis ihre Zehen das Wasser erreichten. Ihre Knöchel. Ihre Knie. Er war immer noch dicht hinter ihr. Und sie ging weiter. Wehrte sich nicht gegen den Sog. Sollte er ihr doch den Boden unter den Füßen wegziehen. Niemand hielt sie auf. Auch die Wellen nicht, die gegen ihre Oberschenkel klatschten. Gegen ihren Bauch peitschten und gegen ihre Brust. Die Gischt spritzten. Sie blinzeln und Salz schmecken ließen. Er summte ihr ins Ohr. Böe für Böe sein Abschiedslied. Er türmte Wellen für sie auf zu Brechern. Sie tauchte unter und wieder auf und wieder unter. Doch sie sank nicht hinab. Immer noch nicht. Sie hustete und spuckte und schnappte nach Luft. Da drehte er ab. Und sie gab sich hin.
Heute
Mira beugte sich über die Reling. Sie sah zurück auf die Schleppe aus Gischt. Dort wirbelte kein zorniger Wassergeist mit Schaum vor dem Mund. Keine verwunschene Braut versuchte vergeblich ihren Bräutigam zu erreichen und versank auch nicht in den Fluten. Nur die Fähre pflügte das Meerwasser in der Fahrrinne. Miras Fantasie versagte, seit Ocko sie nicht mehr am Anleger in Wittdün erwartete. Seit letztem Sommer. Er würde nie mehr Geschichten für sie erfinden und sie seinen Faden nicht weiterspinnen. Solange sie denken konnte, liebte sie es, in diese Welt einzutauchen, auch mit siebenunddreißig noch. Mira scherte sich nicht darum, dass ihre Schwester das für Kinderkram hielt. Anke hatte die Insel auf ihre Weise erobert, zusammen mit dem Nachbarsjungen Niels. Ockos Geschichten waren für Mira wie eine Burg in den Dünen, in die sie jederzeit fliehen konnte. Selbst wenn die Wellen um sie herumtosten, fühlte sie sich geborgen. Ockos Worte knüpften ihr ein Netz, das sie auffing und ihr Sicherheit gab. Daran hatte Mira immer geglaubt, auch wenn ihre Eltern Ockos Geschichten als Seemannsgarn abtaten.
Salzige Tropfen sprühten ihr ins Gesicht. Sie drehte sich von der Reling weg. Niemand saß auf den sonnengelben Bänken an Deck. Überall bildeten sich Pfützen. Der Tag fühlte sich nicht an wie im Mai. Seit Ockos Tod mied Mira die Insel, obwohl sie sein Haus geerbt hatte und ihre Schwester gleich nebenan wohnte. Allerdings war ihr kein Grund eingefallen, die Bitte ihrer Schwester abzulehnen. Jedenfalls kein triftiger Grund, einer, der bestehen würde vor der Familie. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag kurz vor Weihnachten, als Anke anrief und sie mit der Nachricht überfiel.
Mira atmete tief durch, bevor sie ihrer Schwester gratulierte. »Diesmal wird es ein Mädchen!«, fiel Anke ihr ins Wort. »Ich weiß es genau! Es wird ein Mädchen! Es fühlt sich ganz anders an als bei den Jungs. Ich wusste es vom ersten Moment an! Endlich ein Mädchen! Da kannst du nicht kneifen, Mira, diesmal nicht. Bitte, Mira, du hast es mir versprochen! Diesmal wirst du Patentante!«
Der Boden unter Miras Füßen schien zu schwanken. Was sollte sie dazu sagen? Einfach Ja? Sie schloss die Augen, nur um sie gleich wieder zu öffnen. Sie stand in ihrem Wohnzimmer, so viel war sicher. Keine Schiffsplanken unter ihren Sohlen. Mira lehnte sich an die Wand. Und doch war ihr, als schaukelte sie auf einem winzigen Boot durch die Wellen.
Ankes Worte rauschten weiter, überfluteten Mira, ließen ihr kaum Luft zum Atmen. »Unsere Kleine wird ein Frühlingskind! Taufe im Mai. Am besten so um Pfingsten. Jedenfalls vor der Hauptsaison. Da kann ich ein paar Zimmer freihalten. Du schläfst ja sicher in Ockos alter Kate …«
Im Kapitänshaus. Für Mira war und blieb es Ockos Kapitänshaus. Obwohl es nun ihr gehörte. Ihr allein. Ocko hatte das schon vor mehr als dreißig Jahren so festgelegt, sagte ihnen der Notar nach der Beerdigung. Das Haus und das Grundstück, auf dem es stand, waren für Mira bestimmt und nicht für seine beiden Patentöchter gemeinsam. Seit Anke leer ausgegangen war, nannte sie das Haus nur noch »die alte Kate nebenan«. Sie wollte genau dort einen Bungalow für noch mehr Feriengäste bauen. Der Entwurf lag längst in ihrer Schublade. Nur Mira konnte sich nicht entscheiden. Weder dafür noch dagegen.
»Du hilfst mir doch bei den Vorbereitungen für die Taufe, Mira? Mama und Papa kommen auch ein paar Tage früher.«
»Ich denke …«
»Bitte, Mira, du bist doch meine große Schwester!«
»Es sind noch fast sechs Monate bis Mai.«
»Die vergehen im Nu! Und wir wollen hier im Haus feiern. Ein bisschen so wie früher. Ganz unter uns. Die Nachbarn kommen ja vorher schon zum Kindskieken.«
»Na klar.«
»Niels’ Bruder hat zugesagt. Der hat’s ja nicht weit mit seiner Familie von Föhr, und seine Cousins mit Anhang aus Niebüll und Leck. Die Amerikaner sagen wie immer ab. Dabei will Niels seinen Onkel so gerne mal wiedersehen. Dann wären wir also dreiundzwanzig Personen. Oder bringst du jemanden mit?«
Mira blieb keine Zeit zum Antworten.
»Abgemacht!«
Die Stille in der Leitung sprach dafür, dass Anke aufgelegt hatte. Mira warf das Telefon aufs Sofa. Sie lehnte weiter an der Wand, bis das Schlingern aufhörte. Im Mai sollte sie also Taufpatin von Ankes Töchterchen werden. Ihre Schwester zweifelte nicht daran. Ihre Mutter sicher auch nicht. Und sie? Würde Ocko noch leben, wäre Mira für ein paar Tage zu ihm auf die Insel gefahren. Sie wären gemeinsam um die Odde herumgestiefelt. Hätten den Wind an ihren Kleidern zerren lassen, dem Meer gelauscht und den Horizont angeschwiegen. Vielleicht hätten sie Treibgut aus dem Spülsaum geborgen. Einen geborstenen Monitor voller Seegras oder eins von diesen Geisternetzen. Und Ocko hätte ihr eine Geschichte erzählt.
Von den Schwestern Ebbe und Flut, die ständig ihre Kräfte messen wollten. Die eine hielt die dicksten Treibgutbrocken am Boden oder ließ sie sogar im Sand versinken, während die andere sie in den Wellen wiegte oder wütend zerschmetterte. Schwester Ebbe langweilte das Spiel jedoch bald. Sie lehnte sich zurück und ließ die Flut einfach gewähren. Die sprühte vor Freude, Gischt spritzte in alle Richtungen. Die Wellen sprangen weit den Strand hinauf. »Gewonnen!«, rief die Flut und überschlug sich. »Gewonnen! Gewonnen! Gewonnen!« Doch nur die Möwen kreischten mit. Der Spaß verflog. Die Flut spürte ihre Kräfte schwinden. Sie dümpelte vor sich hin. Sie brauchte Ruhe. Am besten einen Rückzugsort. Das erinnerte sie an ihre Schwester Ebbe. Sie drehte sich nach ihr um und sah, dass sie die ganze Zeit bei ihr gewesen war.
Mira hätte den Kopf an Ockos Schulter gelegt und ohne ein weiteres Wort gewusst, dass sie das Richtige tun würde, egal, was sie tat.
Jetzt stand sie am Heck der Uthlande. Ihre Wetterjacke knisterte im Wind. Jeden Moment mussten sie Föhr passieren. Ihre Eltern waren gestern schon angereist. Eigentlich hatten sie mit ihr zusammen fahren wollen. Doch im letzten Moment behauptete Mira, nicht eher freizubekommen. Sie wollte die Stunden vor dem Familientrubel auf der Insel in Ruhe verbringen. Und allein. Die Feier fand zwar erst am Sonntag statt, aber ihre Mutter und ihre Schwester würden schon dafür sorgen, dass in den kommenden vier Tagen aufgeregtes Flattern in jedem Winkel herrschte. Sogar ihr Vater und Niels ließen sich einspannen. Mira kannte das von den Taufen der Jungen. Sie hatte ihre Aufträge rasch und ohne Nachfragen erledigt. Ihre Mutter und Anke bezweifelten das jedoch und kontrollierten jeden Handgriff zweimal. Mira hatte sich dazu durchgerungen, nur noch darüber zu lächeln. Denn Ocko war nebenan gewesen, und er bot ihr stets eine stille Bucht zum Ankern. Immerhin konnte sie sich in sein Haus zurückziehen. Wenn Anke nicht auch dort Verwandte vom Festland untergebracht hatte. Miras Einverständnis setzte sie sowieso immer voraus.
Sie fror. Doch Mira scheute sich davor, die restliche Zeit an Bord unten im Salon zu verbringen. Alle Tische und Bänke waren besetzt. Vor allem die begehrten Fensterplätze. Wie früher Anke und ihr schien es auch heute noch vielen darum zu gehen, wer als Erster einen Zipfel der Insel erspähte oder sogar den Leuchtturm. Dabei ließen die Scheiben, trüb vom Salzwasser, kaum Aussicht zu. Manche orientierten sich an den Bildschirmen, die an den Querwänden hingen. Dort bewegte sich die Fähre als roter Punkt auf einer Karte durch die Fahrrinne auf die Insel zu. Wenn nicht gerade Schreckensnachrichten aus aller Welt eingeblendet wurden.
Mira entschied sich, die Stufen hinabzusteigen, einen Becher Kaffee zu kaufen und ihn mit an Deck zu nehmen. Warme Luft schlug ihr entgegen, als sich die Glastüren mit leisem Zischen öffneten. Zwei etwa Fünfjährige rannten an ihr vorbei und weiter um den Papierkorb herum. Kreischend fegten sie um die mittleren Sitzgruppen. Mira reihte sich in die Schlange am Buffet ein. Während sie wartete, erinnerte sie sich an ihre erste unbegleitete Überfahrt. Die lag fast dreißig Jahre zurück. Wegen ihr hätte Ocko schon lange nicht mehr auf die Fähre steigen müssen, um sie und ihre Schwester in Dagebüll von ihren Eltern zu übernehmen. Sie hatte stets ein Buch dabeigehabt und hätte die ganze Zeit lesen können. Wenn sie allein gewesen wäre. Ihre kleine Schwester jedoch saß kaum eine halbe Stunde still, selbst wenn Mira ihr vorlas. Eigentlich war Anke nur fünfzehn Monate jünger, aber manchmal kam es Mira so vor, als wären es Welten. Bei ihrer ersten Überfahrt ohne Begleitung wollte Anke das Schiff erkunden, kaum dass sie in See gestochen waren. Als sie merkte, dass Mira hinter ihr herlief, schrie sie: »Lass mich! Ich bin doch kein Baby mehr!«
»Du bleibst hier drin!«, drohte Mira halblaut.
Die Blicke der Mitreisenden trafen sie wie ein eiskalter Luftzug. Mama hatte ihr doch eingeschärft, Anke nicht aus den Augen zu lassen. Die Kleine sollte nicht aufs Deck hinaufgehen. Schon gar nicht ohne Mira. Aber am besten überhaupt nicht. Sie würde auf die Bänke klettern und herunterspringen. Womöglich wagte Anke sogar, auf der Reling herumzuturnen. Und dann war es Miras Schuld, wenn etwas passierte. Es war immer Miras Schuld. Denn sie war ja schon groß und vernünftig. Die Gäste an den Nachbartischen, die von ihren Zeitungen aufsahen, signalisierten ihr, ausgerechnet ihr: Wehe, du tust der Kleinen was an! Der niedlichen Kleinen, die sich nur mal umsehen will. Und kaum hatten sie sich wieder in ihre Lektüre vertieft, plärrte Anke los. Im Nu war Mira bei ihr. Sie stellte die Kleine auf die Füße und zog sie von der Schwingtür vor der Treppe weg. Jemand brachte einen Löffel und drückte das kalte Metall auf die Beule an Ankes Stirn. Mira bedankte sich dafür. Anke beruhigte sich nur langsam. Sie gingen zurück zu ihrem Platz. Mira ließ sie nicht aus den Augen, denn sie wusste, dass die Kleine sich selbst nach diesem Zusammenprall mit der Tür schnell wieder langweilen würde. Jeden Moment konnte sie von der Bank rutschen, um zu neuen Erkundungen aufzubrechen.
Heute starrten viele Gäste auf ihre Displays, die Ohren zugestöpselt. Mira fragte sich, ob sie mitbekommen würden, wenn eins von den Kindern stürzte. Unter irgendeinem Tisch kläffte ein Hund. Hier und da wurde lautstark telefoniert. Rechts ging es darum, ein Segelboot zu überführen. Links wurde erwogen, wie viel Miete man seinem Neffen für das Gästezimmer im Keller abnehmen sollte. Endlich war Mira an der Reihe, ihre Bestellung aufzugeben: Kaffee schwarz. Kaum bezahlt, stand der Becher auch schon für sie bereit. Sie eilte hinaus damit, erleichtert darüber, dass sie das Salonkonzert samt Klingeltönen hinter sich lassen konnte.
Mira suchte sich Windschatten. Sie hielt den Becher mit beiden Händen fest und sah zu, wie der Dampf vom heißen Kaffee aufstieg. Sie hatte sonnige Überfahrten im Februar erlebt und stürmische im August. Gläser schlitterten dann über die Tische. Viele Gäste torkelten Richtung Toiletten, bleich, gelb oder sogar grün im Gesicht. Dabei war der Seegang dort im Untergeschoss noch heftiger zu spüren. Einmal legte die Fähre gar nicht erst ab, obwohl schon alle an Bord gegangen waren, weil das Anlegen am Festland nicht möglich gewesen wäre. Für Mira ein Feiertag, weil sie länger bei Ocko bleiben durften. Dagegen war manchmal, bei tagelangem stürmischem Ostwind, so wenig Wasser in der Fahrrinne, dass nur ein kleines Schiff mit geringem Tiefgang von der Insel losfahren konnte. Für wenige Passagiere ohne Autos. Mira hatte sich insgeheim gewünscht, dass sie an Bord wäre, wenn die Fähre einmal auf einer Untiefe festsitzen würde, wie sie es schon auf Fotos gesehen hatte. Es dauerte dann bis zur nächsten oder übernächsten Flut, bis wieder genug Wasser auflief, damit die Fahrt weitergehen konnte. So unerreichbar zu sein, für ein paar Stunden oder einen ganzen Tag, faszinierte Mira. Ob sie sich dann ein bisschen so fühlen würde wie Ocko, wenn der auf großer Fahrt war? Weit draußen auf dem Meer. Kein Land in Sicht. Kaum zu erreichen von den Liebsten. Doch als sie begann, sich auszumalen, was Anke wohl davon hielte, die Fähre vorläufig nicht verlassen zu können, oder wie die anderen Passagiere reagierten und wie sich ihre Eltern am Kai in Dagebüll ängstigten, verblasste der Wunsch schnell.
Mira trank von ihrem Kaffee. Und heute? Irgendwie schien es verlockend, wenn sich ihre Anreise in die Länge zöge. Das Handy lag hinten im Rucksack. Ausgeschaltet. Sie grinste. Aber all die stets erreichbaren Fahrgäste unten im Salon drehten vermutlich komplett durch, säßen sie hier stundenlang fest. Sie kämen sicher bald auf die Idee, ein Wassertaxi rufen zu wollen. Oder fragten vielleicht sogar, ob sich die Insel nicht zu Fuß erreichen ließe. Einige würden erwägen, Schadensersatz zu verlangen. Für entgangene Inselzeit. Und mit Klage drohen. Die Reederei beschimpfen, den Kapitän, die Offiziere, überhaupt jeden, der ihrer Meinung nach verantwortlich für diese Zumutung wäre. Meer und Wind spielten keine Rolle in ihren Überlegungen. Und ausgerechnet die angebotene Gratisverpflegung würden sie für einen Bestechungsversuch halten.
Mira leerte ihren Becher. Die Wärme des Kaffees war zu schnell verflogen. Sie wusste, dass sich die Fähre heute nicht festfahren würde. Ebenso wenig würde es beim Anlegen Probleme mit Hochwasser geben. Sie stieg die Stufen zum Deck hinauf. Die Wattseite der Insel zeichnete sich bereits gegen das Grau ab. Der Leuchtturm auf seiner Düne ragte bis in die Wolken. Spätestens bei diesem Anblick flammte für gewöhnlich die Vorfreude auf. Doch sosehr Mira sich nach diesem Gefühl sehnte, es wollte sich nicht einstellen.
»Grandios!«
Mira sah sich um. Der gelbe Riese stand wenige Meter von ihr entfernt allein an der Reling. Er redete halblaut vor sich hin, obwohl er keine Ohrstöpsel trug. Offensichtlich sprach er mit seinem Fernglas. Ein Luxusmodell, das er sich mit beiden Händen vor die Augen hielt. Sie verstand, dass er den Einfallsreichtum der alten Friesen bewunderte. Die falschen Leuchtfeuer, die sie früher angezündet hatten, um Havarien zu provozieren. Dabei schien er die Küstenlinie abzusuchen, als ob dort Strandräuber zu entdecken wären. Er musste Mira bemerkt haben, denn er gab ungefragt preis, dass er das erste Mal hier sei und ganz und gar in diese Inselfolklore eintauchen wolle. Mira wunderte sich über seine Wortwahl. Ein paar Brocken Friesisch habe er dafür auch schon gelernt, fuhr er fort. »Das auf Amrum heimische Öömrang natürlich.« Ihn treibe die Frage um, wie Menschen darauf kämen, sich auf kargen, abgelegenen Inseln niederzulassen. Das habe ihn schon in entlegenste Winkel der Welt geführt. »Nach Island. Auf die Äußeren Hebriden. Nach Helgoland.«
Mira sagte nichts dazu. Es dauerte, bis der Mann das bemerkte. Da erst ließ er das Fernglas sinken und sah sie an, als fragte er sich, ob er eine Eingeborene vor sich hatte. Eine, die das Leben fest im Griff hatte, die ihre Kinderschar durchbringen musste, Vieh versorgte, das Feld bestellte, beim Austernstrich half oder Möweneier sammelte und Wildkaninchen schoss, während ihr Mann auf einem niederländischen Walfangschiff unterwegs war. Und vor dem Einschlafen im Alkoven hoffte, dass er im Herbst zurückkäme und nicht ertrunken oder als Sklave in den Orient verkauft worden wäre.
Mira verschränkte die Arme.
Der Mann trug einen dieser schweren, altmodischen Friesennerze, die innen in stumpfem Blau beschichtet waren, über seinem dünnen Sommeranzug. Die Hosenbeine steckten in klobigen Gummistiefeln. Seine blumige Krawatte flatterte im Wind. Die Kapuze schlug ihm gegen den Hinterkopf. Vielleicht erwartete er, dass Mira sein Outfit lobte, dass sie erkannte, wie gut er vorbereitet war auf alles, was da kommen mochte. Er hatte bestimmt jede Zeile gelesen, die es über die Insel und das Wattenmeer zu lesen gab. Doch ob er tatsächlich verstanden hatte, wo die Gefahren lauerten, bezweifelte Mira. Sie sah ihn geradewegs auf den Kniepsand hinausmarschieren, ohne die Schilder, die vor Schlicklöchern warnten, eines Blickes zu würdigen.
In dem Moment fragte er sie, ob sie sich auch zu einer Wattwanderung angemeldet habe.
»Nein«, erwiderte Mira, aber das könne sie nur empfehlen.
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, doch die Strähnen tanzten gleich wieder im Wind. »Sie kennen sich hier aus?«
Mira nickte.
»Stammgast?«
»Gewissermaßen.«
»Darf ich fragen, wie oft Sie schon hier waren?«
»So hundertelf Mal. Vielleicht.«
»Sie scherzen doch.«
»Nein.«
»Hundertelf Mal?«
»Mindestens.«
»Für eine Einheimische zu wenige, für einen Gast zu viele Überfahrten«, überlegte er. »Arbeiten Sie auf der Insel?«
Als Jugendliche hatte sie sich das gewünscht. Und ihren Plan nie in die Tat umgesetzt. Nicht mal für einen Ferienjob oder ein Praktikum.
»Sie haben auf der Insel gearbeitet«, war er auf einmal überzeugt. »Vor Jahren. Und jetzt wollen Sie sehen, wie sich alles verändert hat.«
Mira verspürte plötzlich Lust, einfach »Ja« zu sagen. Doch er würde immer weiter fragen. Auf Insiderinformationen hoffen. Nach Inselklatsch lechzen. Am Ende würde sie vielleicht sogar mit ihm lachen, ihn sympathisch finden. Sich mit ihm verabreden. Ihn zur Familienfeier am Sonntag einladen. Einfach so. Oder um Anke den Wind aus den Segeln ihrer Erwartungen zu nehmen: Mira kommt ohne Begleitung. Wie immer. Ihre Mutter und ihre Schwester würden den Mann interessant finden, ihn womöglich als ganz passabel einstufen. Sie mit mehrdeutigen Bemerkungen überschütten.
Nein! Nein! Nein!
Bevor Mira wusste, was sie ihm antworten wollte, tönte es aus den Lautsprechern, dass sie in wenigen Minuten Wittdün auf Amrum erreichten. Der Mann sah sich hektisch um. Er nickte ihr rasch zu und eilte davon. Typisch Ersttäter, dachte Mira, der fürchtet, nicht mehr rechtzeitig an sein Gepäck oder zu seinem Auto zu gelangen. Sie schlenderte hinab in den Salon. Kaum jemand saß noch an seinem Platz. Die meisten Gäste drängten sich vor dem Ausgang, obwohl es noch dauerte, bis die Tür geöffnet wurde. Mira wartete, bis sich die Menge in Bewegung setzte. Als eine der Letzten schnappte sie sich ihren Koffer von der Ablage und folgte dem Strom der Urlauber hinaus.
Unten an der Bushaltestelle traf sie auf den nächsten Stau. Sie scherte aus, passierte den verwaisten Taxistand und sah hinüber zu den Kleinbussen der Hotels. Sie kannte keinen der Fahrer. Und aus ihrer Familie hatte sich auch niemand auf den Anleger verirrt. Dabei wussten sie genau, wann Miras Fähre einlief. Sie hätten Paps herschicken können. Doch vermutlich musste der den Garten beackern. Der erste Bus fuhr los, so voll, dass in der Kurve zur Inselstraße nicht mal ein Koffer umkippen konnte. Sollte sie sich erst mal einen Imbiss gönnen oder ein Stück Torte genießen? In den geblümten Polstern, im Wintergarten vom Café Pustekuchen entspannen? Eigentlich verlockend. Und doch spürte Mira Unruhe aufkommen. Ihre Schwester rechnete mit ihrer Hilfe. Sie wartete sicher schon auf sie. Mira zögerte. Doch dann drehte sie sich um und ging zur Haltestelle zurück. Es konnte ja nicht so lange dauern, bis der nächste Bus fuhr.
Von der Endstation aus dann noch ein Stück zu Fuß, bis Ankes Haus weiß unter dem hohen Reetdach hervorstrahlte. Auf dem Friesenwall, der das Grundstück einfasste, blühten blaue Stiefmütterchen. Dahinter schwankte der hölzerne Klapperstorch im Wind. Und mit ihm die Wäscheleine voller Söckchen, Strampelanzüge und Stoffwindeln, die bis zu einem antiken Puppenwagen reichte. Mira wunderte sich darüber, dass die Nachbarn den Willkommensgruß für Mutter und Kind diesmal nicht auf dem Dach montiert hatten. Die Haustür stand weit offen. Ein Eimer mit Seifenwasser blockierte die Schwelle. Mira schlängelte sich daran vorbei in die Diele und stellte ihren Koffer ab.
»Mira-Kind, na endlich!«, rief ihre Mutter aus der Küche. Sie kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. Obwohl ihre Hände in rosa Gummihandschuhen steckten, ließ Mira sich umarmen.
»Hallo, Mama.«
»Dein Vater ist hinten im Garten. Anke stillt gerade die Kleine. Niels ist arbeiten. Die Jungs sind noch bei ihren Freunden. Willst du was essen?«
»Später vielleicht. Danke, Mama.«
»Ich bin noch mit den Zimmern zugange. Die letzten Gäste sind gestern erst abgereist. Und Anke soll sich mal ein bisschen ausruhen. Dafür sind wir ja jetzt da. Die Kinder halten sie ganz schön auf Trab. Besonders die Kleine. Du musst sie sehen, Mira! So ein süßer Schreihals. Und ganz die Mama!«
Mira nickte.
»Sonst macht Anke immer noch alles alleine«, sprudelte ihre Mutter weiter, »sogar in der Hochsaison!«
Wenn sie meint, dass sie das muss, dachte Mira, sprach es aber nicht aus. Finanziell konnte sich ihre Schwester bestimmt eine Hilfskraft leisten oder sogar zwei. Doch auf die Sorgfalt Fremder zu vertrauen, fiel ihr schwer. Sie stöhnte stets darüber, dass es zu wenig Personal auf der Insel gebe und sie nicht bereit sei, sich mit irgendwelchen Pfuschern von außerhalb herumzuärgern. Ihre Gäste hätten schließlich das Recht auf blitzblanke Apartments. Dazu gehörte für Anke unbedingt, dass es keine Staubflocken in den Schlüssellöchern gab, die Lamellen der Jalousien glänzten, sich kein Schmutz oben auf den Türen sammelte und selbstverständlich nur fettfreie Töpfe und klar gespülte Gläser im Schrank standen. Von fleckenlosen Polstern, Läufern oder Matratzen gar nicht zu reden.
»Du machst dir keine Vorstellung davon, Mira«, sagte ihre Mutter. »Die Decken und die Schonbezüge sind in der Waschmaschine, die Kissen im Trockner. Für zwei Durchgänge mindestens.«
»Super«, lobte Mira.
»Bevor ich euren Vater kennengelernt habe, wollte ich auch ins Vermietergeschäft einsteigen.«
»Du hättest das prima hinbekommen!«, erwiderte Mira, weil sie genau wusste, dass ihre Mutter das hören wollte.
Ihre Mutter winkte ab. »Ist doch nichts bei!«
Die Hintertür flog auf. Miras Vater blieb abrupt im Türrahmen stehen. Er sah auf seine Gartenclogs hinab, dann zu seiner Frau hinüber. Dabei bemerkte er Mira und vergaß, seine Schuhe auszuziehen. Erdklumpen und Grasschnitt markierten seinen Weg. »Wie geht’s, wie steht’s mit meiner Großen?«
Mira umarmte ihn. »Gut, Paps, und dir?«
»Alles wie immer. Der Rasen wächst, auch wenn man nicht dran zieht.« Er ließ Mira los und sah zu seiner Frau. »Deine Mutter sorgt schon dafür, dass mir nicht langweilig wird. Ich hol mal den Besen.«
»Wenigstens war ich mit der Diele noch nicht durch«, murmelte Miras Mutter.
»Da geht bestimmt noch was bis Sonntagmittag!« Mira lachte, aber ihre Mutter lachte nicht mit.
»Du willst dich sicher ein bisschen frisch machen, Mira. Komm doch einfach wieder her, wenn du fertig bist.« Damit ließ ihre Mutter sie stehen.
Mira durchquerte die Diele. Vor der Schwelle zum Garten hob sie ihren Koffer an, trug ihn hinaus und weiter, von der Rückseite her auf Ockos Kapitänshaus zu. Die tief hängenden Wolken schienen das hohe Reetdach fast zu berühren. Es ragte über die Hauswand und beschattete die Sprossenfenster. Mira seufzte. Ein Lächeln wollte ihr nicht gelingen, obwohl es sich immer noch wie Heimkommen anfühlte. Sie zog die Schlüssel aus ihrem Rucksack. Den großen für das altertümliche und den glänzenden für das Sicherheitsschloss, an das sich Ocko nicht hatte gewöhnen wollen. Am liebsten hatte er die Haustür einfach offen gelassen, wie früher.
Drinnen schlug Mira abgestandene Kälte entgegen. Hier hatte niemand gelüftet, geputzt oder geheizt, seit sie abgereist war. Irgendwann im letzten Herbst. Nachdem sie alle Formalitäten erledigt hatte, war Mira für ein paar Tage hergekommen, um sich mit Ockos Erbe anzufreunden. Doch es war zu früh gewesen. Diese leblose Stille trieb ihr selbst jetzt noch Tränen in die Augen. Sie stellte Koffer und Rucksack neben Ockos Seekiste ab. Mit der flachen Hand streichelte sie über den rauen, leicht gewölbten Deckel. Für Mira steckte die alte Truhe voller Geschichten. Sie hatte es geliebt, wenn Ocko den schweren Deckel für sie öffnete und davon erzählte, dass diese Seekiste nicht nur ihn, sondern schon seinen Vater und seinen Großvater über die Weltmeere und rund um Kap Hoorn begleitet hatte. Gemeinsam blätterten sie in den Seefahrtbüchern, die er darin aufhob. Sie versuchte die Buchstaben auf den bunten Stempeln zu entziffern, und er las ihr die Einträge in der oft so verschnörkelten Schrift vor. Die erzählten von seiner Ausbildung, der Arbeit und dem Leben an Bord, von einer fremden Welt. Die Ocko für sie zum Leben erweckte. Die sie den Wind und die Wellen spüren ließ und ihr salzigen Geschmack auf die Lippen zauberte. Sie wünschte sich lange, dass sie auch einmal über eine Strickleiter, die an einer steilen Schiffswand pendelte, zu ihm an Bord klettern durfte. Um ihn im Hafen zu besuchen oder sogar mit ihm zu fahren. Aber dazu kam es nicht.
Mira hatte nie gewagt, Ockos Seekiste alleine zu öffnen, obwohl Anke sie mehr als einmal dazu verleiten wollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was die Kleine so spannend daran fand. Vielleicht war es auch nur ein Spiel, das sie herausfordern sollte, und Mira war wieder mal die Spielverderberin gewesen. Inzwischen könnte Anke jederzeit in die Truhe sehen, wenn sie das noch wollte, denn die Zweitschlüssel zu Ockos Haus hingen in ihrer Waschküche.
Mira öffnete alle Fenster. Trübes Licht floss herein. Und der Wind brachte feuchte Luft mit. Metallisches Pochen deutete darauf hin, dass die altersschwache Heizung ansprang. Das würde nicht reichen. Mira lief hinaus zum Schuppen. Sie packte den schweren Riegel und rüttelte daran. Er schrammte über die rohen Holzlatten. Mit Kraft ließ er sich ganz zurückschieben. Die Tür schwang auf, doch Mira zögerte, einzutreten. Denn hier lagerten auch die besonderen Stücke, die Ocko und sie in den letzten Jahrzehnten gesammelt hatten. Für ihr Treibgutmuseum. Schon seit Miras Kindheit hatten sie davon geträumt. Seit Mira diese Scherbe im Spülsaum gefunden hatte. Sie leuchtete weiß und war mit zarten blauen Linien bemalt. Ocko vermutete, dass sie mindestens dreißig oder vierzig Jahre auf dem Meeresboden gelegen hatte, denn die scharfen Kanten waren längst vom Sand abgeschliffen. Es musste eine von den Delfter Fliesen gewesen sein, die die Wände in der guten Stube in einem Kapitänshaus auskleiden sollten. Die einen Großsegler in voller Fahrt zeigten, von dem nur noch ein Stück Tau auf der Scherbe zu sehen war. Fasziniert trug Mira diese Meerkeramik mit sich herum. Nicht nur auf der Insel, sondern auch zu Hause in Hamburg. Bis ihre Mutter sie entdeckte und es einen fürchterlichen Streit gab. Über den unhygienischen Abfall, den Mira offensichtlich sammelte. Den die Mutter keinesfalls im Haus haben wollte. Und Mira das Versprechen abverlangte, ihn wegzuwerfen. Doch Mira hielt die kleine Scherbe versteckt, bis sie sie wieder zurück auf die Insel bringen konnte. Ocko hatte nur den Kopf geschüttelt darüber. Von da an suchten sie nach einem sicheren Ort für ihre Fundstücke.
In den letzten Jahren hatten sie das Museumsprojekt gemeinsam vorangetrieben. Obwohl sie immer wieder mit Gegenwind von den Nachbarn kämpfen mussten. Mira fürchtete, dass die Erinnerungen sie überwältigten, sobald sie den Schuppen betrat. Aber Ocko hatte dort auch das Treibholz, mit dem er heizen wollte, zum Trocknen aufgeschichtet. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als hineinzugehen. Die ältesten Stücke lagerten hinten an der Querwand. Mira suchte ein paar handliche Scheite heraus. Ohne sich weiter umzusehen, eilte sie ins Haus zurück und lud das Holz vor dem Kaminofen ab. Den hatte die Familie Ocko zum achtzigsten Geburtstag geschenkt. Dabei war er zuerst der Überzeugung gewesen, sein alter Allesbrenner gehörte noch längst nicht entsorgt. Mira schloss alle Fenster, holte ihre Tageszeitung aus dem Rucksack, zerknüllte ein paar Seiten und steckte sie in den Ofen. Dann schichtete sie einige Holzscheite darüber und öffnete den Abzug. Die Schachtel Streichhölzer, die auf dem Tisch lag, fühlte sich klamm an. In der Küche fand sie ein Feuerzeug, das funktionierte. Im Nu brannte das Papier und entzündete das Holz. Sie schloss den Abzug und sah dem Feuer von Ockos Ohrensessel aus eine Weile zu. Es würde dauern, bis die Wärme in jeden Winkel vorgedrungen war. Neun Monate Kälte steckten in den Mauern und ließen sich nicht so schnell vertreiben. Sie durfte nicht vergessen, Holz nachzulegen, auch wenn sie später zu den anderen hinüberging.
Mira rollte ihren Koffer nach hinten in das kleine Zimmer. Als Kinder hatten Anke und sie hier geschlafen. Es hatte immer Streit um das Bett direkt am Fenster gegeben. Mira sollte als Ältere die erste Wahl haben. Doch die Entscheidung war nie wirklich frei für sie. Denn Anke hatte behauptet, sie könne nur bei offenem Fenster schlafen. Sie würde sonst keine Luft bekommen und ersticken. Manchmal inszenierte sie einen Hustenanfall dazu, den Mira ruhig abwartete, der Ocko aber den Schweiß auf die Stirn trieb. Ob es regnete, hagelte, stürmte oder der Vollmond hereinschien, das Fenster durfte nicht geschlossen werden. Also schlief Mira in dem Bett an der Wand unter zusätzlichen Decken. Später, als sie nur noch allein hier übernachtete, hatte Ocko sie mit einem neuen, breiteren Bett überrascht. Selbst gebaut aus Treibholz, stand es mitten im Zimmer und ließ kein zweites neben sich zu.
Mira kniete sich hin, um ihren Koffer zu öffnen.
»Tante Miraaa!«
Das konnte nur Bendix, Ankes Ältester sein. Mira stand auf und ging ihm entgegen. »Ui, wer ist denn der junge Mann, der mich da besucht? Hm, lass dich mal ansehen.« Mira ging einmal ganz um ihn herum.
Der Junge grinste.
»Nein, das glaube ich nicht! Bist du etwa Benni?«
Er wiegte den Kopf hin und her. »Bendix. Mama sagt, ich heiße Bendix.«
»So, sagt sie das? Und was sagst du?«
»Na ja, manchmal will ich einfach nur Ben heißen.«
»Verstehe.«
»Ehrlich?«
»Ja. Ganz ehrlich.«
Er sah sie mit seinen großen blauen Augen an. Genauso hatte sein Vater Anke und sie angesehen, als sie zum ersten Mal am Strand aufeinandergetroffen waren, mit Eimerchen und Schaufeln. Er musste fünf Jahre alt gewesen sein, genau wie Anke, drei Jahre jünger als ihr ältester Sohn heute.
Die Haustür wurde erneut geöffnet. Der Junge verdrehte die Augen, denn auf der Schwelle stand sein jüngerer Bruder Claas.
»Die Oma fragt, wo ihr so lange bleibt.«
Mira wuschelte zur Begrüßung durch seine blonden Locken. Er lachte. Dabei kam seine Zahnlücke zum Vorschein.
»Oha!« Mira tat erschrocken.
»Kinderkram«, winkte Bendix ab.
Claas stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin kein Kind. Ich bin schon in der ersten Klasse!«
»Aber bei dem Zahn hat er geheult wie das Baby.«
Mira nickte. »Und wenn schon. Heulen darf man immer.«
Sie legte die Arme um beide Jungen und drückte sie an sich. Der Baukasten, den sie für Ankes Söhne gekauft hatte, lag ganz unten im Koffer. Eigentlich sollten die drei ihn erst am Sonntag geschenkt bekommen. Als Entschädigung gewissermaßen, dass sich an dem Tag alles um ihre kleine Schwester drehen würde. Doch Mira hatte plötzlich Lust, die Jungen sofort zu überraschen. »Wartet mal, ich hab was für euch.« Sie ließ die beiden los und wandte sich ihrem Zimmer zu. Bevor sie es erreichte, riss jemand die Haustür auf. Mira drehte sich um. Ihre Mutter mit Ankes jüngstem Sohn Drefs auf dem Arm. Also musste das Geschenk für die Jungen doch noch im Koffer bleiben.
»Wolltest du mir nicht helfen?«, fragte sie und übergab Mira den Vierjährigen. »Die Kleine hast du wohl auch noch nicht gesehen.«
Mira überlegte kurz, ob es so vorwurfsvoll gemeint war, wie es klang.
»Deine Schwester hat sich noch einen Moment hingelegt. Ich will uns jetzt was kochen. Am besten eine kräftige Suppe. Mit Eierstich. Und reichlich Gemüse. Hilfst du mir beim Schnippeln?«
Bendix lief voraus, und Claas griff sich die Hand seiner Oma. Mira schäkerte mit Drefs. Ihre Mutter drehte sich nach ihr um.
»Und, wie fühlt sich das an für dich?«
»Ganz schön schwer, der Kleine.«
»Das meine ich nicht.«
»Ich weiß, Mama.«
»Kinder sind großartig, Mira. Und Enkel erst, die sind das Allergrößte!«
»Ja, und bald ist es zu spät dafür.« Wie könnte ich das je vergessen, dachte Mira, denn es verging kaum ein Gespräch, in dem ihre Mutter sie nicht daran erinnerte.
Mira hörte die Schritte auf der Treppe als Erste und legte das Messer beiseite. Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. Doch sie kam nicht mehr dazu, die Möhren einzufordern, die so dringend in die Suppe mussten. Anke betrat die Küche. Sie gähnte und zog den Gürtel ihrer Strickjacke enger.
»Du kannst unmöglich ausgeschlafen haben!« Ihre Mutter legte den Kochlöffel nicht aus der Hand.
»Ach Mama.« Anke ging an ihr vorbei, auf Mira zu. »Hallo, Schwesterherz! Bereit für die große Aufgabe?«
»Gibt es eine bessere Vorbereitung?«, fragte Mira zurück und holte so schwungvoll aus, als wollte sie das ganze Haus mit allen Bewohnern darin umarmen.
»Meine Jungs haben dich nicht genervt?« Sie schien überrascht, dass die drei hinterm Küchentisch auf dem Fußboden saßen und Bauernhof spielten. Mira hatte den Anhänger des Treckers mit einer Möhre beladen und ihre Mutter ausnahmsweise dazu geschwiegen.
»Sag nichts gegen meine Lieblingsneffen!«
Anke legte den Arm um Mira. »Gut, dass du da bist.«
»Ist doch klar!«
»Und, willst du sie mal sehen, unsere Kleine?«
»Schläft sie?«
»Scheint so.«
»Vielleicht lassen wir sie besser erst mal ausschlafen.«
Anke lächelte dankbar.
»Dann wird das ja heute noch was mit den Möhren für die Suppe.«
»Ja, Mama«, sagte Mira.
»Gleich, Mama«, sagte Anke.
Die Schwestern grinsten sich an. Ihre Mutter wandte sich wieder dem Kochtopf zu.
Niels kam von der Arbeit, als der Tisch schon gedeckt war. Er küsste seine Frau, begrüßte seine Schwägerin und seine Schwiegermutter, herzte die Jungs und klopfte seinem Schwiegervater auf die Schulter. »Kaum wiederzuerkennen, unser Garten!« Bevor er nach seinem Töchterchen fragen konnte, klingelte sein Handy. »Sorry, ich bin auf Abruf.« Er zog sich in den Flur zurück.
Anke winkte ab. »Kommt wieder ein Feriengast nicht klar mit dem Geschirrspüler, dem Herd, der Fernbedienung.«
»Und was ist mit dem Essen?« Ihre Mutter klang empört.
Niels sah noch einmal zur Küchentür herein. »Bin gleich zurück. Scheint nur ’ne Sicherung rausgesprungen zu sein.«
»Wie du das bloß aushältst …«
»Das ist sein Job, Mama!«
»Ich denke, er ist der Chef?«
»Juniorchef.«
»Na, hoffentlich muss er nicht auch noch am Sonntag los.«
»Da haben sie den Gesellen verpflichtet«, erwiderte Anke und fragte: »Wollt ihr schon anfangen zu essen?«
»Wir warten«, meldete sich ihr Vater zu Wort.
»Wenn das nicht zu spät wird für die Jungs?«
»Schon okay, Mama.«
Als endlich alle ihre Suppe auf dem Teller hatten, weinte das Baby. Anke und Niels sprangen gleichzeitig auf.
»Ich sehe nach ihr«, sagte Anke.
Niels setzte sich wieder hin.
»Ich komme mit.« Mira folgte ihrer Schwester hinaus und schloss die Küchentür hinter sich.
»Lange kein Essen mehr mit der Familie erlebt, was?«
»Ich wusste doch, irgendwas fehlt mir …«
»… nur wusstest du nicht, was«, ergänzte Anke.
»Ganz genau!«
Kichernd stiegen sie die Treppe hinauf. Anke nahm ihr Töchterchen aus dem Bett und streichelte ihm die Wange. »Schau mal, meine Kleine, deine Tante Mira ist da. Extra für dich. Da willst du dich doch von deiner besten Seite zeigen, was?« Damit legte sie das Baby in Miras Arm. Es hörte sofort auf zu weinen.
Mira spürte die Wärme, die von dem Baby ausging, die Bewegung, das Leben. Hoffentlich enttäusche ich dich nicht, dachte sie. Sie hielt ihm den Finger hin, und es griff danach und klammerte sich fest. Mira strahlte die Kleine an.
»Ich sehe schon, ihr seid ein Herz und eine Seele. Dann lass ich euch mal allein!«
»Stürz du dich ruhig auf Mamas Eintopf. Wir beide kommen zurecht«, sagte Mira.
Anke verließ das Kinderzimmer, drehte sich jedoch noch einmal um. »Wir nennen sie übrigens nach Niels’ Urgroßmüttern. Aber als Rufnamen sind wir bei Elin geblieben. Ich finde, sie leuchtet. So als ob sie schon weiß, was ihr Name bedeutet.«
»Das habt ihr genau richtig ausgesucht«, sagte Mira, ohne den Blick von der Kleinen abzuwenden, »da bin ich mir sicher.«
Auch nachdem sie später die Tür zu Ockos Haus hinter sich geschlossen hatte, brandete der Lärm des Tages wie auslaufende Wellen in ihren Ohren. Kurz vor Mitternacht. Das Feuer im Ofen war längst zu Asche verglüht. Mira scheute sich, das Licht einzuschalten, tauchte durch die dunkle Kälte in ihr Zimmer. Sie tastete nach ihrem Koffer, nahm den Schlafsack heraus und rollte ihn auf dem Bett aus. Wenig später schlüpfte sie hinein und zog den Reißverschluss bis obenhin zu. Kapuze und Wärmekragen schenkten ihr die Ahnung einer Zuflucht. Mehr würde es nicht geben.
Ihre Mutter und Anke hatten dieses Mal noch akribischer geplant als für die Taufen der Jungen. Mira hatte sich kaum vorstellen können, dass das möglich war. Doch die beiden mussten sich monatelang über die farbliche Abstimmung von Tischkarten, Blumengestecken, Kerzen und Servietten die Köpfe zerbrochen haben. Von der Sitzordnung gar nicht zu reden. Vermutlich hatten sie sogar mehrere Varianten ausprobiert, weitere Anregungen in Zeitschriften gesucht und ihre Männer mit der Abstimmung über die Alternativen gequält. Da Ankes Schwiegermutter mit gestärkten Tischdecken und ihrem besten Porzellan aushalf, musste die Dekoration auch dazu passen. Und womöglich sogar zu Elins Taufkleid. Im Wohnzimmer stapelten sich Kartons, Tüten und Waschkörbe mit Zubehör. Das Ausmaß ließ Mira vermuten, dass es immer noch Zweifel gab. Die Kaffeetafel sollte im Garten aufgebaut werden. Bestimmt versteckte sich auch irgendwo ein riesiges Zelt, falls die Feier im letzten Moment noch wetterfest gemacht werden musste. Bisher weigerte sich die Sonne, zu scheinen.
Die Kuchen und Torten sollten natürlich aus der eigenen Küche kommen. Obwohl die Zutatenliste Mira schon so lang erschien, als würde sie bis nach Wittdün zum Anleger reichen, quälte sich ihre Mutter immer noch mit der Frage, ob es genug für alle geben würde.
Mira blätterte die Rezepte durch. »Sieht aus, als ob du Café Schult Konkurrenz machen willst.«
»Musst du immer so übertreiben, Kind?«
»Du wirst am Montag ganz Norddorf mit Kuchen und Torte von deinem Buffet beglücken können!«
»Wir sind immerhin dreiundzwanzig Personen.«
»Aber nur vierzehn Erwachsene.«
»Essen die Kinder etwa keinen Kuchen?«
»Das Baby sicher nicht.«
»Als ob es darauf ankommt. Anke meint übrigens auch, dass keiner hungrig nach Hause gehen soll.«
»Das sieht nicht nach Hunger aus, sondern eher nach Zuckerschock«, fand Mira.
»Am besten, du fährst mit Ankes Kombi zum Einkaufen und klappst die Rückbank um.«
»Wenn du meinst, Mama.«
»Und bleib nicht den halben Tag weg!«
Mira kontrollierte die Einkaufsliste ein letztes Mal. Alles abgehakt. Dann schlug sie die Kofferraumklappe des Kombis zu. Vor dem Supermarkt parkten Autos aus verschiedenen Winkeln Deutschlands, eins sogar aus der Schweiz. Die Vorsaison ließ sich gut an. Zu Pfingsten würde es kaum ein freies Bett auf der Insel geben. Mira stieg in den Wagen und fuhr doch nicht los. Sie hatte niemanden getroffen. Weder drinnen zwischen den Regalen noch in der Schlange vor der Kasse oder draußen auf dem Parkplatz. Keiner der Kunden, Ladenhilfen, Kassiererinnen kam ihr bekannt vor. Nichts als das knappe »Moin«, das jedem zuteilwurde. Kein Gespräch. Mit Ocko wäre ihr das nie passiert. Er traf immer jemanden, der Neuigkeiten weitertrug, Geschichten aufwärmte und nach Mira, der jungen Frau an seiner Seite, fragte. Es gehörte dazu, dass sie auch angesprochen wurde, wenn sie tatsächlich mal allein unterwegs war. Seit Ockos Beerdigung schienen alle Gespräche verstummt.
Sie startete den Wagen. Offensichtlich verleitete heute nicht mal das heimische Autokennzeichen irgendjemanden zu einem zweiten Blick auf die Fahrerin. Mira überlegte, ob die Insulaner nur im November sie selbst waren und im Januar, wenn kaum Touristen anreisten. Versteckten sie sich sonst hinter ihrer Geschäftigkeit? Und fanden sie sich wieder, wenn der Trubel abebbte? Hielten sie das überhaupt aus? So ganz unter sich? Oder ging es dann auch nur ums Reparieren und Funktionieren?
»Wenn ich groß bin, ziehe ich zu Ocko auf die Insel!«, hatte Mira immer gesagt und es doch nicht getan. Stattdessen lebte Anke hier. Seit mehr als fünfzehn Jahren. Sie würde sicher in so manches Gespräch verwickelt werden beim Einkaufen. Über ihre Kinder, ihren Mann oder die Buchungslage. Über ihre Schwiegereltern, das Geschäft, den Neubau. Und sie würde wissen, was sie zu antworten hatte und zu fragen.
Mira parkte das Auto vor dem Friesenwall und öffnete den Kofferraum. Sie lud sich das Gebinde mit den Mehltüten auf und schleppte es durch den Vorgarten, vorbei an dem schwankenden Klapperstorch. Niemand kam aus dem Haus gelaufen, um ihr zu helfen. Sie versuchte, die Tür mit dem Ellenbogen zu öffnen, doch die war verschlossen. Der feuchte Rasen verbot es ihr, die Last einfach abzustellen. Sie hastete um das Haus herum. Nur nicht fallen lassen, das Mehl, das zu all den Kuchen und Torten werden sollte. Wenigstens war die Hintertür unverschlossen.
»Hallo, hört mich jemand?«, pustete Mira.
Keine Antwort.
Sie erreichte die Küche, setzte das Mehl ab und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen.
Langsam kam Mira wieder zu Atem. Nirgends lag ein Zettel mit einer Nachricht für sie. Das sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich. Das Haus war leer, geradezu verlassen. Hatte Mira überhört, dass es einen wichtigen Termin gab? Oder waren ihre Eltern mit Anke und dem Baby spontan aufgebrochen? Unwahrscheinlich. Sie könnte ihnen hinterhertelefonieren. Aber wozu? Bis sie zurückkamen, hatte Mira das Auto allein ausgeladen, auch wenn der Großeinkauf nun noch durch den Garten transportiert werden musste.
Zwanzig Minuten später sah Mira auf das Warenlager, das sie in die Küche geschafft hatte. Darauf eine Tasse Kaffee! Oder sollte sie besser gleich eine ganze Kanne aufsetzen? Sie öffnete die Schranktür auf der Suche nach Filtertüten. Dabei fiel ihr Blick auf eine schimmernde Blechdose. Sie hob sie mit beiden Händen heraus. Rote und gelbe Schmetterlinge schwebten übers Blau. Ihre Finger spürten die Delle am Deckelrand. Kein Zweifel: Klärchens Keksdose. Niels’ Großmutter hatte immer darauf gewartet, dass die Kinder nach ihren Streifzügen zu ihr ins Haus kamen, und sie mit Kakao und Friesenwaffeln verwöhnt. Hauchdünn und knusprig. Selbst gebacken in einem uralten Eisen. Mira weigerte sich, die Dose zu öffnen. Sie wusste, sie würde Butterkekse aus dem Supermarkt darin finden. Das Eisen für die Friesenwaffeln war vermutlich in dem riesigen Container gelandet. Entrümpeln hatte Anke das genannt, als sie mit Niels und ihrem ersten Kind in Klärchens Haus ziehen durfte und Klärchen dafür die kleine Einliegerwohnung bei Niels’ Eltern bekam. Alle Zimmer sollten hell und modern werden. Was Anke nicht für schnörkellos und pflegeleicht hielt, fiel in die Kategorie Gerümpel und gehörte entsorgt. Ocko hatte seine Hilfe angeboten und versucht, ein paar Stücke für Klärchen zu retten. Doch über eine alte Kaffeemühle, ein Walkbrett und das Spinnrad war er nicht hinausgekommen. Niels und seine jungen Helfer waren schneller gewesen. Mira fragte sich, warum ausgerechnet diese Keksdose die Aktion überlebt hatte. Ob Klärchen darin Proviant für die fleißigen Arbeiter bereitgestellt hatte, oder ob Anke sich an die Leckereien erinnerte, die Niels’ Oma ihnen früher daraus angeboten hatte?
Woran mochte sich Anke überhaupt erinnern aus ihren ersten Ferienjahren bei ihrem Patenonkel? Mira hatte nie mit ihrer Schwester darüber gesprochen. Wie selbstverständlich nahm sie an, dass sich ihre Erinnerungen ähnelten. Völlig überein stimmten sie nicht. Das wusste sie, seit Anke ihr gestanden hatte, dass sie in Niels verliebt war. Sie musste damals zwölf Jahre alt gewesen sein. Für Mira war Niels immer so etwas wie der kleine Bruder von der Insel gewesen. Bis zu diesem tränenreichen Nachmittag auf der Fähre.
Zum ersten Mal freute sich Anke nicht auf ihre Freundinnen zu Hause in Hamburg.
»Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt«, schluchzte sie.
Insgeheim musste Mira ihr recht geben. »Wenn er dich auch so toll findet, dann fiebert er schon unseren nächsten Ferien entgegen.« Sie reichte ihrer Schwester ein Taschentuch.
»Aber die Ziege aus der Töpferei ist doch hinter ihm her!«
»Na und?«
»Jetzt bin ich weg, und sie hat freie Bahn!«
»Aber nur, wenn Niels das zulässt.«
Anke überlegte. Dann nestelte sie eine Kette unter ihrem Pullover hervor. »Die hat Niels für mich gemacht.« Sie wollte nicht, dass Mira das gute Stück berührte. Muschelschalen wie aus Porzellan, auf haarfeinen Kunststofffaden aus einem Geisternetz aufgezogen.
»Ui!« war alles, was Mira dazu sagen konnte.
»Ich hab ihm mein Zopfgummi dagelassen. Den aus Samt.«
Mira nickte. »Die andere hat keine Chance.«
»Wirklich?«
»Ganz wirklich!«
»Aber nichts Mama sagen!«
»Versprochen.«
Anfangs hatte Mira sich Niels kaum als Ankes Freund vorstellen können. Inzwischen fragte sie sich, ob Anke überhaupt noch wusste, dass sie in den ersten Jahren immer zu dritt unterwegs gewesen waren, als Piraten, als Deichgrafen oder um vergrabene Schätze aufzuspüren und Angespültes einzusammeln. Und natürlich waren sie auch gemeinsam bei Niels’ Oma Klärchen eingekehrt und hatten sich von ihr verwöhnen lassen. Was auch immer Mira sich in den zehn Jahren, bis Anke zu ihm auf die Insel zog, über Niels anhören musste, es passte selten zu dem Bild, das sie selbst sich von ihm gemacht hatte: Niels, der stille Junge, der seinen eigenen Weg ging, der sich weder von seinem großen Bruder noch von seinen Schulfreunden vereinnahmen ließ. Der sich nichts daraus machte, wenn sie über ihn lachten. Der alle Schleichwege der Insel kannte, mehr über die Tiere und Pflanzen am Watt wusste als seine Lehrer, der einfach alles, was er hörte, wie ein Schwamm aufsog. Von dem Mira dachte, er würde später einmal Naturforscher werden und nicht in die Firma seines Vaters einsteigen, wie es eigentlich für seinen Bruder vorgesehen war.
Mira setzte die Kaffeemaschine in Gang. Von der Keksdose abgesehen, erinnerte hier nichts mehr an Klärchens Küche. Mira war sie immer behaglich vorgekommen, Anke fand sie wohl eher düster und altbacken. Dabei musste das Haus zuvor schon unzählige Male umgebaut worden sein. Es gab längst Gästezimmer statt Alkovenbetten, eine Heizung ersetzte den gusseisernen Bilegger-Ofen und Tapete die Delfter Fliesen an den Wänden in der guten Stube. Sie hatte Klärchen nie gefragt, wie lange sie schon in dem Haus wohnte und ob es womöglich seit Jahrhunderten in Familienbesitz war. Hier prangten keine schmiedeeisernen Zahlen unter dem Giebel an der Fassade, die preisgaben, wann es gebaut worden war. Immerhin wusste Mira, dass es als eins der wenigen Reetdachhäuser in Norddorf den großen Brand von 1925 unbeschadet überstanden hatte.
Mira sah durch das Küchenfenster in den Vorgarten hinaus. Der Wind zauste an den Stiefmütterchen auf dem Friesenwall. Was wusste sie von Ankes Alltag? Und was wusste Anke von ihrem?
Drei Tassen Kaffee später fiel Mira ein, dass sie ganz gegen ihre Gewohnheit diesmal noch gar nicht durch die Dünen und zum Strand gegangen war. Zuerst, zuallererst das Meer sehen, hören, riechen. Oder dem Watt lauschen. Egal, wie spät es bei ihrer Ankunft war. Ob der Mond schien oder Wolken den Himmel verfinsterten. Ob es schneite oder die Sonne brannte, Mira zog es hinaus. Sie fühlte sich erst angekommen, wenn sie den Spülsaum sah, wenn sie spürte, wie der Wind den Flugsand über den Strand trieb, und die Muschelschalen unter ihren Sohlen knackten. Wieso saß sie in Ankes Küche und starrte auf den Grund ihrer Kaffeetasse? Worauf wartete sie? Die anderen kamen auch ohne sie zurecht, wie sie gerade mal wieder bewiesen. Sie schlug die Hintertür zu und durchquerte den Garten.
»Mira! Wir sind wieder da!«
Sie blieb abrupt stehen.
»Hilf doch mal Anke mit dem Kinderwagen!« Eindeutig die Stimme ihrer Mutter.
Mira drehte sich um. Ihre Eltern passierten gerade, beladen mit Taschen und Tüten, den Friesenwall. Sie schluckte. Dann ging sie ihnen entgegen.
»Gitte hat uns schon mal die Milchkännchen und Zuckerdosen mitgegeben.« Sie kamen also von Ankes Schwiegereltern. »Und die Tischtücher. Wahnsinn, dieses alte Leinen! Und die Anzüge für die Jungen sind auch fertig.«
Mira nahm die Pakete vom Kinderwagen und folgte Anke und ihren Eltern durch den Vorgarten. Ihr Vater schloss die Haustür auf.
»Danke übrigens, dass ihr mich ausgesperrt habt.«
»Die Hintertür ist immer offen«, sagte Anke nebenbei. »Wir waren nur kurz bei Gitte, und eigentlich solltest du mit, wegen der Kleiderprobe.«
»Du hast mich zum Einkaufen geschickt, schon vergessen?«
»Das musste ja sein.«
»Gern geschehen! Und quer durch den Garten hab ich das ganze Zeug auch noch geschleppt!«
»Aber warum denn? Die Vordertür lässt sich doch von innen öffnen, ganz ohne Schlüssel.«
»Na danke.« Mira ließ sie stehen und war schon wieder zur Hintertür hinaus. Doch ihre Mutter blieb ihr auf den Fersen.
»Wo willst du denn hin?«
»Ich brauche frische Luft.«
»Nichts da! Wir wollen erst mal sehen, was du zum Anziehen mitgebracht hast für Sonntag.«
»Muss das unbedingt jetzt sein?«
»Ja.«
Mira atmete tief durch.
»Vielleicht ist noch was zu ändern.«
»Zu Hause hat alles gepasst«, erwiderte Mira, obwohl sie genau wusste, dass ihre Mutter weder von Abnähern noch vom Saumauslassen sprach. Sie hatte vorsichtshalber den dunkelblauen Hosenanzug zusätzlich eingepackt und das sandfarbene Leinenkostüm, falls sich das muschelzart schimmernde Kleid mit dem weit schwingenden Zipfelrock, das sie eigentlich anziehen wollte, nicht durchsetzen ließ.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Mira in den folgenden Stunden immer wieder, bis Samstagabend endlich alle Torten in den Kühlschränken der Gästeapartments untergebracht waren und alle Besucher von außerhalb den Weg zu Anke und Niels oder zum Haus der Schwiegereltern gefunden hatten. Beladen mit jeder Menge Anweisungen, wann sie sich für die Vorbereitungen zum großen Familienfrühstück einfinden sollte, zog sich Mira früh zurück. Sie sah ihrer Mutter an, wie sehr ihr das missfiel. Vermutlich fürchtete sie, die Runde in Ankes guter Stube löste sich gleich mit auf und Niels’ Verwandtschaft würde sich womöglich nicht willkommen fühlen. Doch Mira war zu erschöpft für weitere Kompromisse. Vom Garten aus sah sie noch einen Moment lang zu, wie ihr Vater in der hell erleuchteten Stube Aquavit ausschenkte und ihre Mutter Schnittchen herumreichte. Gesprächsfetzen und Lachen sickerten durch die festgehakten Fenster nach draußen. Der Wind verschluckte die Geräusche fast, bis sie bei Mira ankamen.
Sie verschwand in Ockos Haus, heizte den Ofen an und kam doch nicht zur Ruhe. Es zog sie hinaus, in die Dämmerung, den Dünenpfad hinauf. Gegen den Wind. Gegen den losen Sand, der unter ihren Füßen wegrutschte. Außer Atem erreichte sie den Kamm. Sie blieb stehen, bis sich ihr Herzschlag beruhigte und sie das Meer weit unten flüstern hörte. Dann lief sie mit langen Schritten hinab, dem auflaufenden Wasser entgegen. Der Wind krönte die Wellen mit Gischt. Sie wuchsen über sich hinaus, überschlugen sich an der Sandbank. Rauschten schäumend weiter, auf eine Gruppe Möwen zu. Die flogen auf, segelten ein Stück weit und landeten wieder. Es hörte sich an, als lachten sie darüber, dass die Sandbank bald überspült wäre.
Mira blieb stehen und schloss die Augen. Sie spürte die Böen und versuchte sich nicht dagegenzustemmen. Ocko hatte ihr einst erklärt, dass sie den Wind durch sich hindurchlassen müsse. Damit sie eins werden könne mit dieser Kraft, mit dieser Energie, für die es nur wenige Hindernisse gab. Sicher hatte er ihr auch eine Geschichte dazu erzählt, nur wollte sie ihr einfach nicht einfallen. Zu übermächtig die Stimmen, die eigentlich in Ankes Haus zurückbleiben sollten und die Mira doch nicht losließen. Diese Planung bis ins Kleinste, dieser Anspruch, die perfekte Feier zu veranstalten, kam ihr wie ein endloser Vorwurf vor. »Siehst du, so macht man das. So und nicht anders!«, schienen sie zu rufen. Die Eiferer nickten sich zu. Kein anderer Vorschlag willkommen. Schon gar nicht von jemandem wie ihr, die nicht mitreden konnte, wenn es um Familie ging und um Traditionen.
»Hey, ich war auch dabei«, hätte sie manchmal gern dazwischengerufen, »schon vergessen?« Doch sie tat es nie. Offensichtlich interessierte sich niemand für das, was sie beitrug zum Gelingen all der runden Geburtstage, der Verlobung, dem Polterabend, der Hochzeit von Anke und Niels, den Taufen der Jungen und was sie auch morgen wieder geben würde, ganz selbstverständlich.
Sie wandte sich dem Wind zu. Wenn er durch sie hindurchfuhr, dann würde er die Stimmen mitnehmen, vor sich hertreiben und wie den Schaum im Spülsaum zerfetzen.
Ein letzter Blick auf das duftige Kleid mit dem schwingenden Zipfelrock, dann schloss Mira den Schrank. Sie strich über die Revers ihres sandfarbenen Leinenkostüms. Die goldbraun schimmernde, fast tropfenförmige Brosche lag noch auf dem Nachttisch. Seit sie wusste, dass Anke das Baby selbst über das Taufbecken halten wollte, konnte sie die Nadel ohne Bedenken anstecken. Niemand ahnte, dass es sich dabei um eine Austernschale handelte, geschliffen von Meer und Sand, die unter Klarlack glänzte. Die Ocko und sie gemeinsam am Strand gefunden und zu der Brosche veredelt hatten. Im Spiegel kam Mira sich fremd vor, irgendwie verkleidet. Nur ein paar Haarsträhnchen kräuselten sich an den Schläfen und im Nacken, wie vom Wind aus der Frisur gelöst. Und wehe, ihre Mutter strich sie ihr hinters Ohr.
Keine Stunde zuvor hatte Mira noch die Reste vom großen Familienfrühstück drüben in der Küche verstaut, den Geschirrspüler beladen, die Kaffeekannen ausgespült, die Gläser für den Sektempfang auf die Tabletts verteilt und kontrolliert, ob auch der alkoholfreie im Kühlschrank stand. Jetzt sah sie nicht mehr aus wie die Küchenfee. Pumps und passende Handtasche komplettierten das Bild. So musste sie jeder für die Idealbesetzung einer Patentante halten. Außer sie sich selbst. Rasch griff Mira nach dem Geschenk für die Jungen und dem Päckchen für Elin. Sie verließ das Haus, ehe ihre Zweifel sie überfluteten.
Ihr Vater stand auf der Terrasse. Er sah in den Himmel, der immer noch wolkenverhangen war.
»Ich denke, du hast Sonnenschein bestellt für unsere Kleine«, sagte Mira.
»Ist unterwegs!«
»Wer ist unterwegs?« Niels gesellte sich zu ihnen.
»Unsere Frauen. Sie sind vorhin schon los zu deiner Mutter.«
Niels runzelte die Stirn. »Hab ich was verpasst?«
»Hat er was verpasst?«, fragte Miras Vater sie.
»Wie sagst du immer so schön, Paps? Der Rasen wächst auch, wenn man nicht dran zieht.«
Er legte den Arm um Mira. »Wir treffen uns vor der Kirche, hat deine Mutter gesagt.«
Niels sah auf seine Armbanduhr. Dann zum grünen Zifferblatt der Kirchturmuhr hinauf. Zum siebenten Mal. Drefs schmiegte sich an seinen Großvater, während seine Brüder mit ihren Cousins über den Parkplatz rannten.
»Wenn ihr schon reingehen wollt«, sagte Niels zu seinem Bruder und deutete auf die offene Kirchentür.
»Vierzehn Uhr, hast du gesagt?«, vergewisserte sich Jon.
Niels nickte.
»Und das wissen sie auch«, ergänzte Miras Vater.
»Na dann.« Jon sammelte die Kinder ein und sorgte dafür, dass sich die Familie langsam auf die Kirche zubewegte. Nur Mira und Niels blieben auf dem Parkplatz stehen.
»Wann sind sie denn zu deiner Mutter gegangen?«
»Ist fast drei Stunden her, sagt dein Vater.«
Vier Minuten bevor die Kirchturmuhr von Sankt Clemensschlug, fuhr der Wagen vor. Niels riss die Tür auf. Er nahm Anke das weinende Baby ab und beruhigte es. Seine Mutter befreite Klärchen vom Sicherheitsgurt, half ihr aus dem Auto und sorgte dafür, dass sie ihren feuerroten Lieblingsschal nicht vergaß, ohne den sie nirgendwohin ging. Miras Mutter folgte. Dann stieg Anke aus. Silbriges Klingen begleitete jede ihrer Bewegungen. Mira wich zurück. Anke trug die friesische Tracht. Schwarz, von der Schürze abgesehen. Die Haube mit dem Fransentuch wie eine Krone auf dem Kopf. Traditioneller Silberschmuck klimperte am Mieder: kugelige Knöpfe, Ketten, das fein ziselierte Schild mit Medaillon und Anhängern an den Hakengliedern. Stolz und Erbstück der einheimischen Frauen. Die Tracht musste Niels’ Mutter gehören. Oder seiner Großmutter. Klärchen war sicher nicht immer so spindeldürr gewesen.
»Hab ich gut gemacht! Hab ich gut gemacht!«, juchzte Klärchen da auch schon.
»Das hat sie«, murmelte Miras Mutter. »Ist eine Wissenschaft für sich, das anzuziehen. Und ohne Hilfe aussichtslos. Allein das Fransending so zu legen.«
Mira hatte die Inselmädchen stets beneidet um dieses Erbe. Nahezu atemlos hatte sie zugehört, wenn sie davon berichteten, wie sie zum ersten Mal mit der Festtagstracht angekleidet wurden. Anke dagegen hatte es albern genannt. Heute sah sie es anscheinend anders. Ihr Töchterchen begann wieder zu weinen, sobald Niels es seiner Frau in den Arm legte. Anke schaffte es nicht, die Kleine zu beruhigen. Mira kam es so vor, als ob Elin umso lauter schrie, je näher ihre Mutter ihr kam. Ob Anke dieses Gefühl teilte? Dann fingen die Kirchenglocken an zu läuten.
Niels’ Mutter nahm Klärchen an die Hand und nickte Ankes Mutter zu. Die drei gingen auf die weiße Kirche mit dem Reetdach zu. Das Baby in seinem Taufkleid aus alter Spitze, das diesmal mit rosa Schleifchen garniert war, strampelte heftig. Es sah aus, als würde es nach seiner Mutter treten und gegen die Silberknöpfe boxen.
»Wir müssen reingehen«, sagte Niels.
Anke nickte. Die schwarzen Fransen schaukelten dazu. Sie kam auf Mira zu. »Vielleicht nimmst du sie doch besser.«
Mira streichelte die Wange der Kleinen. Sie war rot und heiß. Mira nahm ihrer Schwester das Baby ab. Bis sie die Kirche betraten, hatte es sich beruhigt.
Mira ließ das kleine Bündel in ihren Armen nicht aus den Augen. Die Lieder, die Predigt der Pastorin, die Fürbitten klangen wie aus weiter Ferne zu ihr. Das Glaubensbekenntnis, als formten es ihre Lippen von allein. Dann sah sie Niels’ Bruder Jon mit der Taufkerze neben sich stehen und mit ihr, Anke und Niels gemeinsam versprechen, das Kind in Liebe und Glauben zu begleiten. Sie hörte Niels den Namen seiner Tochter sagen: »Elin Gantje Hinriette.« Mira schwitzte, obwohl es kühl in der Kirche war. Sie hielt die Kleine über den Taufstein. Die Pastorin schöpfte im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Weihwasser auf die Stirn des Babys. Elin gluckste, weinte aber nicht. Die Pastorin lächelte. Anke zündete die Taufkerze an. Danach segnete die Pastorin Eltern und Paten. Mira stieß mit dem Unterarm gegen das Taufbecken. Die Berührung mit dem Granit traf sie wie eine eiskalte Welle. Und plötzlich fragte sich Mira, wo sie selbst getauft worden war.
Direkt vor der Kirche wartete der Fotograf. Gab es Bilder von ihrer eigenen Taufe? Mira konnte sich nicht erinnern, je eins gesehen zu haben. Ihre Mutter verfügte, dass gleich nach den Aufnahmen mit der ganzen Familie die Einzelporträts der Paten mit dem Baby an der Reihe waren. Zuerst mit Mira, denn sie sollte so schnell wie möglich zurückfahren, um den Sektempfang vorzubereiten.
Die Sonne hatte sich endlich gegen die Wolken durchgesetzt, und Mira konnte ohne Bedenken die Kaffeetafel im Garten eindecken. Eine knappe Dreiviertelstunde später fuhr die Familie vor. Zeit, die Gläser zu füllen. Anke bekam ihren alkoholfreien Sekt mit einer rosa Schleife markiert. Mira reichte die Tabletts herum. Ihr Vater richtete ein paar Worte an die Gäste und erhob sein Glas auf seine erste Enkeltochter. Mira nippte an ihrem Sekt. Bevor Niels’ Vater zu einer Rede ausholte, zog sie sich in die Küche zurück. Sie setzte die Kaffeemaschinen in Gang. Draußen wurde gelacht. Danach prostete Niels’ Bruder Jon dem Baby zu. Mira schaffte die Torten aus den Kühlschränken aufs Buffet hinaus. Anke thronte in einem Sessel, nahm die Geschenke der Gäste entgegen, packte sie aus, bedankte sich und übergab sie ihrer Mutter. Die drapierte sie auf dem Gabentisch. Die kleine Elin lag friedlich in ihrer Wiege, die Niels und sein Cousin auf die Terrasse getragen hatten.
Als endlich alle bei Kaffee und Kuchen an der Tafel saßen, streifte Mira heimlich ihre Schuhe unterm Tisch ab.