Die Frauenfalle - Stephan Reimertz - E-Book

Die Frauenfalle E-Book

Stephan Reimertz

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Beschreibung

Comissaire Flipeau und Capitaine Barbara Valentier ermitteln Freizügig und lustvoll, aber ohne Frivolität beschreibt Stephan Reimertz die geheimsten Orte des Pariser Nachtlebens. Er schildert das Paris von heute und zeigt Menschen auf ihrer oft verzweifelten Suche nach dem Glück: Frauen, die versuchen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und dabei auch heute noch mit gesellschaftlichen Erwartungen in Konflikt geraten. Männer, die oft einem selbstgeschaffenen Frauenbild hinterherjagen. Stephen Blackbury ist reich und gutaussehend. Aber das scheint ihm wenig zu nützen. Seine große Liebe Camelia verweigert sich ihm, obwohl sie ihn liebt. Als er einen Flirt mit der jungen Pariserin Mélanie anfängt, wird sie ein paar Tage später in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Und die üppige Ginette, der er in einem Kaufhaus das Portemonnaie aufhebt, entpuppt sich als Ehefrau des gefürchteten Commissaire Alexandre Flipeau. Der von Frauen besessene Kriminalbeamte versucht Stephen des Mordes an Mélanie zu überführen. Dabei gibt es andere Verdächtige, wie den Nachtclubbesitzer Paulic, den Studenten Jean-Luc und die lesbische Automechanikerin Sylvie. Verdächtig ist nicht zuletzt Commissaire Flipeau selbst, der Mélanie wenige Stunden vor ihrem Tod in einem Pariser Nachtclub in den Armen gehalten hat. »Die Frauenfalle« ist das Sittenbild einer faszinierenden Metropole und zugleich ein heiter-nachdenkliches Plädoyer für die persönliche und sexuelle Selbstbestimmung.

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Seitenzahl: 270

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Ähnliche


Stephan Reimertz

Die Frauenfalle

Commissaire Flipeaus erster Fall

Originalausgabe

© 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-41-1

-1-2-3-4-5-

www.heypublishing.com

www.facebook.com/heypublishing

A la gloire de la France et de l’amour

1. Der Himmel von Paris

2. Am Altar des Neptun

3. Eine Leiche zum Mittag

4. Im eigenen Blut gebraten

5. Einen Mord kann man entschuldigen

6. Der letzte Schrei

7. Auf den Trümmern des Venustempels

8. Das Mädchenzimmer

9. Von Frau zu Frau

10. Augen in der Dunkelheit

11. Tweed mit Flicken

12. In der Kirche ist es lustiger

13. Wie viele Tiere braucht eine Frau?

14. Aurora

15. Bitteres Fleisch

16. Trauer in Pantin

17. Die brennende Burg

18. Die Frauenfalle

19. Ein neuer Kandidat

20. Paulic erinnert sich

21. Das Motiv

22. Seemannsgarn

23. Die ganze Wahrheit

24. Gesichter

25. Amazone in der Schlacht

26. Bikiniline

27. Woran erkennt man einen Belgier?

28. Der Orgasmologe

29. Ein Besucher ohne Anmeldung

30. Die Frau hat es eilig

31. Frische Fingerabdrücke

32. Der brennende Busch

33. Engel des Todes

34. Der Morgen danach

1. Der Himmel von Paris

Die Frau lag im Bett. Sie war nackt. Helle Haut und blondes Haar stachen gegen das schwarze Bettzeug ab. Die Seide glänzte wie nasser Asphalt.

Die Decke war heruntergerissen, der Körper bis zum Knie entblößt. Die Arme waren ausgebreitet, die Beine gespreizt. Die Spitzen der Brüste leuchteten in tiefem Rot.

Neben den lackierten Fingernägeln der linken Hand glitzerte ein silbernes Telefon. Das Display zeigte acht Uhr zweiunddreißig. Ein Name erschien in Leuchtschrift, und das Telefon spielte den Anfang der Badinerie aus der h-moll-Suite von Bach.

Um acht Uhr fünfunddreißig erklang die Sequenz noch einmal. Das Display zeigte den Namen desselben Anrufers an wie drei Minuten zuvor.

Niemand nahm den Anruf an. Die Frau rührte keinen Finger. Die Mailbox blieb ausgeschaltet.

Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer. Über dem Bett hing eine nummerierte und signierte Lithographie von Chagall: Ein Blumenstrauß in Grün, Gelb und Purpur. Die Wandbespannung war aus reiner Seide. Neben dem breiten Bett standen zwei schwarze Schränkchen mit Perlmutt-Intarsien. Auf dem rechten war die Lampe angeschaltet und beleuchtete ein Glas Wasser, halbvoll, und drei Schachteln Medikamente.

Um das Bett verteilten sich ein Kleid aus taubenblauer Crêpe de Chine, hauchdünne Strümpfe, Slip und BH, schwarz und durchbrochen, ein paar lila Schuhe und ein Perlencollier.

Die Frau lag in tiefer Ruh. Die kleinen Brüste mit den roten Spitzen standen erstarrt ab. Unter der linken Brust tat sich ein rotgeränderter Spalt auf. Ein Tropfen Blut hatte seinen Weg den mattweißen Leib entlang gesucht und war nach ein paar Zentimetern geronnen.

Über den leicht gewölbten Bauch verteilten sich sieben Wunden wie von tödlichen Küssen.

Wie eine achte Wunde lagen leicht gerötete Lippen unter dem goldenen Dreieck. Dieser Mund war geschlossen. Was hätte er erzählen können?

Um acht Uhr zweiundfünfzig erklangen zum dritten Mal an diesem Morgen die Kaskaden aus der h-moll-Suite, der einzigen, die Johann Sebastian Bach für Flöte und Orchester schrieb, vorgetragen von einem Mobiltelefon der jüngsten Generation.

Aus dem Gesicht der jungen Frau leuchteten geschminkte, halb geöffnete Lippen. Die Zähne schimmerten im Morgenlicht. Die Musik weckte sie nicht.

Über der zarten Nase starrten ihre Augen ins Leere; große blaue Augen, in denen sich der Himmel von Paris spiegelte.

2. Am Altar des Neptun

Alexandre Flipeau, Commissaire bei der Pariser Brigade Criminelle, öffnete das linke Auge. Er sah, dass es Tag war, und machte das Auge wieder zu. Er drehte sich um und zog die Decke über den Kopf.

Die Sonnenstrahlen stachen durch den Stoff, unten auf der Straße hörte man einzelne Autos, von fern raunte der Klang der Großstadt.

Es war Donnerstag, der 15. Mai, der Tag der Kalten Sophie. Die Eisheiligen hatten die Stadt in diesem Jahr eine Woche früher als sonst heimgesucht und sie mit Regen und Hagel eingedeckt. Dann verzog sich das Unwetter. Seit drei Tagen strahlte der Himmel. Es war Zeit für Frühlingsgefühle.

Die erste Empfindung, die Commissaire Flipeau an diesem Morgen hatte, war Zufriedenheit.

Da fiel ihm seine Frau ein, und die Zufriedenheit bekam einen Schatten. Und dann dachte er an diesen Engländer, und sie war weg.

Zum Teufel, wie hing das alles zusammen? Welchen Grund sollte er, Commissaire Alexandre Flipeau von der Pariser Brigade Criminelle, an diesem Donnerstagvormittag auch haben, zufrieden zu sein? Was hatte dieser Engländermit ihm zu tun? Und was hatte Ginette damit zu schaffen?

Der Commissaire steckte den Kopf unter das Kissen. Er würde dieses Rätsel lösen, wie er noch jeden Fall gelöst hatte. Oder, sagen wir, jeden zweiten. Oder waren es zwei von zehn? Was ihn am meisten interessierte, war, wo er den gestrigen Abend verbracht hatte.

Jemand kam ins Zimmer und zog ihm das Kissen weg. Die Sonne blendete ihn. Dann zeichnete sich dicht über ihm das breite Gesicht von Ginette ab.

»Lass mich schlafen!«

»Du kommst zu spät zum Dienst.«

Ihre Lippen waren geschminkt, schon wieder. Hatte er seiner Frau einen Lippenstift geschenkt? Er konnte sich nicht erinnern.

»Der Kaffee ist fertig.«

»Ich komme schon!«

Jetzt tollten die beiden Kinder ins Zimmer, Matthieu und Elodie, drei und fünf Jahre alt. Sie warfen sich zu ihrem Vater aufs Bett.

»Kommt her, ihr beiden!«

Elodie war eine ganz wilde. Sie umarmte Flipeau, als hätte sie ihn ein Jahr nicht gesehen. Er gab seiner Tochter einen Kuss, reckte sich aus dem Bett, strich dem Jungen übers Haar und schaute aus dem Fenster in einen blauen Frühlingstag. Vor ihm lag die Place Furstemberg mit dem Palais Abbatial, weiter hinten stach die schwarze Tour Montparnasse aus dem Häusermeer.

Flipeau stand auf und trat ans Fenster. Er maß einen Meter achtundsechzig. Die braunen Augen unter der Halbglatze, der Schnurrbart und seine bewegten Züge ließen ihn für jeden, der mit ihm sprach, größer erscheinen.

Wenn er morgens den Eiffelturm sah, dachte er an jenen Tag, an dem er, der Polizeischüler aus der Gascogne, zum ersten Mal den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte.

Wie lange war das her? Bald zwanzig Jahre. Demnächst war ein Dienstjubiläum bei der Police Judiciaire fällig. Und wie lange war er schon mit Ginette verheiratet? Vor kurzem hatte er ihren zehnten Hochzeitstag vergessen. Die Tränen sah er immer noch vor sich.

Und jetzt saß sie neben ihm am Frühstückstisch und fütterte die beiden Kinder. Elodie ging in die Vorschule und Matthieu in den Kindergarten. Das Mädchen, fand Flipeau, hatte seine Augen geerbt. Aber er war sich nicht sicher.

Der Junge sah der Mutter ähnlich, daran gab es keine Zweifel. Er hatte ihre breite untere Gesichtspartie. Ginettes Mund, so schien es Flipeau, war heute größer als sonst. Lag es am Lippenstift? Sie biss in ein Croissant und schien zufrieden zu sein. Der rosa Bademantel, lässig gebunden, gestattete einen Blick ins Décolleté.

Hatte er sie deswegen geheiratet? Auch nach zwölf Jahren, davon zehn Jahren Ehe, büßten die großen und weichen Brüste nichts von ihrem Zauber ein. In der ersten Zeit hatten sie ihn so sehr fasziniert, dass er sich nur mit ihnen beschäftigte und Ginette erst im vierten Jahr der Ehe schwanger wurde.

Flipeau konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo er die vergangene Nacht verbracht hatte. War er außer Haus gewesen? Oder hatte er nur geträumt? Trotz seiner guten Laune fühlte er sich müde, hatte einen schweren Kopf und einen beißenden Geschmack auf der Zunge.

»Bist du gestern Abend wieder mit Dusac ins Bistrot in der Rue de Buci eingekehrt?« fragte Ginette.

Genau das fragte sich Flipeau auch.

»Du stinkst nach Rauch.« Ginette verzog das Gesicht.

»Hin und wieder ein Gläschen und eine Zigarre, das ist der einzige Luxus, den ich mir leiste.«

»Wer weiß, was du dir noch alles leistest.«

»Du musst gerade reden. Du verkehrst ja nur noch in gehobenen Kreisen.«

Zum Teufel! Jetzt fiel ihm dieser Engländer wieder ein. Angeblich ein Lord. Seit Wochen traf Ginette sich mit ihm. Natürlich nur zum Teetrinken.

Madame Flipeau überhörte die Bemerkung und steckte dem kleinen Matthieu ein Stück Croissant in den Mund.

Flipeau schlürfte den Kaffee. Seine Frau war im Laufe der Jahre fülliger geworden. Das stand ihr. Eine Nymphe war sie nie gewesen. Er sah sie noch vor sich, wie sie ihrer Mutter auf dem Markt zur Hand ging.

Als junger Provinzler aus der Gascogne war Alexandre Flipeau oft allein durch Paris gestreift. Von seinem ersten Geld kaufte er sich ein Paar Wildlederschuhe, wie sie damals in Mode waren. Er schlich durch die Welt der kleinen Hotels und billigen Restaurants. Er ging durch alle Stadtviertel, die armen und die reichen, vorbei an den vielen Autos und den vielen Mädchen.

»Paris ist eine einzige große Pussie«, staunte er. »Hoffentlich wird sie mich nicht verschlingen.«

Eines Abends kam er auf den Markt von Belleville und blieb an einem Fischstand stehen, vor einer dicken Verkäuferin mit ihrer Tochter.

»Was darf’s sein, Monsieur?« fragte die Mama.

Alexandre zeigte mit dem Finger auf einen dicken Fisch.

»Ah, die Dorade aus der Bretagne. Monsieur haben einen guten Geschmack.«

Die Tochter räkelte sich über die funkelnden Fische. Als sie nach der Dorade griff, fiel ihre linke Brust aus dem Kittel und platschte zwischen zwei Karpfen.

In diesem Moment fühlte der junge Mann einen Stich in den Bauch. In seinen Ohren brauste es. Die Fische erschienen ihm wie Orgelpfeifen, der Verkaufsstand als ein Altar des Neptun, ein Seeungeheuer mit tausend Augen, das seinen Schlund auftat, um ihn zu verschlucken.

Von da an ging er jeden Tag auf den Markt von Belleville. Nie in seinem Leben lass er soviel Fisch. Nach drei Wochen lud er das Mädchen auf ein Glas ein.

Das einzige, was er am ersten Abend aus ihr herausbekam, war, dass sie Ginette hieß und aus der Bretagne stammte.

Ihre braunen Augen hatten es ihm ebenso angetan wie ihre undefinierbare Haarfarbe. Und was das schönste war: Dieser Wonneproppen war noch einen halben Kopf kleiner als er. Endlich eine Frau, die zu ihm aufschauen musste!

Und nun saß er mit ihr und zwei Kindern beim Frühstück in der Küche in der Rue de Furstemberg und fragte sich, ob ihre Brust damals rein zufällig herausgefallen war.

Er stellte sich an diesem Vormittag noch andere Fragen. Zum Beispiel, ob seine Frau immer noch mit diesem Engländer Tee trank. Wie hieß er noch gleich?

»Stephen Blackbury. Und er ist ein englischer Lord.«

»Das glaubst du doch selbst nicht. Und was soll ich davon halten, wenn meine Frau sich mit fremden Männern trifft? Noch dazu mit Engländern.«

»Ich hab dir von ihm erzählt. Das ist doch der Beweis, dass ich nichts mit ihm habe.«

»Soweit ist es also schon. Es gibt andere, von denen du mir nicht erzählst.«

»Wenn du so weiter machst, überleg ich‘s mir wirklich. Und wenn du weiterhin in den Morgenstunden nach Hause kommst …«

Jetzt dämmerte Flipeau, wo er heute Nacht gewesen war. Ein Bild schien auf. Ein wirres Knäuel von Leibern leuchtete aus dem Dunkeln. Zwei Brustspitzen blinkten wie Signallampen.

»Ich bin bei der Polizei, Chérie. Wir haben andere Arbeitszeiten als englische Touristen, die im Supermarkt Französinnen nachsteigen.«

»Es war nicht im Supermarkt, es war im Kaufhaus.«

»Aha, du gibst also zu, dass er dir nachgestiegen ist.«

»Keineswegs. Mir ist das Portemonnaie heruntergefallen, und er hat es aufgehoben. Engländer wissen, was sich gehört.«

»Du lässt doch eher deinen Sohn fallen als dein Portemonnaie. Vor die Nase hast du es ihm geworfen …«

»Wenn man zu Hause keine Aufmerksamkeit bekommt, muss man sie sich woanders holen.«

Sie blieb keine Antwort schuldig, seine Ginette. Vom Fischmädchen, das zwar den Mund auf, aber kein Wort herausbekam, hatte sie sich im Laufe der Jahre unter seinem Einfluss zu einer schlagfertigen Dame entwickelt. Heiraten bildet.

»Hast du mich schon einmal betrogen?« fragte Flipeau plötzlich. »Du kannst es ruhig sagen. Ich bin dir nicht böse.«

Ginette lachte. »Betrogen? Bin ich einer von deinen Ganoven?«

Sie wich aus. Dieses Biest!

»Nach zehn Jahren Ehe solltest du wissen, dass dein Mann bei der Brigade Criminelle ist. Wir jagen keine Betrüger, wir jagen Mörder.«

Dem Commissaire fiel ein, dass mehr als neunzig Prozent aller Morde vom Ehepartner begangen werden.

»Ich möchte wissen, was dieser Engländer an dir so anziehend findet. Wahrscheinlich den Fischgeruch.«

3. Eine Leiche zum Mittag

Eine Stunde später stand Flipeau in seinem Büro im dritten Stock des Justizpalastes auf der Ile de la Cité. Er schaute aus dem Fenster und dachte über sein Leben nach; vor allem über die vergangenen zwölf Stunden.

Ein Glücksgefühl verbreitete sich in seiner Magengrube und strahlte von dort auf die benachbarten Organe aus.

Die letzte Nacht war eine der schönsten seines Lebens gewesen, vielleicht sogar die schönste überhaupt. Die Ereignisse kurz nach Mitternacht hätte kein Dichter erfinden können.

»Das kann dir niemand mehr nehmen«, flüsterte er vor sich hin. Im Spiegel über dem Waschbecken erkannte er sein Gesicht. Die braunen Augen hatten dunkle Ränder, und sie strahlten.

Ihm war, als sei er gar nicht aufgewacht, als träume er noch immer den Traum, der letzte Nacht begonnen hatte.

Er öffnete das Fenster. Möwen kreisten und kreischten über der Seine, Boote bahnten sich ihren Weg durch das schwappende Wasser, Autos stockten an den Quais. Eine unsichtbare Hand rührte den Hexenkessel um, der sich Paris nennt.

Die Menschen, die da unten durch die Stadt quirlten, ob zu Fuß, im Auto oder auf dem Boot – Flipeau fühlte sich ihnen allen überlegen. Die vergangene Nacht hatte sein Leben verändert.

Auf France war Verlass. Sie war eine der wenigen Frauen, die wussten, was in einem Mann vorgeht und wonach er sich sehnt. Bis zu seinem Lebensende würde er ihr dankbar sein für das, was sie heute Nacht für ihn getan hatte.

Am meisten schätzte er an ihr, dass sie nicht eifersüchtig war, auch nicht auf jüngere Frauen. Im Gegenteil. Sie war diejenige, die ihn verstand, die ihn ermutigte.

Ginette dagegen fehlte das Savoir-vivre. Sie war ein Marktweib. Immer zog sie ihn auf ihr Niveau herab.

»Wenn ich France zehn Jahre früher kennengelernt hätte«, dachte Flipeau, »wäre mein Leben anders verlaufen«.

France war vierzehn Jahre älter als er. Flipeau war nicht der einzige Mann in Paris, der eine Maîtresse hatte, die älter als seine Ehefrau war. Und er wusste, warum. Mit ihren sechsundundfünfzig war sie der Beweis dafür, dass es bei einer Frau nicht auf das Alter ankommt. Liebe hält jung, wenn man sie regelmäßig betreibt. Und an Liebe hatte es France in ihrem Leben selten gefehlt.

»Du könntest mich in der Wüste aussetzen«, sagte sie. »Innerhalb einer Viertelstunde hätte ich zwei Liebhaber. Und eine Geliebte!«

France machte kein Hehl daraus, dass bei ihr die Männer an erster Stelle kamen – und die Frauen an zweiter.

»Man muss die Welt mit beiden Augen sehen«, sagte sie.

Tagsüber unterrichtete sie Französisch am Lycée. In der Klasse trug sie eine Brille und steckte das Haar auf. Sie zog eine hochgeschlossene Bluse an, die die vollen Spitzen ihrer kleinen Brüste mehr als ahnen ließen.

»Hast du nicht Angst, zur Phantasie deiner Schüler zu werden?« fragte Flipeau.

France lachte.

»Wenn ein Junge vor dem Einschlafen an seine alte Lehrerin denkt, was schadet das? Solange es zum Lernerfolg beiträgt …«

Der Commissaire schätzte die Menschenkenntnis seiner Freundin. Was bei anderen nur Alter war, bei France war es Erfahrung. Mit ihr konnte er schwierige Mordfälle besprechen. Ginette durfte er damit nicht kommen.

»Ich kann nicht schlafen, wenn du mir von deinen Leichen erzählst!«

Vor allem verfügte France über eine Fähigkeit, in der ihr selbst in Paris niemand gleichkam, weder Mann noch Frau: Sie konnte Mädchen aus dem Hut zaubern wie Kaninchen. Wie sie das machte, war Flipeau ein Rätsel. Wo immer er mit ihr auftauchte, und sei es im Stade de France bei einem Fußballspiel, stets waren sie innerhalb kurzer Zeit von einer Schar von jungen Mädchen umringt. Und was für Mädchen! Flipeau war sich darüber im Klaren, dass er ohne France keines von ihnen aus der Nähe gesehen hätte.

Mit einem Wort: France war eine geniale Maîtresse, die beste, die man in Paris finden konnte. Und heute Nacht hatte sie sich selbst übertroffen …

Der Commissaire lehnte aus dem Fenster und träumte vor sich hin. Da hörte er eine Stimme.

»Bonjour, Alexandre!«

Er schaute weiter aus dem Fenster.

»Bonjour, Barbara.«

Seit drei Jahren war Capitaine Barbara Valentier seine Mitarbeiterin. Sie stammte aus Cabourg an der normannischen Küste. Er hatte der großen Rothaarigen mit dem blassen Teint gelegentlich den Hof gemacht. Wie oft hatte er sich im Bett hin und her gewälzt und sich gefragt, ob sie überall rothaarig sei! Von nun an interessierte ihn das nicht mehr. Seit heute Nacht hatte er andere Projekte, ganz andere.

»Sie lehnen da am Fenster – wie Maigret, wenn ich so sagen darf«, bemerkte Barbara. Die Kollegen in der Police Judiciaire fürchteten ihren Spott. Doch heute ließ sich Flipeau durch nichts aus der Ruhe bringen.

»Sie dürfen, liebe Barbara. Wenn Sie damit meine Genialität im Lösen von Fällen meinen. Um dem alten Jules Maigret zu ähneln, müsste ich allerdings noch ein paar Pfund zunehmen.«

»Und ein paar Fälle mehr lösen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Machen Sie sich nicht schon am Morgen unbeliebt«, konterte der Commissaire und folgte mit seinen Augen den Schiffen auf der Seine.

»Wenn ich mich nicht irre, haben Sie noch gar nichts gelöst.«

»Na, habe ich nicht im letzten Jahr ein paar Jungs die Zunge gelöst?«

Barbara hob die linke Augenbraue.

»Wie war das mit dem Geständnis von dem Raubmörder aus der Rue de Tolbiac?« fauchte sie. »Eine Woche lang haben Sie ihn vergeblich vernommen und dann …«

» … haben Sie ihm das Messer an die Kehle gesetzt. Und nicht im übertragenen Sinne.«

»Als Polizist muss man sich auf seine Gesprächspartner einstellen können. Und gesungen hat er.«

»Merken Sie sich eines, Barbara: Wenn Sie noch einmal jemandem ein Messer an den Hals setzen, bekommen Sie ein Disziplinarverfahren an Ihren eigenen …«

Flipeau drehte sich um und schaute in ein blasses Gesicht, das mit vielen Sommersprossen verziert war. Unter den rehbraunen Augen sprang ihm eine freche Nase entgegen.

Ja, sie gefiel ihm, seine Kollegin aus der Normandie. Von heute an würde er ihr aber nicht mehr den Gefallen tun, sie das merken zu lassen.

»Irgendwelche Leichen heute?« fragte er.

»Bisher ist noch nichts eingegangen. Dabei ist es schon … halb zwölf. Und Sie begrüßen mich mit ‚Guten Morgen‘, Commissaire?«

Flipeau murmelte: »Ein Tag ohne Tote ist ein guter Tag.«

»Ein schlechter für die Brigade Criminelle.«

Immer musste diese Barbara Valentier das letzte Wort haben! Wie anders war doch das Mädchen, das er heute Nacht kennengelernt hatte. Keine Polizistin. Kein Marktweib. Ein Engel.

Das Telefon klingelte. Schon hatte Barbara den Hörer in der Hand.

»Capitaine Barbara Valentier. – Hallo Dusac! … Oh! … Wie alt? … Und wo? Aha. 4, Rue du Cardinal-Lemoine. Erster Stock. Ich verstehe … Ja, er steht neben mir. Ich denke, wir sehen uns das mal an. Spurensicherung und Profiler schon da? … Okay, bis später.«

Sie kritzelte ins Notizheft.

»Noch werden wir nicht arbeitslos, Chef. Das war Dusac. Eine junge Frau ist ermordet worden, drüben in der Rue du Cardinal-Lemoine. Das muss direkt an der Ecke vom Quai de la Tournelle sein.«

»Gegenüber vomLa Fourchette?«

»Ach ja, Sie orientieren sich in Paris anhand von Restaurants.«

»Irgendwie muss man sich als kleiner Provinzler in der großen Stadt zurechtfinden.«

»Dass Sie eine Nase haben, ist hinlänglich bekannt.«

»Wie heißt die Tote?«

»Mélanie Bardou.«

»Den Namen habe ich schon irgendwo gehört.«

»Sicher nicht, Flipeau. Sie war Studentin, keine Stripperin.«

»Dann los, damit wir nachher noch zum Mittagessen kommen.«

»Der alte Maigret hätte sich mit einem Käsebrot zufriedengegeben.«

Warum musste sie ihm schon wieder mit Commissaire Maigret kommen? Weil der jeden Fall gelöst hatte? Diese Barbara war doch eine Träumerin von der Nordsee. Nach drei Jahren in der Brigade Criminelle hatte sie immer noch nicht begriffen, dass bei der Polizei andere Gesetze gelten als in der Literatur.

»Na gut, dann wollen wir uns zum Mittag mal die Leiche ansehen«, seufzte Flipeau.

»Dusac sagt, die Kleine ist sehr appetitlich«, tröstete Barbara.

Sie saß am Steuer. Während sie die Voie Georges-Pompidou entlang raste, war ihr Chef in Gedanken wieder bei dem Mädchen von heute Nacht.

Wie alt mochte sie sein? Siebzehn? Achtzehn? Sie hatte kaum gesprochen. In ihrem ganzen Wesen drückte sich etwas Mädchenhaftes, ja Bescheidenes aus.

Mit seinen zweiundvierzig Jahren fand sich Alexandre Flipeau nicht zu alt, um ein neues Leben anzufangen. Alles noch einmal von vorne: Das erste Rendezvous, das erste Abendessen, der erste Spaziergang Hand in Hand, der erste Kuss …

Denn er wollte mit ihr leben.

Während Barbara über die Ile Saint-Louis steuerte, schloss Flipeau die Augen. Er stand nicht schlecht da. Er war Commissaire der Brigade Criminelle. Er arbeitete in einer der angesehensten Polizeieinheiten von Frankreich. Er besaß einen fahrtüchtigen Citroën. Die Kinder machten bisher keine größeren Schwierigkeiten. Seine Schwiegermutter Bérangère war vor Jahren in die Bretagne zurückgekehrt und hatte damit einen bedeutenden Beitrag zum Frieden in Paris geleistet. Der Verkauf der Fischbude hatte etwas abgeworfen. Die Wohnung in der Rue de Furstemberg war fast schuldenfrei.

Bei der Scheidung würde er Ginette entgegenkommen. Die Wohnung konnte sie behalten. Das einzige, was er sich ausbitten würde, wäre unbeschränktes Besuchsrecht für die Kinder und die DVD-Sammlung.

Er war nicht der erste Polizist, der mit über vierzig noch einmal anfing. Sein Chef Félix Pipe, der zweite Mann der Police Judiciaire, hatte mit vierzig Jahren eine Zwanzigjährige geheiratet. Seitdem ging es ihm gut. Er sah um Jahre jünger aus.

»Die zweiten Ehen sind die besten«, vermutete Flipeau.

Er fragte sich, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, die erste Ehe zu überspringen und gleich mit der zweiten anzufangen.

Pipes zweite Frau war das italienische Fotomodell Rosa dei Venti. Manche munkelten, die junge Sizilianerin mit den aufgeworfenen Lippen habe auch in Filmen mitgespielt – allerdings nur in solchen, die nicht im Kinderprogamm laufen. Für Flipeau machte das die Sache nur interessanter.

Die Blonde von heute Nacht heiraten! So ein Mädchen, eine richtige Nymphette! Er kannte noch nicht einmal ihren Namen. Warum hatte er nicht gefragt? Nach dem Erlebnis mit ihr hatte er gar nicht sprechen können. Und der Abschied war so schnell gegangen.

Jetzt gab es nur noch eines: den Engel wiederfinden. Das konnte nicht allzu schwer sein.

France würde ihm sicher helfen.

4. Im eigenen Blut gebraten

Im Restaurant La Fourchettesaßen zwei Herren im dunklen Anzug: der Anwalt Maître Martin Martel und der Bauunternehmer Robert Paulic.

Martels Scheitel glänzte. Er war im sechzehnten Arrondissement aufgewachsen, hatte in der Schule immer die Nase vorn und mit dreizehn eine Brille. Später knüpfte er auf der Grande Ecole Verbindungen fürs Leben. Mit dem Abgangszeugnis hatte er seine Karriere in der Tasche. Zunächst arbeitete er in der Kanzlei von Maître Camelote am Boulevard Raspail, dann heiratete er eine gewisse Marie-Geneviève de Malmaison und mit zweiunddreißig eröffnete er seine eigene Kanzlei in der Rue de la Bourse. Seine Frau brachte eine große Wäscherei in die Ehe, in der Kleider, Möbelbezüge und Geld gewaschen wurden.

Der dicke Robert Paulic war einer der wenigen Männer in Frankreich, die von sich sagen konnten, dassihreAnzüge von Dennis R. Wilkinson in der Londoner St. George‘s Street stammten. Seine eigene Herkunft war nicht ganz so fein wie die seiner Kleider. Man sagte, seine Mutter sei am Hafen von Marseille auf und ab gegangen, und niemand wisse, wer sein Vater sei, am wenigsten sie selbst.

Sein Mund war breit, sein Hals war kurz, darum wurde Robert Paulic in ganz Paris »der Frosch« genannt. Trotz seiner Gestalt machte er eine gute Figur. Er bekam jede Baugenehmigung, die er wollte. Wie er das anstellte, war der Presse ein Rätsel und der Justiz ein Ärgernis. Paulic hatte sich Manieren zugelegt. Er lass mit Messer und Gabel, als ob er Cello spielte. Er hatte festgestellt, dass man auf jeder Stufe des Erfolges andere Fähigkeiten braucht.

Martin Martel und Robert Paulic waren ein Team. Einer hatte den anderen reich gemacht. Fast hätte man von Freundschaft sprechen können.

Der Dicke erhob ein Glas Portwein und prostete dem Dünnen zu.

»Auf Frankreich und die Liebe!«

Martel trank Wasser.

»Schon zum Mittag in die Fourchette …«

Paulic grinste.

»Gerade zum Mittag, mein lieber Martel. Für den wahren Genießer ist das Déjeuner die wichtigste Mahlzeit des Tages. Und nirgends isst man besser als hier in der Fourchette. Man nennt mich zwar den Frosch, aber ich werde trotzdem keine Fliegen fressen!«

Er lachte laut.

»Übrigens habe ich am Abend besseres zu tun, als mir den Bauch vollzuschlagen.«

»Wie geht es Mademoiselle Mélanie?«

»Da drüben wohnt sie! Man kann beinah in ihr Zimmer schauen. Deshalb habe ich ihr die Wohnung da eingerichtet. Das Haus gehört mir, wie Sie wissen … Aber demnächst wird sie bei mir in der Avenue Foch einziehen. Wissen Sie was, Martel? Sie hat um meine Hand angehalten, die Kleine! Stellen Sie sich das einmal vor. Wir kennen uns gerade einmal drei Monate. Diese jungen Frauen heutzutage …«

»Zunächst müssen Sie sich scheiden lassen.«

»Bin ich verheiratet? Mit wem?«

»Immer noch mit Hélène.«

»Hélène, Hélène … ? Ach – Hélène!«

»Als Ihr Anwalt muss ich Sie darauf hinweisen, dass eine Scheidung in diesem Fall teuer kommt. Sie haben damals keinen Ehevertrag gemacht.«

»Da muss ich ja sehr verliebt gewesen sein.«

»So kann man's auch nennen. Vor der nächsten Hochzeit sollten wir uns zu dritt zusammensetzen. Und zwar nicht im La Coupole, sondern in meinem Büro.«

»Mélanie ist eine ehrliche Haut.«

»Eine straffe Haut, ohne Zweifel. Ob sie ehrlich ist, werden wir früh genug erfahren.«

»Martel! Sie sehen immer alles so negativ.«

»Mein Beruf … Ich denke von einem Menschen erst einmal das schlechteste.«

Martel murmelte, mehr zu sich selbst als in Richtung seines Mandanten: »Leider behalte ich meistens recht.«

»Und was sollen wir mit dieser Hélène machen?« fragte Paulic.

Da kam der Maître d’Hôtel. Er trug Smoking mit schwarzer Weste und schwarzer Fliege.

»Messieurs haben gewählt?«

Paulic ließ die Karte liegen. Er kannte sie auswendig.

»Bringen Sie uns eine Flasche Chablis Grand Cru und mir bitte erst einmal Jakobsmuscheln. Anschließend den bretonischen Hummer mit Petersilie. Und als Hauptgericht Ente. Im eigenen Blut gebraten.«

Der Maître d’Hôtel hob die Augenbrauen.

»Monsieur sind sicher, dass Sie die Muscheln vor dem Hummer essen wollen …«

»Da bin ich ganz sicher. Und nun schwirr ab.«

»Wie Monsieur meinen.«

Martel ergänzte: »Mir bitte dasselbe wie Monsieur.«

Der Maître d’Hôtel zog sich zurück.

»Ich glaube, Martel, was diese Hélène angeht, hätte ich eine Idee«, sagte Paulic.

»Und die wäre?«

»Könnten wir nicht, sagen wir, fünf Jungs vorbeischicken, die sich ganz vernünftig mit ihr unterhalten?«

»Monsieur Paulic! In der Ehe gelten andere Gesetze als in der Bauwirtschaft.«

»Es gibt Zusammenhänge. Glauben Sie mir, Martel: Mit nichts kann man soviel Frauen mobilisieren wie mit Immobilien.«

»Das ist es ja gerade«, dozierte Martel und riss seine Augen hinter den randlosen Brillengläsern weit auf. »Einen Mieter loszuwerden, ist schwer. Eine Ehefrau loszuwerden, noch schwerer. Unter zwanzig Millionen sehe ich da keine Möglichkeit. Und auch das nur, wenn sie nett ist.«

»Das muss mir passieren, dem Frosch. Von dem jeder denkt, der hat mehr Geld als Probleme … Aber lieber arm mit Mélanie als reich mit Hélène.«

»Hoffen wir, dass Mélanie das auch so sieht.«

»Ach, Martel! Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, was es heißt, arm zu sein. Als ich vor fünfunddreißig Jahren aus Marseille nach Paris kam, hatte ich nur meinen Seesack und zwei nackte Hände. Während Sie an Ihrer Grande Ecole studiert haben, bin ich im Abracadabra, dieser Kaschemme in Pigalle, Mädchen für alles gewesen. ‚Paulic, tu dies, Paulic tu das!‘ Sie hätten mal den Patron sehen sollen, diesen Polen Rascasse.«

»Ich dachte, Rascasse war Korse …«

»Ein polnischer Korse. Wir nannten ihn Napoleon IV. Ich hatte nichts zu lachen und die Mädchen auch nicht.«

»Und dann ist Rascasse eines Tages verschwunden, oder vielmehr eines Nachts, und Sie haben den Laden übernommen.«

»Da fing die große Zeit vom Abracadabra an.«

»Und die große Zeit von Robert Paulic. Wie schön dass es Leute gibt, die so nett sind zu verschwinden, wenn man sie nicht mehr ertragen kann.«

»Ja, manche Leute merken, wenn sie stören.«

Paulic lächelte und ließ sich vom Kellner noch ein Glas Portwein einschenken.

Ein zweiter Kellner kam und verbeugte sich.

»Darf ich die Jakobsmuscheln servieren?«

Ein dritter Kellner stellte den Eiskübel auf, ein vierter hielt Paulic den Chablis hin.

»Ach, Martel!« sagte Paulic, nachdem er den Wein für gut befunden hatte. »Früher habe ich meistens im Rail Rouge im Gare du Lyon gegessen. Da hörst du die Züge ankommen … Aber seitdem ich da drüben meine Süße habe … Und der Blick von hier oben: Die Ile Saint-Louis, die Seine. Und Notre-Dame …«

» …von hinten.«

»Als ich damals mit Jeannine … Oder war es Jeannette?«

»Keine Ahnung! Ich bin Ihr Anwalt, nicht Ihr Leporello.«

» … ma in Ispagna son già mille e tre!« sang Paulic. »Jeannine, Jeannette – alles nichts gegen Mélanie. Als ich sie vor drei Monaten zum ersten Mal gesehen habe …«

» … von hinten … «

»Ja, von hinten! In der Rue du Cherche-Midi. Hüpfte vor mir die Straße entlang. Blond. Eine Mähne wie die Niagarafälle.«

»Monsieur Paulic, das haben Sie mir schon zwanzig Mal erzählt.«

»Dieses Haar! Wie Sonnenstrahlen …«

»Man sieht Sie immer häufiger mit Blondinen.«

»Mit dem Alter ändert sich der Geschmack, Martel. Ich bin jetzt neunundfünfzig, und mein Geschmack wird immer besser.«

»Jedenfalls werden Ihre Frauen immer jünger.«

»Nein, ich werde älter und die Frauen nicht.«

Während des Gesprächs waren die Augen des Anwalts durch die ganze Stadt gewandert, die sich hinter den großen Fenstern des Restaurants wie eine Spielkiste dem Blick darbot. Plötzlich verengten sich die Pupillen hinter den Gläsern.

»Paulic, schauen Sie mal auf die Straße! Da kommt eine berühmte Pariser Rothaarige den Quai entlang. Da staunen Sie, was? Nicht ganz Ihre Altersklasse, aber …«

»Und die kennen Sie?

»Monsieur, auch in meinem Beruf lernt man hin und wieder schöne Frauen kennen. Besonders, wenn man schwere Jungs verteidigt. Die junge Dame da unten, auch wenn sie schon Anfang dreißig sein dürfte … Die ist nicht nur schön, sondern auch … Capitaine Barbara Valentier von der Brigade Criminelle.«

»Eine Polizistin? Und wer ist dieser Woody Allen mit Schnurrbart, der neben ihr herläuft? Wenn sie einen Schritt macht, macht er zwei.«

»Das ist Commissaire Alexandre Flipeau, ihr Chef.«

»Das ist Flipeau?«

»Der hat bisher fast jeden Fall gelöst, sagt man. Beide sind keine Pariser. Er kommt aus der Gascogne und sie aus der Normandie.«

»Wie Schneewittchen und einer von den sieben Zwergen. Sie kommen auf uns zu … Sie gehen ins La Fourchette!«

»Nein, sie biegen in die Rue du Cardinal-Lemoine ein.«

Paulic sprang auf und warf seinen Stuhl um. Er trat ans Fenster.

»Schauen Sie, Martel, die gehen zu Nummer vier. Mein Haus. Das Haus von Mélanie. Die Tür ist auf! Was ist denn da los?«

»Beruhigen Sie sich, Paulic. Die wollen gar nicht zu Mélanie.«

Paulic sah hinunter auf die Straße und rief: »Was macht dieser Gallier aus der Gascogne bei meiner Mélanie? Brigade Criminelle! Kommen Sie, Martel, wir müssen hin!«

Die anderen Gäste ließen ihre Gabeln liegen und drehten ihre Köpfe zu dem Unternehmer, der an der Fensterscheibe klebte.

Martel trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Aber, aber. Das wird reine Routine sein.«

Paulic eilte zum Ausgang und zerrte Martel hinter sich her.

»Kommen Sie, schnell. Da stimmt etwas nicht. Ich rieche das. Kommen Sie!«

Vier Kellner fuhren das Essen auf. Der Maître d’Hôtel eilte Paulic und Martel hinterher.

»Messieurs! Was ist mit der Ente? Im eigenen Blut gebraten …«

Die Herren hörten ihn nicht mehr. Der Frosch stürzte die Treppe hinunter, Maître Martel war im Aufzug verschwunden

5. Einen Mord kann man entschuldigen

Der Kessel pfiff. Mit einem Handgriff goss Stephen das sprudelnde Wasser in ein Tongefäß, das er vorher erhitzt hatte. Er schloss das Gefäß mit dem Deckel. Während der Tee zog, mussten die Blätter frei schwimmen können, sie mussten floaten, um möglichst viel Geschmack an das Wasser abzugeben. Stephen verabscheute Tee-Eier, in denen manche Leute ihre Teeblätter zusammenquetschen. Ein Teenetz benutzte er nur, um die Blätter aufzufangen, wenn er den Tee nach exakt drei Minuten aus dem Tongefäß in die Kanne abgoss.

Zu Hause in Blackbury Hall im englischen Berkshire hatte er dem Personal eingeschärft wie man Tee zubereitet. Hier, am Pariser Wohnsitz der Familie, nahm er die Sache selbst in die Hand.