Die Freundin des Königs - Manu Wirtz - E-Book
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Die Freundin des Königs E-Book

Manu Wirtz

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Beschreibung

Die junge Alice reist aus der Gegenwart mit einer Zeitmaschine ins 17. Jahrhundert an den Hof des Sonnenkönigs. Sie gewöhnt sich nur schwer an die Alltagsbedingungen, findet aber neue Freunde. Sie arbeitet sogar direkt für den König und freundet sich darüber mit ihm an. Alicée, wie sie sich in Versailles nennt, findet auch eine neue Liebe. Aber als sie sich in die Giftaffäre rund um die Hexe La Voisin einmischt, macht sie sich hochrangige Feinde. Vor allem die Mätresse des Königs, Madame de Montespan, trachtet ihr nach dem Leben. In großer Gefahr steht sie vor der Frage, ob sie bei ihrer Liebe bleiben oder zurück in die Zukunft, in ihre Zeit fliehen soll. „ … Einer von Ihnen gab seinem Pferd die Sporen, setzte sich vor die Gruppe und galoppierte direkt auf Alice zu. Er hatte ein zorniges Gesicht und zog seinen Degen. ...“

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Freundin des Königs
Impressum
Prolog
Aliceʼs Welt im Jahr 2022
Ankunft im 17. Jahrhundert
Das Leben bei Hofe
Frauenrechte im 17. Jahrhundert?
Eine Liebe beginnt
Affaire des poisons
Vaux-le-Vicomte
Zurück in die Zukunft?
Jean-Marie und Alicée
Die Rache der Hexe
Abschied
Zurück in 2022
Playlist
Dramatis Personae
Danksagung
Über die Autorin

 

 

 

 

 

Die Freundin des Königs

Madame Ange

 

Ein Roman von Manu Wirtz

Impressum

 

Die Freundin des Königs – Madame Ange Autorin: © 2023 Manu Wirtz Layout und Cover: Manuela Wirtz, Schüller Bilder: Goldene Sonnenmaske Isabell Schmitt-Egner, Hintergrundmuster franz. Lilien GarryKillian, freepik

 

ISBN: 978-3757810870 (Taschenbuch) und 978-3744882934 (Hardcover)

 

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

 

Manuela Wirtz Wegscheide7 54586 Schüller

 

 

 

Prolog

Sie öffnete langsam die Augen und sah Sonnenstrahlen zwischen den Blättern des Waldes flirren. Vögel zwitscherten in der Luft und den Bäumen. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Kopf krabbelte ein dicker schwarzer Käfer über den Boden. Voller Schrecken schnellte ihr Oberkörper hoch und sie rutschte hastig von dem ekelhaften Insekt weg. In ihrem Kopf tobte ein Inferno aus Schmerz und Übelkeit. Sie keuchte auf und presste die Schläfen zwischen ihre Hände. Dann atmete sie langsam tief ein und aus um Halt auf dem Boden zu finden, und die tanzenden Bäume vor den Augen zu beruhigen. Allmählich verflog die Übelkeit.

Warum saß sie auf einem Waldboden? Langsam drehte sie den Kopf in alle Richtungen, um sich zu orientieren. Was sie sah, war typisch für einen Laubwald: hohe Eichen-, Buchen- Ahornbäume mit viel Platz zwischen den Stämmen und wenig Unterholz oder Büschen; aber ein dichter Teppich aus abgestorbenen Blättern. Die Umgebung war ihr völlig unbekannt.

Die Kopfschmerzen hämmerten unter der Schädeldecke. Sie tastete ihre Arme und Beine ab und bewegte die Füße. Dann kam sie in die Hocke und stand vorsichtig auf. Sofort protestierte ihr Kopf und bestrafte sie mit Schmerzen. Langsam atmete sie ein und richtete sich auf. Der Oberkörper wies keine Brüche oder Verletzungen auf. Soweit, so gut.

Aber was war mit dem Kopf? Sie überprüfte das Gedächtnis. Ihr Name war Schüller – Alice Schüller, das fiel ihr wenigstens schon mal ein. Sie war dreißig Jahre alt und aus der Eifel. Seit zwei Jahren war sie verwitwet. Diese Erinnerung stimmte die junge Frau traurig. Sie ließ den Kopf hängen. Das war ein Fehler, sofort stieg Übelkeit in ihr hoch. Sie hob den Kopf, atmete tief ein, und machte weiter Gehirn-Inventur.

Sie erinnerte sich, zuletzt im Vortex-Kubus einer Forschungseinrichtung gestanden zu haben, bei der sie arbeitete. Der Vortex-Booster ist ein hochkomplexes Energiesystem, das fähig ist, mit chronometrischen Partikeln einen sogenannten temporalen Vortex zu erzeugen und somit eine Zeitreise zu ermöglichen. In die Vergangenheit oder Zukunft. Aber es war gar keine Zeitreise geplant gewesen. Das System war noch in der Testphase.

Das Letzte, an das sich Alice erinnern konnte, war das schrille Läuten eines Alarms und das wilde Blinken von LED-Anzeigen. Die Spiegelpaneele des Kubus, in dem sie stand, schlossen sich hermetisch ab. Sie rannte zu der Wand auf ihr Spiegelbild zu und hämmerte wild gegen die Flächen. Sie schrie laut um Hilfe.

Dann bildete sich eine Wolke aus hunderten von Lichtblitzen um die junge Frau, die wie eine Tesla-Kugel aussahen. Das Licht wurde blau. Keiner der Blitze berührte sie, aber sie waren furchteinflößend. Am Ende der Röhre baute sich ein gleißender Lichtpunkt auf und kam auf sie zugeschossen. Dann hatte sie nur noch das Gefühl, dass sich ihr Körper in Milliarden Nebeltropfen auflöste.

„Scheiße“, fluchte sie, „Wo zum Teufel bin ich?

̶ Und wann?“

In der Ferne hörte Alice ein rhythmisches Stampfen und Trommeln. Sie wandte den Kopf und sah durch die Bäume eine Gruppe Männer auf Pferden schnell auf sich zukommen. Die Reiter trugen bunte Gewänder, goldbestickt und mit unglaublich vielen Rüschen und Schleifen. Auf ihren Köpfen saßen große Hüte mit Federn, die im Galoppwind tanzten. Sie hatten lange Haare. Waren das Männer oder Frauen? Die Rösser waren viel stämmiger und kräftiger als die schlanken, sportlichen Pferde, die sie kannte. So wie diese stellte man sich eher Schlachtrösser auf alten Gemälden vor.

Die Reiter hatten Alice entdeckt und ritten in ihre Richtung. Als sie näher kamen, erkannte sie einzelne Gesichter, es waren Männer. Und sie trugen Bekleidung aus dem Barockzeitalter. Die junge Frau erschrak sehr. Einer von Ihnen gab seinem Pferd die Sporen, setzte sich vor die Gruppe und galoppierte direkt auf Alice zu. Er hatte ein zorniges Gesicht und zog seinen Degen.

 

Aliceʼs Welt im Jahr 2022

„Gib mir mal den Microschraubendreher, Alice“, bat Johannes ,Johnboyʻ Tauber, der auf dem Boden lag und im Inneren des Vortex-Boosters montierte. Seine Kollegin suchte in der Werkzeugtasche. „Kreuzschlitz oder Torx?“, fragte sie.

„Kreuz“, klang es dumpf aus der Maschine. Alice Schüller nahm ein kleines Werkzeug aus der Tasche und drückte es ihm in die wartende Hand. Kopf und Oberkörper des Ingenieurs verschwanden in den Tiefen hunderter dicker und dünner kunststoffummantelter Kabel.

Die beiden Mitarbeiter der VBC – Vortex Booster Consortium – arbeiteten in einem 30 Meter tief in das Dolomitgestein gebauten Forschungszentrum bei Prüm. Die vulkanische Vergangenheit der Eifel hatte sich als gute Abschirmung für die Testphase des Vortex Boosters erwiesen. Alice nannte den großen Hohlraum ,den Zeitbunkerʻ.

Die Apparatur war, vereinfacht gesagt, ein Zeittunnel oder eine Zeitmaschine. Eine gut 40 m lange Röhre von fünf Metern Durchmesser mit großen Generatoren – den Boostern – an den beiden Enden, die von je einer Atombatterie gespeist wurden. Zwischen den Boostern waren acht Beschleunigungskammern aus Abramit, einem außergewöhnlich harten, hitze- und korrosionsbeständigem Stahl, gefertigt. In den beiden Boostern wurden die chronometrischen Partikel erzeugt, die einen sogenannten temporalen Vortex auslösten, einen Wirbel, der es möglich machte, einen realen Festkörper – Mensch oder Gegenstand – in eine voreingestellte Zeit und zu gewählten Koordinaten zu transportieren. Abgeschirmt wurde die lange Röhre durch riesige Magnetspulen, die keines der chronometrischen Partikel in die Umgebung durchlassen durften.

In der Mitte der Beschleunigungskammern war eine Plattform montiert, ein Kubus mit in der Kammer abgeschirmten Spiegelflächen aus spezialgehärtetem Glas. Unter den Mitarbeitern wurde der Würfel scherzhaft ,Reisewaggonʻ genannt. Auch er war hermetisch zu verschließen. Gesteuert wurde der Vortex Booster von einem Kontrollzentrum, das aus Sicherheitsgründen in gut 100 m Entfernung in den Berg gebaut war.

VBC – Vortex Booster Consortium – war ein internationaler Zusammenschluss von Forschungseinrichtungen in den USA, England, Frankreich und Japan. Es wurde von einem fantasiebegabten, exzentrischen Milliardär aus den USA gegründet, der sein Vermögen mit Elektrofahrzeugen und der Raumfahrt erworben hatte.

Bei Prüm gab es ein modernes Batteriewerk des amerikanischen Bosses, dessen Produktion zum größten Teil durch Roboter erledigt wurde. Etwas abseits hatte die Mutterfirma eine Forschungseinrichtung für Energiesysteme gebaut, zur Weiterentwicklung von Akkus und Batterien. Und tief unter der Erde hatte sie eine knapp 400 qm große Halle in dem Dolomitgestein errichtet. In der Öffentlichkeit war dieser Teilbereich des Unternehmens unbekannt.

Da Alice fließend Englisch und Französisch sprach, war sie für die firmeninterne Kommunikation zuständig. VBC forschte und entwickelte in verschiedenen Ländern Komponenten für Energiesysteme, die es ermöglichen sollten, in der Zeit vorwärts oder rückwärts zu reisen. Und vor allem: wieder zurückzukehren.

Alice Schüller arbeitete jetzt zwei Jahre für die VBC, seit sie verwitwet war. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, in der Hoffnung, so den plötzlichen Verlust ihres Mannes besser verarbeiten zu können. Die Kollegen mochten die junge Frau, weil sie eine ruhige und professionelle Arbeitsethik hatte und doch viel Humor besaß.

In ihrer Freizeit trainierte sie Karate bei Robert Litzacker, einem Kollegen vom Sicherheitsdienst der Firma. Damit hielt sie ihren Körper schlank und athletisch. Und ihre Psyche im Gleichgewicht.

Von ihrem Häuschen mit Garten hatte sie eine wunderbare Aussicht über die wellige Landschaft der Vulkaneifel. Ein paar Kilometer weiter war ihr Arbeitsplatz in der unterirdischen Halle.

 

Wann immer sie bei ihrer Arbeit Pause hatte, schaute sie sich den Zeittunnel an. So auch heute. Johannes Tauber war aus der Maschine geklettert und hatte seine Werkzeugtasche mitgenommen. „Ich sehe mir nochmal das Protokoll an, ob die Verschaltung nun richtig ist. Bleib nicht zu lange“, rief er ihr über die Schulter zu. Er ging die steile Stahltreppe von dem ,Reisewaggonʻ hinunter.

Alice schaute sich fasziniert um; sie staunte immer wieder, dass es inzwischen technisch möglich war, durch die Zeit zu reisen. Über die ethischen Aspekte oder die These von Paradoxien in der Zeitlinie, wenn man sich in die Ereignisse der Vergangenheit einmischte, wurde von den Kollegen unendlich und ohne Ergebnis im Pausenraum diskutiert. Keiner konnte vorhersagen, was passieren würde, wenn es tatsächlich zu einem Eingriff in die Geschichte kam. Es gab sogar eine Ethikkommission, die sich mit diesem Problem beschäftigte.

Alice selbst war ein riesiger Fan von Historie. Sie verschlang Romane und Bibliografien in den stillen, einsamen Stunden ihres Zuhauses. Vor allem das Ancien Régime hatte es ihr angetan. Diese Zeitspanne umfasste 200 Jahre und endete abrupt mit der Französischen Revolution. Die junge Frau drehte sich um und wollte zum Ausgang des Kubus. Ihre Pause war zu Ende und sie hatte heute Nachmittag noch eine Online-Konferenz.

Da ertönte der Alarm und die Spiegelpaneele begannen, sich zu schließen.

 

Ankunft im 17. Jahrhundert

Alices Herz klopfte wild, als sie den Reitersmann auf sich zu galoppieren sah. Ein junges Gesicht unter wehenden dunklen Haaren schaute sie grimmig an. Der Reiter schwang seinen Degen zum Angriff. Alice blickte sich schnell um, suchte Raum zum Ausweichen. Sie stand auf einer Lichtung; bis zu den Bäumen, die ihr Deckung geboten hätten, waren es gut zehn Meter. Keine Chance. Sie setzte ihre Füße im Schritt des Kokutsu Dachi auseinander und winkelte ihre Knie leicht an. Sie spannte ihre Muskeln. Kurz vor ihr schwang der Reiter den Degen zum Schlag.

Alice knickte schnell ein und sprang mit einem langen Satz aus der Reichweite der Waffe. Auf den Boden gelandet, rollte sie sich über die Schulter ab und stand gleich darauf wieder auf den Füßen. Ihr Kopf schien vor Schmerzen zu zerbersten, aber das durfte sie jetzt nicht beachten. Der Degen hatte ins Leere geschlagen und das Pferd den Reiter viele Meter weitergetragen. Der junge Mann blickte über die Schulter überrascht zurück. Er zerrte an den Zügeln und bremste scharf ab. Sein Hengst warf den Kopf hoch und die Vorderbeine kamen schlitternd im Waldboden zu stehen. Er sprang vom Pferderücken und kam mit langen Schritten auf Alice zu. Sein Gesichtsausdruck war erbost, die Augenbrauen dicht zusammengezogen. Den Degen hielt er fest in der Hand.

„Lass mich in Ruhe. Ich habe dir nichts getan!“, schrie sie ihn an.

„Qui es-vous?“, schrie er zurück, „Que êtes-vous ici?“

Alice wunderte sich, dass er französisch sprach, und wiederholte ihren Satz sogleich in der Sprache. Er zögerte einen kleinen Moment, ging dann aber rasch weiter. Der Mann trug ein dunkelgrünes Justaucorps mit breiten Ärmelaufschlägen, aus denen Spitzenmanschetten über die Hände fielen. Darunter eine beige Culotte, die bis zu den Knien reichte, die Füße steckten in schwarzen Lederstiefeln. Er hob den Degen erneut kampfbereit an. Alice setzte ihre Beine in die passende Kampfhaltung und hob die Arme. Sie korrigierte leicht ihr Standbein. Diesmal rief sie ihm direkt auf Französisch zu: „Ich warne dich, fass mich nicht an!“

Er stürzte auf sie zu! Alice drehte sich blitzschnell auf dem Standbein um die eigene Achse. Im Drehen hob sie ihr hinteres Bein hoch und trat ihm damit gegen die Degenhand. Die Waffe flog im hohen Bogen davon und landete auf dem Waldboden. Fassungslos sah der Mann dem Degen hinterher.

Alice war wieder auf beiden Füßen gelandet und stellte sich in das Kamae – der Karategrundstellung – auf, die Arme abwehrbereit hochgehoben.

„Nochmal zum Mitschreiben: Lass. Mich. In. Ruhe!“, fauchte sie ihn an.

Mit einem zornigen Knurren rannte er auf sie zu, die Arme vorgestreckt. Alice schlug einen Arm mit der Handkante seitlich weg und rammte ihm eine Faust in die Bauchmitte, in den Solar Plexus. Ihre Bewegungen waren dabei so schnell und fließend, dass seine Begleiter kaum mitbekamen, was sie machte. Die Männer sahen nur, dass ihr Reiter sich mit einem „Pffft“ vornübergebeugt den Bauch hielt. Sie sprang zur Seite und sah sich misstrauisch um, ob noch jemand angreifen wollte. Alice entfernte sich aus dem Nahkampfbereich.

Der Kampf hatte sie erhitzt. Sie zog den Reißverschluss ihrer Steppjacke hinunter und streifte die Jacke von den Schultern. Sie hörte ein verblüfftes Raunen von der Reitergruppe hinter sich. Die Reiter sahen jetzt die Formen einer schlanken, wohlproportionierten jungen Frau. Sie drehte sich zu ihnen um, behielt aber ihren Angreifer im Seitenblick. Mit den langen blonden Haaren und dem klaren, fein geschnittenem Gesicht sah sie für die Männer mit einem Mal sehr attraktiv aus. Nur ihre merkwürdige Kleidung fanden sie ziemlich anstößig. Sie hatten noch nie eine Frau in Jeans, Ankle Boots und T-Shirt gesehen.

Laut sprach sie zu den anderen auf Französisch: „Ich bin nicht hier, um irgendjemand etwas zu tun. Ich verteidige mich nur gegen Angriffe. Lasst mich in Frieden. Ich will nichts von euch.“

Der Kämpfer im dunkelgrünen Justaucorps hatte sich inzwischen erholt und startete erneut einen Sprint auf sie zu. „Salaud“, schimpfte er. Es gelang ihm, sie vorne am T-Shirt zu packen. Seine Miene war finster, die Augen waren sturmumwölkt. Alice packte das Revers seiner Jacke und glitt zu Boden, hob das rechte Bein und trat ihm in den Bauch. Dann ließ sie sich auf den Rücken fallen und streckte das Bein, der Körper des jungen Mannes schwebte für einen Moment schwerelos. Das Gesicht über ihr drückte nun Überraschung und Schrecken aus. Mit Schwung warf sie den Kerl durch die Luft auf den Boden. Er überschlug sich und knallte mit lautem „Ufff“ auf dem Rücken. Sofort sprang sie auf. Für einen winzigen Moment sah sie alles doppelt, ihr Kopf würde die Schmerzen nicht mehr lange aushalten. Dann wurde ihre Sicht wieder klar. Der Angreifer am Boden starrte fassungslos in die Baumkronen.

„Arrêt“, blaffte sie ihn an.

Der Kampf hatte ihr T-Shirt verschoben und zeigte einen hübschen Nabel in einem glatten, athletischen Bauch. Schnell zog sie es wieder runter.

 

Einer der anderen Reiter stieg von seinem Pferd und kam ruhig auf die beiden Kämpfer zu, die Handflächen zu Alice als Friedenssignal erhoben. Er war sehr elegant mit einem blauen Justaucorps und darüber einen braunen Manteau gekleidet und sah unverschämt gut aus.

Grundgütiger, McSexy ist hier, dachte sie. Der attraktive Mann hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem amerikanischen Schauspieler aus ihrer Lieblings-TV-Serie. Er spielte dort einen Arzt und Frauenhelden.

„Aufhören, alle beide“, sagte er zu seinem Begleiter am Boden. Dann drehte er sich zu Alice um.

„Wer seid ihr?“, fragte er bestimmt, „Und was macht ihr hier?“

Alice strich über ihre Stirn, die Kopfschmerzen kehrten mit Macht zurück. Sie sah ihm in die Augen. Ein hübsches Grün, wie ein schattiger Waldsee. Trotzdem behielt sie vorsichtshalber ihre Beine in der Karatekampfstellung.

„Wo ist hier?“, gab sie zurück.

Verblüffung zeichnete sich in dem Gesicht ab. „Ihr wisst nicht, wo Ihr seid?“, fragte er.

„Ich weiß nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin“, war ihre Antwort. „Ich weiß nur, dass ich entsetzliche Kopfschmerzen habe, die durch Ihren Freund nicht besser geworden sind.“, grollte sie in Richtung des besiegten Kämpfers. Der war inzwischen aufgestanden und schoss wütende Blitze aus seinen Gewitteraugen zurück, während er sich Blätter und Erde von der Jacke wischte.

McSexy hatte die Arme ausgebreitet und zeigte auf das Gebiet um sie herum. „Nun, das ist der Wald von Trianon. Wir sind nicht weit vom Schloss Versailles entfernt.“

Alice sah ihn entgeistert an. „Versailles? Frankreich?“, wisperte sie. „Mon Dieu.“

„Was ist euch denn geschehen?“, fragte er.

„Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich bin hier im Wald aufgewacht, ohne zu wissen, wie ich hierher gekommen bin.“ Vor allem durfte sie nicht verraten, wo sie noch wenige Minuten vorher gewesen war.

Er stand etwas ratlos vor ihr. Dann griff er nach seinem Hut und schwenkte ihn mit einer Verbeugung.

„Vielleicht fangen wir mit dem Einfachen an. Ihr habt die Ehre mit Antoine Nompar de Caumont, Herzog de Lauzun.“ Er blickte bewundernd an ihrem Körper entlang, vor allem über die Hüften und endlos lange Beine. „Aber hübsche Frauen dürfen mich auch Péguilin nennen.“ Ein charmantes Lächeln umspielte dabei seine Mundwinkel.

Alice erlebte den nächsten Schock. Lauzun, ein berühmter Name, der ihr in etlichen Romanen und Geschichtsbüchern begegnet war. Aber dass er wie McSexy aussah, war einfach zu viel.

„Und wer seid Ihr?“, fragte er.

Alice strich mit beiden Händen die Haare aus ihrem Gesicht; sie brauchte einen kurzen Moment zum Nachdenken.

„Mein Name ist Alicée Scolinaire“, knickste sie vor dem Adeligen. Der Name, den sie sich gerade ausgedacht hatte, passte recht gut hierher. Eine französisierte Weise ihres deutschen Namen: Alice Schüller. Der Herzog nickte ihr zu und zeigte dann auf den Kämpfer.

„Und dieser ungestüme junge Mann ist Chevalier Jean-Marie d´Assérac, Lieutenant der Garde du Corps du roi. Verzeiht ihm seinen Angriff, er beschützt den König.“

Alicée, wie sie sich jetzt nannte, sah den Angreifer an. Er hatte ein ovales, gut geschnittenes Gesicht mit einem Schopf voller dichter, brauner Haare. Hellgraue Augen blickten sie unter geraden Augenbrauen gereizt an. Seine Lippen waren voll und schön, jetzt aber missmutig zusammengepresst. Er hätte sehr attraktiv sein können, wenn er nicht diese grimmige Miene aufgesetzt hätte. Alicée verzichtete auf einen Knicks, sah ihn nur eisig an und nickte kurz.

„Den König?“, wandte sie sich irritiert an den Herzog de Lauzun.

Der lächelte die junge Frau an und nickte zu der Reitergruppe hin, die einige Meter weiter wartete. Alicée blickte zu den Männern herüber und wurde blass.

 

Es war unmöglich, Ludwig XIV. in einer Gruppe zu übersehen. Seine majestätische Haltung überstrahlte alle, die ihn umgaben. Er saß auf einem prächtigen Schimmel, der jetzt ungeduldig seine lange hellblonde Mähne schüttelte und auf der Trense kaute. Zaumzeug, Steigbügel und Sattel waren goldverziert, eine Schabracke aus Brokat mit Goldstickereien verwandelte ihn selbst in einen Thron. Der König saß sehr gerade auf dem Pferderücken, die Füße in schwarzen Stulpenstiefeln, die ihm bis über die Knie reichten. Er hielt seine Beine eng am Pferd, die Zügel locker in der Hand.

Oberhalb einer roten Brokathose trug er ein königsblaues Justaucorps mit Goldstickereien und breiten Ärmelaufschlägen. Auf der großen Allongeperücke saß ein schwarzer Dreispitz mit weißen Straußenfedern. Das Gesicht zierte ein dünner Schnurrbart unter der dominanten Hakennase. Blaue Augen blickten ungerührt auf Alicée.

Der Herzog de Lauzun berührte die junge Frau leicht an der Schulter und wies sie mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. Sie nahm ihre Jacke, holte tief Luft und ging mit ihm. Kurz vor den Pferden machten sie Halt und Lauzun stellte sie vor.

„Votre Majesté, erlaubt mir, euch Mademoiselle Alicée Scolinaire vorzustellen, die sich anscheinend hier in dem Wald verirrt hat und behauptet, sie hätte sich nur gegen die Angriffe d´Asséracs gewehrt“, stellte der Herzog die junge Frau dem König vor und verbeugte sich.

„Madame“, flüsterte sie.

Lauzun sah sie irritiert von der Seite an.

„Ich heiße Madame Alicée Scolinaire, ich bin Witwe“, stellte sie richtig.

Der Herzog grinste: „Also dann: Madame Alicée Scolinaire, Votre Majesté.“ Er drehte sich zu der jungen Frau um und hob den Arm zum König: „Und das ist sa Majeste, très haut, très puissant et très excellent, par la grâce de Dieu Roi de France et de Navarre, Louis.“

Alicée versank vor dem König in einen Hofknicks, wie sie es ein paarmal in Spielfilmen gesehen hatte, und betete still, dass sie es richtig macht.

Das Gesicht des Königs war ausdruckslos und gab keine Regung preis. Eine winzige Geste mit der königlichen Hand erlaubte ihr, wieder aufzustehen.

„Ihr habt uns gerade einen beeindruckenden Strauß gezeigt Madame. Es ist nun wirklich nicht üblich, dass ein Lieutenant der Garde von einer Frau niedergerungen wird.“ Die Stimme war für einen Monarchen etwas hoch, konstatierte Alicée. Aber alle Welt schwieg und so hörte man den König sehr weit. Der Chevalier Jean-Marie d´Assérac war inzwischen aus dem Wald zurückgekommen, wo er sein Pferd und den verlorenen Degen geholt hatte. Misstrauisch stellte er sich in der Nähe Alicées auf.

Die junge Frau sah Ludwig XIV. offen ins Gesicht: „Ich habe mich nur selbst verteidigt, Sire. Ich will mit niemandem Streit haben und bitte um Verzeihung, wenn ich euch Ärger verursacht habe. Aber ich wiederhole: Ich habe mich nur gegen einen Angriff verteidigt.“

„Dieser Wald ist nicht für das Volk zugänglich, Madame. Wie seid Ihr hierher gekommen?“, fragte der König.

Alicée hob die Arme in einer hilflosen Geste an und ließ sie wieder fallen. „Ich wäre überglücklich, wenn ich das wüsste, Votre Majesté. Ich wache mit Kopfschmerzen auf dem Waldboden auf und im nächsten Augenblick kommt ein Reiter mit einem Degen auf mich zu. Seitdem hatte ich noch nicht viel Zeit zum Nachdenken. Ich wünschte ...“

 

Neben dem König sackte sein Begleiter mit einem lauten Stöhnen im Sattel plötzlich zusammen und kippte seitlich weg. Alicée sah den Bewusstlosen vom Pferd fallen und sprintete sofort zu dem Mann hin. Auf halber Höhe fing sie ihn mit ihren Armen auf. Er wog einiges mehr als sie, aber sie konnte den schlaffen Körper abfangen und behutsam zur Erde sinken lassen, sie kniete sich neben ihn.

Die plötzliche Bewegung hatte die Pferde überrascht, die nun zur Seite sprangen oder erschreckt wieherten. Der König hielt mit Schenkeldruck den weißen Hengst auf dem Platz, aber das reiterlose Pferd machte einen gewaltigen Satz über die zwei Menschen am Boden hinweg. Laute Stimmen und Rufe brandeten herüber.

Alicée hielt den Mann in ihren Armen und schaute ihn an. Unter der graublonden Allongeperücke und dem eleganten roten Hut war ein älteres Gesicht mit der typisch scharfen Bourbonennase und unzähligen kleinen Fältchen.

Sie rüttelte an seinen Schultern. „Hallo, hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?“

Der Kopf war nach hinten gesunken, die Augen geschlossen. Sie hob eine Hand und setzte ihre Finger auf die Stelle der Halsschlagader. Unter ihren Fingerspitzen fand sie einen flachen, rasend schnell vibrierenden Puls. Das Tempo würde nicht lange gutgehen, wusste sie. Sie legte den Älteren behutsam auf dem Boden ab und faltete aus ihrer Jacke ein Kissen, dass sie ihm unter den Kopf schob. Dann nahm sie dem Mann Hut und Perücke ab und legte sanft den nackten Schädel auf das Polster ab. Ihre Bewegungen waren ruhig und fließend.

Lauzun war neben sie getreten und rief aus: „Was macht Ihr denn da?“

„Der Mann hat anscheinend eine Herzattacke. Ich weiß, was man in diesem Fall tun muss, um ihm zu helfen.“ Alicée schob gerade das schwarze Justaucorps auseinander.

„Das ist der Prince de Condé. Ihr könnt ihn doch nicht einfach berühren.“

Sie fummelte an dem Spitzenjabot herum, um es aufzubinden, fand aber in den Falten und Spitzen keinen Anfang. Eine Hand packte sie fest an der Schulter. „Aufhören. Das ist ein Mitglied der königlichen Familie.“

Alicée wendete kurz das Gesicht und sah direkt den Chevalier an. Der schon wieder. Sie schüttelte seine Hand von ihrer Schulter ab, holte tief Luft und sprach ernst und deutlich: „Der Mann hat einen Herzinfarkt. Wenn er nicht innerhalb der nächsten drei Minuten Hilfe bekommt, stirbt er. Ich weiß, was in diesem Fall zu tun ist. Ihr könnt helfen oder tretet zur Seite und lasst mich arbeiten.“

Sie zerrte weiterhin an dem Spitzenjabot herum. „Wie geht dieses verdammte Ding auf?“, rief sie. D´Assérac ging auf die andere Seite und kniete sich neben dem Fürsten Condé, ihr genau gegenüber. Er stieß ihre Hände beiseite und löste das Halstuch. „Was jetzt?“, fragte er barsch.

„Alles öffnen, wir müssen den Brustkorb freimachen“, sagte sie.

Der Chevalier d´Assérac sah sie entgeistert an. „Ihr könnt doch nicht den Prinzen ausziehen!“

Sie richtete den Kopf auf und sah dem Lieutenant ins Gesicht. Ihre sanften braunen Augen hatten sich dunkel verfärbt, sie wirkten beinahe schwarz. „Helft mit oder verschwindet! Sonst stirbt er“, hauchte sie.

Lauzun schaltete sich ein: „Was muss gemacht werden?“, fragte er.

Alicée holte tief Luft: „Die Brust muss freigelegt werden, damit man dort eine Herzmassage machen kann und ich sehe, ob er atmet.“ Der Herzog wies den Chevalier mit einem Kopfnicken an, zu tun, was die fremde Frau sagte. Widerwillig beugte sich d´Assérac über den Prinzen und öffnete die Weste und das Hemd darunter. Er zog den Stoff soweit auseinander, wie es möglich war. Die Brust des Fürsten schien sehr blass, die Haut schlaff und faltig.

In der Zwischenzeit hatte Alicée wieder den Puls kontrolliert, der jetzt mehrmals für kurze Momente ausfiel. Der Atem des Mannes ging sehr flach und wurde immer weniger, bis er ganz aussetzte. Es war höchste Zeit.

Mit der linken Hand tastete sie nach dem Ende des Brustbeins, setzte mit der anderen zwei Finger und platzierte den Ballen der linken Hand daneben. Die zweite Hand legte sie darüber und verschränkte die Finger. Dann begann sie mit der Herzmassage. Mit durchgestreckten Armen drückte sie den Brustkorb des Mannes gut fünf bis sechs Zentimeter ein. Leise zählte sie „Un, deux, trois, quatre, cinq, six, sept ...“, bis sie bei dreißig angelangt war. Alicée stoppte und wandte sich dem Gesicht zu. Mit beiden Händen neigte sie vorsichtig den Kopf nach hinten. Daumen und Zeigefinger verschlossen die Nasenflügel. Die andere Hand öffnete sie den Mund des Bewusstlosen, bei angehobenem Kinn. Sie beugte ihr Gesicht und ihre Lippen näherten sich seinen.

„Alter Schwede.“ Ein leises, entsetztes Schnauben verließ ihre Nase. Sie riss den Kopf hoch und atmete tief ein. Der Prinz hatte einen fürchterlichen Mundgeruch. „Ich brauche ein Taschentuch. Schnell!“ Sie streckte blindlings eine Hand in die Luft und schnippte ungeduldig mit den Fingern. Jemand gab ihr ein Spitzentuch. Sie betrachtete kurz das weiße Spitzenfähnchen, das nur in der Mitte ein kleines Stoffquadrat auswies und fragte sich, wie man sich damit die Nase putzen konnte. Sie legte das Tuch auf den Mund Condés und begann noch einmal. Sie senkte ihre Lippen auf die seinen und blies ihre Atemluft durch den Stoff in seinen Hals. Sie drehte den Kopf zur Seite und beobachtete, dass sich der Brustkorb des Mannes wieder senkte. Dann beatmete sie ihn ein weiteres Mal.

Alicée richtete sich auf und tastete am Hals nach dem Puls des Prinzen. Er war immer noch kaum zu spüren und selbständig atmen konnte er auch nicht.

Sie setzte ihre Hände wieder auf den Brustkorb und drückte die Brust tief hinunter. Sie sah dem Chevalier d´Assérac direkt in die Augen: „Schaut genau hin“, sagte sie ruhig, „Ihr werdet das gleich übernehmen.“ Der junge Mann blickte sie voller Argwohn an.

Wieder zählte sie bis dreißig und machte dann zwei weitere Atemspenden. Sie prüfte erneut den Puls: unverändert. Ein ärgerlicher Laut entfuhr ihr. Nach drei Durchgängen zeigte ihr T-Shirt erste Schweißflecke. Sie atmete schneller.

„Jetzt ist es an euch“, sagte sie zu dem Chevalier. Sie zeigte ihm, wie er den Druckpunkt finden konnte: „Hier, seht hin. Das Ende des Brustbeins tasten, zwei Finger breit daneben den Handballen aufsetzen. Die zweite Hand darüber und Finger verschränken. Drückt eure Arme durch!“ Alicée korrigierte seine Hände und Arme, bis sie zufrieden war. „Jetzt drückt Ihr mit eurem Gewicht den Brustkorb runter. Ungefähr so tief“, sagte sie und zeigte mit den Fingern den Abstand. „Zählt bis dreißig und lasst die Hände auf der Brust liegen!“, kommandierte sie. Sie kontrollierte die Herzmassage mit einem Auge, mit dem anderen behielt sie ihre Finger am Puls im Blick. Alicée und der Chevalier d´Assérac wechselten sich mit Herzdruck und Beatmen immer wieder ab. Beiden standen Schweißperlen auf der Stirn, auf Alicées T-Shirt zeichneten sich Flecken ab.

Plötzlich hob sie ihre Hand und unterbrach die Herzdruckmassage. Sie legte ihren Kopf auf die Brust des Fürsten und horchte nach dem Herzschlag. Er war da. Er tanzte noch arrhythmisch, aber das Herz klopfte jetzt kräftiger. Sie spürte auch, wie sich der Brustkorb hob und senkte, und hörte unter ihrem Ohr das Rauschen der Lungen. Sie nahm dem Mann das Taschentuch vom Mund. Ihr Gesicht entspannte sich und sie hob lächelnd den Kopf.

Sie blickte den Herzog de Lauzun an und sagte: „Das Herz schlägt wieder und er atmet selbständig.“ Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Reitergruppe, steigerte sich bis zum Jubel.

„Wird er wieder gesund?“, fragte eine etwas hohe Stimme hinter ihr. Sie drehte ihren Oberkörper herum und sah König Ludwig hinter sich stehen. Jetzt klopfte ihr Herz; Er hatte ihr das Taschentuch gegeben. Alicée rutschte etwas nach hinten und stand dann auf. Einen Augenblick wurde ihr schwindelig.

„Votre Majesté, das müssen eure Ärzte erreichen. Ich habe nur Erste Hilfe geleistet.“

Weil Ludwig XIV. sie verständnislos ansah, erklärte sie: „Erste Hilfe sind Rettungsmaßnahmen. Es geht nur darum, den Körper am Leben zu erhalten, bis man den Patienten zu einem Arzt gebracht hat. Heilen kann ich nicht.“

Der König nickte und sagte: „Wir sind euch zu Dank verpflichtet, Madame. Ihr habt unseren Vetter gerettet. Condé ist einer der bedeutendsten Feldherren Frankreichs.“

„Das war ich nicht alleine. Ich hatte Hilfe“, sagte sie und wies hinter sich auf den Lieutenant.

„Auch dem Chevalier d´Assérac sind wir zu großem Dank verpflichtet“, sagte Ludwigs XIV.

Dieser stand auf und antwortete ernst: „Ich bin überglücklich, dass wir euren Verwandten, Louis de Bourbon, Prince de Condé, retten konnten, Votre Majesté.“

Alicée hatte sich wieder hingekniet und prüfte erneut Condés Puls an der Halsschlagader. Sie deckte aufmerksam seine Bekleidung über der Brust zu.

„Wir sollten den Prinzen so schnell wie möglich ins Schloss bringen, Sire“, schlug der Herzog de Lauzun vor „Kann bitte jemand sein Pferd einfangen?“ Der Lieutenant wollte sofort losrennen.

Alicée zog scharf die Luft ein. „Um Gottes willen, nein!“, rief sie. Sie wies auf den Ohnmächtigen. „Er muss liegend transportiert werden. Der Mann braucht unbedingt Ruhe. Kann man nicht eine Kutsche oder Sänfte organisieren? Oder eine Trage aus dem Lazarett?“

Die Herren sahen sich ratlos an. Dann bestimmte Lauzun: „Jean-Marie, reite zum Schloss und besorge, was Madame Scolinaire sagt. Man sollte immer auf den Doktor hören.“

Alicée sah, wie der Lieutenant zu seinem Pferd lief und mit einem gewaltigen Satz aus dem Stand in den Sattel sprang. Anerkennend hob sie die Augenbrauen. Flott war er ja. Dann überwog wieder die Sorge um den Patienten ihre Gedanken.

Der Bewusstlose regte sich langsam, seine Lider flatterten. Ein leises Stöhnen drang aus seinem Hals. Endlich öffnete er die Augen, sie waren braun, fast wie ihre.

„Que ...“, flüsterte er. Er sah verwirrt verschiedene Gestalten um ihn herum stehen. Sie waren für ihn noch unscharf. Dann merkte er, dass er auf dem Boden lag und erschrak.

„Votre Grâce“, antwortete Alicée sanft und legte ihre Hand auf seine Schulter. „Ihr müsst ruhig liegen bleiben. Ihr wart ohnmächtig, hattet gerade einen Herzanfall. Gönnt Eurem Herz bitte Ruhe und bewegt euch nicht.“ Sie sah ihm eindringlich in die Augen.

Der Fürst blickte erstaunt zu der fremden Frau über ihm auf. „Wer seid Ihr?“, fragte er.

„Mein Name ist Alicée Scolinaire“, antwortete sie ruhig. „Es war mir möglich, euch zu helfen. Alles weitere müssen eure Ärzte schaffen. Gerade ist jemand zum Schloss unterwegs, um einen Transport für euch zu beschaffen.“

„Das kann ich selber“, bestimmte er hochmütig und wollte sich aufrichten. Schon kurz in der Höhe, sank sein Kopf wieder auf das Kissen zurück. „Ooooooh“, stöhnte er und schloss die Augen.

Alicée schob seine Schultern hinunter und sagte nachdrücklich: „Bitte bleibt liegen. Wenn Ihr aufsteht, werdet Ihr wieder ohnmächtig.“

Die junge Frau richtete ihren Oberkörper auf und blickte in die Runde besorgter Gesichter. „Hat einer von Ihnen vielleicht einen Manteau oder eine Decke? Er sollte warm gehalten werden.“

Der Herzog de Lauzun legte seinen Umhang ab und reichte ihn ihr. Das Cape war aus dickem Stoff und warm von seiner Körperwärme. Alicée legte ihn über den Condé und packte ihn an den Seiten mit dieser Behelfsdecke ein. Sie sah, wie sich das Gesicht des Fürsten leicht entspannte.

„Was passiert jetzt?“, begehrte der König zu wissen.

Die junge Frau sah hoch und sagte: „Wir warten, bis wir ihn transportieren können. Ich achte nur darauf, dass nicht noch ein Unglück geschieht.“ Wieder kontrollierte sie den Puls, diesmal am Handgelenk. Unrhythmisch, aber kräftig, konstatierte sie. Sie machte eine zufriedene Miene. Das sahen auch die anderen und atmeten erleichtert aus.

„Mon roi“, sagte Lauzun, „ich warte hier, bis Lieutenant d´Assérac Hilfe geholt hat und begleite den Transport ins Schloss. Wir werden den Prinzen in sein Appartement bringen und die Ärzte rufen.“

Der König nickte und hockte sich neben den Liegenden. Er legte eine Hand auf seine Schulter und sagte: „Mon cousin, wir hoffen sehr, euch gesund im Schloss wiederzusehen. Wir reiten voraus und bereiten alles für eure Rückkehr vor.“

Condé lächelte etwas zittrig und hauchte: „Merci, Votre Majesté.“ Dann stand der König auf und nahm seine Begleiter zu den wartenden Pferden mit. Bald darauf donnerten Hufschläge über den Waldboden, die schnell leiser wurden.

 

Alicée entspannte ihre verkrampften Schultern. Sie und der Herzog de Lauzun blieben allein bei dem kranken Prinzen zurück. Er hockte sich gegenüber von der jungen Frau und sah sie eingehend an. Er betrachtete das klare Gesicht mit der hellen Haut, die feine gerade Nase, ihr Kinn, das Energie und Stärke versprach und die blonden Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Am besten gefielen ihm die haselnussbraunen Augen unter langen schwarzen Wimpern, die fein geschwungenen Brauen und die elegante Form der Lippen. Er war sicher, dass sich hinter den etwas herben Gesichtszügen Leidenschaft und Sinnlichkeit verbargen.

Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er gab seiner sonoren Stimme ein verführerisches Timbre. „Und was machen wir Hübschen nun?“

Alicée sah ihn verdattert an. Dann hob sie den Kopf und lachte schallend auf. McSexy wurde seinem schlechten Ruf tatsächlich gerecht, dachte sie. So ein Casanova! Sie schüttelte den Kopf und kicherte eine Weile, dann beruhigte sie sich wieder und sah nach ihrem Patienten. Der lächelte sie auch an. „Mein Kind, ich habe euch noch nicht gedankt“, flüsterte er heiser. Er tastete nach ihrer Hand und drückte sie leicht.

„Votre Grâce, Ihr solltet nicht sprechen. Das strengt noch an“, sagte sie leise. Aber sie drückte seine Hand zurück.

Aus der Ferne waren bald Hufschläge, Stimmen und laufende Schritte zu hören. Der Chevalier d´Assérac kam mit zwei Männern, die eine Trage schleppten, zurück. Er sprang vom Pferd und trat an die Gruppe heran.

„Wie geht es sa Grâce?“, fragte er angespannt und blickte auf den Fürsten am Boden.

„Es ist alles in Ordnung“, antwortete Alicée ruhig, „Er sollte sich nur nicht anstrengen, bis er in seinem eigenen Bett liegt.“

D´Assérac wendete sich an den Herzog de Lauzun und berichtete: „Eine Sänfte war so schnell nicht aufzutreiben und es hätte zu lange gedauert, eine Kutsche anzuspannen. Die Trage habe ich aus dem Magazin geholt und mir zwei Pferdeknechte geschnappt.“

„Alles ist gut“, beruhigte ihn der Herzog, „das war die schnellste Lösung.“

Die Knechte legten die Trage neben dem Prinzen ab. Lauzun trat ans obere Ende und hob den Kopf leicht an, d´Assérac die Füße. Alicée blieb in kniender Stellung und schob ihre Hände unter den Rücken. „Langsam“, warnte sie. Sanft wurde der Condé angehoben und auf die Trage gebettet. Dann richtete sie die Kleidung und den Mantel, der ihn wärmte. Die Knechte traten hinzu, um die Trage anzuheben. Condé griff schnell nach der Hand Alicées und hielt sie umklammert.

„L´ ange soll mitkommen“, wisperte er.

Die junge Frau sah fragend zum Herzog, der zuckte nur die Schultern und nickte. Sie griff nach ihrer Steppjacke und stellte sich neben der Trage auf, die Hand des Prinzen fest in ihrer. Dann gingen sie los.

Die beiden Adeligen stiegen auf ihre Pferde, Lauzun übernahm die Führung und d´Assérac sicherte die Träger von hinten. Sie schlugen den Weg zum Schloss ein. Als sie den Waldrand erreichten, öffnete Alicée staunend ihren Mund.

 

Sie erblickte eine gigantische Parklandschaft, die fast bis zum Horizont reichte, vor sich. Es war kaum zu fassen, was sie sah: unzählige Blumen, Bossketten, Broderien, Baumalleen, Wege, Springbrunnen mit mythologischen Figuren und rauschenden Wasserfontänen sowie lange Kanäle.

In der Ferne erblickte sie das Residenzschloss Versailles. Es erhob sich in einem eleganten rosa-cremefarbenen Ton über den Park. Seine Ausdehnung in der Breite schien fast ins Unendliche zu gehen. Die Gartenfassade des Schlosses war im Stil des klassizistischen Barocks gestaltet. Horizontale Linien dominierten das Bauwerk. Risalitartig hervorspringende Portale lockerten die strenge Sandsteinfassade auf. Eine abschließende Balustrade des Obergeschosses war mit steinernen Vasen und Trophäendarstellungen dekoriert und verbarg dahinter flache Dächer. Die Gartenfassade bildete aus drei Gebäudeteilen einen zusammenhängenden Block mit enormer Breitenwirkung.

„Oh mein Gott“, rief sie beeindruckt aus. Lauzun drehte sich im Sattel um und lächelte spöttisch. Er war den Anblick schon lange gewohnt.

Die Gruppe wanderte mit der Trage zwischen den zwei Pferden durch den Park und erntete auf ihrem Weg viele verwunderte Blicke von anderen Spaziergängern. Vor allem die junge Fremde in ihrer merkwürdigen Kleidung wurde angegafft. Eine Frau in engen Hosen, so dass man die Form der Beine sah – wie schockierend! Alicée sah die scheelen Blicke, ignorierte sie aber. Sie war fasziniert von der Größe und Schönheit Versailles. Ihre Blicke erfassten immer mehr Details: Unzählige Boskette und Springbrunnen zierten den Garten. Diese hatten mythische Götterfiguren aus Bronze oder Marmor. Baumalleen luden zum Lustwandeln ein. Am beeindruckendsten war der Grand Canal. Seine Länge zog das Auge mit zum Horizont. Vom Schloss aus muss das wie ein unendlicher Park aussehen, dachte sie.

„Ist das schön“, sagte sie bewundernd.

„Ihr ward noch nie in Versailles, Madame?“, fragte der Kranke.

„Nein, Votre Grâce, es ist das erste Mal. Bei Gott, es ist traumhaft.“

Condé sagte leise: „Dann solltet Ihr Zeit haben, es zu genießen.“

Alicée hob fragend die Augenbrauen und der Prinz drückte ihre Hand. Die Gruppe schwenkte in Richtung des Südflügels, wo die Prinzen von Geblüt untergebracht waren. Vor der Orangerie kamen ihnen bereits Bedienstete in den Farben des Hauses Condé entgegengelaufen. Sie umstellten schnell die Trage, rissen sie fast aus den Händen der Knechte. Alicée wurde grob zur Seite geschubst, sie verlor die Hand des Prinzen.

„Mon ange“, rief er noch aus. Aber seine Diener eilten mit ihm bereits im Laufschritt die Stufen zum Gebäude hoch.

Alicée stand einen Augenblick verblüfft auf dem Kiesweg. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie drehte sich verwirrt um die eigene Achse, um sich zu orientieren.

„Ihr werdet mit mir kommen, Madame“, bestimmte der Lieutenant d´Assérac mit strenger Miene.

Der Herzog de Lauzun war von seinem Pferd abgestiegen und reichte die Zügel einem der Knechte.

„Kümmert euch um Hercule!“, befahl er und wandte sich an d´Assérac. „Wo willst du mit ihr hin?“, fragte Lauzun.

„In die Wachstube im Grand commun“, antwortete der Chevalier.

Der Herzog nickte kurz. „Ich werde nach Condé sehen und seine Gattin beruhigen. Und dann komme ich nach.“ Er ging zu den Stufen, drehte sich aber nochmal um. „Es wäre schön, wenn ihr zwei die Wachstube nicht in Trümmern zerlegen würdet.“ Ein spöttisches Funkeln glitzerte in seinen Augen, er zog seinen Hut und schwenkte ihn in Richtung Alicée.

D´Assérac zog die Augenbrauen zusammen, wendete sein Pferd und befahl: „Folgt mir!“

Alicée verdrehte hinter seinem Rücken die Augen und zeigte heimlich den Stinkefinger in seine Richtung. Himmelkreuzdonnerwetter, ist das ein Kotzbrocken, schimpfte sie in Gedanken. Sie mussten das langgezogene Gebäude weitläufig umrunden, und der Lieutenant dachte nicht daran, das Tempo seines Rotfuchses zu bremsen, so dass Alicée hinter dem trabenden Pferd fast joggte, als sie endlich auf der anderen Seite des Schlosses bei der Grand commun an der Chaussée de la Ligne ankamen. Sie war völlig außer Atem und stützte ihre Hände auf den Knien ab. Ein paar Mal holte sie tief Luft.

„So ein Drecksack!“, fluchte sie laut auf Deutsch, als sie wieder zu Atem gekommen war. D´Assérac brauchte keine Übersetzung, er sah es ihrer Miene an, was sie dachte und grinste selbstzufrieden. Der Lieutenant stieg vom Pferd und winkte ungeduldig zu einer hohen Tordurchfahrt hin. Das über 6.200 qm große Grand commun stand direkt neben dem Versailler Palast. Es war von Jules Hardouin-Mansart als vierflügeliger Bau anlässlich der Verlegung des Regierungssitzes von Paris nach Versailles errichtet worden. Alicée trat näher und sah zu dem viergeschossigen Gebäude hoch. Wie ein dicker Klotz, dachte sie; jetzt weiß ich auch, woher unsere Verwaltungsgebäude ihre Vorlage herhaben.

Ursprünglich als Schlossküche des Palastes, diverser Wirtschaftsräume und Räumlichkeiten der Bediensteten sowie als Aufenthaltsräume der Offiziere gedacht, wurde der Grand commun mit der Zeit zu einem Appartementhaus, da der Versailler Palast für alle Höflinge stets zu wenig Wohnmöglichkeiten bot. Diese Appartements galten bei Adeligen als nicht standesgemäß, aber die Alternative wäre gewesen, ein Pensionszimmer in einem der Hotels und Privatpensionen der Stadt Versailles zu mieten, was für viele Adelige noch weniger in Frage kam. So lebten regelmäßig um die tausend Menschen in dem vierstöckigen Zweckbau.

Alicée und der Lieutenant gingen durch das Tor und gelangten zu einem Innenhof, in dem viele Männer und Frauen hin- und her eilten. „Dort hin“, zeigte er nach rechts. Er legte von hinten seine Hand auf ihre Schulter und schob sie in die Richtung. Alicée schüttelte sich, um sie loszuwerden. Aber er fasste immer wieder nach. „Sklaventreiber!“, fluchte sie weiter auf Deutsch. Sie kamen zu einer geschnitzten Eingangstüre im Innenhof. Er band sein Pferd an einen Pfosten daneben und dirigierte Alicée ins Haus.

Als sie durch die Tür kamen, wich sie entsetzt vor dem Gestank im Inneren zurück. Sie hielt sich die Nase zu und sah den Lieutenant völlig entgeistert an.

„Bon sang! Ist das ein Gestank“, fluchte sie und atmete durch den Mund. „Und hier leben Menschen? Wie haltet Ihr das nur aus?“ Alicée hatte schon in Büchern darüber gelesen, dass es in Versailles riechen würde, weil die Bewohner alle Winkel und Ecken benutzen, um ihre Ausscheidungen loszuwerden. Aber mit diesem Kloakengeruch hatte sie nicht gerechnet und war geschockt.

D´Assérac nahm ihren Arm und zog sie in den Flur zu einem Zimmer. Er öffnete die Türe und schubste sie hinein. Es war eine Schreibstube mit ein paar Regalen, einem Schreibtisch und einem langen Tisch mit Stühlen. In einer Ecke war ein kleiner Holzofen. Eine Kommode stand an der Wand. Alicée entdeckte obenauf ein paar Becher und eine Karaffe. Sie ging darauf zu, in der Hoffnung, etwas zu trinken darin zu entdecken. Aber die Kanne war leer. Enttäuscht ging sie zum Tisch und setzte sich auf einen Stuhl.

Sie vermutete, dass er sie jetzt verhören würde. Hoffentlich auf halbwegs zivilisierte Art, dachte sie. Bei einer Folter, das ahnte sie, würde sie die ganze Wahrheit herausschreien. Und entweder würden sie diese abergläubischen Barockmenschen als Hexe oder Verrückte ansehen. Beides waren keine erstrebenswerten Ergebnisse.

Mit einem Mal war sie sehr erschöpft und ihre Kopfschmerzen meldeten sich nach der Geruchsattacke vehement zurück. In diesem Amtszimmer stank es wenigstens nicht so penetrant wie auf dem Flur. Das war eine Schreibstube, anscheinend wollte keiner in den Hinterlassenschaften seines Kollegen arbeiten.

Sie stützte ihren Kopf mit den Händen auf und massierte leicht die Stirn. Sie schloss die Lider und atmete durch den Mund langsam ein und aus. Ihr Puls fiel auf Normaltempo. Als sie ihre Augen wieder öffnete, saß ihr der Chevalier gegenüber, rittlings auf einem Stuhl, und betrachtete sie eingehend.

Alicée studierte ihn ebenfalls genau. Er trug keine Perücke. Seine schulterlangen dunkelbraunen Haare waren sehr dicht und fielen ihm in Stirn und Gesicht. Die hellgrauen Augen leuchteten aus diesem Schatten hervor. Unter den Lidern waren Augenringe, der Dienst hier am Hof musste sehr anstrengend sein. Er hatte eine schmale, edle Nase. Seine vollen Lippen glichen ein wenig einem Schmollmund. Vor allem jetzt, da er die Mundwinkel herunterzog. Er hatte sein Justaucorps ausgezogen und trug ein verschwitztes weißes Hemd mit einer bestickten Weste darüber. Breite Schultern zeichneten sich unter dem Stoff ab und der Ledergürtel zeigte eine schlanke Taille. Er musste eine gute Figur haben, dachte sie und bemerkte auf einmal ihren trockenen Hals.

„Seien Sie ein Honnête homme und geben Sie mir etwas zu trinken“, bat sie mit ruhiger Stimme.

„Sie sollten mir zuerst ein paar Fragen beantworten“, gab er zurück.

Sie schnaubte kurz durch die Nase. „Sehr gerne. Das ginge aber besser, wenn mein Hals nicht mehr so trocken ist.“

Er seufzte genervt und stand auf. Er öffnete eine Türe in der Kommode und beförderte zwei Zinnbecher und ein kleines Holzfässchen hervor. Das Fass stellte er auf die Kommode und hielt einen Becher unter den Hahn. Er drehte am Verschluss und eine trübe gelbe Flüssigkeit sprudelte ins Gefäß.

„Ich habe hier nur Bier. Was anderes gibt es nicht“, murrte er.

Alicée schluckte eine sarkastische Bemerkung hinunter und sagte: „Das ist in Ordnung. Hauptsache nass.“

Er kam mit zwei gefüllten Bechern zum Tisch zurück und stellte einen vor Alicée auf die Fläche. Den Zweiten leerte er in einem Zug. Dann knallte er seinen Zinnbecher laut auf den Tisch. Wie ein Geysir schoss der Schmerz in Alicées Kopf hoch. Sie stöhnte auf und vergrub die Stirn in ihren Händen. „Vollpfosten“, grummelte sie in die Finger.

Sie griff nach ihrem Becher und nahm vorsichtig einen Schluck. Das sollte Bier sein? Sie schmeckte eine süßliche, sonst ziemlich fade Brühe an ihrem Gaumen. Ein wenig Kohlensäure von der Gärung sprudelte an die Oberfläche. Ansonsten war die Plörre reichlich trüb. Ganz anders, als der frische leicht herbe Geschmack ihres heimatlichen Bieres.

„Also, im Wein seid Ihr Franzosen Weltmeister, aber vom Bierbrauen habt Ihr nicht die geringste Ahnung“, kommentierte sie. „Es ist nass und löscht meinen Brand, das ist alles.“ Sie prostete ihrem Gegenüber zu und trank den Becher leer.

„Seid Ihr jetzt gewillt, meine Fragen zu beantworten? Oder muss ich euch dazu zwingen?“, fragte er beißend. Alicée hob auffordernd die Hand.

„Ihr seid keine Französin, das verrät euer Akzent, auch wenn ihr ziemlich fließend unsere Sprache sprecht. Wo kommt Ihr her?“

„Ich komme aus Prüm, die Stadt gehört zum Kurfürstentum Trier. Ich bin Deutsche.“

„Prüm?“, fragte er.

„Das liegt nahe an dem Herzogtum Luxemburg.“

„Dort lebt Ihr?“

„Jaaaa. Ich lebe in Prüm und arbeite für Manufakturen als Übersetzerin. Ich spreche Deutsch, Englisch und Französisch.“

„Warum braucht eine Manufaktur Englisch und Französisch?“, fragte er.

„Handel vielleicht? Export und Import mit dem Ausland? Die Frankfurter Messe, wo Händler aus aller Welt kommen, um zu kaufen oder verkaufen? Ich übersetze Korrespondenz, Verträge und begleite den Besitzer der Manufaktur zu Verhandlungen auf Messen oder zu anderen Kaufleuten. Das ist meine Arbeit.“

„Was macht Ihr sonst?“, fragte er weiter.

„Ich gehe nach Hause, koche mir etwas zu essen und lese abends in einem Buch. Sonst nochwas?“ Langsam nervte er sie.

„Ihr nennt euch Madame. Aber wo ist euer Mann? Ist er vielleicht euer Komplize und versteckt sich in dem Wald von Trianon?“

Ihre Ungeduld schlug in Wut um, und mit sehr leiser Stimme sagte sie langsam und deutlich: „Mein Mann ist seit zwei Jahren tot. Eine Gehirnblutung. Vorsicht Lieutenant, Ihr bewegt euch auf ganz dünnem Eis.“ Ihre Augen hatten sich vor Zorn verdunkelt, auf dem Grund schienen Flammen zu züngeln. Alicée atmete tief ein, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

Jean-Marie d´Assérac war für einen kurzen Moment irritiert, fasste sich aber schnell wieder. „Dann sagt mir gefälligst, wie Ihr in den Wald gekommen seid!“

Alicée öffnete ihre Arme und hob die Schultern in einer hilflosen Geste. „Das wüsste ich auch sehr gern“, rief sie. „Ich kann euch sagen, was ich zuletzt gemacht habe: nach Hause gehen, essen, schlafen. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich in diesem Wald gelandet bin. Ich habe keinerlei Erinnerung daran.“

„Wollt Ihr mich glauben machen, dass Ihr euer Gedächtnis verloren habt?“, schnaubte d´Assérac verächtlich.

Sie beugte sich vor. „Was Ihr glaubt, kann mir scheißegal sein. Ich will selber wissen, wie ich hierher gekommen bin, so weit von meiner Heimat entfernt!“, blaffte sie ihn an.

Die Türe zum Amtszimmer ging auf und der Herzog de Lauzun trat ein. „Nun, ihr zwei Hübschen. Amüsieren wir uns?“, fragte er sarkastisch. „Man kann euch bis in den Innenhof hören. Contenance, Madame et Monsieur.“ Er hatte jetzt die Augenbrauen zusammengezogen und starrte beide streng an. Alicée atmete schwer und vergrub ihre Stirn wieder in die Hände. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich die Schädeldecke explodieren würde. Zudem meldete sich ihr Magen mit Übelkeit zurück. Der Chevalier war aufgestanden und an den Herzog getreten. Leise informierte er seinen Vorgesetzten über das bisherige Gespräch.

„Ich bin mir gewiss, dass sie eine ausländische Spionin ist. Wir sollten sie nach Paris zu la Reynie bringen. Er ist der Generalleutnant der Polizei und weiß mit Sicherheit, wie man sie zum Reden bringt“, flüsterte er.

„Da kommst du leider zu spät. Der Prinz und die Prinzessin de Condé sind so dankbar über seine Rettung, dass sie das Mädchen mit Wohltaten überschütten wollen. Ich soll sie abholen und in das Appartement bringen. Sie ist eine gottverdammte Heldin.“

 

Alicée war mit dem Herzog de Lauzun durch die Aile du Midi zum Prinzenflügel von Versailles unterwegs. Sie betrachtete die Straßenfront des Südflügels. Es war ein Neubau im Süden des Zentralgebäudes, des Corps de Logis, das die Gemächer des Königs und der Königin beherbergte. Hier waren Mitglieder der königlichen Familien untergebracht, die Prinzen von Geblüt sowie hochrangige Adelige.

Der Flügelbau war aus sandfarbenen und rötlichen Steinen gefertigt mit drei Risaliten in der Mitte sowie an den Enden und einem großen Türflügel zur Straße hin. Die senkrechten hellroten Elemente zwischen den Fenstern zogen den Bau optisch in die Höhe. Alicée zählte vier Geschosse plus die Attika unter dem Dach, mit ziemlich kleinen Fenstern.

Kritisch betrachtete Lauzun von der Seite die Bekleidung der jungen Frau. Die engen Jeans formten ihre langen Beine geradezu entblößend ab und unter dem T-Shirt sah man deutlich die Rundungen ihres Busens und die schmale Taille. Das erfreute zwar seine Augen, aber er konnte sie unmöglich in diesem Aufzug ins Schloss bringen; das würde einen Skandal auslösen. In einem Jahrhundert, in dem die Brüste der Damen mit einer Korsage platt gedrückt wurden, war das sehr anrüchig. Fieberhaft überlegte er noch, welche der Damen aus seiner Clique gewillt war, die Fremde mit einem Kleid auszustatten, als aus einer seitlichen Türe seine Jugendfreundin, die Fürstin de Monaco, trat.

„Catherine Charlotte, euch schickt der Himmel“, rief er ihr zu.

---ENDE DER LESEPROBE---