Die Freundin meines Sohnes - Lauren Grodstein - E-Book

Die Freundin meines Sohnes E-Book

Lauren Grodstein

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Beschreibung

Für Pete Dizinoff läuft alles prima. Er hat eine erfolgreiche Praxis, eine liebevolle Frau und ein hübsches Haus in einem gediegenen Vorort. Vor allem hat Pete einen Sohn, Alec, für den er nur das Beste will. Aber eines Tages und nach langer Abwesenheit taucht Laura wieder auf, die Tochter von Petes bestem Freund. Sie ist zehn Jahre älter als Alec, unwiderstehlich schön und steht in dem Verdacht, als Teenager ihr Baby bei der heimlichen Geburt getötet zu haben. Alec ist sofort von Laura hingerissen, Pete hingegen sieht seine Träume für den Sohn zerplatzen. In dem festen Glauben, nur in Alecs Sinne zu handeln, versucht er, die Beziehung seines Sohnes zu hintertreiben. Doch es sieht so aus, als ob er selber ein Auge auf Laura geworfen hätte. Und alles gerät außer Kontrolle ...

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Seitenzahl: 458

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Lauren Grodstein

Die Freundinmeines Sohnes

Roman

Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz

Klett-Cotta

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „A Friend of the Family“ im Verlag Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing, New York

© 2009 by Lauren Grodstein

Für die deutsche Ausgabe

© 2011 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Artwork unter Verwendung folgender Motive: © Michael Skoglund / gettyimages.de und © photolato / Nordicphotos.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93896-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10168-3

Für Nathaniel und zum Gedenken an seine Urgroßeltern

KAPITEL EINS

Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht – es überrascht Sie vielleicht, manche fragen noch –, zucke ich in letzter Zeit nur mit den Achseln und sage so gelassen wie möglich: »Viel besser, als Sie glauben.« Und das stimmt ja auch. Ich habe zu essen, ich habe etwas zum Anziehen, ich habe immer noch ein paar Patienten, die Nets gewinnen, meine Mutter hat Gott sei Dank doch dem betreuten Wohnen in Rockland zugestimmt. Und ich habe so etwas wie ein Zuhause – das Zimmer über der Garage, das wir für Alec eingerichtet hatten, damit er, mit unserer Liebe gerüstet und unserem Geld, dort malen kann. Alec sollte sich auf jeden Fall immer unterstützt fühlen, er sollte nichts von unserem Entsetzen mitbekommen, als er nach drei Semestern Hampshire sausen ließ und damit fast sechzigtausend Dollar für Unterricht, Bücher, Unterkunft und andere Beweise elterlicher Wertschätzung weg waren. Sechzigtausend Dollar einfach so – puff! – in Luft aufgelöst, unser Sohn schmeißt an einem College hin, an dem es nicht einmal Noten gibt, und als Reaktion darauf richten wir ihm für seine Kunst ein Atelier über unserer Garage ein. Und, das ist die Krönung, wir haben es gern getan. Es war eine von vielen Lehren, die wir aus dem Kummer unserer Freunde Joe und Iris Stern gezogen haben, die ihre Tochter Laura schon einmal verloren hatten – wie jetzt wieder.

Mein neues Zuhause, das Atelier, hat einen grauen Linoleumboden. In einer Ecke steht Alecs alter Zeichentisch neben einem breiten Futonbett, das unter einem Berg von Flugzeugdecken verschwindet. An der gegenüberliegenden Wand steht die ein wenig kitschige Anrichte, Eiche mit schnörkeligen Verzierungen und Messingbeschlägen, ein Hochzeitsgeschenk von Elaines Eltern, das wir brav über zwanzig Jahre in unserem Schlafzimmer stehen hatten. Ein Sessel aus derselben Zeit. Neben dem Sessel liegt ein Stapel Bücher, ein paar von Alec, ein paar von mir: Bukowski und Burroughs, eine kleine Auswahl von Comicromanen und Thrillern, für die ich mich nicht mehr interessiere.

In diesem Atelier lese ich. Schlafe ich. Am Wochenende oder spätabends höre ich manchmal den Kriegers von nebenan zu, wenn sie sich streiten – unsere Garage steht an der Grundstücksgrenze. Die Kriegers haben vor kurzem bei sich angebaut, und jetzt kann ich, sogar ohne besondere Anstrengung, direkt in ihre Granit-Edelstahl-Küche hineinsehen und mir anschauen, wenn sie sich ankeifen. Jill Krieger ist offenbar eine Meckerziege, und Mark wirft gern mal was durch die Gegend. Wann hat das wohl angefangen? Elaine und ich haben die beiden immer gemocht, fanden sie als Paar und ihre kleinen Kinder immer nett. Okay, das mit dem Anbau hat ewig gedauert, aber wenigstens waren sie so freundlich, auf ein geschmackvolles Äußeres zu achten. Ob Elaine sie hört? So wie die zwei haben wir uns nie gestritten.

Wenn jemand weiter fragt, mir tief in die Augen blickt und ergründen will, ob in meiner wunden Seele noch irgendein Geheimnis schlummert, sage ich immer: »Das Leben geht weiter.« Das ist nicht einfach so daher gesagt. Das Leben geht wirklich weiter. Das habe ich gelernt. Es geht überraschenderweise weiter.

Aber es hat andere Zeiten gegeben. Heute zum Beispiel: Es ist Samstag, zu warm für April, ich esse mit meiner Mutter in Yonkers zu Mittag und bleibe so lange in ihrer Wohnung mit der Asbestdecke, wie sie mich lässt. Es gibt Eiersalat, wir sehen uns Law and Order an, gleich vier Episoden hintereinander, bis es schließlich Zeit für ihren Mittagsschlaf ist – Peter, sagt sie, ihre Stimme von der Mayonnaise belegt, ich hab dich lieb, aber wenn du nicht bald gehst, kriege ich einen Anfall. Also verabschiede ich mich, auch wenn das noch mal zwei Stücke Kuchen dauert, ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, steige in den verrosteten weißen Escort, den ich neuerdings fahre, überquere den Tappan Zee und fahre am Hudson entlang südlich in Richtung Palisades. Vorigen Monat habe ich da unten diesen kleinen Park entdeckt, eine kleine Anlage, die bis an den Fluss führt, ein paar Angler und verlorene Matrosen tummelten sich dort, fingen vergifteten Blaufisch und benutzten die verbeulten Portosans.

Es ist drei Uhr, als ich das Auto abstelle, und schwül. Ich setze mich auf eine Bank, deren Farbe abblättert, und krempele mir die Ärmel hoch. Junge Neureiche essen Sandwiches auf ihren Veranden, Einwanderer angeln und füllen ihre Eimer mit vergiftetem Blaufisch. Ich sehe ihnen zu, und aus Minuten werden anderthalb Stunden. Einfach so herumsitzen kann ich neuerdings richtig gut. Das Dröhnen der Großstadt über dem Wasser, Harlem, Washington Heights. Die George Washington Bridge wirft ihren Schatten auf dem Fluss. Ich betrachte die Öllachen auf dem Hudson und rieche den verendenden Fisch.

Ich bin immer gern am Wasser gewesen, obwohl ich gar nicht viel damit anfangen kann. Ich fahre nicht Boot, ich angle nicht, und früher, als ich noch öfter zum Sport ins JCC ging, kam auf zwölfmal Basketball einmal Schwimmen. Trotzdem: Vor fünfzehn Jahren haben wir regelmäßig Strandurlaub gemacht, wir und die Sterns, sind nach Delaware gefahren, weil die Gegend uns wohltuender schien als die Küste von Jersey oder einfach nur weiter weg. Jeden Morgen suchten die Kinder das perfekte Plätzchen im Sand, keine zehn Meter vom Atlantik entfernt, wir ließen zwei Wochen lang in der grellen Augustsonne unsere Sommersprossen erblühen und aßen später im Crab Barn-Restaurant an der Route 1 zu Abend: Unmengen von gedünstetem Maryland-Blaufisch. Die Kinder der Sterns (erst zwei, dann drei, dann vier, und alle miteinander rotes Haar, genau wie Iris, sie war unglaublich fruchtbar) saugten voller Wonne an Krabbenbeinen, mein mäkeliger Sohn schälte umständlich eine Garnele, weil er Essen mit Scheren nicht mochte. Neal Stern, sieben Monate jünger als Alec, schob sich den Rückenschild einer Krabbe ins Gesicht. Iris Stern wischte sich Old-Bay-Seasoning von den langen Fingern.

Jahrelang war das ein Sommerritual, bis Laura, die Älteste der Sterns, in die Highschool kam und Familienurlaube und fünfstündige Autofahrten ihre Geduld überforderten. Jedes Jahr dieselbe Unterkunft: ein wackeliges Holzhaus in der Brooklyn Avenue mit Waschmaschine, aber ohne Trockner, einer Spülmaschine, die summte, drei Blocks von der Hauptstraße, einen Block vom Strand entfernt. Nautischer Kitsch in den Badezimmern, Sand und Salz in allen Ritzen. Die Kinder rannten den ganzen Tag halbnackt herum, Elaine behielt sittsam ihr schwarzes Frotteekleid an, und Iris trug einen weißen Bikini. Wenn Joe glaubte, dass ihn niemand hörte, zog er sie damit auf: »Wird der durchsichtig, wenn ich dich nassspritze?« Ich gab mir Mühe, derlei zu überhören.

Schon damals verbrachte ich gern allein Zeit am Wasser, sah den Alten zu, die abends eine Stunde vor Ebbe Muscheln sammelten. Kinder sprangen um ihre Großväter herum, hockten sich mit ihren Plastiksieben hin und schaufelten erfolglos mit ihren Händen Sand in die Siebe, während die alten Männer bedächtig ein weiteres Mal dieselben Wege nach Muscheln absuchten. Ich träumte davon, mir eine Lizenz fürs Krabbenfischen und Muschelnsammeln zu besorgen, die Praxis aufzugeben und mit der ganzen Familie in eins der klapprigen Häuser an der Küste von Delaware zu ziehen, wo es immer warm war und Sonnenuntergänge gab und Iris Stern in ihrem weißen Bikini in der Küche Kaffee kochte und mein Sohn lachte und tagelang einfach nur herumrannte. Dann war die Ebbe da, ich ging zurück ins Haus und duschte, und mir fiel wieder ein, wer ich war und wo ich herkam: ein Internist aus New Jersey, Studium mithilfe von Stipendien, in Yonkers aufgewachsen, seit über zehn Jahren verheiratet. Ehemann, Vater, Basketball-Fan.

Ich war nie so dankbar für alles, was ich hatte, wie ich hätte sein sollen.

Hier auf meiner Bank unterhalb des Palisades kommen jetzt die Mücken, und die Angler packen zusammen. Ein rot-weißes Schnellboot fährt gemächlich am Park entlang, Wellen schlagen gegen die Holzpfähle, die den Park vor dem Schlamm des Hudson schützen. Am Steuer sitzt ein junger Mann, ganz allein, was ich ungewöhnlich finde an einem Samstag in einem Sportboot. Er steuert mit einer Hand und trinkt ein Bier. Eigentlich sollte er eine Crew spärlich bekleideter Blondinen bei sich haben. Ein Radio müsste wummern.

Auf der anderen Seite des Flusses geht hinter der Riverside Church die Sonne unter, taucht das Gebäude in ein glutrotes Licht.

»Kennen Sie den in dem Boot?«, fragt mich der letzte Angler, der noch da ist, als das Schnellboot noch einmal langsam an den Pfählen vorbeigefahren ist.

»Sollte ich?«

Der Angler zuckt mit den Achseln. »Er guckt, als würde er Sie kennen.«

Ich schaue den Mann fragend an.

»So, wie der seine Kreise zieht«, sagt der Mann und reibt sich mit einer fischigen alten Hand das Kinn.

»Mich kennt niemand«, sage ich melodramatisch. Das entspricht, nebenbei bemerkt, nicht ganz der Wahrheit, aber so hätte ich es gern.

Das Boot fährt langsam noch eine Schleife und dann noch eine.

1991, im August, dem Sommer des Putsches in Russland und des Endes der Sowjetunion, verließ Joe Stern frühmorgens das Ferienhaus und kam mit einer Tüte Zimtbrötchen und sechs Zeitungen von der Promenade wieder: der Times, der Post, der Baltimore Sun, dem Philadelphia Inquirer und den Lokalblättern von Rehoboth und Wilmington. Weck die Kinder, sagte er zu mir. Es war gegen acht, damals schliefen die fünf Kinder und meine Frau immer bis mindestens halb zehn. Iris hingegen stand gegen sechs auf und ging joggen.

»Sie haben Ferien«, sage ich. »Sie wachen von allein auf.«

»Geschichte, Pete«, sagte mein alter Kumpel, Laborkollege am College und bester Freund und breitete die verschiedenen Titelseiten auf dem Esstisch auf der Veranda aus. »Der Putsch ist fehlgeschlagen. Das ist der Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist vorbei.«

Über mir, das weiß ich noch, kreisten kreischend Möwen. Ich musste an Geier denken, dabei waren sie bloß hinter Zimtbrötchenkrümeln her. »Wenn der Kalte Krieg vorbei ist«, sagte ich, »was ich ja noch bezweifle, ist er immer noch vorbei, wenn die Kinder aufwachen.«

»Du bezweifelst das?«

»Du nicht?«

»Die einzige Nachricht, die es wirklich wert ist, gedruckt zu werden, mein Freund«, sagte Joe und fuhr mit der Hand über die Titelseite der Times.

Ich nahm die Sun hoch und las die Sätze unter der schrillen Schlagzeile, aber es gab nichts, was mich davon überzeugte, dass es Zeit war, einer neuen Weltordnung zu salutieren. »Davon geht der Kalte Krieg nicht zu Ende. Wir sind in Delaware. Es wird keine Geschichte geschrieben, während wir in Delaware in Urlaub sind.«

»Wen juckt es, wo wir sind?« Joe lachte und rieb sich die kahle Stelle auf seinem Haupt, seine typische Geste, wenn er nervös, glücklich oder belustigt war. »Was hat das mit den Nachrichten zu tun?«

Es ändert sich etwas daran, wie es immer war, und ich lese die Zeitung von Baltimore? »Ich meine ja bloß, so einfach geht der Kalte Krieg nicht zu Ende. Das würden wir alle hören.«

»Du hörst es nicht?«

»Eigentlich nicht.«

Ich hatte die Grundschulzeit in Manhattan verbracht und wusste, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion, sollte derlei wirklich geschehen, in Zeitlupe erfolgen würde, wie das Fällen einer riesigen Eiche, die alles mit sich riss, was ihr im Wege stand. Das wäre kein fehlgeschlagener Putsch einer Bande mürrischer glatzköpfiger Tattergreise, während ich in Delaware auf einer Veranda saß. Ich legte die Sun wieder auf den Tisch, griff nach dem Philadelphia Inquirer: dieselbe Information, derselbe Tenor. »Die wollen bloß Zeitungen verkaufen«, sagte ich. »Es hat einen Putsch gegeben. Hat nicht geklappt. Das ist nicht das Ende des Kalten Krieges.«

»Nicht alles ist Propaganda, Pete.«

»Hör zu«, sagte ich, »du kannst mir ja widersprechen, wenn du willst, aber du musst doch zugeben, dass so ein riesiges – und unzerstörbares – und böses …«

»Böses?« Joe lachte leise. »Du hörst dich an wie Reagan. Die baltischen Staaten haben sich schon vor Monaten abgespalten. Die Sowjetunion war einmal.« Joe rieb sich wieder seine kahle Stelle, sagte lakonisch: »Wir sind die Nummer eins.«

»Ich glaub’s nicht.«

»Pete«, sagte Joe, »kapier doch endlich.«

Ich hätte das nicht mal Joe sagen können – und hätte es auch nicht gewollt –, aber ich weiß noch, dass es mir kalt den Rücken herunterlief, als ich die Zeitungen überflog, die Gesichter der verschiedenen sowjetischen Verschwörer auf den Titelseiten aufgereiht wie Fotos im Verbrecheralbum. Ich wischte mir die Hände an den Knien ab, trat von der hinteren Veranda hinunter, sah zu den immer noch kreisenden Möwen hinauf. In meinem Leben hatte es die Sowjetunion nie nicht gegeben. Es hatte diesen besonderen Feind nie nicht gegeben. Ich weiß noch, dass ich eine bizarre Angst fühlte. Ich ging durch den verwilderten Garten zum Zaun und besah mir die Rückseiten der vielen anderen, noch schlafenden Häuser in Delaware. Dachte, dass mir alles durch die Finger rann und nichts blieb, wie es war.

»Und, was hältst du davon, Pete?«, fragte meine Frau, als sie die Zeitungen gelesen hatte. Ich schenkte uns aus der Thermoskanne auf dem Tisch Kaffee ein. Elaine warf mir einen schmeichelhaft ernsten Blick zu, so als hielte ich der Welt einzige Kristallkugel in der Hand.

»Wenn das stimmt«, sagte ich, »wenn das so ist, wie die hier schreiben, ist das sehr gefährlich.«

»Wirklich?«

»Der Kalte Krieg war Stillstand, Elaine. Wir und sie, Gut und Böse. Instabilität, vor allem in diesem Teil der Welt, ist gefährlich. Das macht mir Sorgen. Keine Riesenangst, aber Sorgen.«

Sie nickte, sah wieder in die Zeitung. »Ich verstehe, was du meinst.«

»Noch mal, keine Riesenangst.«

»Nein«, sagte sie. »Natürlich nicht.«

Normalerweise mochte ich diese Verantwortung: Im Allgemeinen verließ meine Frau sich auf mein Urteil über Fragen von internationaler Bedeutung genauso, wie sie sich darauf verließ, dass ich die Rechnungen bezahlte oder den Klempner bestellte. Das lag wohl daran, dass ich immer Autorität in der Stimme hatte und dass ich richtig und falsch immer klar zu unterscheiden wusste. Früher schätzte Elaine das an mir. Noch bis vor kurzem, bis zu meinen jüngsten Problemen, wusste ich immer ziemlich genau, wann Gutes aus etwas entstehen würde und wann Schlechtes, und stellte mich entsprechend darauf ein.

»Na«, sagte Elaine, »dann werd ich mir auch mal nicht zu viele Sorgen machen«, und drückte meine Hand.

Ein paar Minuten später kam Iris aus der Küche, ihre beiden jüngeren Kinder wie Entenküken hinterdrein, die Kleine, Pauline, auf dem Arm. »Das ist ja ein mieses Wetter heute«, sagte sie. »Sollen wir uns ein paar Filme ausleihen?«

»Filme!«, wiederholte Adam, ihr jüngerer Sohn. Unweit der Promenade gab es einen Videoverleih, der über Unmengen von Märchenfilmen für Kinder und, hinter einem schwarzen Vorhang, ein überraschend umfangreiches Sortiment für Erwachsene verfügte, das Elaine und ich im Jahr zuvor übermütig und kühn, wie wir fanden, erkundet hatten.

»Pete sagt, ein instabiles Russland sei gefährlich.« Elaine faltete ihre Zeitung zusammen. »Ich finde, wir sollten uns einen Film holen.«

»Natürlich sieht Pete es so.« Iris griente, als Neal, der ältere ihrer beiden Jungen, mir einen vielsagenden Blick zuwarf. »Pete mag es, wenn alles bleibt, wie es ist.«

»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich bin bloß nicht sicher, ob es unbedingt in unserem strategischen Interesse liegt, wenn die Sowjetunion so sang- und klanglos untergeht.«

Iris brach in ihr typisches rauhes Gelächter aus, das einen auf die Palme brachte, und ihre Kinder durchsuchten die Zeitungen auf dem Tisch nach den Comics. Iris ließ Pauline herunter, und die Kleine krabbelte zurück ins Haus. »In unserem strategischen Interesse, Pete?«

»Was stört dich daran?«

»Das ist eine gute Nachricht.«

»Wir wissen noch nicht, was für eine Nachricht das ist.«

»Entspann dich, wir sind im Urlaub, unsere Kinder sind glücklich, die Welt erweist sich doch noch als interessanter Ort.« Iris trug ihren Bikini und darüber eins von Joes Flanellhemden, ein Tribut an das schlechter werdende Wetter. Ihr rötliches Haar hatte sie mit einer Spange hochgesteckt, und die Sonnenbrille klemmte zwischen ihren Brüsten am Bikini.

»Normalerweise weiß Pete, woher der Wind weht«, sagte meine Frau, und dafür liebte ich sie.

»Erinnerst du dich noch an unser zweites Studienjahr?«, fragte Iris. »Er wollte nicht mit zu der Demonstration nach Washington aus Angst, das würde ihm beim Medizinstudium schaden.«

»Was hat das denn damit zu tun?«, sagte ich. »Außerdem musste ich studieren.«

»Ich weiß, Schatz«, sagte Iris. Sie verwuschelte mir das Haar – im Gegensatz zu ihrem Mann hatte ich noch einen vollen Schopf – und ließ sich neben mir an dem Klapptisch nieder. »Ich mach nur Spaß.«

»Lass es trotzdem.«

Sie lachte wieder. Ob Iris mich aufzog, weil sie wusste, dass ich ihr nie ernsthaft böse sein würde? Sie faltete Neal aus einer Zeitung einen Hut. Elaine lächelte mir über ihre Zeitung hinweg zu, Adam stibitzte Neal den Hut, und das Möwengekreisch, das nachgelassen hatte, wurde wieder lauter. Ich war rot geworden, klar – ich mochte es noch nie, aufgezogen zu werden –, kramte die Sportseite hervor und suchte nach den Ergebnissen der Yankees, da die Saison für meine Nets noch nicht wieder angefangen hatte. Elaine stand schließlich auf und schenkte Kaffee nach, Joe kam mit einem neuen Teller Zimtbrötchen an, Alec war aufgestanden, kam auf die Veranda geschlurft und fragte mich, ob ich zur Driving Range wollte. Wollte ich. Was wir an dem Tag noch gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Ich bin sicher, beim Abendessen hatten wir auch schon wieder andere Themen als die Sowjetunion.

Aber das war 1991. Lange her. Und heute frage ich Sie: Gibt die Entwicklung mir nicht recht? Gefährliche Atomwaffen, das Scheitern der russischen Armeeführung, eine beängstigende Zentralisierung des weltweiten Ölmarkts? Ein autokratischer KGB-Mann an der Spitze des Staates? Steigende AIDS-Raten, ein immer stärkeres Wohlstandsgefälle, das Land mit der größten Fläche auf dem Planeten – ich frage dich, Iris, gibt die Entwicklung mir nicht recht? Ist es so schwer vorstellbar, dass ich rechtgehabt haben könnte?

In dem Strandhaus hatten Iris und Joe ihr Schlafzimmer im zweiten Stock, Elaine und ich hatten unseres eine Etage tiefer. Nach Mitternacht hörten wir die beiden dort oben, und obwohl wir uns bemühten wegzuhören, war es fast jede Nacht so. Wir sahen uns an und verdrehten die Augen, selber wachten wir meist in unzerwühlten Laken auf.

Mittlerweile habe ich die Sterns jetzt schon fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, und ich schlafe nicht mehr neben meiner Frau. Die ganzen Jahre über waren wir als Quartett zusammen, von der Universität in Pittsburgh an und auch später, wir sind in dieselbe Stadt in New Jersey gezogen, haben im Urlaub Strandhäuser gemietet, haben unzählige Male zusammen zu Abend gegessen, uns wechselseitig als Vormund für unsere Kinder eingesetzt, sollte uns das Unvorstellbare zustoßen. Ich habe eigentlich einen Bruder, einen leiblichen Bruder, ich mag ihn aber nicht besonders. Und ich habe einen besten Freund, der mir wie ein Bruder fehlt, mit dem ich womöglich jedoch nie wieder sprechen werde.

Die Sowjetunion löste sich auf, und das brachte manch Trauriges mit sich, aber es war nicht das Schlimmste, was passieren konnte.

In meinem kleinen Park am Hudson packt der letzte Angler langsam mit arthritischen Fingern seine Sachen zusammen. Als er sich umdreht und seine Kühltasche aus dem Auto holt, merke ich, dass er beim Gehen ein kleines bisschen schlurft, vermutlich ist das noch nicht mal seiner Frau aufgefallen. Höchstwahrscheinlich Parkinson, ein Neurologe könnte das noch besser beurteilen. Allein in den letzten Monaten habe ich eine Handvoll Parkinsonverdächtige an Spezialisten überwiesen, darunter einen, bei dem es mir das Herz gebrochen hat, einen alleinerziehenden Vater von 37. Neuerdings sehe ich diese Krankheit überall.

»He, Arschloch!«

Der Angler und ich drehen uns um. Das rot-weiße Schnellboot liegt ungefähr fünf Meter von meiner Parkbank entfernt im Wasser, der junge Kapitän, die Brille um den Hals gehängt, hatte sich aufs Deck gehockt.

»Sie wissen, wer ich bin?«, ruft der Kerl.

Es dauert einen Moment, aber tatsächlich, ich weiß, wer er ist: Roseanne Craigs Bruder. Ein übler Geselle, er hat seine Schwester, meine Patientin Roseanne, gequält. Sie haben beide im Autohaus Craig als Verkäufer gearbeitet. In den vergangenen Monaten ist er ständig irgendwo aufgetaucht, wo ich gerade war: in der Schlange an der Kasse im Grand Union, beim Biereinkauf bei Hopwood Liquors. Vorigen September hatte er mir sogar an meinem Audi zwei Reifen aufgeschlitzt, bevor ich den Wagen in Zahlung für den Escort gab, den er wohl nicht als meinen erkennt. Ein schon etwas betagter Patient hatte ihn dabei beobachtet und die Cops gerufen, aber ich hatte keine Anzeige erstattet.

»Wir kriegen dich dran, Dizinoff!«

Bedächtig lege ich die Hände auf die Knie, bedächtig stehe ich auf. »Verfolgen Sie mich, Craig?«

»Wir kriegen dich dran! Ich wollt’s dir bloß sagen! Mach dich darauf gefasst!« Seine Stimme tönt verzerrt über das Wasser.

»Sind Sie mir wirklich gefolgt?«

»Ich folge Ihnen nicht, Dizinoff. Ich warne Sie.«

»Sehr nett von Ihnen«, sage ich. Woher wusste er, dass ich in diesem Park sein würde? Warum hat er ein Schnellboot? Ich blicke flussauf- und flussabwärts, ohne recht zu wissen, wen oder was ich zu entdecken erwarte, aber irgendetwas erwarte ich: ein Kamerateam, den langen Arm des Gesetzes.

»Ich krieg dich!«, brüllt der junge Mensch in dem Boot.

»Sie sollten von hier verschwinden«, nuschelt der Angler in meine Richtung. Er schlitzt einen Blaufisch auf, sauber durchtrennt die Klinge seines Messers die perlmuttgraue Haut. Mit der bloßen Hand zieht er die Innereien heraus und wirft sie in den Fluss zurück, wo sie kurz das Wasser trüben, bevor sie untergehen. Ich will nicht von hier verschwinden. Das ist mein Park. Das ist ein Ort, an dem ich noch sein darf.

»So einer wie der …«, sagt der Angler mahnend.

»Er kennt mich nicht«, erwidere ich absurderweise.

»Bei denen weiß man nie, wozu sie fähig sind.« Der Mann packt die Blaufischfilets in seine Kühltasche, hebt den nächsten zappelnden Fisch hoch, tötet ihn mit einem Schlag gegen den Pfosten, und legt ihn zum Ausnehmen auf die Bank.

»Dizinoff, hörst du mich? Wir kriegen dich am Arsch! Am Montag fällt die Entscheidung. Hörst du, Arschloch?« Der Kerl beugt sich ins Cockpit seines Boots, und ich erschauere unwillkürlich. Er holt etwas Kleines, Silbriges, Glänzendes hervor. Zielt damit auf mich. Ich hole tief Luft. Kneife die Augen zusammen, versuche zu erkennen, was er da in der Hand hat.

Eine Dose Bier. Großer Gott!

Heute ist Samstag. Am Montag wird die Richterin entscheiden, ob sie die Klage der Familie Craig zulässt oder nicht. Am Dienstag wird meine Frau nun endgültig den Anwalt wegen unserer Scheidung aufsuchen. Und dann werde ich wissen, woran ich bin, und kann den Rest meines Lebens planen.

»Wir werden dich vernichten«, sagt der Kerl. Dann wirft er unvermittelt mit der ungeöffneten Bierdose nach mir. Bevor ich mich rühren kann, trifft die Dose mich, heiß brennend, hart am Schienbein, fällt auf den Boden, explodiert, und eine Bierfontäne spritzt mir die Beine hinauf.

»Sie sollten von hier verschwinden«, nuschelt der Angler, beinahe so, als spräche er mit einem Fisch.

Ein paar Schritte entfernt rollt das Dosengeschoss aus, schäumt und zischt. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Meine Hose ist pitschnass, mein Herz hämmert, der Kerl im Boot grinst höhnisch, lacht aber nicht.

»Sind Sie verrückt?«, rufe ich.

Die Sowjetunion. Gut und Böse. Es war einmal, dass ich wusste, was richtig und was falsch ist.

»Leck mich, Dizinoff«, ruft der Kerl, zieht eine weitere Dose Bier hervor, zielt auf mich.

Und ich ducke mich wie der Feigling, der ich bin. Panisch vor Angst drehe ich mich um, renne, stürze, zerreiße mir die Hose, stehe wieder auf. Ich schaffe es bis ans Auto, greife in die Tasche nach meinem Schlüssel, bemühe mich, das Blut, das die Haare an meinem Schienbein verklebt, und das Hämmern in meinen Ohren zu ignorieren. Das Schnellboot wendet und rast über die Wellen auf dem Fluss davon. Er ist fertig mit mir, aber mein Herz pocht weiterhin heftig – ich zittere, als ich mich ans Steuer des Escort setze. Ich verriegele alle Türen. Spüre Schotter vom Parkplatz in der Wunde an meinem Bein.

Der Angler nimmt weiter am Flussufer seinen Fang aus. Die Wellen des Schnellboots klatschen gegen die Pfähle, aber der Angler achtet nicht darauf, oder es ist ihm egal. Das Boot schießt über den Hudson, als sei es auf einer Ausflugsfahrt, und das Blut läuft langsam auf meinen Schuh zu.

Als ich Roseanne Craig das erste Mal sah, war sie zweiundzwanzig, Berkeley-Absolventin, die Tochter eines Bekannten aus dem JCC, dessen Bluthochdruck ich circa drei Jahre zuvor diagnostiziert hatte. Besonders gut kannte ich ihren Vater nicht, nur gut genug, um ihn im Umkleideraum nickend zu grüßen. Er besaß diverse Autohausfilialen in Teaneck und Paramus, wo unter anderem auch Joe seine Lincolns, Jeeps und Cadillacs kaufte und warten ließ. Roseanne war gerade mit der Uni fertig geworden, sie hatte stark abgenommen und litt an einer leichten Depression, und mangels anderer Ideen hatte ihr Vater sie in meine Praxis am Round Hill geschickt. Ich hatte immerhin den Ruf, herauszukriegen, was anderen fehlte.

Die Augen klar, die Brust ohne Befund, das Herz poch-poch-pochte. Weder Flüssigkeit in der Lunge noch Schwellungen an Händen oder Füßen, auch keine hervortretenden Adern am Hals, weder Knötchen in der Schilddrüse noch ein aufgetriebener Bauch. Seitens der Patientin keine weiteren Beschwerden außer dem bereits erwähnten Gewichtsverlust – sie brachte immer noch recht ordentliche 150 Pfund auf die Waage – und vielleicht einer allgemeinen Unpässlichkeit.

»Sind Sie sicher, dass Sie keinen Psychiater aufsuchen wollen?«

»Oh, ich habe eine Therapeutin«, sagte sie. »Sie macht auch Reflexzonenmassage.« Als ich das Monate später meinem Anwalt erzählte, lachte er spöttisch und machte sich hektisch Notizen.

Roseanne Craig war eine hübsche junge, robust wirkende Frau mit dunkelbraunen Augen und schwarzem Haar. Sie hatte Skelett-Tattoos auf den Oberarmen und ein weiteres auf der linken Brust. Einen Frosch. »Der hat eine richtige Geschichte«, sagte sie, ohne dass ich gefragt hatte. Der Frosch war überraschend gut gemacht, ein schwarzgetüpfelter Dschungelfrosch. Als ich die Brust abtastete, starrten mich seine lebensechten Augen an.

»Mein Ex-Freund hieß bei uns nur Frogger.« Sie schloss die Augen, als ich die Finger auf ihre Brust drückte – seit mehreren Jahren Standard in meiner Praxis.

»Frogger, ja?«

»Daher das Tattoo.« Mir kam Roseanne überhaupt nicht deprimiert vor, aber ihre Haut war vielleicht ein bisschen gelb, und mit den Tätowierungen: Ich beschloss, einen Hep-Test machen zu lassen, und ließ sie weiterreden. »Er hat mich vor drei Monaten für einen Kerl sitzen gelassen«, – aha! daher wehte der Wind – »hat gesagt, das wäre einfach so passiert, er hätte das nicht geplant und so, aber …« Sie seufzte tief, während sie sich das Hemd zuknöpfte. »Es war irgendein Student aus Stanford. Und das sagt er mir einen Monat, nachdem ich mir dieses scheiß Tattoo hab machen lassen. Wir wollten zusammen nach San Francisco ziehen. Einen marxistischen Buchladen aufmachen. Und ich wollte Brownies backen – ein marxistischer Buchladen mit Café. Und jetzt wohne ich bei meinen scheiß Eltern. Entschuldigung«, sagte sie und zog eine Augenbraue hoch wie ein Kobold. »Ich sollte bei Ärzten nicht fluchen.«

»Nur zu.« Wir gingen in mein Besprechungszimmer zurück, ihre Springerstiefel krachten auf den Boden. Mina, meine eher konservative litauische Sprechstundenhilfe, sah die Stiefel und verdrehte die Augen.

»Und«, sagte ich, als wir die Tür hinter uns zugemacht hatten, »bei dem vielen Stress in Ihrem Leben konnten Sie nichts essen?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Achseln. »Muss wohl so gewesen sein. Ich hab eindeutig abgenommen. Meine Sachen sind alle zu weit.«

»Wieviel Pfund, was schätzen Sie?«

»Acht vielleicht oder zehn? Ich weiß nicht«, sagte sie. »Eigentlich ist das alles die Idee meines Vaters. Zu Ihnen zu kommen, meine ich.«

»Okay«, sagte ich. »Also, ich glaube, dass Ihnen vermutlich nichts fehlt, aber ich werde zur Sicherheit ein paar Blutuntersuchungen machen lassen, und wenn Sie deprimiert und unzufrieden mit Ihrer Therapeutin sind, kommen Sie wieder her, ich kann Sie zu einem« – ich konnte nicht anders – »richtigen Arzt überweisen.«

»Ah!« Sie seufzte dramatisch. »Dann gehören Sie also zum medizinischen Establishment.«

»Ich bin nicht sicher, welches medizinische Establishment Sie meinen.«

»Das, das alternative Therapien ablehnt. Das, das mich lieber mit Antibiotika vollstopft, anstatt mich zur Akupunktur zu schicken.«

»Ich finde ja eigentlich«, sagte ich und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, »dass Antibiotika zu häufig verordnet werden. Und gegen Akupunktur hab ich nicht das Geringste. Und wenn Ihre Reflexzonentherapeutin Ihnen hilft, ist das doch prima. Ich hätte nur gern, dass Sie trotzdem einen Psychiater konsultieren.«

»Psychiater hab ich noch nie leiden können.«

»Manche sind nett.«

»Manche haben nur Müll im Kopf.«

»Ich empfehle Ihnen jemanden, bei dem das nicht so ist.«

»Versprochen?«, fragte sie lächelnd. Sie war eigentlich gar nicht so taff, wie sie sich anfangs gegeben hatte.

»Versprochen.«

Sie klemmte sich eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr, lächelte verhalten und nahm das Blatt Papier mit dem Namen und der Nummer der Psychiatrischen Praxis am Round Hill, das ich von meinem Rezeptblock abgerissen hatte.

Als Roseanne Craig mein Sprechzimmer verließ, ging ich davon aus, sie nicht wiederzusehen.

Die Fahrt vom Park bis nach Round Hill dauert etwa eine Viertelstunde, heute allerdings fahre ich den Umweg über die Route 9W und durch die Nebenstraßen von Rockleigh und Alpine. Im Winter sind die Bäume hier oben kahl, und man hat einen Ausblick bis auf die andere Hudsonseite; im Frühjahr und im Herbst versammeln sich wilde Truthähne und Hirsche auf dem Seitenstreifen. Heute verpasse ich aus irgendeinem Grund meine Ausfahrt und muss nach einer Schleife über die Maycrest Avenue, die Hauptstraße von Round Hill, zurück. Einen langen steilen Berg hinab ins Stadtzentrum, das mit Radarfallen, Ampeln und Schildern gespickt ist. In dieser Stadt geht man auf Nummer sicher. Meine Finger umklammern das Lenkrad.

Unser kleiner Wohlstandshügel teilt sich in drei Teile: von Osten nach Westen sind das der School District, Manor und Downtown. School District ist ein geographischer Name, kein verwaltungstechnischer Begriff, und bezeichnet das acht Quadratkilometer große Gebiet im Umkreis der Round-Hill-Ganztagsschule mit üppigen, fast hektargroßen Grundstücken, bebaut mit Tudor-Palästen, Haciendas im spanischen Stil oder georgianischen Anwesen mit Hubschrauberlandeplätzen und Riesenpools. Wir haben Berühmtheiten da oben wohnen, zwei, drei bekannte Rap-Stars, den Vorstand eines Krankenhauses und eine Handvoll Dermatologen, Plastische Chirurgen und Orthopäden.

In Manor, wo Elaine und ich wohnen, haben die Grundstücke handlichere Dimensionen, sind höchstens einen guten Viertelhektar groß. Die Häuser sind überwiegend viktorianisch oder im Kolonialstil, einige sind mit Schindeln aufgehübscht, außerdem findet man ein paar »moderne« aus den Achtzigern mit Birkenholzverkleidung an den Dachschrägen und trapezförmigen Fenstern. Downtown ist wörtlich zu nehmen, hier beginnt die Maycrest Avenue, und hier sind unser Krankenhaus, unser Kleingewerbe, unsere Schwarzen und die staatliche Schule, in die aus unserem Bekanntenkreis niemand seine Kinder schickt.

Nach Bier stinkend und mit verkrustetem Blut an der Jeans biege ich auf die Einfahrt zu dem hellgrünen viktorianischen Haus in der Pearl Street ein, in dem Elaine und ich seit 1982 wohnen. Wir haben es damals für 125 000 Dollar mit Stoßgebeten und angehaltenem Atem gekauft. Bert Birch hatte mir eine Teilhaberschaft mit Vorzugskonditionen im Round Hill Medical Center angeboten, und obwohl Elaine und ich insgeheim dachten, nein, nicht hier, wir kennen hier niemanden, wie sollen wir das finanziell bewältigen?, behielten wir unsere Zweifel für uns und zogen ein. Nachdem Joe sein Studium in Gynäkologie und Geburtshilfe als Baltimore-Stipendiat abgeschlossen hatte, überredeten wir ihn und Iris, hierher zu ziehen. Was sie auch taten, und wir atmeten das erste Mal ein bisschen auf. Das ganze erste Jahr lang hatten wir uns isoliert gefühlt und waren nervös gewesen und hatten außerdem aus irgendeinem Grund versucht, ein Kind zu zeugen.

Ich parke den Escort und sehe zu unserem Haus hinüber. Elaines Jeep steht in der Einfahrt, Alecs Civic ebenfalls. Ob die zwei so etwas Vergnügliches machen, wie den Nachmittag zusammen verbringen oder das Wochenend-Kreuzworträtsel gemeinsam lösen? Elaine ist selig, unseren Sohn wiederzuhaben. Ehrlich gesagt ist er ein besserer Mitbewohner, als ich es je war, ist netter, rücksichtsvoller, und ihm gefällt meistens, was seine Mutter tut. Abends im Atelier höre ich, wie sie ihre Lieblingsmusik spielen: die eine kubanische Band aus dem Film, ein bisschen afrikanisch. Alec hat sie von einem Freund, der eine Zeitlang beim Friedenskorps gearbeitet hat. Für mich klingt das wie das Hintergrundgedudel in einem Edelrestaurant, aber wen interessiert schon, was ich denke. Die beiden jedenfalls nicht. Warum auch.

Ob Roseannes Bruder hier aufkreuzt? Ob er weiß, wo meine Frau und mein Sohn schlafen? Richtet sich sein Zorn auch gegen sie oder nur gegen mich? Ich fahre mir mit der Hand über das blutige Bein und entferne ein Schottersteinchen. Ich war feige, aber das war der junge Craig auch. Mit Bierdosen zu werfen. Mich zu beschimpfen.

Ich kurbele das Fenster herunter. Im Haus ist es still, obwohl hinter der Wohnzimmerjalousie eine Lampe brennt. Nachgemachte Tiffany-Lampen, die wir während der Renaissance unserer Ehe in Bedford gekauft haben, sechs Jahre ist das jetzt her. Seitdem löst Elaine die Kreuzworträtsel immer in ihrem Schein. Wenn Craig hier gewesen ist, wenn er vor dem Haus gestanden hat, hat er sie womöglich dort sitzen sehen. Wenn er sie anrührt, auch nur daran denkt, sie anzurühren, töte ich ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, das schwöre ich bei Gott.

Elaine und ich kennen uns jetzt schon länger als unser halbes Leben. Sie hat auf mich aufgepasst. Passt immer noch auf mich auf, trotz der Zweifel, die sie leider an mir hat. Während ich zum Haus hinsehe, gehen die Tiffany-Lampen aus, und kurz darauf steht meine Frau mit Jacke, Tasche und Schlüssel an der Haustür und sieht zu mir in meinem kleinen weißen Escort herüber. Ich winke ihr. Sie zwinkert, lächelt traurig und winkt zurück. Sie trägt ihr Haar schon seit ein paar Jahren kurz, und sie hat vierzig Pfund zugelegt, aber ich weiß noch, wie sie mir damals am College nicht von der Seite gewichen ist, wie sie in Rehoboth Zimtbrötchen gegessen hat, und wenn ich die Zeit zurückdrehen und sie noch mal durchleben könnte, wäre jeder Tag ein Neubeginn.

»Kommst du rein?«, ruft sie von der obersten Treppenstufe an der Haustür herüber.

»Gehst du weg?«

Sie legt sich die Jacke um die Schultern und nickt.

»Ich glaub, ich bleib noch ein Weilchen hier sitzen.«

Elaine hat sich an mein exzentrisches Benehmen, wie man es wohlwollend nennen könnte, gewöhnt. Achselzuckend steigt sie die Stufen herab und geht leichten Schrittes zu ihrem Auto. Schwenkt ihre Handtasche. Es bricht mir das Herz, sie gehen zu sehen.

KAPITEL ZWEI

Wenn ich zurückblicke, wozu mich meine Lebensumstände des Öfteren veranlassen, kommen mir mein viertes und mein fünftes Lebensjahrzehnt wie eine riesige Steppe vor, nur selten gab es in dieser Landschaft eine Erhebung oder eine Senke. Bert Birch hatte mich in die Praxis reingenommen, weil er auf Mitte Fünfzig zuging und weil seine Frau ihm seit zwanzig Jahren damit drohte, ihn zu verlassen, wenn er sich keinen Partner suchte und nicht wenigstens einmal im Jahr mit ihr Urlaub machte. 1982 war Bert fünfundfünfzig und ein altmodischer Arzt in einer altmodischen Praxis mit einer Arzthelferin, einer Sekretärin und dem halben Mittwoch frei. In seinem Wartezimmer lag die Zeitschrift aus, gelegentlich machte er auch schon einmal Hausbesuche. Er führte eine angenehme Hausarzt-Praxis, die sich zwar im Round Hill Medical Center befand, deren Patienten allerdings in der Mehrzahl aus den nicht ganz so schicken Ortschaften weiter südlich im Valley stammten: aus Bergentown, Hopwood, Maycrest Village. Sie waren Lehrer, Postangestellte, Polizisten, Friseure. Bert betreute Generationen derselben Familie, feierte mit ihnen ihre Geburten, betrauerte mit ihnen ihre Toten, bekam in der Weihnachtzeit Körbe voller Obst oder selbstgebackene Torten oder Lambrusco geschenkt. Er übte seinen Beruf damals seit siebenundzwanzig Jahren aus, die Praxis hatte er von seinem Vater übernommen, der sich noch an Zeiten erinnerte, als dort, wo heute das Sunoco steht, Kühe weideten.

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