Alles Glück eines Lebens - Lauren Grodstein - E-Book
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Lauren Grodstein

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Beschreibung

Wie kann eine Frau loslassen, was sie am meisten liebt – ihr Kind?

Für Karen Neulander, eine erfolgreiche politische Beraterin aus New York, ist ihr sechsjähriger Sohn Jacob das Wichtigste. Aufopferungsvoll kümmert sie sich um ihn und meistert die Herausforderungen des Alltags einer Alleinerziehenden. Doch dann erfährt sie, dass sie bald sterben wird, und muss die schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen: Erfüllt sie ihrem Sohn seinen größten Wunsch und lässt seinen Vater – jenen Mann, der damals weder ihre Liebe noch ihr Kind wollte – Teil seines Lebens werden?

Lauren Grodstein bricht einem das Herz, um es dann es auf so wundersame Weise wieder zusammenzufügen, dass es sich größer – und stärker – anfühlt als zuvor.“ Celeste Ng.

“Bemerkenswert, authentisch und mutig erzählt.” Library Journal.

“Mitreißend.” The Washington Post.

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Seitenzahl: 450

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Über Lauren Grodstein

Lauren Grodstein lehrt Kreatives Schreiben an der Rutgers-Camden University und lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in New Jersey. Von ihr sind mehrere Romane erschienen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.laurengrodstein.com

Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.

Informationen zum Buch

Wie kann eine Frau loslassen, was sie am meisten liebt – ihr Kind?

Für Karen ist ihr sechsjähriger Sohn Jacob das Wichtigste, seit seiner Geburt zieht sie ihn allein groß. Doch dann erfährt sie, dass sie bald sterben wird, und muss die schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen: Erfüllt sie ihrem Sohn seinen größten Wunsch und lässt seinen Vater – jenen Mann, der damals weder ihre Liebe noch ihr Kind wollte – Teil seines Lebens werden? Ein unvergesslicher Roman über die Opfer, die wir für die Liebe bringen, und den Konflikt nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Frau zu sein.

»Lauren Grodstein bricht einem das Herz, um es dann es auf so wundersame Weise wieder zusammenzufügen, dass es sich größer – und stärker – anfühlt als zuvor.« Celeste Ng

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Lauren Grodstein

Alles Glück eines Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn

Inhaltsübersicht

Über Lauren Grodstein

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Teil I – Mercer Island

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II – Manhattan

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil III – In einem anderen Land

Kapitel 16

Kapitel 17

Dank

Anmerkung der Übersetzerin

Impressum

Für Jessie und Elliot,

in Liebe

Gegangen, sage ich und verlasse die Kirche,

verzichte auf die steife Prozession zum Grab

und lass die Toten allein im Leichenwagen fahren.

Es ist Juni. Ich bin es müde, tapfer zu sein.

Anne Sexton

»Wahrheit, die die Toten kennen«

Teil I Mercer Island

Kapitel 1

Als ich ein Kind war, nicht viel älter als du heute, wollte ich unbedingt Schriftstellerin werden. Mein Vater hatte mir auf dem Trödel eine Reiseschreibmaschine besorgt, an der ich nachts, wenn alle anderen schliefen, am Küchentisch saß und mühevoll meine kleinen Szenen und Erzählungsschnipsel tippte. Ich mochte rätselhafte Geschichten, die spannend waren, mit ihren Momenten des Schauderns und der stets überraschenden Auflösung. Eines Tages, so hoffte ich, würde ich etwas über die dunkelsten Kapitel der Geschichte wie den Holocaust schreiben, aber immer mit einem glücklichen Ende. Das war, als ich schon ein Teenager war, überzeugt, wie man es in diesem Alter ist, auch wirklich jede Geschichte neu schreiben zu können.

Heute bin ich erwachsen und weiß, dass nur wenige Menschen zu dem werden, was sie sich als Kinder einst ausmalten. Und so habe ich nie einen Roman oder auch nur eine halbwegs passable Kurzgeschichte geschrieben. Doch es gab andere Erfolge zu feiern, andere Freuden zu entdecken in meinem Leben, und ich misse nur weniges von dem, was ich nicht getan habe. Und noch bleibt mir Zeit, Jacob, und nach wie vor habe ich Freude daran, Worte zu Papier zu bringen. Daher habe ich beschlossen, dieses Buch für dich zu schreiben. Dies soll mein Weg sein, dir alles zu sagen, was du von deiner Mutter wissen solltest. Und Mercer Island, diese Insel, auf der ich bin, das Gästehaus meiner Schwester und der wolkenverhangene Nordwesten laden zum Schreiben geradezu ein. Ich habe hier einen bequemen Stuhl und einen funkelnagelneuen Laptop. Und es gibt so viel, was ich dir sagen will.

Du weißt natürlich, was diese Insel, auf der meine Schwester mit ihrer Familie lebt, ausmacht: hohe Kiefern, Lacrosse-Felder und entkoffeinierte Americanos. Wohin man auch blickt, sieht man die unruhigen Wogen des Lake Washington, meist eisengrau, manchmal auch unerklärlicherweise blau. Seattle liegt nur wenige Meilen westlich der Insel. Schon immer empfand ich diese Umgebung als friedvoll und wohltuend für uns, obwohl ich, wie stets, unser Zuhause in Manhattan vermisse. (Erinnerst du dich noch, wie du früher immer gefragt hast, ob wir nicht einen Tunnel von der 74th West nach Mercer Island bauen könnten? Und wie ich antwortete, später vielleicht, weil ich damals noch davon ausging, alle Zeit der Welt zu haben?)

Dies wird ein wundervoller Ort sein, um aufzuwachsen, wenn du erst einmal hergezogen bist. Du wirst deine Cousins und deine Cousine um dich haben, und deine Tante Allie wird dafür sorgen, dass du immer dein Gemüse aufisst. Dein Onkel Bruce ist ein so erfolgreicher Mann, dass du für alle Zeit aufs Beste versorgt sein wirst. Du kannst im Winter Ski fahren gehen oder Weihnachten auf Hawaii verbringen und im Sommer lange Wochenenden im Ferienhaus der Familie in Friday Harbor verleben. Wenn du alt genug bist, Autofahren zu lernen, wirst du einen eigenen Wagen bekommen.

Ich habe Allison gebeten, dich auf eine der staatlichen Schulen der Insel zu schicken und nicht auf eine der Privatschulen, auf die ihre Kinder gehen. Ich will, dass du siehst, wie es in der echten Welt zugeht – oder wenigstens in jener Welt, die hier auf Mercer Island als die echte gilt. Die Vorstellung, dass du inmitten von Privilegierten aufwächst, ohne ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass es Menschen gibt, die auf die kostenlose Schulspeisung angewiesen sind, könnte ich nicht ertragen. Denn vergiss nicht, Jacob, ich habe meine Kindheit in einem winzigen Zweifamilienhaus auf Long Island verbracht, mit meinen Großeltern in der Wohnung im ersten Stock. Ich hoffe, du erinnerst dich noch – dass meine Mutter das fünfte Kind eines Postboten aus der Bronx war, während mein Vater das einzige Kind ungarischer Einwanderer war, die den Zweiten Weltkrieg mit nichts als dem, was sie am Leibe trugen, überlebt hatten. Luxus war all diesen Menschen unserer Familie so fremd, wie er es meiner Schwester und mir in unserer Kindheit war.

Heute unterhalten Allison und ich uns oft über Privilegien, über Wohlstand. Sie findet, wir müssten unsere Kinder nicht in Armut aufwachsen lassen, bloß weil wir selbst es mussten. Finanzielle Ungewissheit mache einen Menschen nicht zwangsläufig mitfühlender und freundlicher, sondern beschere einem manchmal nur lebenslang Sorgen und Unruhe. Natürlich weiß ich, dass sie recht hat, dennoch stört mich der Gedanke, dir könnte vielleicht nie bewusst werden, in wievielerlei Hinsicht du großes Glück hattest. Wenn ich das sage, widerspricht mir Allison, dass du zumindest in einer Hinsicht gar kein Glück hattest. Keiner von uns beiden.

Und das kann man nicht wiedergutmachen, weder mit Geld noch sonst wie. Ich ziehe dich allein auf; ich bin dreiundvierzig Jahre alt, und ich habe Eierstockkrebs im Endstadium. Mir bleiben vielleicht noch zwei oder drei Jahre, und wenn ich nicht mehr da bin, wirst du nach Mercer Island ziehen und bei meiner Schwester Allison und ihrer Familie leben. Du kannst deinen Hamster und all dein Spielzeug mitnehmen. Du kannst alles mitnehmen, was du willst. Das alles weißt du, Jake, genauso wie du weißt, dass ich, wenn es nach mir ginge, ewig gegen diese Krankheit kämpfen würde, nur um für dich da zu sein.

Schon jetzt bekomme ich eine Ahnung davon, was für eine seltsame Erfahrung es sein wird, all dies für dich aufzuschreiben. Es fühlt sich an, als würde ich von jemand anderem erzählen. Als könnte das nicht mir oder uns passieren. Und dann, auf einmal, spüre ich den Zugang an meinem Brustkorb, und die schwindel-erregende Wahrheit wird mir nur allzu bewusst.

Ich habe keine Ahnung, was ich mir wünsche, wie oft du später an mich denken sollst, Jake, oder wie du mich in Erinnerung behalten sollst. Natürlich möchte ich, dass du dich an mich erinnerst: Du sollst wissen, dass es mich gab, dass ich dich liebte, dass wir glücklich waren, mal mehr, mal weniger. Aber ich weiß nicht, ob du dich an alle Einzelheiten unseres gemeinsamen Lebens erinnern sollst, denn dann empfändest du dein Leben auf Mercer Island vielleicht als dein »neues Leben« und würdest es mit dem davor vergleichen, was dir womöglich als das eigentliche vorkäme.

Ich möchte, dass du dies hier als dein echtes Leben betrachtest und Allison und Bruce als deine Eltern und ihre Kinder als deine Geschwister. Dass du dich als einer von ihnen fühlst. Im Schoß dieser Familie sollst du dich geborgen fühlen, sie sollen dein Nest sein, dich immer auffangen. Denn das ist das Beste, was eine Familie für einen tun kann.

Dennoch möchte ich, dass Tage wie der letzte Montag nicht für immer aus deiner Erinnerung verschwinden, als wir zusammen in den Zoo gingen und fünf Dollar für ein Blatt bezahlten, das wir an eine Giraffe verfüttern wollten. Doch statt das Blatt zu nehmen, leckte die Giraffe mit ihrer überaus beweglichen Zunge an deiner Hand. Als du vor Schreck erstarrtest, tat sie es gleich noch einmal. Du schriest auf und ich auch, und dann lachten wir, bis wir Schluckauf bekamen. Der Tierpfleger sagte: »Das habe ich bei ihr noch nie gesehen, du musst ein echter Leckerbissen sein.« Du wurdest rot und sagtest: »Genau das meint meine Mom auch immer. Dass ich ein Leckerbissen bin und sie am liebsten in mich reinbeißen würde.« Ach, das bist du wirklich, Jacob, und wie! Ich werde mich niemals an dir sattsehen können, an deinem weichen, langen Haar, deinen fedrigen Wimpern. Du hast ja keine Ahnung.

Manchmal ertappe ich mich mitten am Tage dabei – bisweilen sogar mitten in einer Unterhaltung –, wie ich ins Tagträumen entgleite und mir vorstelle, wie du in ein paar Jahren aussehen wirst. Wird sich dein Haar noch locken? Wie lange werden Baseball-Trikots das Einzige bleiben, was du trägst? Seit du laufen konntest, warst du Fan der New York Yankees, doch neulich, als ich schon lange nicht mehr gewaschen hatte, sah ich dich in einem alten Seattle-Mariners-Shirt deines Cousins Dustin und dachte: ein erster Blick auf den Jungen, den ich nie kennenlernen werde. Der Gedanke ließ mich eher neugierig als melancholisch werden; fast fühlte ich mich wie eine Anthropologin, die dein zukünftiges Ich erforscht. Dein Cousin Dustin jagte dich über den Rasen, während Allie euch zum Essen hereinrief, und ich saß nur am Steg und beobachtete alles. Dein Leben ohne mich. Doktor Susan meint, dieses Beobachten sei vollkommen normal. Das Sichentfernen. Du hattest eine Schramme am Schienbein, die mir vorher nicht aufgefallen war.

»Wie viel Uhr ist es jetzt in New York, Mom?«, fragtest du mich beim Frühstück. Als ich antwortete, es sei elf, sagtest du, das habest du dir schon gedacht. Du sagtest: »New York ist immer der Zeit voraus.«

Jacob, ich verspreche dir, dass ich dir meine Erinnerungen an unser gemeinsames Leben aufschreiben werde, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Denn diese Seiten sollen all das, was ich dir mitgeben möchte, beinhalten – alle Erkenntnisse, alle Erfahrungen, von denen ich dir später erzählen würde, wenn ich noch da wäre und du in das Alter kämst, wo du sie hören solltest. Ich hoffe, dass du, wann immer du mich vermisst oder wann immer du mehr darüber erfahren willst, was für ein Mensch deine Mutter war, diese Seiten zur Hand nimmst, liest, was hier geschrieben steht, und dich an mich erinnerst. Und so werde ich dir immer, zumindest auf diese Weise, nahe sein, auch wenn wir nicht für immer beieinander sein können.

Ich werde ehrlich sein, von Grund auf, selbst wenn es weh tut. Ich werde die Wahrheit nicht schönen, nicht versuchen, mich besser darzustellen, als ich war. Als ich wirklich bin. Was für einen Sinn hätte das Ganze, wenn ich dir nicht die Wahrheit sagte?

Also fange ich einfach mit dem heutigen Morgen an, der wirklich schön war, der sonnigste seit unserer Ankunft vor anderthalb Wochen. Der 18.Juni2013. Eine meteorologische Überraschung.

Du und ich wohnten im Gästehaus meiner Schwester, von wo aus man auf den Lake Washington blickte, mit den vielen Booten darauf, die an den Stegen festgemacht sind. Jenseits einer weiten, sanft abfallenden Rasenfläche stand das riesige Wohnhaus meiner Schwester mit Schindeldach und unzähligen Schornsteinen. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich dich auf dem Rasen spielen sehen – du versuchtest, dich vor Dustin zu verstecken, bliebst jedoch immer deutlich erkennbar. Im Verstecken warst du noch nie besonders gut.

Von den drei Kindern meiner Schwester ist Dustin zwar nicht unbedingt das hervorstechendste, aber das freundlichste. (Trifft das immer noch zu, Jake?) Es gibt noch die aufmüpfige Camilla mit den gefärbten Haaren und den Musterknaben Ross, der zum damaligen Zeitpunkt irgendetwas Ehrenamtliches in Guatemala machte. Dustin, der Jüngste, war fast elf, mopplig und hatte Angst vor lauten Geräuschen und war damit der perfekte Kumpel für einen frühreifen Sechsjährigen wie dich. »Dusty!«, brülltest du, um dich gleich darauf in dein neues Versteck unter der Hemlocktanne zu verziehen. Der arme Dustin wirbelte herum, doch diesmal warst du verschwunden.

Ich hätte aufhören sollen, dich zu beobachten, und mich an die Arbeit machen müssen; ich war politische Beraterin, und die heiße Phase der Wahlkämpfe hatte wieder einmal begonnen. Als du noch in den Kindergarten gingst, habe ich es tatsächlich geschafft, vier große Kampagnen gleichzeitig zu leiten, wobei von Januar bis November rund um die Uhr Assistenten, Meinungsforscher und Redenschreiber um mich herumsprangen. Doch das war, bevor mein Bauch sich so eigenartig aufblähte und die Rückenschmerzen einsetzten, die ich zunächst dem Stress zuschrieb. Für die jetzige Runde hatte ich nur einen einzigen Kandidaten zu betreuen, Jimmy »Ace« Reynolds, den Chef der Mehrheitsfraktion im Stadtrat, dem ich dankbar sein konnte, dass er mir die Treue hielt, obwohl ich immer versuchte, ihn das nicht merken zu lassen.

Erinnerst du dich noch an Ace? Ich hatte ihn vier Jahre zuvor kennengelernt, als ich noch so sehr mit dir und dem Aufbau meiner Firma zu tun hatte, dass ich einen Wahlkampf für den Stadtrat für Peanuts hielt. Aber Ace war in einen schrecklichen Skandal verwickelt: Die Boulevardpresse hatte seine Affäre mit einer blutjungen Angestellten aufgedeckt (Mach’s wie Clinton, Ace; Stadtrat kümmert sich um die Jugend, und meine Lieblingsschlagzeile: Ace in the Hole). Nur zwei Tage nachdem ich engagiert wurde, hatte ich alle in Stellung gebracht: den reumütigen Ace, seine liebende Ehefrau, seine nachsichtigen Kinder und seine treuen Wähler. (»Ist mir egal, was er in seinem Privatleben anstellt, wenn er doch für mein Viertel das Richtige tut.«) Wir veranstalteten einen medialen Blitzkrieg und setzten dabei sogar auf die Witwen des 11.September in Ace’ Wahlbezirk und die asthmakranken Kinder, die im dortigen Krankenhaus kostenlos behandelt wurden. Sie alle standen zu Ace. Am Ende gewannen wir haushoch.

Seine Eskapaden waren seitdem vergessen, dennoch hatte Ace gute Gründe, mich weiterhin zu beschäftigen, denn er wollte in naher Zukunft Bürgermeister von New York werden. Meine Aufgabe bestand darin, ihm den Weg dahin mit einem großen Wahlerfolg im Stadtrat zu ebnen. Diese Kampagne war sein Stapellauf und zum damaligen Zeitpunkt genau der richtige Auftrag für mich: anspruchsvoll, aber keine Überforderung, geographisch begrenzt, erfolgversprechend.

»Mom!« Ich konnte dich nicht sehen, aber umso deutlicher hören; wenn die Sonne schien, hatte ich die Fenster immer geöffnet. »Mom! Wo bist du?«

Ich klappte den Laptop zu und lief die Stufen des Gästehauses hinunter, wo mich Dustin und du erwarteten, Tennisschläger unter dem Arm. »Wir gehen Tennis spielen«, sagtest du. »Zum Abendessen sind wir zurück.«

»Seit wann spielst du Tennis?«

Deine haselnussbraunen Augen verengten sich kurz. »Seit wir hier sind. Ich übe die ganze Zeit.«

»Jakes Aufschlag ist ziemlich gut«, bemerkte Dustin im beiläufigen Ton eines ausgewiesenen Experten. »Für sein Alter, meine ich.«

»Wirklich?«

»Willst du es sehen?«

Selbstverständlich wollte ich es sehen.

Wir gingen die Straße hinunter bis zum Park, wo du auf einem öffentlichen Platz tatsächlich einen ziemlich guten Aufschlag für jemanden in deinem Alter hinlegtest. Dustin spielte dir den Ball zurück, und dann ging er vier-, fünfmal hin und her, bis du ihn verfehltest. Ich konnte es nicht fassen – du spieltest Tennis, ohne dass ich es geahnt hätte. Ich feuerte dich vom Spielfeldrand an wie eine dieser völlig durchgedrehten Mütter. Begeistert lief ich zu dir und hob dich trotz deines Gewichts und meiner zittrigen Arme in die Höhe. Du warst völlig verschwitzt. »Jakey!«, rief ich. »Wieso wusste ich nicht, dass du Tennis spielen kannst?«

Du zucktest nur die Achseln und lächeltest. »Ich wollte dich überraschen.«

»Die Überraschung ist dir gelungen«, erwiderte ich.

»Können wir jetzt weiterspielen? Du zerquetschst mich.«

Ich setzte mich wieder hin und sah zu, wie ihr eine Stunde lang spieltet, wie dein kleiner Körper – obwohl Dustin es langsam angehen ließ – über den Platz tobte und auf einmal gar nichts Kleinkindhaftes mehr an dir zu erkennen war. Stattdessen hattest du etwas Athletisches an dir, was mir selbst völlig abging. Statt des Babys von einst sah ich nun einen Jungen vor mir, der Tennisspielen lernte und eines Tages, davon war ich überzeugt, wirklich gut darin sein würde. Bei deinem Anblick wäre es nur allzu leicht gewesen, mir auszumalen, wie du anfingst, Pokale einzuheimsen, während ich schon nicht mehr da sein würde, doch das verbot ich mir. Stattdessen streckte ich mich unter der seltenen Sonne Seattles aus – was könnte kostbarer sein als ein Stündchen Sonne in Seattle? – und verfolgte, wie ihr den Ball mit einer grimmigen Entschlossenheit über den roten Ascheplatz jagtet, die umso dramatischer wirkte, weil es nicht den geringsten Anlass dafür gab. Ich beobachtete dich; nichts anderes musste ich mehr tun, als dich zu beobachten.

Als es Zeit war, nach Hause zu gehen, warst du schweißgebadet und deine Knie hatten Schrammen von einem Hechtsprung gegen Ende des Spiels. Wir liefen die Straße hinauf, und der ferne Verkehr auf der Interstate 90 summte wie Strom in meinen Ohren. Du schwangst den Schläger in deiner Hand.

»Das war umwerfend, Jakey«, sagte ich.

»Ich hab dir doch gesagt, dass er gut ist«, bemerkte Dustin.

Du erwidertest darauf nichts, was typisch für dich war.

»Willst du Tennisstunden nehmen, Schatz?«, fragte ich.

Es kam uns ein Mann entgegen, der einen riesigen, sabbernden Hund dabeihatte, einen regelrechten Bären. Wir blieben stehen, um ihn zu streicheln, und unterhielten uns kurz mit seinem Herrchen. Dann gingen wir weiter, und du sagtest: »Ich weiß nicht, wo ich das noch unterbringen soll.«

Während unseres kurzen Aufenthalts auf der Insel sahen meine Tage meist so aus, dass ich ein bisschen arbeitete, ein bisschen schrieb und Zeit mit dir verbrachte. Für mich hätte das Leben für immer so weitergehen können, und weil das nicht möglich war, kamen mir diese Tage umso kostbarer vor. Zum Abendessen im Haupthaus wärmte deine Tante etwas von meinen überbackenen Ziti auf (deine Lieblingspasta, deren Zubereitung ich Allie beizubringen versuchte und wovon ich tausend Portionen einfrieren würde, bevor ich ging, damit du, wann immer du mich vermissen würdest, etwas hättest, das ich mit eigenen Händen für dich gemacht hätte). Währenddessen ließ ich mir ein Bad einlaufen und entwarf ein Mailing für die Kampagne. Da hörte ich es an der Tür klopfen.

»Mom, ich bin’s.«

Zu dem Zeitpunkt klopftest du schon an, und wir liefen nicht mehr nackt voreinander herum. Ich zog meinen Bademantel zusammen. »Komm rein.«

Du trugst immer noch dein verschwitztes Tennis-Outfit, an deinen Schienbeinen klebte rote Asche. Mit kummervoller Miene ließest du dich auf dem dicken Berberteppich nieder. »Jake?«

Du fuhrst dir mit dem Handrücken über die Nase. Dafür hätte ich von meiner Mutter was zu hören bekommen. »Gehst du in die Badewanne?«, fragtest du.

»Ich wollte mich ein bisschen entspannen.«

»Und das Abendessen ausfallen lassen?« Du mochtest es gar nicht, wenn ich Mahlzeiten ausließ.

»Nein«, sagte ich. »Ich komme nach.«

Du nicktest und schautest aus dem riesigen Panoramafenster. Da es bereits dunkel wurde, blickte dein schmales Gesicht zu dir zurück.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ich möchte immer noch, dass du es tust.«

»Wirklich?« Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, wovon du sprachst. »Oh«, sagte ich. »Bist du sicher?«

»Ja, das bin ich«, sagtest du, wichst meinem Blick jedoch aus.

Es war wohl naiv von mir, aber eine Zeitlang hatte ich tatsächlich geglaubt, du würdest nicht mehr wollen, dass ich ihn suche. Du warst so glücklich hier und schienst dich so gut einzuleben. Was solltest du von einem fremden Mann in New Jersey wollen? Du hattest ihn ja nie kennengelernt, wusstest nichts über ihn und hattest immer erfreulich wenig Interesse an ihm gezeigt. Vielleicht lag es daran, dass so viele deiner Kindergartenfreunde ohne Vater aufwuchsen, bestimmt jeder dritte von ihnen – ihre Mütter waren entweder lesbisch oder fünfzigjährige Alleinerziehende, die ihre Kinder mit Hilfe von Samenspenden bekommen hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass ich stets wild entschlossen war, dir alles zu sein, Mutter und Vater zugleich, damit du nie auch nur die Gelegenheit hättest, das eine Große zu vermissen, das du nicht hattest.

»Ganz, ganz sicher?«, hakte ich nach.

Wieder zucktest du mit den Achseln. Als du an deinem Schnürsenkel herumfummeltest, fiel mir wieder ein, dass ich dir dringend beibringen musste, wie man sich die Schuhe anständig zubindet. »Ganz, ganz sicher«, sagtest du.

Wahrscheinlich hatte ich nie damit gerechnet, dass das Thema zur Sprache kommen würde. Denn unsere Geschichte, wenn man es so nennen will, war so verlaufen, dass dein Vater aus meinem Leben verschwand, als ich schwanger wurde, was für mich in Ordnung war, weil ich mich unendlich freute, dich zu bekommen, egal ob ich dich allein aufziehen würde oder zu zweit.

Doch dann, ein paar Wochen vor unserer Abreise nach Mercer Island, hatte ich eine besonders schlimme Nacht; ich hockte schluchzend und würgend im Bad, wo du mich sahst. Und in jener Nacht fragtest du mich, ob ich deinen Vater finden könnte.

Ich sagte, ich würde darüber nachdenken, was auch du noch einmal tun solltest. Ich sagte, ich würde eine Weile brauchen, einen Monat vielleicht, um herauszufinden, wie ich ihn erreichen könnte. Natürlich wollte ich nur Zeit schinden.

Ich überprüfte das Datum auf meinem Handy. Es war genau ein Monat vergangen.

»Kannst du seine Telefonnummer herausbekommen?«, fragtest du.

»Wahrscheinlich.«

»Gut«, sagtest du. Du sahst genauso aus wie er. Dieselben haselnussbraunen Augen, dasselbe weiche braune Haar, dieselben vollen Lippen. Wahrscheinlich war er auch ein guter Tennisspieler. »Wann?«

»Bald«, antwortete ich.

»Wie bald?«

»Sobald ich kann.«

»Gut«, sagtest du noch einmal, und dann sahst du mich an – argwöhnisch.

Dein Vater in Kurzfassung: Durch eine Rebellion gegen Bush landete er für kurze Zeit als demokratischer Abgeordneter im Kongress von New Jersey, wurde jedoch schon bald wieder hinausgefegt. Er war ein eingefleischter Junggeselle mit einer Vorliebe für Bud Light, Rockmusik und die Rangers, der für Notfälle stets tausend Dollar im Gefrierfach versteckt hatte. Als ich dich in Manhattan zur Welt gebracht hatte und über den Fluss blickte, während ich dich zum ersten Mal stillte, war ich mir sicher: Was auch immer dein Vater in diesem Augenblick tun mochte, er würde nicht zurückblicken auf das, was zwischen uns gewesen war.

Ich wusste, dass ich ihn finden konnte.

»Du hast versprochen, nicht wütend zu werden.«

»Ich bin nicht wütend«, sagte ich.

»Du siehst aber wütend aus.«

Ich stand auf und drehte das Wasser ab. »Jake, mein Liebling, ich hab dir gesagt, ich würde es gern für dich tun, und das stimmt auch. Er ist nett.« Lügen waren mir zuwider, diese jedoch war mir einfach so herausgerutscht. »Ich rufe ihn noch diese Woche an.«

»Ist gut«, sagtest du. Du warst alt genug, um vorzugeben, du würdest mich verstehen, aber zu jung, um es wirklich zu tun. »Danke.« Als du gingst, ließest du im Bad rote Flecken auf dem Teppich und mich zurück. Mein Handy klingelte. Allison. Die Pasta war fertig. Ich ließ mich dennoch ins Wasser sinken und schloss die Augen.

Um die Wahrheit zu sagen, Jacob, hatte ich deinen Vater seit jenem Tag nicht mehr gesehen, als ich ihm erzählte, schwanger zu sein. Mittlerweile könnte er durchaus verheiratet sein und selbst Kinder haben. Er könnte sogar tot sein. Das heißt, nein, tot war er auf jeden Fall nicht. Selbst Kurzzeit-Abgeordnete bekamen einen Nachruf in der New York Times.

Während meiner gesamten Schwangerschaft (die rundum schön war, ohne die üblichen Leiden) dachte ich ständig an ihn, fragte mich, was er gerade tat und ob er wohl auch an mich dachte. Ich betreute damals Griffith’ Wahlkampagne für den Senat und reiste quer durchs Land, blieb dabei stets in unmittelbarer Nähe meines Kandidaten, gleich hinter ihm, ein Stück nach links versetzt, allzeit bereit, eine passende Rede aus dem Hut zu zaubern, mit Journalisten zu sprechen, Debatten vorzubereiten, Busse zu mieten und mehr Geld vom Democratic National Committee zu erstreiten. Ich hatte bislang nur bei Kommunalwahlen gearbeitet und zog die Kampagne größer auf und arbeitete härter, als nötig gewesen wäre. Aber ich konnte nicht anders, denn allein das hielt mich davon ab, deinen Vater anzurufen. Nacht für Nacht in den ewig wechselnden Hotels streichelte ich meinen Bauch und erzählte dir alles, was ich den Tag über erlebt hatte. Ich fuhr mit dem Zug zu meinem Gynäkologen, und Griffith – ein netterer Politiker, als man ihm nachsagt – nahm sich immer Zeit, meine Ultraschallbilder zu bewundern. Doch aus einem dummen Versprechen heraus, das ich mir selbst gegeben hatte, rief ich deinen Vater nie an.

In der Woche vor der Wahl führten wir mit acht Prozentpunkten, und ich wusste, was das bedeutete: einen Bonus. Noch mehr Aufträge in Zukunft. Vor allem aber bedeutete es, dass ich eine Nanny einstellen und dich in den nächsten Jahren immer bei mir haben könnte. Was ich unbedingt wollte.

Und es bedeutete, dass ich ihn niemals anrufen und auf Unterhalt verklagen müsste.

Er wusste, wie er mich erreichen konnte, Jake, dennoch versuchte er es nie. Das solltest du über deinen Vater wissen. Er war ein Mann, der hätte wissen sollen, dass er ein Kind hatte, der jedoch nie versuchte, es kennenzulernen, der niemals die Mutter seines Kindes anrief, nie einen Schritt auf die andere Seite, jenseits des schlammigen, träge dahinfließenden Hudson, machte, um seinem neugeborenen Kind zu begegnen, das friedlich in den Armen seiner Mutter lag, geschweige denn, um den Tränen der Mutter entgegenzutreten.

Verdammt, Jake (entschuldige!): Ich drohe sentimental zu werden und, noch schlimmer, in Selbstmitleid zu versinken. Dabei gibt es nichts, worüber ich traurig sein müsste. Du warst das Beste, was mir hätte passieren können, und ich hoffe, dass ich es umgekehrt für dich genauso war. Und die Familie, in die du geboren wurdest, ist groß genug: Hier auf Mercer Island sind Allie, Bruce und die Kinder für dich da, zu Hause in New York gibt es mich und Julisa und deine Freunde und Lehrer und Kelly, den Hamster, der hoffentlich trotz Julisas Fürsorge noch am Leben ist. Und ich weiß, du wirst, je älter du wirst, dafür sorgen, dass deine Familie größer wird, wirst neuen Freunden und Menschen begegnen, die du liebst. Und eines Tages wirst du den Menschen finden, der zu dir gehört, und Kinder haben.

Es ist spät. Ich zittere, das Abendessen habe ich verpasst. Ich hoffe, das kannst du mir verzeihen, mein Engel. Ich tue mir gerade selbst so leid, dass ich kaum noch tippen kann. Ich hasse Selbstmitleid: Es ist wirklich das erbärmlichste aller Gefühle, zersetzt es doch die Würde und den Anstand eines Menschen. Aber in diesem Augenblick fehlst du mir so sehr, dabei bin ich immer noch hier in diesem Zimmer in diesem Haus. Ganz in deiner Nähe und dennoch fern. Wie konnte ich nur das Abendessen mit dir ausfallen lassen? Diese Stunde ist unwiderruflich verloren.

Natürlich geht es bei dem, was ich dir schreibe, auch darum, zu erkunden, was war und wie es sein wird, und Doktor Susan würde an dieser Stelle sagen, dass ich mir meine Gefühle nicht vorwerfen soll. Für sie ist Selbstmitleid etwas Normales, das in bestimmten Situationen wie zum Beispiel dieser durchaus seine Berechtigung hat. Sie meint, ich solle mich darauf einfach treiben lassen wie auf einer Welle. Ich solle nie vergessen, dass es selbst im tiefen Tal dieser Welle noch so viel gibt, das mich glücklich macht. Es ist ein Privileg, Karen, dass Sie so viel haben, was Sie glücklich macht. Das müssen Sie sich immer wieder bewusstmachen.

Meine Arbeit.

Meine Schwester Allison.

Meine Nichte und meine Neffen.

Die Sonne in Seattle. Offenbar sollen wir morgen einen weiteren sonnigen Tag erleben.

Das Wasser, das ans Ufer schwappt.

Dich, dich, dich, dich, dich.

Ich drücke auf den Knopf auf meinem Telefon, um dein Gesicht auf dem Screen zu sehen. Dann wende ich mich wieder diesen Seiten zu, dieser Aufgabe, die ich bald zu Ende bringen muss. Ich hoffe, dass mir genug Zeit bleibt, alles für dich aufzuschreiben, Jake.

Denn du bist mein Happy End.

Kapitel 2

Wie du dich vielleicht erinnerst, bemühte ich mich, während meiner Behandlung so viel wie möglich zu arbeiten, denn noch mehr, als mich um dich zu kümmern, gab mir meine Arbeit das Gefühl, etwas für mich zu tun. Sie gab mir ein Ziel und die Hoffnung, dieser Welt etwas hinterlassen zu können, was auch noch eine Rolle spielen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Durch meine politische Arbeit bereitete ich Veränderungen den Weg, die Millionen Menschen betrafen. Wenn nur der Richtige gewählt würde, würden die richtigen Veränderungen folgen, daran habe ich immer geglaubt, Jake, und ich hoffe, das tust du auch.

Trotzdem war ich in letzter Zeit einfach zu krank, um mich für meine Klienten starkzumachen, und es war mir unangenehm, so vieles nicht mehr tun zu können. Gerade zu Beginn meiner Karriere war ich wie ein bissiger Terrier. Als ich etwa die Wallace-Kampagne betreute, fand ich heraus, dass die Tochter unseres Konkurrenten, ein junges Mädchen, das auf eine noble Privatschule ging, eine Woche vor ihrem Abschlussball eine Abtreibung hatte. Zwar lag es mir eigentlich fern, eine Sechzehnjährige wegen so einer Sache bloßzustellen, aber ihr Vater war einer dieser bigotten Enthaltsamkeitsdschihadisten, die Abtreibungen sogar bei Vergewaltigung oder Inzest verbieten wollten. Wer im Glashaus sitzt, mein Freund. Ich ließ die Sache gegenüber einem mir gewogenen Reporter durchsickern, und Wallace gewann mit fünfzehn Prozentpunkten Vorsprung.

Mittlerweile ging ich bei meiner Arbeit mit sehr viel mehr Augenmaß vor. Wenn ich denn überhaupt arbeiten konnte. Mein Partner Chuck (erinnerst du dich noch an ihn?) füllte die Lücke gut aus, und wir hatten einen Trupp Jungspunde eingestellt, die sich um den Kleinkram kümmerten. Außerdem war es ein wahlarmes Jahr, daher verpasste ich nicht viel. Und dennoch. Mochte ich zuvor ein regelmäßiger Gast bei den großen Nachrichtenkanälen gewesen sein, war ich seit meiner Diagnose kein einziges Mal mehr im Fernsehen aufgetreten.

Eines Morgens rief ich, um sechs Uhr Ortszeit in Seattle, Ace an, um über einen Flyer oder irgendetwas in der Art zu reden. »Geht es dir gut?«, erkundigte er sich.

Es ging mir nicht gut. Die rätselhaften Schmerzen in meiner Seite waren schlimmer geworden, am Abend zuvor hätte ich mich fast übergeben, und ich wusste, dass ich eigentlich zum Hutchinson Cancer Research Center sollte. Aber die Vorstellung, in Seattle ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, war mir einfach unerträglich. »Alles wunderbar, Ace.«

»Hast du immer noch Krebs?«

»Ich bin in Remission.« Was sich besser anhörte, als es war.

»Also kannst du deinen Job machen?«

»Sonst hätte ich ihn nicht übernommen«, erwiderte ich. Wir rechneten damit, dass eine Frau namens Beverly Hernandez gegen ihn antreten würde, eine Tochter von Immigranten aus der Dominikanischen Republik: Sie hatte im Gesundheitswesen Karriere gemacht und würde ganz andere Wählergruppen ansprechen als Ace. Dennoch hatten Stadträte in der Regel große Chancen, wiedergewählt zu werden. Wir hätten es schon gründlich vermasseln müssen, um das zu gefährden. Es war unser Ziel, den Gegner vernichtend zu schlagen.

»Übrigens hat Hernandez auch Krebs, genau wie du. Brustkrebs. Sie trägt immer eins von diesen rosa Schleifchen.«

»Ich habe Eierstockkrebs«, entgegenete ich. »Das ist was anderes.«

»Weiß ich doch«, sagte er. »Amani wird dich wegen der Termine in der nächsten Zeit anrufen. Ich habe gerade eine neue Assistentin eingestellt, sie heißt Haley. Wenn du Amani nicht erreichst, rede mit ihr. Für nächste Woche hat Jill eine Reise zum Hochzeitstag gebucht, aber im Notfall kannst du mich erreichen. Ansonsten: Amani oder Haley.« Haley – das klang jung. »Und während ich weg bin, findest du alles über diese Hernandez heraus«, fügte Ace hinzu. »Zwar kommt sie mir wie ein Leichtgewicht vor, aber wir müssen trotzdem etwas gegen sie in der Hand haben.«

»Genau das ist mein Job, Ace.«

»Zwanzig Punkte«, sagte er.

»Lass uns dreißig daraus machen.«

Ace gluckste. »Grüß deinen Sohn.« Damit beendete er das Gespräch, bevor ich noch etwas sagen konnte.

Trotz all seiner Fehler erreichte Ace Reynolds auf der Karen-M.-Neulander-Skala unangenehmer Despoten höchstens die Fünf. Im Gegensatz zu einigen dieser Sprücheklopfer, die mir in der Politik begegnet sind und für die ich teilweise sogar gearbeitet habe, wusste Ace immerhin, dass ich Krebs hatte. Er wusste immerhin, dass es dich gab.

Also füllte ich ein paar Unterlagen aus und schickte sie ihm zurück, und da ich schon mal dabei war, bat ich Julisa per Mail, nach deinem Hamster zu schauen. Gegen sieben klopftest du an meine Tür – auf der Insel gingst du immer früh schlafen und wachtest beim ersten Tageslicht auf –, und wir beschlossen, im Ort zu frühstücken, denn es war ein Samstag, und alle anderen würden noch mindestens zwei Stunden schlafen. Außerdem schien draußen die Sonne, es war ein herrlicher Tag im Juni. Und du hattest Hunger, und ich würde dir zuliebe so tun, als ginge es mir genauso.

Das Bell Café am Wasser bot ein Frühstücksbuffet mit verschiedenen Sorten Schlagsahne und Ahornsirup; dorthin gingen wir oft in der Früh, bevor die Heerscharen verkaterter Musiker und Eltern in Fleecepullis aus Seattle uns vertreiben konnten.

»Hast du ihn schon angerufen?«, fragtest du, als wir in der Nähe des Cafés parkten.

»Soll das ein Scherz sein? Ich weiß noch nicht einmal, wie ich ihn kontaktieren soll.«

Du wirktest betroffen, griffst jedoch nach meiner Hand, als wir die Straße überquerten. »Ich dachte, das wüsstest du schon.«

»Ich habe gesagt, ich könnte es herausfinden«, entgegnete ich, »nicht, dass ich es wüsste. Aber so schwer kann es nicht sein. Ich werde ihn googeln. Wir können heute Nachmittag im Internet nach ihm suchen.« Das war viel früher, als ich geplant hatte.

»Was, wenn er nicht gefunden werden will?«

»Das ist unmöglich, selbst wenn er es wollte. Echte Privatsphäre gibt es nicht mehr. Außerdem«, sagte ich und nickte der Kellnerin zu, die uns mittlerweile kannte, »ist er Anwalt. Und Anwälte wollen gefunden werden, damit die ganze Welt sieht, wie großartig sie sind.«

Du nicktest, als hätte ich dir eine Offenbarung verkündet. »Wird er sauer sein, wenn du dich bei ihm meldest?«

»Nein«, sagte ich. »Überrascht vielleicht, aber nicht sauer.« Ich hoffte nur, dass das stimmte.

Wir griffen uns die Speisekarte und ließen uns Zeit beim Aussuchen, obwohl doch längst feststand, was wir nehmen würden. Ich ging so gern mit dir essen, schon seit deiner Geburt. Damals stillte ich dich sogar im Restaurant, was für mich ziemlich untypisch war, denn bevor ich dich bekam, war mir der Anblick stillender Frauen immer unangenehm. Aber was denkt man sich nicht alles, bevor man selbst ein Kind bekommt. Ich liebte es, dich zu stillen, und tat es, bis du fast ein Jahr alt warst und meine Brust wegstießest, als hättest du genug davon.

Damals hatte ich ständig Angst um dich: Wenn du in meinen Armen einschliefst, blieb ich trotz meiner ewigen Erschöpfung wach vor lauter Angst, dich fallen zu lassen (als hätte ich dich je fallen lassen!). Doch jedes Mal, wenn ich versuchte, dich in dein Bettchen zu legen, bist du schreiend aufgewacht. Also saß ich einfach nur in meinem Schaukelstuhl und zwang mich, wach zu bleiben, indem ich über deinen schweren kleinen Körper hinweg Scrabble auf meinem Handy spielte. Eines Tages, als du fünf Wochen alt warst, besuchte uns Allie und nahm dich, als du gerade eingeschlafen warst, aus meinen Armen, und wie durch ein Wunder, so als hätte sie dich mit einem Zauber belegt, wachtest du nicht auf. Dann schob sie ein Kissen unter meine Füße, und wir schliefen in deinem Kinderzimmer, wir beide, tief und fest, sechs Stunden am Stück. Das war der beste Schlaf, den ich in diesem ganzen ersten Jahr bekommen sollte.

»Guck mal, das Kind«, sagtest du, nachdem die gutgelaunte Kellnerin mit Lippenpiercing unsere Bestellung gebracht hatte. Als ich mich umdrehte, sah ich am Ahornsirup-Buffet ein Kleinkind in voller Batman-Montur, mit Cape, Maske und glänzenden Schuhen. Es balancierte einen Riesenteller mit Waffeln und Schlagsahne, und wie einst Cassandra wusste ich, was gleich passieren würde, ahnte jedoch, dass niemand meine Warnrufe erhören würde.

Dennoch sagte ich, ganz leise: »Vorsicht!«

Da rannte Batman los, und das Unvermeidliche geschah: Er stolperte über sein Cape, flog in hohem Bogen zu Boden und fing an zu heulen, während die anderen Gäste überrascht aufblickten und der Vater des Jungen, der es schon bis zu seinem Tisch geschafft hatte, sich umdrehte und brüllte: »Herrgott noch mal!«

Im ganzen Café wurde es mucksmäuschenstill. Einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Dann rief der Vater: »Was zum Teufel ist bloß los mit dir!«

»Harry!«, sagte die Mutter mit hochrotem Gesicht. Das Kind heulte laut wie ein italienisches Klageweib.

»Wieso passt du nicht auf, wo du hinläufst!«

Aber Batman schlug zurück. Er wälzte sich auf dem Boden und kreischte: »Ich hasse dich! Ich hasse dich!«, woraufhin beide Eltern zu ihm stürzten und versuchten, ihn vom Boden zu heben und zum Schweigen zu bringen. Mittlerweile war eine Brigade von Kellnern damit beschäftigt, die Sahne aufzuwischen und die Scherben aufzusammeln. Schließlich ging die Mutter auf den Vater los, weil er Batman seine Waffeln ganz allein zum Tisch hatte tragen lassen, was der Vater sich nicht kampflos gefallen ließ. Wir beide konnten nicht anders: Wir blickten uns an und brachen in Gelächter aus.

Und du hattest Schlagsahne in deinen Haaren, was mich noch mehr zum Lachen brachte.

»Finden Sie das etwa lustig?«, rief der Vater, zu uns gewandt. Er war deutlich aggressiver als der durchschnittliche lokale Familienvater.

»Tut mir leid«, sagte ich und wischte mir mit der Serviette die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

»Nur zu Ihrer Information: Mein Sohn hat schwere Verhaltensprobleme – und das ist alles andere als lustig!«

»Tut mir leid«, wiederholte ich.

Immer noch wälzte sich Batman herum, trampelte mit seinen glänzenden Stiefelchen auf den Boden und brüllte: »Ich will einen Raketenrucksack! Ich will einen Raketenrucksack! Ich hasse dich!«

»Ich glaube, wir sollten diesem Jungen einen Raketenrucksack bestellen«, sagtest du, worauf wir von neuem in Gelächter ausbrachen.

Batman schrie: »Kauft mir einen Raketenrucksack! Sonst töte ich euch!«, da klemmte seine Mutter sich ihn unter den Arm.

»Ich sagte, das ist nicht lustig!«, brüllte der Vater uns an, doch das war es, und wie! Wir lachten noch, als wir zwanzig Minuten später das Café verließen. Erst an der frischen Luft konnten wir uns wieder beruhigen.

»Mann«, sagtest du, als wir unsere Fassung wiedergewonnen hatten. »Das war voll übertrieben.« Übertrieben war eines deiner neuen Wörter; du benutztest es ständig. Ich zog den Reißverschluss deiner Jacke zu. »Der Vater des Kindes war echt verrückt«, sagtest du. »So durchs ganze Café zu brüllen.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich hasse solche Typen. So angespannt, dass sie jeden Moment überschnappen können.«

»Was meinst du damit?«

»Du weißt schon, schnell auf die Palme zu bringen«, sagte ich. »Gestresst.« Nach kurzer Pause fügte ich hinzu: »Viele Väter sind so.«

»Hmmm«, brummtest du. Anstatt zurück zum Wagen zu gehen, zog es uns zum Wasser wie die Möwen. »Ich weiß nicht, ob das stimmt«, sagtest du nachdenklich. Mir tat vom Lachen der Bauch weh, du hattest noch immer Schluckauf. Wir gingen an den umgebauten Lagerhäusern entlang, über die Licht- und Schattenflecken, die sie auf die Straße warfen.

»Kyles Dad ist nicht so«, sagtest du. Kyle war – wie du wohl noch weißt – dein bester Freund zu Hause in New York. Er wohnte in der 74th West zwei Stockwerke unter uns.

»Da hast du recht, er ist nicht so.«

»Und Onkel Bruce auch nicht.«

»Das stimmt«, gab ich zu.

»Eigentlich«, sagtest du, nachdem du Luft geholt und angehalten hattest, »glaube ich nicht, dass die meisten Dads so sind.«

»Aber einige schon«, beharrte ich, bevor mir aufging, dass ich mich bereits mitten in einer Kampagne gegen böse Väter befand. Wir erreichten den Park am Ufer, wo am frühen Morgen noch nichts los war, und setzten uns auf zwei nebeneinanderhängende Schaukeln, die noch feucht vom Morgentau waren.

»War dein Dad so?«, fragtest du. »Gestresst?«

»Grandpa? Manchmal.« Heute, Jacob, kann ich dir sagen, dass mein Vater während meiner gesamten Kindheit geradezu katatonisch wurde vor lauter Stress und sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Keller zurückzog, um in Ruhe Pfeife rauchen zu können, während die Waschmaschine neben ihm bollerte. Er arbeitete an zwei verschiedenen Colleges als freier Dozent für Geschichte, und meine Mutter setzte ihm ständig zu, endlich seine Doktorarbeit zu Ende zu schreiben und sich eine richtige Stelle zu suchen. Meine Schwester jammerte indes ununterbrochen darüber, was wir uns alles nicht leisten konnten. Meine Mutter arbeitete als Buchhalterin in einer Anwaltskanzlei, und nur ihr hatten wir unsere Krankenversicherung und die hebräische Sonntagsschule zu verdanken sowie das Gefühl, das Leben unserer Familie wäre um einiges gesegneter, wenn sich unser Vater nur ein bisschen mehr ins Zeug legen würde.

Woran ich mich aus meiner Kindheit am deutlichsten erinnere, sind die Auseinandersetzungen, an deren Ende meine Mutter stets in Tränen aufgelöst war und mein Vater sich in den Keller zurückzog, von wo dann der Rauch seiner Pfeife durch die Bodendielen drang. Wenn es richtig schlimm wurde, tauchten meine unergründlichen ungarischen Großeltern – die Urgroßeltern, die du nie kennengelernt hast – aus ihrer Wohnung über uns auf: mit verhärmten Gesichtern und immer in Morgenmänteln, als wären sie ein bisschen neben der Spur. »Liebes«, sagten sie dann, »die ganze Nachbarschaft kann euch hören«, als stünden neben uns Wohnhäuser und nicht die Metzgerei und daran angrenzend die Reinigung.

Wenn meine Mutter aufhörte zu weinen, schlurften sie wieder nach oben und widmeten sich dem, was sie den ganzen Tag taten: Karten spielen und Nachrichten schauen. Mein Vater behauptete, sie wären so glücklich, in Sicherheit zu sein und ihre Enkel aufwachsen sehen zu können, dass sie nicht mehr vom Leben verlangten. Als ich fragte, ob sie sich deshalb nie richtig anzogen, bekam ich für meine Frechheit einen Schlag gegen den Hinterkopf.

Es heißt immer, die Kindheit sei die glücklichste Zeit im Leben, doch das fand ich seit jeher lächerlich: Schließlich sind Kinder ständig der Gnade anderer ausgeliefert, ohnmächtig und den Gezeiten von Umständen ausgesetzt, die sie nicht beeinflussen können: Schulaufgaben, Pflichten im Haushalt, Tischgespräche, bei denen man nicht mitreden darf. Die meiste Zeit hasste ich es, ein Kind zu sein und mich den Stimmungen meiner Eltern entsprechend verhalten zu müssen, je nachdem ob meine Mutter einen Bonus bekam oder mein Vater einen zusätzlichen Kurs am College. Im Gegensatz dazu fand ich es regelrecht berauschend, erwachsen zu sein: Ich hatte mein eigenes Geld und mein eigenes Bad. Und da du so ein friedliches Kind warst, musste ich in meinem eigenen Haus niemals Geschrei hören, sofern ich nicht selbst damit anfing.

»Schreie ich dich oft an?«, fragte ich dich.

»Nicht besonders«, antwortetest du und schwangst höher mit deiner Schaukel. »Nur, wenn es dir wirklich ernst ist.«

Draußen in der Bucht fuhren langsam riesige Schiffe, hoch beladen mit bunten Containern, vorbei, auf dem Weg nach China, Russland und wer weiß wohin. Als ich noch auf der High School war, fragte ich meinen Großvater einmal, ob er mir nicht eines Tages seine Heimat zeigen wollte. Er war in Budapest geboren, und damals fiel gerade der Eiserne Vorhang, und man konnte wieder problemlos nach Ungarn reisen. Aber mein Großvater sah mich nur an, als wäre ich verrückt, und sagte, lieber würde er mit mir zur Hölle fahren. Ein paar Wochen später starb er.

Mag sein, dass ich ihnen allen gegenüber ungerecht war. Sie machten schließlich nur das Beste aus dem, was sie hatten. Und als meine Großeltern gestorben und Allie und ich aus dem Haus waren, schienen meine Eltern sich tatsächlich zu entspannen. Sie verbrachten noch viele friedliche Jahre miteinander, bis meine Mutter starb. Und selbst als es meinem Vater anfing schlechter zu gehen und auch meine Mutter nicht mehr ganz auf dem Damm war, wirkten sie immer noch glücklicher als in unserer Kindheit.

»Ich finde, wir sollten ihn heute anrufen«, sagtest du.

Ich tat so, als hätte ich dich im Wind und Geschrei der Möwen nicht verstanden. Irgendwo da draußen erklang ein Schiffshorn.

»Mom«, sagtest du. Während du deine Füße über den Boden schleifen ließest, um deine Schaukel zu stoppen, wollte ich noch nicht aufhören. Ich konnte über die bunten Container hinweg auf die bewaldeten Inseln dahinter blicken und holte immer wieder Schwung und flog höher und höher, bis sich mein Körper beinahe von der Schaukel löste – diese Leichtigkeit war herrlich, das Gefühl der Flüchtigkeit, und ich stellte mir vor, bis hoch in den Himmel geschleudert zu werden, wenn ich nur noch ein wenig mehr Schwung aufnehmen könnte.

»Mom.«

Ich hörte dich weit unter mir. Du klangst halb verärgert, halb verängstigt.

»Mom!«

Ich seufzte. Als Mutter durfte man sich keine Höhenflüge erlauben. »Ja«, sagte ich, nachdem ich selbst schlitternd zum Stehen gekommen war.

Du hattest die Augen zu Schlitzen verengt und die Arme über deiner schmalen Brust verschränkt. »Ich finde, wir sollten ihn jetzt suchen«, sagtest du.

»Ist ja gut.« Ich wollte noch einmal schaukeln, aber du hattest dich bereits umgedreht, um durch den Park zurück zum Auto zu gehen. »Doch zuerst«, sagte ich, denn ich war die Mutter und es war mein Recht, dich zu Dingen zu zwingen, die du nicht tun wolltest, »zuerst besuchen wir deinen Großvater.«

»Mom!« Nun warst du derjenige, der sich wieder auf die Schaukel fallen ließ und Schwung holte.

»Keine Widerrede«, sagte ich. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, vielleicht weil ich zum Frühstück mehr gegessen hatte als in der letzten Zeit; vielleicht weil wir so viel gelacht hatten. Trotzdem konnten Magenkrämpfe alles Mögliche bedeuten: Flüssigkeitsansammlung, Verstopfung, Probleme mit dem Narbengewebe. Es konnte auch ein Hinweis auf einen Rückfall sein, früher als erwartet, aber das war unwahrscheinlich. Zumindest sollte es das sein. Ich ignorierte die Schmerzen und schwang meine Beine nach vorn, ich wollte wieder in der Luft sein. Und du solltest nicht merken, dass etwas nicht stimmte. »Wir sollten ihn besuchen, solange es noch geht.«

Du kanntest meinen Vater nur als stummen, einsamen alten Mann, den eine früh einsetzende Alzheimer-Erkrankung auf einen Schatten seiner selbst reduziert hatte. Er mochte bisweilen furchteinflößend auf dich gewirkt haben, weil er unablässig auf etwas starrte, das außer ihm niemand sehen konnte. Aber früher war er ganz anders. (Früher war ich ganz anders.) Als du noch ein Baby warst, schaffte es mein Vater sogar noch, seine letzten Kurse am College zu geben. Und ich weiß noch, wie gerührt er von deinem Anblick war, als du geboren wurdest – er und meine Mom kamen noch am selben Abend zu mir ins Krankenhaus. »Er ist einfach perfekt«, sagte mein Vater, als er dich in seinen altersmageren Armen hielt. »Dieses Kind ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.«

»Nicht wahr?«, fragte ich, begierig, die Begeisterung über meinen Sohn teilen zu können.

»Das Aller-, Aller-, Allerschönste«, bekräftigte er. »Hast du dich endlich für einen Namen entschieden?«

»Jacob«, gab ich preis, was ich bis zu deiner Geburt geheim gehalten hatte. »Nach Janos, weißt du?«

»Janos«, flüsterte mein Vater und drückte dich eng an sich. Janos war der Name seines Vaters, jenes Mannes, der vor den Nazis einst in den Gemencer Wald geflohen und sich dort von Eichhörnchen ernährt hatte, jenes Mannes, der seine letzten Jahre in der Sicherheit Amerikas im Bademantel verbracht hatte. »Oh, Jacob …« Mein Vater weinte, was mich sonst peinlich berührt hätte, nicht aber damals, weil ich ebenfalls weinte.

»Gil, halte ihn nicht so nah an dein Gesicht, du wirst noch irgendwelche Krankheitserreger auf ihn übertragen«, mahnte meine Mutter, die neben mir auf dem Bett saß und meine Hand hielt. Meine Mutter war eine spröde Frau, schon ihr ganzes Leben kantig und knochig – wie ein Vögelchen, sagte mein Vater immer –, aber ihre Hände … Ich werde nie vergessen, wie warm sie waren und wie viel Geborgenheit sie zu spenden vermochten.

»Jacob, Jacob …« Mein Vater sang deinen Namen und tanzte dazu langsam durch das triste Zimmerchen in der 168th Street, wo du deine erste Nacht auf Erden verbrachtest. Ich hatte mir ein Einzelzimmer geleistet, und da ich eine alleinerziehende Mutter war, zeigten sich die Krankenschwestern bei den Besuchszeiten nachsichtig. Auf dem Gang war das Licht gedämpft, aber in meinem Zimmer herrschte Festtagsbeleuchtung.

»Du wunderschöner Junge«, sagte mein Vater und drehte sich langsam mit dir im Kreis. Einst war mein Vater ein ganz annehmbarer Backgammon- und ein hervorragender Schachspieler gewesen, er sprach ein bisschen Ungarisch und ein passables Französisch. Doch du erlebtest ihn nur, als er bereits in einem teuren Pflegeheim in Bellevue untergebracht war und achtzehn Stunden pro Tag in einem Sessel mit Blick auf das Meer verbrachte, das er aus irgendeinem Grund für die Ostsee hielt.

Ich fragte mich, ob du als Erinnerung etwas von ihm haben wolltest. Vielleicht würdest du dir später etwas von dem Großvater wünschen, den du nie richtig kennengelernt hattest. Seine Homburgs zum Beispiel, jene hohen altmodischen Filzhüte, die sehr gediegen und teuer waren. Vielleicht werden sie, wenn du dies hier liest, schon wieder in Mode gekommen sein. Ich hatte in meinem Schlafzimmer einen großen Karton mit Sachen deiner Großeltern, die du aufbewahren solltest, nicht nur die Hüte, sondern auch die Bücher deines Großvaters und Fotos von ihnen und all dem, was in ihrem Leben von Bedeutung war.

Wieder krampfte sich mein Magen zusammen, vielleicht nur aus Sorge. Es gab noch so vieles, das ich für dich erledigen musste. So vieles, das ich auf dieser Welt zu erledigen gehabt hätte.

»Ich will da nicht hin!«, sagtest du und fingst wieder an zu schaukeln, weil du alles getan hättest, selbst den ganzen Tag neben deiner Mutter in diesem mickrigen Park auf der Schaukel zu verbringen, nur um nicht dorthin zu müssen. »Ich hasse das Altenheim.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich auch.«

»Wirklich? Ich dachte, du magst es.«

»Ich mag Grandpa«, erklärte ich, »nicht das Heim«, was ich aus den gleichen Gründen hasste wie jeder andere Mensch: wegen des Desinfektionsmittelgeruchs, der mümmelnden Alten und der sabbernden Todkranken, die irgendwo auf dem Flur in ihrem Rollstuhl abgestellt wurden. Und ich hasste es, weil ich einfach nicht fassen konnte, was aus dem Mann geworden war, der einst mein Vater war. Als meine Mutter im Vorjahr an seiner Seite zu Boden fiel und an einem Aneurysma starb, bekam er nicht einmal mit, dass sie umgefallen war.

»Also gehen wir nicht?«

»Wir müssen«, sagte ich und wollte vernünftig sein, aber es fühlte sich so gut an, durch die frische, taufeuchte Luft zu fliegen, dass ich einfach nicht aufhören konnte. Vor mir lag der Puget Sound, diese einmalig schöne Meeresbucht mit ihren glitzernden Schaumkronen, den Möwen, den umliegenden Bergen, den großen Schiffen, die von hier aus in die Welt aufbrachen, jene Welt, die sich immer weiterdrehte.

»Wir könnten doch stattdessen in den Buchladen gehen.«

Wie gerissen du warst. Du wusstest genau, wie sehr ich den Buchladen in der Nähe liebte. Ich antwortete nicht, sondern schaukelte einfach weiter, genau wie du.

Du sahst mich grinsend an. »Mom«, sagtest du, »wir fliegen.«

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Lass uns fliegen.«

»Aber was ist –«, doch dann verstummtest du. Gut. Wenn du mich nicht zwangst, deinen Vater zu suchen, dann würde ich dich auch nicht zwingen, deinen Großvater zu besuchen. Jedenfalls heute nicht. Morgen hätte ich mehr Kraft. Morgen könnte ich alles schaffen, was du von mir brauchtest. Ich würde mich dem stellen können.

Morgen, schwor ich mir, werde ich den Arzt anrufen.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Stattdessen nutzte ich meine nächtliche Unruhe, mich über Ace’ Gegnerin kundig zu machen: Beverly »Bev« Hernandez war 57 Jahre alt, Verwaltungsleiterin am Roosevelt Medical Center und im Großen und Ganzen ein Mensch, den man einfach mögen musste. Neben ihrem Studium hatte sie drei Kinder aufgezogen und ihren Master mit einem hervorragenden Abschluss gemacht. Ging sonntagmorgens zur Kirche, um sonntagnachmittags in der Suppenküche im Kirchenkeller mitzuarbeiten. Bev hatte noch keine offizielle Webseite für ihre Kandidatur, und ich fragte mich, ob sie wohl eine Vorstellung davon hatte, was es bedeuten würde, diesen Wahlkampf durchzuziehen. Ich meine: nicht einmal eine Webseite? Kann man sich heute überhaupt noch eine Zeit vorstellen, in der das möglich war?

Aber bis zur Wahl waren es noch fünf Monate. Wenn Ace es also nicht vermasselte – genauer gesagt, wenn nicht irgendeine Zeitung irgendetwas über irgendeine Haley ausgrub –, dann hatten wir die Sache im Sack.

Auf der Webseite des Roosevelt Medical Center, in dem sie arbeitete, gab es ein paar Angaben zu ihrer Vita nebst Fotos von gesellschaftlichen Anlässen, dazu ein vollkommen ungeschütztes Facebook-Profil voller Familienbilder von pausbäckigen Enkelkindern in Taufkleidchen, von Volljährigkeitspartys und Hoch