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Richard ist an seiner Schule sehr beliebt und genießt die allgemeine Bewunderung. Für seine Mitschülerin Olivia hat er wenig übrig. Denn mal ehrlich, wer gibt sich schon mit einer notorischen Besserwisserin ab, die morgens vor dem Unterricht mit einem Eimer bewaffnet durch den Wald stapft, um glitschige Kröten zu retten?
Eines Tages ist Richard überraschend auf Olivias Hilfe angewiesen. Er willigt ein, sie als Gegenleistung in seinen Freundeskreis aufzunehmen – ohne dass er vorhat, sich an die Vereinbarung zu halten. Doch er ahnt nicht, wie weit die „Froschkönigin“ zu gehen bereit ist, um ihren Willen zu bekommen...
Erlebe das grimmsche Märchen „Der Froschkönig“ in völlig neuem Style! In dieser lebensnahen Jugendbuch-Märchenadaption dreht sich alles um das Erwachsenwerden und die Schulhof-Dynamik, die entsteht, wenn ein beliebter Schüler die ungeschriebenen Regeln bricht und sich mit einer Außenseiterin einlässt. Die Teenager-Protagonisten werden durch unerwartete Ereignisse gezwungen, ihre Sicht auf die Dinge zu überdenken. Sie werden mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen konfrontiert und müssen daran wachsen – und auch lernen, wie sie Grenzen setzen können.
Das sagt Bookstagram:Über die Reihe: „Legends Remastered“ erzählt bekannte Märchen neu, wie sie sich heute in unserer modernen Zeit zutragen könnten. Die Remaster greifen Figuren und Motive der Originale auf und übertragen sie aus der Märchenwelt in unsere reale Welt des 21. Jahrhunderts. Jeder Band der Reihe behandelt ein anderes Märchen und lässt sich unabhängig von den anderen lesen. Für Jugendliche ab 10 Jahren und alle, die Märchen lieben! Perfekt auch als Schullektüre für die Unter- und Mittelstufe.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über die Autorin
Legends Remastered:
Die Froschkönigin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Eine Legende neu erzählt:
Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
Zum Schluss
© Monika Augustin 2024 – alle Rechte vorbehalten
Monika Augustin
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Bodenfeldstr. 9
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Buchsatz und Coverdesign: Juliane Buser – Grafikdesign
(www.jb-grafikdesign.de)
Veröffentlicht über tolino media.
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Ihre große Liebe zu Geschichten – egal ob Buch, Film oder Videospiel – entdeckt Monika Augustin schon als Kind. Im Alter von zehn Jahren beginnt sie, selbst welche zu schreiben.
Während ihrer Schulzeit erhält sie zweimal den Stuttgarter Jungautorenpreis. Für ihr Kinderbuch »Das Mucksmäuschen«, das sie 2019 veröffentlicht, wird sie im selben Jahr mit dem Deutschen Selfpublishing-Preis ausgezeichnet.
2024 erscheint mit »Die Froschkönigin« der erste Band ihrer Jugendbuchreihe »Legends Remastered«. Jedes Buch der Reihe überträgt ein bekanntes Märchen in unsere moderne Welt und offenbart die Wahrheiten der alten Legenden, die noch heute für uns Bedeutung haben.
Heute lebt, liest und erzählt Monika Augustin mit Mann, Tochter und Kater bei Ludwigsburg.
Manche Geschichten überdauern Jahrhunderte. Sie bergen vergangene Wahrheiten, spiegeln die Gegenwart und gestatten uns einen Blick in die Zukunft. Sie berichten vom ewigen Streit zwischen Gut und Böse. Dies ist eine solche Geschichte. Neu erzählt, so wie sie sich in unserer modernen Welt zutragen könnte.
Richard ist an seiner Schule sehr beliebt und genießt die allgemeine Bewunderung. Für seine Mitschülerin Olivia hat er wenig übrig. Denn mal ehrlich, wer gibt sich schon mit einer notorischen Besserwisserin ab, die morgens vor dem Unterricht mit einem Eimer bewaffnet durch den Wald stapft, um glitschige Kröten zu retten?
Eines Tages ist Richard überraschend auf Olivias Hilfe angewiesen. Er willigt ein, sie als Gegenleistung in seinen Freundeskreis aufzunehmen – ohne dass er vorhat, sich an die Vereinbarung zu halten. Doch er ahnt nicht, wie weit die „Froschkönigin“ zu gehen bereit ist, um ihren Willen zu bekommen.
Für Stefan
Gerne hätte sich Richard den Schweiß von der Stirn gewischt, aber er wagte es nicht. Jede unbedachte Bewegung konnte jetzt das Ende bedeuten. Seine Kiefermuskeln mahlten. Konzentriert hielt er die Pedale waagrecht, nutzte den Schwung, der sein Mountainbike auf den Baumstamm getragen hatte, und glich die Pendelbewegungen des Rades mit den Knien aus. Dabei starrte er auf einen Punkt hinter dem Ende des Stammes. Bloß nicht direkt vor das Vorderrad schauen. Aus den Augenwinkeln sah er Linus, oder besser die Rückseite des Smartphones, das Linus in seine Richtung hielt. Wenn er jetzt schon wieder stürzte, würde Linus mit Sicherheit seine Drohung wahrmachen und eine Best-of-Zusammenstellung seiner spektakulärsten Abgänge posten, unterlegt mit Sitcom-Gelächter. Danke, aber nein danke ...
Er zuckte zusammen, als das Vorderrad seines Mountainbikes beinahe links vom Stamm rutschte, brachte das rechte Knie ein Stück zu schnell nach außen und spürte, wie sich sein Fahrrad nun in die andere Richtung neigte.
Scheiße, scheiße, scheiße ...
Richard hörte schon, wie Linus die Luft einsog, aber irgendwie gelang es ihm, das Rad wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Seine Knie wurden weich, und seine Arme begannen zu zittern. Wie lang war dieser verflixte Baumstamm eigentlich?
Nur noch ein kleines Stück ... fast da ...
Er seufzte erleichtert, als er spürte, wie das Vorderrad endlich über das Ende des Baumstamms kippte. Er rollte noch ein paar Meter weiter, dann hielt er an. Kaum dass er mit beiden Reifen und beiden Füßen wieder fest auf dem Boden stand, drehte er sich zu Linus um und riss die Faust in die Höhe.
Linus war Profi genug, um noch zwei bis drei Sekunden wort- und regungslos draufzuhalten, um die Siegerpose auf Video einzufangen. Dann ließ er die Hand mit dem Smartphone sinken, nickte Richard grinsend zu und hob ebenfalls die geballte Faust in Richtung seines Freundes. »Yeah, Mann, cool.«
»War ja auch Zeit«, murmelte Richard, nahm den Helm ab und schüttelte seine Haare aus. Es war Frühjahr, aber die Sonne schien an diesem Tag hell vom wolkenlosen Himmel herab und unter seinen Protektoren war ihm ziemlich warm. »Das war jetzt der wievielte Versuch?«
»Nur Übung macht den Meister«, belehrte ihn Linus altklug, kam näher und hielt ihm das Display des Smartphones hin. »Hier. Dein Beinahe-Abgang in Slo-Mo. Kommt ganz gut.« Er wartete Richards Zustimmung nicht ab, sondern drehte das Display wieder zu sich und sprach mit, was er tippte. »Biking with Richie. Working on our skills. Check this out. Emojis, Sonnenbrille, Hashtag mtbskills, Hashtag bikeadventures, uuund ... weg.«
Im gleichen Moment summte es in Richards Lenkertasche.
»Hab dich getaggt«, kommentierte Linus das Summen.
»Merci«, antwortete Richard. Er schob sein Rad zurück auf den gekiesten Weg. »Was jetzt? Den Schotterweg mit der GoPro?«
Linus winkte ab. »Haben wir erst letztens gemacht.«
Richard zuckte mit den Schultern. »Wir können sehen ob wir’s noch schneller schaffen.«
»Jo, aber zwei Sekunden hin oder her, wen juckt das. Das sieht auf Video eh gleich aus.« Linus wischte mit dem Daumen seiner rechten Hand von unten nach oben über das Display, seine Augen folgten dem aufsteigenden Strom an Bildern und Textschnipseln. Offenbar hatte er seinen eigenen Feed geöffnet und scrollte nun durch die Videos, die sie in den vergangenen Tagen und Wochen gepostet hatten.
Richard nutzte die Pause, um ein paar Schlucke aus seiner Wasserflasche zu trinken. Dann nahm er sein Handy aus der Tasche, entsperrte es und tippte auf die Benachrichtigung. Routiniert tanzten seine Daumen über das Display. »Like, comment, share ... erledigt«, informierte er Linus.
Ohne aufzusehen, reckte ihm Linus den erhobenen Daumen entgegen.
Richard grinste. Linus bedauerte es vermutlich jeden Tag mehrmals, dass Personen, Gegenstände und Ereignisse im echten Leben nicht über einen Like-Button verfügten. Richard erinnerte sich nicht mehr, wann es angefangen oder wann er seinen Freund das letzte Mal ohne Smartphone in der Hand gesehen hatte. Seit langer Zeit schon beschäftigte sich Linus intensiv mit den sozialen Netzwerken. Auf seinen Accounts bei verschiedenen Plattformen dokumentierte er seine Aktivitäten und die der Clique lückenlos. Und wieso auch immer, es funktionierte. Er war so etwas wie eine Lokalprominenz. Was er postete, war eine Stunde später Thema Nummer eins an der Schule. Was er nicht postete, war nicht passiert. Linus plante eine Karriere als Influencer und arbeitete gezielt darauf hin. Er fieberte dem Tag entgegen, an dem ihm das erste Mal irgendein bekanntes Streetwearlabel gratis Sneaker schicken würde mit der Bitte, sie in seinem nächsten Video zu tragen.
»Weiter?«, fragte Richard, der nach einer Weile keine Lust mehr hatte, wartend auf dem Weg herumzustehen.
Linus schien ihn nicht zu hören. Er scrollte nicht mehr, sondern schien nachzudenken. Sein Daumen verharrte ein paar Millimeter über dem Display.
»Hey, Lin!« Richard hob die Stimme. »Erde an Linus!«
»Drohne«, sagte Linus unvermittelt.
»Was, Drohne?«
Linus hob den Blick zu ihm. »Das wär was Neues. Und echt cool. Wir könnten uns aus der Luft filmen. Mit so Kamerafahrten, von aus der Ferne ganz nah hin, drüber und dann wieder weg. Und so weiter.«
Richard nickte. Er hatte ähnliche Videos schon auf anderen Kanälen gesehen und fand auch, dass das ziemlich cool aussah. »Die Schotterpiste runter, aber aus der Luft«, überlegte er. »Das geht bestimmt, die Bäume stehen da nicht so eng.«
»Ja, genau so was!« In Linus’ gelangweilte Körperhaltung kam Leben zurück. Sein Gesicht leuchtete auf, er gestikulierte und seine Beine zuckten, als würde er am liebsten losrennen. »Wir filmen aus der Luft und vom Boden aus. Dann haben wir die coolsten Sachen aus allen Blickwinkeln, mit Slo-Mo und Fast Forward. Ich kann das dann zusammenschneiden.« Er hielt inne, dachte nach und verzog frustriert das Gesicht. »Ach, Mann, wär das geil. Aber woher nehmen wir die Drohne dafür?«
Richard überlegte. »Max hat eine.«
Linus machte eine Geste, als würde er im Vorbeigehen Kaugummipapier in einen Mülleimer werfen. Und nicht treffen. »Vergiss die. Kinderkram. Kein 4K. Viel zu wenig FPS.« Er bemerkte Richards fragenden Blick und erklärte, großzügigerweise ohne einen herablassenden Kommentar: »Bildfrequenz. Wenn du was filmen willst, das sich schnell bewegt, brauchst du da einen hohen Wert.« Er setzte einen Gesichtsausdruck auf wie ein schmollendes Kleinkind.
Richard wusste nicht genau, was ihn dazu brachte, den Mund aufzumachen und die nächsten Worte zu sagen. Aber er hatte sich plötzlich an den Geburtstag seines Vaters erinnert, als der leidenschaftliche Hobbyfotograf begeistert einen Abschnitt nach dem anderen der zentimeterdicken Bedienungsanleitung vorgelesen hatte, die er kurz zuvor aus einem Karton gezogen hatte. Und jetzt konnte er sich plötzlich selbst hören, wie er sagte: »Mein Vater hat eine. Eine echt gute. 4K auf jeden Fall. Die kann ich morgen mitbringen.«
Schlagartig hatte Linus wieder gute Laune. »Mega! Dein Alter kennt sich halt aus.« Er klopfte Richard begeistert auf den Oberarm. »Das wird so cool! Wir filmen uns abwechselnd.«
Richard nickte und ignorierte das unbehagliche Gefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete. Er lauschte, wie Linus begeistert ihre nächsten Videodrehs plante. Richard brachte es nicht über sich, seinem Freund einen Dämpfer zu verpassen und einen Rückzieher machen. Denn es war keinesfalls sicher, dass sein Vater ihm gestatten würde, die Drohne unbeaufsichtigt zu benutzen. Nun musste er sich etwas einfallen lassen, wie er seinen Vater überreden konnte, ihm das teure Stück Hightech zu überlassen.
* * *
Das Wichtigste war, den richtigen Augenblick abzupassen. Das galt vermutlich für alle Eltern, dachte Richard, und für seine auf jeden Fall. Als Richard heimkam, warf er einen Blick in den Familienkalender auf seinem Tablet. Er sah sofort, dass er sich bis zum Abendessen würde gedulden müssen, bevor er seinen Vater auf die Drohne ansprechen konnte. Er legte das Tablet auf seinen Schreibtisch und ging ins Bad, um zu duschen, was nach dem Nachmittag auf dem Mountainbike zweifelsohne geboten war. Eine Weile stand er unter dem angenehm warmen Wasser und legte sich seinen Plan zurecht. Er entschied, das Thema Drohne erst anzubringen, wenn das Abendessen vorbei war. So hatte sein Vater Zeit, die Rolle des Anwalts und die Ereignisse des Arbeitstages hinter sich zu lassen.
Seine Mutter und sein Vater hatten herausfordernde Berufe, die den Großteil ihrer Zeit in Anspruch nahmen. Ihre Terminplaner waren immer bis zum Anschlag gefüllt. Aber beide trennten Arbeit und Privatleben strikt. Sie konzentrierten sich stets voll auf das, was gerade anstand. Auf Störungen reagierten sie äußerst ungnädig. Das galt für Richard, der in ein Kundentelefonat platzte, genauso wie für den Assistenten, der während eines Familienfests anrief.
Wenn seine Eltern sich Zeit für Richard nahmen, dann stand er im Mittelpunkt. Selbst wenn er angestrengt nachdachte: Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm geltende elterliche Aufmerksamkeit jemals von Ereignissen auf der Arbeit torpediert worden wäre.
Im Gegenteil: Oft dachte er, er stünde etwas zu sehr im Mittelpunkt. Mitunter wünschte er sich Geschwister, die seine Eltern von ihm und vor allem von seinen Misserfolgen abgelenkt hätten. Dann hätte er ab und zu in Ruhe sein Essen genießen können, während sich jemand anderes unter kritischen Blicken hätte rechtfertigen müssen: Weshalb nur eine Drei in Mathematik? Wieso beim Tennisturnier auch noch den zweiten Platz verfehlt? Warum die Abgabefrist für die Hausarbeit verpasst?
Richard fürchtete sich nicht vor wütenden Strafpredigten. Die gab es nie. Viel schwerer zu ertragen waren das leichte Stirnrunzeln seines Vaters und die hochgezogenen Augenbrauen seiner Mutter.
Allerdings – und diese Vorstellung tröstete Richard jedes Mal – war natürlich auch ein anderes Szenario möglich: Er hätte Geschwister haben können, die mehr von den genialen Genen seiner Eltern abbekommen hatten als er. Vor seinem inneren Auge sah er einen älteren Bruder in einem Laborkittel, in der Hand eine gerahmte Urkunde von »Jugend forscht«. Und eine jüngere Schwester im Outfit einer Turnierreiterin, eine seidene Siegerschleife an die Brust gepinnt. Seltsamerweise hatte sein imaginärer Bruder dieselbe Art, die Augenbrauen hochzuziehen wie ihre Mutter. Wohingegen seine Schwester die Stirn in Falten legte wie ihr Vater. In beiden Gesichtern stand eine Mischung aus Mitleid und Enttäuschung.
Richard schüttelte sich, um die furchterregenden Bilder loszuwerden. Sein Bedauern darüber, keine Geschwister zu haben, hielt sich durch seine Angst, welche zu haben, in engen Grenzen. Die Möglichkeit, vier wertende Augenpaare auf sich gerichtet zu sehen, ließ ihn wertschätzen, dass es nur zwei waren.
* * *
Kurz vor halb sieben verließ Richard sein Zimmer im ersten Stock. Im Vorbeigehen warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel und war ziemlich zufrieden mit dem, was er sah. Frisch gewaschen und luftgetrocknet sahen seine Haare immer ein bisschen nach Strand und Meer aus. Er trug sie vorne etwas länger. Ein paar Strähnen fielen ihm immer wieder in die Augen, so dass er sie lässig zurückstreichen konnte.
Im Esszimmer war Martina dabei, den Tisch zu decken. Die kleine, ruhige Frau arbeitete schon als Hauswirtschafterin für die Familie, solange Richard denken konnte. »Hallo, Martina«, sagte er und setzte sich auf seinen Platz an einer der Längsseiten des Tisches. »Was gibt’s heute?«
»Du hattest dir Wraps gewünscht«, erinnerte ihn Martina.
Richard ballte eine Faust. »Yes!«, stieß er hervor, und Martinas Lächeln wurde ein ganzes Stück breiter. Richard grinste zurück.
Martina verließ das Esszimmer und ging in die Küche. Richards Eltern traten ein. Beide hatten sich zum Essen umgezogen. Sein Vater trug Jeans und Strickpullover, seine Mutter ein schlichtes graues Kleid. Genau wie Gespräche über geschäftliche Belange war auch Geschäftskleidung beim Abendessen in der Familie nicht erwünscht. Aber Richard sah seine Eltern oft genug in ihren Uniformen, wie er es heimlich nannte. Sein Vater Richard senior war Partner in einer namhaften Kanzlei für Wirtschaftsstrafrecht. Seine Mutter Regina hatte Maschinenbau studiert und danach bei einem großen Werkzeugmaschinenhersteller gearbeitet. Später hatte sie einen metallverarbeitenden Betrieb gegründet, den sie als Geschäftsführerin leitete. In seiner Kindheit hatte Richard in der Maschinenhalle Verstecken gespielt. Seit er alt genug war, begleitete er seine Mutter auf die ein oder andere Fachmesse. Und er brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, wo er sein anstehendes Schülerpraktikum absolvieren würde.
Martina trug ein großes Tablett mit warmen Teigfladen und verschiedenen Schüsseln herein und baute alles auf dem Tisch auf.
»Da hab ich jetzt total Bock drauf«, verkündete Richard und grinste seine Mutter an, die aufgrund seiner Formulierung milde tadelnd den Kopf schüttelte.
Richards Vater lächelte die herrlich duftenden Hähnchenteile in Currysoße erwartungsvoll an und rieb sich die Hände. »Das unterschreib ich«, sagte er hungrig.
»Danke, Martina. Das sieht wunderbar aus. Einen schönen Abend«, sagte Richards Mutter freundlich, und Martina zog sich mit einem höflichen Kopfnicken zurück. Das war der Code dafür gewesen, dass sie nun nach Hause gehen konnte.
Kaum dass Martina aus dem Zimmer war, legte Richard den Finger an die Nase. Sein Vater bemerkte es und machte es ihm rasch nach.
Es dauerte eine Weile, bis seiner Mutter auffiel, dass sie erwartungsvoll angestarrt wurde. »Was habt ihr?«, fragte sie und ließ das Salatbesteck sinken, mit dem sie hantierte. Dann verstand sie und rollte mit den Augen, während Richard und sein Vater laut lachten. »Vergesst es. Den Abwasch machen wir gemeinsam.«
»Irgendwie gilt das Spiel nur, wenn sie nicht verliert«, flüsterte Richards Vater deutlich hörbar. Er lud sich Hähnchenstückchen auf seinen Teigfladen und bedeckte sie liebevoll mit Salatblättern.
Richards Mutter räusperte sich betont und verteilte Stückchen von Tomaten und Avocados auf ihrem Wrap. Dann sah sie Richard an. »Wie war dein Tag in der Schule heute, Richard?«
Richard war eigentlich der Meinung, dass Berichte über seinen Schultag genauso verboten sein müssten wie Gespräche über den Arbeitstag seiner Eltern. Aber er wusste, dass er mit diesem Argument nicht durchkommen würde. Und da heute ein ganz normaler Tag ohne besondere Vorkommnisse gewesen war, bereitete es ihm auch keine Bauchschmerzen, davon zu berichten. Außerdem: Er wollte etwas und brauchte seine Eltern bei bester Laune.
* * *
»Definitiv nicht.«
»Aber Papa ...«
»Nichts aber.« Richards Vater hielt in der Bewegung inne und sah ihn durchdringend an. Der Stapel akkurat gefalteter, weißer T-Shirts zwischen seinen Händen verharrte deshalb in der Luft über dem aufgeklappten Koffer. Sein Vater packte für eine Auslandsreise.
»Ich pass auch gut auf«, versuchte es Richard erneut. »Wenn du willst, flieg nur ich sie.«
»Darum geht’s nicht. Ich will auch nicht, dass du sie fliegst«, konterte sein Vater und ließ die T-Shirts behutsam von seiner Handfläche in den Koffer gleiten.
»Mann, warum denn nicht?«, hakte Richard nach. »Ich bin kein Kind mehr. Ich bin fünfzehn. Ich komm mit so einer Drohne klar. Und wir wollen ja auch keinen Quatsch damit machen. Wir wollen richtig coole Filme damit drehen. Linus meint, damit könnte sein Kanal so richtig durch die Decke gehen.« Im selben Moment wünschte er, die Worte, die aus seinem Mund geströmt waren, wieder einfangen und zurücknehmen zu können. Denn er wusste, dass dies für seinen Vater absolut kein Argument war.
»Ach, meint er das? Na dann soll er sich einfach auch das nötige Equipment zulegen«, sagte sein Vater prompt, zog seine Sockenschublade auf und begann, schwarze Sockenrollen abzuzählen. »Eins, zwei, drei ...«
»Ja, das stimmt, klar«, lenkte Richard ein, der wusste, dass er diesen Pfad sofort verlassen musste. »Ich fand die Idee halt auch super, und ich würde die Videos ja dann auch auf meinem Insta hochladen. Käm schon megacool. Deshalb hab ich das Linus angeboten. Und wenn ich jetzt zurückrudern muss, dann steh ich ziemlich doof da.« Das war es nämlich, was Richard wirklich wurmte. Dass er zu Linus gehen und ihm sagen musste, dass sein Vater ihm den Umgang mit dem Hightechgerät nicht zutraute. So in etwa wie damals, als er im Alter von zehn Jahren unter der Woche immer schon um achtzehn Uhr zum Abendessen hatte zuhause sein müssen und von seinen Freunden dafür belächelt worden war.
»Wie oft hast du so ein Ding gleich nochmal gesteuert?«, fragte sein Vater, ohne aufzusehen, während er eine Armladung von Socken in den Koffer regnen ließ.
»Ja okay, noch gar nicht«, gab Richard zu und merkte, wie sich Frust in ihm aufbaute. Darüber, dass sein Vater ihn hier auflaufen ließ. Ihn behandelte wie ein kleines Kind. »Aber wozu gibt’s die Bedienungsanleitung? Videotutorials? Ich krieg das schon hin. Ich will ja was Richtiges damit machen, was Ernsthaftes. Und nicht irgendeinen Blödsinn oder so.«
Sein Vater seufzte und sah ihn an. »Richard, es bleibt dabei. Deine Mutter hat mir die Drohne zum Geburtstag geschenkt. Und aufgrund der aktuellen Lage in der Kanzlei hab ich sie noch kein einziges Mal selbst fliegen lassen.« Er hielt inne, dachte nach und fügte versöhnlich grinsend hinzu: »Ich wollte sie ja am Geburtstag gleich starten lassen, aber deine Mutter hatte Angst um die guten Gläser.«
Richard war nicht danach, das Grinsen zu erwidern, obwohl er wusste, dass es das war, was sein Vater erwartete.
Als nach einigen Augenblicken sein Lächeln nicht erwidert wurde, setzte Richards Vater wieder eine geschäftsmäßige Miene auf. Er ging zum Kleiderschrank, um zwei Kleidersäcke herauszunehmen, die dort immer fertig vorbereitet hingen. »Ich will die Drohne selbst einweihen. Gern mit dir zusammen, wenn dir dann danach ist. Danach kannst du sie auch mal mitnehmen. Aber jetzt noch nicht.« Er schloss den Reißverschluss des Koffers. »Wollen wir raus aufs Feld mit dem Ding, wenn ich in einer Woche zurück bin?«
»Ja, klar«, antwortete Richard ohne große Begeisterung und zuckte mit den Schultern. »Ich lass dich dann mal packen. Wann geht’s los?«
»Morgen. Die Kanzlei schickt ganz früh einen Wagen. Keine Sorge, ich lass euch schlafen.« Er hob die Hand und bot sie Richard zum Einschlagen an. »Pass auf Mama auf. Hab eine gute Woche.«
Nach kurzem Zögern schlug Richard ein. »Du auch.« Das High Five ging fließend in einen kräftigen Handschlag über, wie sie es immer machten, seit Richard kein Grundschüler mehr war. Nach einer Sekunde setzte er hinzu: »Gute Reise. Und viel Erfolg in Brüssel.«
Mit der freien Hand verpasste ihm sein Vater einen Klaps auf die Schulter. Dann löste er sich und ging hinaus auf den Flur, vermutlich ins Büro, um seine Unterlagen zusammenzusuchen.
Richard blieb eine Weile reglos stehen. Durch seine Strümpfe spürte er den weichen, cremefarbenen Langflorteppich. Früher hatte er gern darauf gespielt, und der Teppich hatte bestimmt einige Dutzend Kleinteile von Playmobil verschluckt. Die Erinnerung fachte seine Frustration zu schwelender Wut an.
Er war kein Kind mehr. Aber irgendwie schienen seine Eltern das nicht sehen zu wollen. Erließen Vorschriften, ohne mit ihm zu reden. Nein, das stimmte so nicht: Sie redeten gefühlt die ganze Zeit mit ihm. Und über ihn. Über seine Schule. Seine Noten. Seinen Sport. Seine Freunde. Fragten ihn dies, fragten ihn das. Aber wenn es darum ging, wie er sich fühlte, hörten sie ihm nicht zu.
Beim Gedanken an seine Freunde mischte sich leichte Panik in seinen Ärger. Was hatte ihn nur geritten, Linus zu versprechen, er würde die Drohne am morgigen Nachmittag mitbringen? Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, dass das nichts werden würde. Und jetzt hatte er keine andere Wahl, als morgen an der Radstrecke aufzutauchen und zu sagen: »Sorry, mein Vater erlaubt es mir doch nicht.« Er konnte sich Linus’ Reaktion wunderbar vorstellen. Auch die restliche Clique würde sich gut auf seine Kosten amüsieren, sobald Linus herumgetratscht haben würde, wie sehr Richard unter der Fuchtel seiner Eltern stand, die glaubten, er sei nicht in der Lage, mit einem teuren Spielzeug umzugehen. Denn nichts anderes war diese Drohne, ein besseres ferngesteuertes Auto.
Richard hatte nicht die geringste Lust darauf, sich dieser Peinlichkeit auszusetzen. Er sah sich im Schlafzimmer seiner Eltern um, ließ den Blick langsam über die verspiegelte Front des riesigen Kleiderschranks, das breite Bett und den eleganten Kosmetiktisch gleiten. Doch er sah nichts davon wirklich. In ihm reifte der Entschluss, seinem Freund nichts dergleichen zu gestehen. Wieso auch? Sein Vater würde in wenigen Stunden aufbrechen und für eine Woche außer Landes sein. Und er, Richard, wusste ganz genau, wo sein Vater die Drohne aufbewahrte.
* * *
Konzentriert starrte Richard in den hellblauen Himmel, an dem ein paar wenige Wolken hingen, so leicht und flüchtig wie Nebelstreifen. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er die Bahn der Drohne. »So langsam krieg ich den Dreh raus«, murmelte er.
»Ja, Mann!«, pflichtete Linus bei, der hibbelig neben ihm auf und ab hüpfte und ebenfalls die über ihnen dahinziehende Drohne nicht aus den Augen ließ.
Generell fiel es Linus schwer, still zu stehen – oder still zu sitzen, wie jeder ihrer Lehrer bestätigen würde. Und Richard wusste, dass es seinen Freund in den Fingern juckte, selbst die Steuerung zu übernehmen.
Linus war beim Treffpunkt erschienen und hatte den klobigen, schwarzen Hartschalenkoffer auf Richards Gepäckträger sofort bemerkt. Der Glanz in seinen Augen war Richard nicht entgangen. Richard war extra mit seinem Trekkingrad gekommen statt mit dem Mountainbike, das keinen Gepäckträger montiert hatte. Und er hatte gleich klargestellt, dass sein Vater ihn hatte schwören lassen, dass nur er die Drohne bedienen würde. Dabei hatte sein Herz so laut geklopft, dass er sicher war, dass Linus es hören würde.
Denn die Wahrheit war natürlich, dass sein Vater nichts dergleichen verlangt hatte. Der saß inzwischen zusammen mit anderen Anzugträgern in Brüssel an irgendeinem Konferenztisch, auf dem mehrere Thermoskannen Kaffee standen. Die Drohne wähnte er sicher verstaut. Beim Frühstück hatte Richard das Drohnenthema seiner Mutter gegenüber nicht erwähnt. Und nach der Schule war wie immer nur Martina im Haus gewesen. Die hatte vermutlich überhaupt nicht mitbekommen, dass er ins Büro seines Vaters gegangen und mit dem Koffer wieder herausgekommen war.
Niemand würde es je erfahren. Und dank der Übung heute würde er sich sogar geschickt anstellen und vielleicht ein Lob kassieren, wenn er irgendwann die Drohne mit seinem Vater zusammen »einweihte«.
Dennoch lag ihm das Chili, das Martina für ihn zum Mittagessen gekocht hatte, wie ein Klumpen Lehm im Magen.
»Wie weit reicht die Verbindung eigentlich?«, wollte Linus wissen. Er sah abwechselnd auf die Fernsteuerung in Richards Händen und auf die Drohne am Himmel. »Geht sie durch Bäume durch? Häuser?«
»Keine Ahnung«, meinte Richard abwehrend. Er war sehr froh gewesen, dass es ihm gelungen war, sein Smartphone in die Fernsteuerung der Drohne einzuspannen und alles miteinander zu koppeln. So sahen sie jetzt live auf dem Display des Handys die laufende Aufnahme. Und dann hatte er es geschafft, die Drohne in die Luft zu bekommen. Er wollte sein Glück nicht überreizen. »Und ich will es heute auch nicht ausprobieren.«
»Wieso nicht?«, hakte Linus nach. »Ist doch ganz leicht.«
»Ja, genau, weil du das beurteilen kannst.« Richards Stimme klang ätzender, als er es beabsichtigt hatte. Doch Linus schien zu begeistert von ihrem neuen Spielzeug, um es zu bemerken. Richard hingegen hatte das Gefühl, als würde er gleich Krämpfe in allen zehn Fingern bekommen.
»Film uns nochmal mit einer von diesen Quick-Win-Funktionen.«
»Quick-Shot-Funktionen«, verbesserte Richard. »Ja, warte. Hier. Letztes Mal hatten wir die hier, Rocket.« Er schüttelte sich innerlich, als er sich daran erinnerte, wie die Drohne unvermittelt steil in die Höhe geschossen war, kaum dass er die Funktion aktiviert hatte. Autopilot sei Dank. Die Videoaufnahme von ihnen beiden, wie sie der Drohne hinterherstarrten und immer kleiner wurden, war spektakulär gewesen. Linus’ Gesicht hatte aufgeregt geleuchtet, und Richard kränklich-verstört ausgesehen. »Dann lass uns doch jetzt mal ... die hier nehmen. Spiral.«
»Klingt toll«, stimmte Linus zu und schlug erwartungsvoll die Handkante seiner rechten Hand in die Innenfläche seiner linken. »Leg los!«
Richard tippte die entsprechende Schaltfläche an. Nach einer leichten Verzögerung begann die Drohne, seitwärts kreisförmig um sie herumzufliegen. Dabei vergrößerte sie den Radius des Kreises laufend. Nach etwa einer halben Minute beendete sie das Manöver und schwebte wieder reglos in der Luft.
»Das sieht so cool aus!«, jubelte Linus, der den Blick nicht von dem in der Fernsteuerung eingeklickten Handydisplay gelassen hatte.
Linus war Feuer und Flamme, und Richard musste sich eingestehen, dass er gerade auch die ersten Anfänge von Euphorie verspürte. Der Spiralflug der Drohne hatte wirklich imponierende Bilder geliefert. Und das, obwohl sie nur in der Gegend herumgestanden hatten. »Ob sie das auch kann, wenn wir uns bewegen?«
»Mit Sicherheit«, behauptete Linus überzeugt. »Hier. Lass uns mal rennen und sie soll uns folgen. Du musst schauen, dass wir da im Fadenkreuz sind, wenn du sie losschickst.«
»Also ... los!« Erneut startete Richard den Spiralflug.
Den Blick auf das Handydisplay gerichtet rannte Richard neben Linus her. Es zeigte sich, dass die Drohne mit ihnen mithielt und sie umkreiste, während sie liefen. Sie kamen zum Stehen und grinsten sich an. So eingenommen war Richard von den Videobildern, die ihr Test geliefert hatte, dass ihm nicht auffiel, wie nahe sie dem Waldrand gekommen waren. Und er bemerkte auch nicht, dass eine kleine LED auf der Fernsteuerung zu leuchten begann.
»Und jetzt stell dir das mit einem von uns auf dem Mountainbike vor«, träumte Linus und fügte mit einem Anflug von Gehässigkeit hinzu: »Und das werde ich sein, denn du musst ja leider den Kameramann machen.«
»Schon okay. Ich hab es meinem Vater ja versprochen«, erwiderte Richard und spürte das leichte Zwicken seines schlechten Gewissens durch seine Begeisterung. »Jetzt flieg ich sie wieder manuell. Da über die Bäume. Ob wir die Schotterpiste finden? Die muss doch in der Richtung sein.«
Richard steuerte, und sie starrten konzentriert auf das Display. Aber sie sahen statt einer grauen Schneise durch das Grün, welche die Piste sein müsste, nur die Wipfel von Laubbäumen sowie ab und an die Krone eines Nadelbaums. Ein endloses Gewirr aus Zweigen und Ästen.
Zweige und Äste, die näherkamen.
Linus merkte es als Erster, zog aber die falsche Schlussfolgerung. »Du musst höher, nicht niedriger«, sagte er beiläufig, ohne den Blick vom Display zu nehmen. »Dann sehen wir mehr.«
»Ich mach doch gar nichts«, antwortete Richard erstaunt. Jetzt sah er es auch. Die Drohne verlor stetig an Höhe. »Sag mal ... Geht die runter?« Er hob den Blick. Die Drohne war über den Baumwipfeln nicht mehr zu sehen. Ihm wurde kalt. Sofort versuchte er, gegenzusteuern und die Drohne dazu zu bringen, zu steigen. Aber sie reagierte nicht.
Linus hatte ebenfalls den Himmel abgesucht und sah jetzt wieder auf die Fernbedienung. Er deutete auf die leuchtende LED. »Ist das der Akku?«
Richards Herz setzte aus. »O mein Gott. Der Akku ist leer.« Er sah zu den Bäumen hinüber und suchte mit wildem Blick die Wipfel ab, obwohl er wusste, dass das nicht helfen würde. »Die geht da irgendwo runter!«
Richards Bestürzung irritierte Linus, und er hob beschwichtigend die Hände. »Ganz ruhig, ganz ruhig! Der passiert nichts. Vorhin haben wir doch genau dafür in den Einstellungen den Autopilot angemacht!«
Eine Sekunde lang spürte Richard Erleichterung. Und Dankbarkeit, dass ihn Linus daran erinnerte. In der Tat hatte das System der Drohne sie beim ersten Hochfahren ermahnt, den Ladestand des Akkus im Auge zu behalten. Und außerdem gefragt, was die Drohne tun sollte, falls sie bei zu niedrigem Akku noch in der Luft war. Und er hatte – und in der Sekunde dieser Erkenntnis wurde jeder Funken Erleichterung von einer schwarzen Woge aus Scham und Schuld hinweggespült – die Option »an Ort und Stelle landen« angeklickt.
Richard stand da wie vom Donner gerührt. »An Ort und Stelle landen«. Er war davon ausgegangen, dass damit die Stelle gemeint gewesen war, an der sie sich in diesem Moment befunden hatten. Dass die Drohne sich diese Stelle über ihr GPS-System merken würde. Jetzt wurde ihm sein Irrtum klar. Und er erinnerte sich an die zweite Option, die »zum Ausgangspunkt zurückkehren« geheißen hatte. Und die er ignoriert hatte, weil er die Einrichtung des Geräts schnell hatten abschließen wollen.
»O mein Gott«, wiederholte er und spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. Ihm wurde schlecht, als er den Videofeed der Drohne beobachtete, die zwischen die Baumwipfel tauchte. Das Bild schwankte, als die ersten Zweige die Drohne streiften und ins Torkeln brachten. Dann wurden aus Zweigen richtige Äste, von denen die Drohne abprallte und sich überschlug – das Videobild war eine zuckende, verschwommene Mischung aus Grün und Braun. Dann wurde das Display schwarz.
* * *
Die Schatten zwischen den Bäumen wurden dunkler. Ohne die warmen Strahlen der Sonne war es kühl im Wald, ja beinahe kalt. Immer wieder raschelte es im Unterholz oder in den Baumkronen, wenn der Wind oder kleine Tiere unsichtbar durch sie hindurch huschten. Der Tag war vorbei, die Nacht brach an.
Was Richard inzwischen empfand, war genauso düster wie seine Umgebung. Er fluchte und zeterte nicht mehr, sondern durchkämmte verbissen einen Busch nach dem anderen. Bog die rauen Äste von Sträuchern beiseite. Kletterte über Wurzelballen. Durchwühlte das Laub am Boden von Senken. Seine Finger waren schwarz vor Dreck, seine Hände und Arme überzogen von Kratzern. Anfangs war er vor jeder Brombeerranke zurückgeschreckt.