Die Fürstin der Raben - Hannes Wirlinger - E-Book

Die Fürstin der Raben E-Book

Hannes Wirlinger

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Beschreibung

Margarete (17) und Josua (16) leben auf einem entlegenen Hof. Die Geschwister verbindet eine innige Beziehung und die Liebe zum Wald. Margarete ist hochsensibel – Lärm versetzt sie in Panik; Menschen sieht sie in Farben, ihre Umgebung in Zahlen. Akribisch dokumentiert sie ihr Leben in Tagebüchern. In der Schule wird sie gemobbt, und Josua hat immer das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Eines Tages trifft er im Wald auf die geheimnisvolle Sarah und ihre zwei Raben, und die Geschwister freunden sich mit ihr an. Doch während Margarete spürt, dass mit Sarah etwas nicht stimmt, keimt zwischen Josua und Sarah eine zarte Liebe. Als Sarah das Dorf verlässt, um einen Auftrag zu erfüllen, erscheinen um den Hof unzählige Raben. Nach Sarahs Rückkehr verbringen die beiden Mädchen eine Nacht im Wald – am nächsten Morgen macht Josua eine unglaubliche Entdeckung …

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Seitenzahl: 207

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Es gibt Wunden im Leben, die kann die Zeit nur lindern, aber niemals heilen.

Hannes Wirlinger, geboren 1970 in der Stahlstadt Linz, hatte eine behütete Kindheit in Niederösterreich. Danach Studium der Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft in Wien. Die Liebe zu Büchern und zu Geschichten begleitet ihn seit der Kindheit. Als Schüler dann erste Schreibversuche. Auslöser war das Erwachen der Liebe, was sonst? Kurzgeschichten, Gedichte, längere Texte entstehen. Später Besuch der Drehbuchschule Wien. Auseinandersetzung mit Struktur, Plots und Charakterentwicklung. Erste Erfolge und Honorare. Seit 2003 freier Drehbuchautor und Schriftsteller in Wien. Autor von zahlreichen Fernsehkrimis für die Serie SOKO Kitzbühel. In letzter Zeit widmet er sich Kinder- und Jugendbuchtexten. Für seinen ersten Jugendroman Der Vogelschorsch erhielt er 2020 den Österreichischen Jugendbuchpreis.

Hannes Wirlinger

Die Fürstin der Raben

Bilder vonUlrike Möltgen

Inhalt

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Danksagung

Sie kam mit den Raben. Es war das Jahr, in dem die Bäume starben und meine Schwester Margarete durchsichtiger wurde. Borkenkäfer haben die hoch emporragenden Fichten befallen und ihre Stämme von innen ausgehöhlt. Wo früher der Fichtenwald stand, lag nun Brachland. Die beiden Raben flogen vor ihr her und landeten auf dem obersten der gestapelten Baumstämme. Kehlig krächzten sie, während sich das Mädchen über das trostlose Land auf das Waldstück zubewegte, dessen Bäume die Käfer verschont hatten. Ich kannte sie nicht, und sie sah mich nicht, da ich mich hinter einem Baumstamm versteckte. Wie zwei Späher kamen mir die Raben vor, die nur den Anfang machten. Ich sollte recht behalten. Im Laufe des Jahres sollten noch viel mehr Raben kommen: Hunderte, Tausende in krächzenden Schwärmen. So viele wie noch nie zuvor und auch nie wieder danach.

Das Mädchen hatte ein schmales Gesicht und graue stechende Augen. Es waren Augen, denen man nicht mehr viel vormachen konnte. Wenn sie aber lächelte, strahlten sie eine zaghafte Wärme aus, die einen sofort einnahm. Ihr Kinn war spitz, ihre Stirn glatt und ihre Hände waren mit Raben-Tattoos überzogen. Von ihrem rechten Nasenflügel glitzerte mir ein Piercing entgegen. Sie war noch nicht alt, sechzehn vielleicht. Ihre Gestalt schien zierlich, fast zerbrechlich. Dennoch wirkte sie zäh und unbeugsam. Ihr schwarzer Mantel war ihr viel zu groß, als ob er früher jemand anderem gehört hatte. Die schwarze Kapuze hatte sie tief in die Stirn gezogen, deshalb konnte ich nicht herausfinden, welche Haarfarbe sie besaß. Ich ging von schwarzem Haar aus, so wie das Federkleid ihrer beiden Begleiter. Das Mädchen trug schwere Lederschuhe und marschierte entschlossen auf das Brachland zu. Über ihrer Schulter hing ein schwarzer Seesack. Wohin wollte sie? Kannte sie die Gegend?

Ich hatte keine Antworten darauf. Es war der Tag, an dem mir im Supermarkt an der Wand ein Aushang aufgefallen war. Suche eine Freundin. Zum Reden und für gemeinsame Unternehmungen, stand da auf einem Zettel mit Füllfeder hingekritzelt; keine Unterschrift, aber in klaren Zahlen eine Handynummer. Wie vom Blitz getroffen starrte ich auf die Ziffern. Das konnte doch nicht … Wieder und wieder las ich verwirrt den kurzen Text und die Nummer. Plötzlich ergriff mich eine tiefe Traurigkeit. Es gab keinen Zweifel. Auf dem Zettel stand eindeutig die Handynummer meiner Schwester Margarete.

Die Abendsonne duckte sich schwerfällig hinter dem Hügel. Die beiden Raben stießen sich ab, schwangen ihre Flügel und verschwanden im Wald. Mit flinken Schritten folgte ihnen das Mädchen. Bald konnte ich die Raben nicht mehr sehen, aber ich hörte ihre unterschiedlichen Stimmen. Einer krächzte tiefer als der andere.

Hinter einem Feuchtgebiet, das von einer verborgenen Quelle gespeist wurde, reihten sich dünne astlose Stämme aneinander. Merkwürdig verkrüppelt waren sie und im Morgennebel erinnerten sie an lange Arme, die verlorene Seelen in den Himmel streckten, um Gnade zu finden. Die Einheimischen mieden dieses Waldstück, da sie sich gruselten. Es gehörte in der Grundschule zu unseren Mutproben, diesen Teil des Waldes im Nebel alleine zu durchschreiten. Zwar hatte ich sie bestanden, aber noch heute befiel mich an diesem Ort ein beklemmendes Gefühl. Glücklicherweise war kein Nebel weit und breit zu sehen und die Dämmerung noch nicht über mich hereingebrochen. Dennoch wurde mein Herzschlag schneller, und mein Körper spannte sich an, als ich die ersten astlosen Bäume hinter mir ließ. Schlagartig verstummte das Vogelgezwitscher, und kein anderer Laut war zu hören. Starr blickte ich vor mich hin, wich den dunklen Armen aus und war erleichtert, nachdem ich diesen Ort hinter mir lassen konnte.

Wenige Minuten später erreichte ich eine Lichtung, auf der ein heruntergekommenes Haus stand. Das Dach wirkte gebückt, als müsste es eine schwere Last tragen. Seine Wände waren weiß. Zwei Fenster an der Front, eine Scheibe war eingeschlagen. Auf der linken Seite schloss eine windschiefe Scheune an das Haus an, deren Holzbretter an manchen Stellen eingetreten waren. Unmittelbar davor befand sich ein Brunnen, dessen verrostete Pumpe stumpf in die Höhe ragte. Neben der Eingangstür stand eine Holzbank. Die linke Hauswand war mit Graffiti beschmiert. Man konnte sofort erkennen, dass da kein Könner am Werk gewesen war. Zielstrebig stapfte das fremde Mädchen darauf zu. Die beiden Raben hatten sich längst auf dem gebogenen Dachfirst des Hauses niedergelassen. Ich kannte das verlassene Haus, wusste aber nicht, warum es der Besitzer verfallen ließ. Mit einem Fußtritt stieß das Mädchen die Tür auf und spähte in den Raum. Gleich darauf verschwand sie im Haus. Weshalb war das Mädchen mit den beiden Raben ausgerechnet hierhergekommen?

Einige Minuten später kam das Mädchen zurück, nahm ihren Seesack vom Rücken und setzte sich auf die Lehne der Bank. Aufgeregt kreischend drehten die beiden Raben über dem Haus ein paar Runden. Unvermittelt blickte das Mädchen in meine Richtung. Ich hielt den Atem an, aber das Mädchen kramte gelassen in ihrem Seesack. Beruhigt atmete ich aus, doch auf einmal traute ich meinen Augen nicht. Mit einem Messer in der Hand sprang das Mädchen von der Bank auf und lief mit grimmigem Gesichtsausdruck auf mich zu. In Panik rannte ich davon. Über mir hörte ich das drohende Schreien der beiden Vögel. Erst nachdem ich die verkrüppelten Bäume passiert hatte, blickte ich mich um, doch das Mädchen und ihre Raben waren mir nicht gefolgt.

Als ich geboren wurde, war meine Schwester Margarete längst auf der Welt. So wie meine Eltern und meine Großeltern kannte ich sie also schon mein ganzes Leben lang. Im Gegensatz zu mir war sie ein Wunschkind, nicht einfach passiert. Wenn jemand nach einem guten Menschen fragte, kam mir sofort meine Schwester in den Sinn. Absichtlich tat sie niemanden Unrecht oder machte sich über Schwächere lustig. Sie besaß das schönste Lachen der Welt. Noch heute höre ich es manchmal, wenn es ganz still ist und ich auf der Wiese zwischen den Mondblumen verharre.

Meine Schwester war mir immer einen Schritt voraus und doch stand sie immer hinter mir. Dass sie eine Freundin suchte, hatte ich zwar geahnt, wollte ich aber nicht wahrhaben. Umso beunruhigter war ich nun. Natürlich wusste ich, dass im Dorf hinter Margaretes Rücken getuschelt und sie in der Schule gemobbt worden war.

Es war neun Uhr, als ich zum Teich aufbrach. Ich ging bis zum Ende des Stegs, setzte mich hin und ließ meine Füße baumeln. Kein Lüftchen wehte, selbst die Blätter waren verstummt. Ich atmete hörbar aus, dachte an die Fremde mit den zwei Raben … Keine zehn Minuten später hetzte ich an den astlosen Bäumen vorbei, versteckte mich hinter einem dicken Baumstamm und spähte zur Lichtung. Das heruntergekommene Haus stand wie sonst da, aber das Mädchen mit ihren beiden Raben war verschwunden. War sie weitergezogen?

Meine Blicke suchten die nähere Umgebung ab. Jäh hörte ich das Krah-krah der beiden Raben in der Ferne. Gleich darauf sah ich sie über den Bäumen segeln und im Wipfel einer hohen Tanne hinter dem Haus landen.

„Da ist er ja wieder, der Feigling!“, ließ mich eine Stimme zusammenzucken. Geschwind wandte ich mich um und blickte völlig überrumpelt in die grauen Augen des Mädchens. Wieso hatte ich ihre Schritte nicht gehört?

Lässig lehnte sie an einem Baum und spielte mit ihrem Messer. Die spitze Klinge glänzte gefährlich im Vormittagslicht. Ich hatte recht gehabt, ihr Haar war schwarz.

„W… wer bist du?“, stammelte ich und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Falsche Frage. Wer bist du? Und wieso schleichst du dich wie ein Dieb an mich heran?“ Sie stach nun mit der Messerspitze sanft in ihren Handballen.

„Josua. Ich wollte nur wissen, was du im Wald suchst“, gab ich offen zu.

„Jetzt weißt du es. Ich erschrecke Feiglinge. Und du kannst wieder beruhigt nach Hause gehen.“

Das Mädchen klappte ihr Taschenmesser zusammen, ließ es in ihrer Hosentasche verschwinden und setzte sich, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, in Bewegung. Wie erstarrt stand ich da und beobachtete, wie sie die Lichtung erreichte und auf der Lehne der Bank Platz nahm. Langsam trat ich hinter dem Stamm hervor und spazierte auf sie zu. Das Mädchen hob nur kurz den Kopf. Einige Meter vor dem Haus blieb ich stehen.

„Hast du die beiden Raben aufgezogen? Oder wieso folgen sie dir?“, fragte ich.

„Du irrst dich. Ich folge ihnen“, entgegnete das Mädchen. Ich wollte näher auf sie zu gehen, aber sie wies mich mit der flachen Hand an, Abstand zu halten.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Sarah“, sagte sie und schwieg.

Unsere Blicke wichen sich aus. Sarah bot mir keinen Platz an oder machte sonst eine einladende Geste. Irgendwie kam ich mir ganz schön belämmert vor.

„Ich habe dich bisher noch nie im Dorf gesehen.“

„Ich bin nur auf der Durchreise.“

„Wohin?“

„Du stellst viele Fragen.“

Wieder schwiegen wir. Demonstrativ nahm Sarah ihr Handy in die Hand und wischte darauf herum, als ob sie etwas sehr, sehr Wichtiges zu tun hätte.

„Bist du morgen auch noch da?“

Sie hob den Blick und sah mich spöttisch an.

„Das musst du schon selbst herausfinden.“

Ich nickte ihr zu und räumte das Feld, obwohl ich noch tausend Fragen an sie hatte.

Am nächsten Tag in der Früh saß ich auf der Bank, als Sarah in Shorts und im schwarzen T-Shirt die Haustür öffnete und barfuß ins nasse Gras trat. Zwar wollte sie ihre Überraschung vor mir verbergen, aber ich konnte deutlich erkennen, wie sie zusammenzuckte.

„Guten Morgen, Sarah!“, grinste ich sie an.

„Hast du hier geschlafen? Oder stehst du immer so früh auf?“

Ihre Stimme sollte teilnahmslos klingen, doch ich konnte ein leichtes Zittern in ihrem Klang ausmachen.

„Ich wollte sichergehen, dich noch einmal zu treffen“, entgegnete ich und erhielt dafür von ihr ein flüchtiges Lächeln. Sarah ging ein paar Schritte, streckte die Hände in die Luft und atmete tief aus. Erst jetzt sah ich die beiden Raben auf einem Ast in einiger Entfernung. Aus meinem Rucksack zog ich drei Scheiben Brot und zwei Äpfel, die ich von zu Hause mitgenommen hatte.

„Du hast doch sicher Hunger?“

Als sie mich ein paar Sekunden musterte, spürte ich ein Kribbeln in meinem Bauch.

„Ich habe schon gefrühstückt. Es ist alles für dich.“

Sarah nahm am anderen Ende der Bank Platz. Ich schob ihr eine Brotscheibe hin.

„Danke schön.“

Sie griff danach, biss ein großes Stück ab. Plötzlich schwangen die Raben ihre Flügel und flogen über die Baumwipfel hinweg. Schweigend blickten Sarah und ich ihnen nach, bis sie am Horizont verschwanden.

„Ich habe sie als Jungvögel gefunden und großgezogen.“

„Dann bist du also eine Rabenmutter.“

Sarah grinste.

„Danke für die Blumen. Raben sind sehr fürsorglich zu ihrer Brut! Aber das weißt du sicherlich.“

„Wie heißen sie?“

„Ansgard und Amatus.“

Als hätten die beiden Vögel ihre Namen gehört, tauchten sie unvermittelt auf der anderen Seite der Lichtung über den Bäumen auf und landeten ein paar Meter entfernt vor uns auf der Wiese. Sarah brach zwei kleine Stücke vom Brot ab, stand auf, ging auf die beiden Raben zu. Langsam sank sie in die Hocke, streckte den Arm aus und hielt zwischen Zeigefinger und Daumen ein Brotstück.

„Das ist für dich, Ansgard.“

Einer der Raben trippelte auf sie zu, schnappte mit dem Schnabel nach dem Stück und stelzte davon.

„Amatus!“

Wieder streckte Sarah ihre Hand aus. Der andere Vogel holte sich sein Fressen und gesellte sich zu seinem gefiederten Freund. Lächelnd erhob sich Sarah.

„Die Raben haben dich also hierhergeführt.“

Sarah nickte. Ansgard und Amatus hoben ihre Köpfe, als schienen sie unser Gespräch zu verstehen.

„Und du folgst ihnen einfach?“

Ruhig erwiderte Sarah meinen Blick und schwieg. Was hatte ich anderes erwartet? Wir kannten uns kaum. Ich stand auch auf, machte einen Schritt auf sie zu.

„Und wo sind deine Eltern? Bist du von zu Hause abgehauen?“

Sarah hob nur eine Augenbraue, schritt barfuß im feuchten Gras ein paar Meter, blickte nachdenklich in den wolkenlosen Himmel. Ratlos blieb ich stehen. Plötzlich drehte sie sich wieder zu mir um.

„Du bist doch von hier. Dann kannst du mir ja die Gegend zeigen.“

„Hier gibt es aber nicht besonders viel.“

„Egal. Zeig’s mir!“

Der alte Friedhof lag auf einem Hügel über dem Dorf. Schwarze Eisenkreuze ragten wie einsame Wanderer aus dem Nebel, der sich schüchtern über den späten Nachmittag legte. Im Hintergrund konnten wir schemenhaft den Schatten der Friedhofskapelle mit dem Turm, dessen Kreuz in den Himmel stach, erkennen. Daneben erhoben sich zwei Nussbäume und schräg dahinter eine Schar Birken. Wir mussten uns wegen des dichter werdenden Nebels beeilen. Sarahs Gesichtsausdruck war alles andere als erfreut, als ich das schwere gusseiserne Tor öffnete. Sie zögerte.

„Hierher führst du mich?“

„Ich dachte, du magst Friedhöfe?“

„Nur weil ich Raben aufgezogen habe?“

Unverwandt sah sie mir in die Augen, und der Vorwurf, der in ihnen lag, war nicht zu übersehen.

„Er ist längst aufgelassen. Nur wenige Menschen kommen noch hierher. Los, komm, ich möchte dir etwas zeigen.“

Ich lief an den gusseisernen Kreuzen der Gräber vorbei auf die Kapelle zu, bückte mich hinunter zur Laterne des Grabes, das neben der Seitentür lag, und fingerte nach einem Schlüssel. Erst als ich das kalte Metall in meiner Hand spürte, drehte ich mich um. Überrascht stellte ich fest, dass Sarah den Friedhof nicht betreten hatte. Sie stand auf der anderen Seite des gusseisernen Tores und beobachtete mich. Aus der Ferne drang das Krächzen von Ansgard und Amatus herüber. Ich hob den Kopf und entdeckte die schwarzen Vögel im Grau über mir, wie sie weite Kreise über den Friedhof zogen.

„Was hast du, Sarah? Komm!“, rief ich, aber Sarah reagierte nicht. Seufzend legte ich den Schlüssel wieder in die Laterne zurück und eilte auf Sarah zu.

„Ist dir der Ort unheimlich?“

Sie hob nur das Kinn und musterte mich. Hatte sie ihre Kapuze tiefer in die Stirn gezogen? Die Raben schrien am Himmel.

„Über eine Leiter kann man zu einem schmalen Fenster im Turm hinaufklettern. Der Ausblick dort ist einzigartig“, erklärte ich.

„Im Nebel?“

„Wenn du gleich mitgekommen wärst, hätten wir noch …“, ich stockte, „dann eben nicht.“

Ich knallte das Friedhofstor hinter mir zu und ließ Sarah einfach stehen. Gereizt stieg ich den schmalen Pfad hinunter zum riesigen Waldstück, das an das Dorf grenzte. Von mir aus konnte Sarah vorm Friedhof Wurzeln schlagen. Schließlich war sie es, die wollte, dass ich ihr das Dorf zeige. Eine schwachsinnige Idee, wie ich von Anfang an fand. Der Nebel war dichter geworden. Ich konnte nur mehr wenige Meter sehen.

„Josua? Warte!“, hörte ich Sarah rufen.

Schließlich verlangsamte ich den Schritt und blieb stehen. Wie ein dunkler Schatten trat sie aus dem Nebel plötzlich auf mich zu, lächelte mich verlegen an.

„Ich gehe nicht gerne auf Friedhöfe. Aber das kannst du natürlich nicht wissen.“

Wir musterten uns.

„Den Nebel mag ich. Darin kann man sich verstecken oder man verliert Dinge und Menschen. Andere tauchen überraschend wieder auf.“

„Wie sieht es mit Wasser aus? Teiche?“, wollte ich wissen.

„Je tiefer und dunkler, desto besser.“

Als ich meine Schwester zum ersten Mal mit ihrem Freund sah, überkam mich eine merkwürdige Anspannung. Nicht weil sie einen Freund hatte, sondern weil ich ihm schon vor Jahren einmal begegnet war. In der Schule hatten wir Fußball gespielt. Dabei rollte unser Ball auf den Gehsteig, als eben dieser Typ vorbeischlenderte. Mit einem hinterlistigen Lächeln bückte er sich, griff nach dem Ball, drehte sich von uns weg und schoss das Leder in hohem Bogen in ein Maisfeld weit entfernt von uns. Anschließend ging er blöde grinsend weiter. Um den Ball zu finden, brauchten wir über zwei Stunden. Sein Gesicht hatte sich in meine Erinnerung eingebrannt. Beim ersten Besuch bei uns zu Hause schenkte Margaretes Freund mir Schokolade und schöne Worte. Ich begegnete ihm freundlich, tat unser erstes Zusammentreffen als einmaligen Fehltritt ab, da er meine Schwester vor meinen Eltern und mir liebevoll behandelte. Gleichzeitig nistete sich in meinem Hinterstübchen ein Quäntchen Zweifel ein, das schon nach wenigen Wochen zu einem Gebirge der Gewissheit wuchs. Da ich dem Freund meiner Schwester mit einem anderen Mädchen Hand in Hand auf einem Waldweg begegnete. Als ich das meiner Schwester erzählen wollte, traf ich sie traurig in ihrem Zimmer an. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie ihm Geld geborgt hatte. Meine Schwester versuchte aber nicht, es zurückzufordern, sondern wich ihm aus. Auch ich suchte seine Nähe nicht, dafür aber die seines Motorrads. Wann immer ich das Motorrad irgendwo geparkt sah, nahm ich mein Taschenmesser zur Hand und schlitzte die Reifen auf. Aber das blieb mein Geheimnis. Noch heute durchfließt ein süßes Gefühl der Genugtuung meinen Körper, wenn ich daran denke.

Als ich vom Friedhof nach Hause kam, war Margarete nicht da, deshalb ging ich wieder und folgte dem ausgetretenen Wiesenweg durch das kleine Fichtenwäldchen zu der Lichtung mit den blühenden Buschwindröschen. Wie ein bunter Farbfleck stand Margarete mitten in dem weißen Blütenmeer und starrte in den wolkenlosen Himmel.

„Josua! Wenn ich hierherkomme, möchte ich allein sein.“

Hatte sie meine Schritte im Gras gehört? Sie blickte mich an.

„Das weißt du doch.“

„Ja“, antwortete ich ruhig. Ich stand mehr als fünf Minuten schweigend neben ihr.

„Margarete?“

Meine Schwester drehte ihren Kopf zu mir und sah mich fragend an.

„Bist du einsam?“

„Wie kommst du denn darauf?“

Ich zuckte nur mit den Achseln. Mit einem warmen Lächeln betrachtete Margarete die Wiese.

„Wie soll ich hier einsam sein? Bei so viel weißer Pracht. 5278 Blüten leisten mir Gesellschaft“, erklärte sie mir. Ich wusste, dass die Zahl stimmte und meine Schwester jede einzelne Blume gezählt hatte. Diese Eigenheit von ihr war ein Grund dafür, dass sie in der Schule gemobbt und dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Sie liebte es, Dinge zu zählen und Listen zu erstellen. Sie schrieb jeden Tag jedes für sie bedeutende Ereignis in bunte Tagebücher. Sie lächelte zwar, als sie mir die Blütenzahl nannte, aber in ihren Augen lag eine untrügliche Traurigkeit. Geflissentlich übersah ich sie.

„Wie viele Rehe sind über die Wiese gelaufen?“

„Zwei.“

„Und welche Vögel sind über dich hinweg geflogen?“

„Ein Rabe, drei Tauben, ein Specht und zwei Kohlmeisen.“

Beeindruckt betrachtete ich sie von der Seite. Margarete war für mich die wandelnde Tageschronik. Ich hingegen machte mir kaum Notizen. Mit siebzehn Jahren hatte Margarete schon 281 vollgeschriebene Tagebücher in ihrem Schrank.

In der Nacht wachte ich auf, weil ich einen lauten Seufzer gehört hatte. Mein Handy zeigte 3:33 Uhr an. Merkwürdig. Ich lauschte, aber es blieb still. Hatte ich nur geträumt?

Unsere Eltern schliefen im ersten Stock. Neben meinem Zimmer befand sich das meiner Schwester. Am Ende des Flurs wohnte mein Großvater. Er konnte von seinem Zimmer über eine Tür in den Garten hinausgehen. Etwa vierzig Meter vom Haus entfernt stand ein Schuppen, dort war seine Werkstatt. In dem Schuppen verkroch er sich gerne und restaurierte alte Möbel.

Ich drehte mich auf die andere Seite, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Da hörte ich plötzlich ganz deutlich ein Geräusch von draußen. Auf einmal war mein Körper angespannt, ich starrte zum gekippten Fenster. Schlich jemand um unseren Hof? Normalerweise verirrten sich nicht viele Menschen zu uns, da unser Hof mehrere Kilometer abseits vom Dorf lag. Der mächtige Wald umschloss die Wiese, auf der er stand, von drei Seiten. Gewarnt richtete ich mich auf, stieg aus dem Bett, huschte zum Fenster. Vorsichtig spähte ich hinaus auf die Wiese, die wie ein grauer fransiger Teppich vor mir im Mondlicht lag. Unnahbar ragten dahinter die dunklen Bäume in die Höhe. Ich ließ meinen Blick über die Wiese schweifen, wollte mich schon abwenden, da sah ich eine dunkle Gestalt am Wiesenrand. Regungslos stand sie da, stierte zu unserem Haus herüber. Im Mondlicht erkannte ich sie sofort. Da ich es nicht glauben wollte, rieb ich mir die Augen. Es nützte nichts, Sarah stand immer noch dort. War sie mir gefolgt oder woher wusste sie, wo ich wohnte? Und warum war sie mir überhaupt gefolgt? Krampfhaft überlegte ich, was ich tun sollte. So leise wie möglich zog ich mich an, warf einen Blick zu Sarah, öffnete mein Fenster, kletterte auf das Fensterbrett und sprang auf die Wiese. Da mein Zimmer ebenerdig lag, war es keine große Kunst. Es roch nach Gras, die Luft war kühl. Als ich neuerlich in Sarahs Richtung schaute, war die Stelle plötzlich leer. Zum Glück beleuchtete das Mondlicht die Wiese. Ab der Mitte lief ich so schnell ich konnte auf die Stelle zu, an der ich Sarah gesehen hatte, blickte mich um, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Hatte sie mich entdeckt und war weggelaufen?

Regungslos blieb ich an der Stelle stehen, lauschte, aber ich konnte weder Sarahs Schritte noch den Ruf ihrer Raben hören. War sie ohne ihre Vögel gekommen? Spionierte sie mir nach oder was suchte sie hier bei uns?

In der Ferne hörte ich einen Waldkauz rufen. Ob er Sarah auch gesehen hatte?

In einiger Entfernung knackte ein Ast. Vielleicht beobachtete sie mich im Schutz des Waldes? Wachsam strichen meine Blicke durch die Dunkelheit. Darin würde ich sie keinesfalls entdecken. Ich beschloss, wieder nach Hause zu gehen.

„Wo warst du, Josua?“, fragte mich meine Schwester jäh aus der Finsternis heraus, als ich auf das Fensterbrett stieg. Erschrocken fuhr ich auf. Margarete stand im Pyjama in der Ecke. Ihre braunen Locken ragten wirr nach allen Seiten.

„Ich habe geglaubt, da ist jemand. Aber da war niemand“, log ich, weil ich ohne lange Erklärungen wieder in mein Bett wollte.

„Doch, da hat jemand auf der Wiese gestanden“, überraschte mich meine Schwester ein zweites Mal. „Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren.“

Ich schwieg.

„Sie führt gewiss nichts Böses im Schilde“, fand Margarete. Ich drehte meine Nachttischlampe an. Das abrupte Licht stach in meine Augen. Margarete strich mir sanft über den Arm, blickte mich eindringlich an.

„Ich kenne sie. Sie ist mir im Traum schon ein paar Mal erschienen.“

Ungläubig starrte ich meine Schwester an. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster, während ich schwieg. Dabei presste sie die Lippen ganz fest aufeinander. Seit ich geboren war, hatte sich mir die Gedankenwelt meiner Schwester nie erschlossen. Manchmal ahnte ich, wie es in ihr aussah, um schon im nächsten Moment wieder nur Bahnhof zu verstehen. Es spielte für mich keine Rolle. Sie war meine Schwester, und ich liebte sie.

„Ich gehe wieder ins Bett. Gute Nacht, Josua!“, sagte sie lächelnd.

„Schlaf gut, Margarete!“

Gleich darauf war meine Schwester aus meinem Zimmer verschwunden. Wieso war sie Sarah im Traum begegnet? Und was hatte sie überhaupt von ihr geträumt?

Silbern lag die Wiese im Mondlicht da. Im Bett rollte ich mich in meine Decke ein und starrte aufgewühlt an die Wand. Weshalb kam Sarah mitten in der Nacht zu unserem Haus? War sie doch nicht so harmlos, wie ich angenommen hatte?