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Mit seinem berühmtesten Roman - der zarten Geschichte einer großen unerfüllten Liebe und zugleich der Chronik des tragischen Schicksals des jüdischen Bürgertums in Italien - hat sich Giorgio Bassani einen Platz in der Weltliteratur erschrieben. »Der Romancier Giorgio Bassani ist der bedeutendste Historiker in der neueren italienischen Literatur. Bei ihm verschmelzen Kunst und historischer Stoff vollkommen.« [Gustav Seibt]
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Die italienische Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel Il giardino dei Finzi-Contini bei Giulio Einaudi Editore in Turin.
Die erste deutsche Ausgabe erschien 1963 beim Piper Verlag, München.
Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnaldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.
Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
E-Book-Ausgabe 2016
© 1962, 1974, 1976, 1980 Giorgio Bassani
All rights reserved
© 2001, 2008, 2009 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie
© gettyimages/Laurence Monneret. Die Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 41972
Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803124043
www.wagenbach.de
Giorgio Bassani bei Wagenbach
Die Brille mit dem Goldrand
Ein genau gezeichnetes Portrait der guten Gesellschaft und wie sie ihr Fähnchen in den Wind hängt.
»Als ein Meister des Erzählens ist Giorgio Bassani einer der großen Verteidiger des Menschen.« Alfred Andersch
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
WAT 700. 112 Seiten
Auch als eBook erhältlich
Der Reiher
Nichts ist mehr wie früher: Zwar ist der Faschismus vorbei, die alte bürgerliche Ordnung aber aus den Fugen geraten. Was soll Edgardo nur tun, um seine Handlungsunfähigkeit zu überwinden?
WAT 574. 160 Seiten
Ferrareser Geschichten
Mit den berühmten fünf Geschichten aus Ferrara setzt Bassani seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern ein liebevolles Denkmal.
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
WAT 564. 256 Seiten
Hinter der Tür
Giorgio Bassani, »einer der größten und leisesten Schriftsteller Europas« (Alfred Andersch), erzählt in »Hinter der Tür« eine Geschichte von Freundschaft, Verrat und über das Erwachsenwerden.
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
WAT 596. 144 Seiten
Der Geruch von Heu
In leichtem Ton erinnert sich Bassani an Menschen, die ihm begegneten, und erzählt von Ferien am Meer, von Glück, Leid und Eifersucht.
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
WAT 613. 112 Seiten
Italien bei Wagenbach
Natalia Ginzburg Familienlexikon
Das mit dem Premio Strega ausgezeichnete Hauptwerk Natalia Ginzburgs ist nicht nur das komische Portrait einer denkwürdigen Familie, sondern zugleich ein großartiges Portrait Italiens.
WAT 563. 192 Seiten
Alberto MoraviaDer Konformist
Die Geschichte eines Mannes, den eine Schuld zur größtmöglichen gesellschaftlichen Anpassung treibt – und das Psychogramm des Mitläufers schlechthin.
Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius
WAT 620. 320 Seiten
Paola SorigaWo Rom aufhört
Die Geschichte eines sardischen Mädchens in Rom, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Geschrieben von einer italienischen Autorin, die mit diesem Buch über ihre eigene Generation nachdenkt.
Aus dem Italienischen von Antje Peter
Quartbuch. 160 Seiten
Leonardo Sciascia
Das Verschwinden des Ettore Majorana
Die Geschichte eines großen Physikers, der noch vor Heisenberg die Kernspaltung entdeckte und beschloss, die Welt vor seiner Genialität zu bewahren.
Aus dem Italienischen von Ingeborg Brandt und Ruth Wright
WAT 652. 96 Seiten mit vielen Photos
Brunello Mantelli
Kurze Geschichte des italienischen Faschismus
»Ein sehr informatives und nützliches Handbuch.« Michael Schweizer, Kommune
Aus dem Italienischen von Alexandra Hausner
WAT 300. 192 Seiten mit vielen Abbildungen
Elsa MoranteDas heimliche Spiel
Zwölf Geschichten über die unverständliche Macht der Liebe und deren zerstörerische Kraft. Zwischen Müttern und Söhnen, Frauen und Männern, Bruder und Schwester, Eltern und Kindern. Nach Jahrzehnten wieder in der von der Autorin gewollten Zusammenstellung und in neu durchgesehener Übersetzung.
Aus dem Italienischen von Susanne Hurni-Maehler
Quartbuch. 200 Seiten
Pier Paolo PasoliniRagazzi di vita
Das unbestrittene Hauptwerk Pasolinis, mit dem Italiens großer Schriftsteller und Ketzer den Verlorenen und Geächteten aus den Elendsquartieren der römischen Vorstädte ein unvergängliches Denkmal setzt.
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
WAT 614. 240 Seiten
Goffredo PariseAlphabet der Gefühle
Das Buch brachte seinem Autor Weltruhm; es erhielt den Premio Strega und wurde in alle Weltsprachen übersetzt.
»Parises sprachlicher und gedanklicher Vollkommenheit hat die italienische Literatur unseres Jahrhunderts kaum Vergleichbares entgegenzusetzen.« Süddeutsche Zeitung
Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim und Dirk J. Blask
WAT 616. 336 Seiten
Luigi PirandelloFeuer ans Stroh
Die schönsten Novellen über Pirandellos Heimat Sizilien und ihre Bewohner.
Aus dem Italienischen von Johanna Borek, Hans Hinterhäuser, Michael Rössner und Wolfgang Westermann
WAT 282. 240 Seiten
Mario SoldatiBriefe aus Capri
Ein amerikanischer Intellektueller ändert für eine sinnliche Römerin sein Leben. Soldati erhielt dafür den angesehensten italienischen Literaturpreis Premio Strega.
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
WAT 330. 320 Seiten
A casa NostraJunge Italienische Literatur
Was haben sie uns heute zu erzählen, die jungen italienischen Autoren? Schreiben sie über politische Zustände oder ziehen sie sich ins Private oder Lokale zurück? Die spannende Bestandsaufnahme eines überfälligen literarischen und gesellschaftlichen Aufbruchs in ein anderes Italien.
Herausgegeben von Paola Gallo und Dalia Oggero
Quartbuch. Gebunden und mit Schutzumschlag. 208 Seiten
Luigi MalerbaDas griechische Feuer
Malerbas erfolgreicher Roman spielt zur Blütezeit von Byzanz. Er handelt von der Macht und ihren Intrigen, einer männersüchtigen Kaiserin und einer Geheimwaffe, die »über das Wasser laufen« kann.
Aus dem Italienischen von Iris Schnebel-Kaschnitz
WAT 437. 216 Seiten
Gianni CelatiWas für ein Leben!
Episoden aus dem Alltag der Italiener
Der große Geschichtenerzähler Gianni Celati kehrt nach Italien zurück und stellt uns sein Volk vor: mit all seinen Eigenarten, Verrücktheiten und Sonderbarkeiten, für die wir es lieben.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
Quartbuch. Gebunden und mit Schutzumschlag. 176 Seiten
Stefano BenniBrot und Unwetter
Jeder, der auch nur einmal in Italien war, weiß, dass die Bar Sport ein zentraler gesellschaftlicher Ort ist. Jeder, der sie betritt, nimmt am sportlichen Leben teil, also an Streitereien und an Diskussionen über den allgemeinen Erzfeind, den Staat.
Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter
WAT 714. 320 Seiten
Auch als eBook erhältlich
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Für Micòl
Gewiß, wer auf das Herz hört, dem hat es immer
etwas von den Dingen zu sagen, die geschehen
werden. Aber was weiß denn das Herz? Kaum ein
wenig von dem, was schon geschehen ist.
Manzoni Die Verlobten 8. Kapitel
Seit vielen Jahren hatte ich den Wunsch, über die Finzi-Contini zu schreiben – über Micòl und Alberto, über Professor Ermanno und Signora Olga – und über alle die, die sonst noch in dem Haus am Corso Ercole I d’Este in Ferrara wohnten oder wie ich in der Zeit kurz vor Ausbruch des letzten Krieges dort ein und aus gingen. Aber den letzten Anstoß, es wirklich zu tun, empfing ich erst vor einem Jahr, an einem Sonntag im April 1957.
Es war auf einem der üblichen Wochenendausflüge. Wir waren, eine Gruppe von Freunden, auf zwei Autos verteilt, direkt nach dem Mittagessen die Via Aurelia hinausgefahren, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Ein paar Kilometer hinter Santa Marinella waren wir, angezogen von den Türmen einer mittelalterlichen Burg, die plötzlich zu unserer Linken aufgetaucht waren, auf einen Fußweg eingebogen und schließlich über den trostlosen Sandstreifen am Fuße des Berges geschlendert. Aus der Nähe betrachtet war die Burg übrigens bei weitem nicht so mittelalterlich, wie sie aus der Ferne, im Gegenlicht über der blauen blendenden Leere des Tyrrhenischen Meeres gewirkt hatte. Der vollen Gewalt des Windes ausgesetzt, Sand in den Augen und betäubt vom Lärm der Brandung, obendrein außerstande, die Burg zu besichtigen, weil uns dazu die schriftliche Erlaubnis von der Direktion irgendeines, ich weiß nicht mehr welchen, römischen Kreditinstitutes fehlte, fühlten wir uns gründlich enttäuscht und verärgert, daß wir bei einem solchen Wetter, das hier am Meer von nahezu winterlicher Unfreundlichkeit war, nicht in Rom geblieben waren.
Dem Bogen der Küste folgend, gingen wir etwa zwanzig Minuten am Strand auf und ab. Das einzige Mitglied unserer Gesellschaft, das sich fröhlich zeigte, war ein kleines Mädchen von neun Jahren, die Tochter des jungen Ehepaares, in dessen Auto ich saß. Geradezu elektrisiert von Wind und See und dem in rasenden Wirbeln aufgepeitschten Sand, überließ sich Giannina ganz ihrer heiteren offenherzigen Natur. Obwohl ihre Mutter versucht hatte, sie davon abzuhalten, hatte sie sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Sie lief den anbrandenden Wellen entgegen, die ihre Beine bis zu den Knien umspülten. Sie schien sich, mit einem Wort, königlich zu amüsieren, so sehr, daß ich, als wir bald darauf wieder in den Wagen stiegen, einen Schatten ehrlichen Bedauerns in ihren schwarzen lebhaften Augen sah, die über zarten erhitzten Wangen funkelten.
Wieder auf der Via Aurelia, waren wir fünf Minuten später an der Abzweigung nach Cerveteri. Da wir beschlossen hatten, direkt nach Rom zurückzukehren, zweifelte ich nicht daran, daß wir geradeaus weiterfahren würden. Aber statt dessen verlangsamte Gianninas Vater die Fahrt mehr als nötig und streckte den Arm aus dem Fenster. Er gab dem Fahrer des zweiten, etwa 30 Meter entfernten Wagens zu verstehen, daß er links einbiegen wolle. Er hatte es sich anders überlegt.
So fuhren wir also auf der glatten, asphaltierten Nebenstraße weiter, die uns alsbald zu einem Dorf mit größtenteils neuen Häusern brachte. Von dort aus führte die Straße in Serpentinen zu den Hügeln des Hinterlands, zu der berühmten etruskischen Gräberstadt. Niemand forderte eine Erklärung. Auch ich schwieg.
Hinter dem Ort zwang uns die leichte Steigung der Straße zu langsamerer Fahrt. Wir fuhren nun, im Abstand von nur wenigen Metern, an den sogenannten Montarozzi vorbei, jenen kegelförmigen grasbewachsenen Grabhügeln, die über diesen ganzen Teil Latiums nördlich von Rom – mehr im Hügelland als an der Küste – bis nach Tarquinia und noch weiter verstreut sind, so daß dieses Gebiet nichts anderes ist als ein unermeßlicher, fast ununterbrochener Friedhof. Hier wächst das Gras dichter, grüner und kräftiger als auf dem tiefer gelegenen Plateau zwischen der Via Aurelia und dem Meer – ein Zeichen, daß der ständig vom Meer her wehende Schirokko hier oben bereits viel von seinem Salzgehalt verloren hat und sich das feuchtere Klima des nahen Gebirges wohltuend auf die Vegetation auswirkt.
»Wohin fahren wir?« fragte Giannina.
Das Ehepaar saß vorn, das Kind in der Mitte. Der Vater nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf die braunen Locken seiner kleinen Tochter.
»Wir fahren zu Gräbern, die über vier- oder fünftausend Jahre alt sind«, antwortete er wie jemand, der anfängt, ein Märchen zu erzählen, und sich deshalb auch nicht scheut, bei den Zahlen zu hoch zu greifen. »Etruskische Gräber.«
»Wie traurig!« sagte Giannina und seufzte, wobei sie den Nacken an die Rückenlehne schmiegte.
»Warum traurig? Hast du in der Schule gelernt, wer die Etrusker waren?«
»Im Geschichtsbuch stehen die Etrusker am Anfang, zusammen mit den Ägyptern und den Juden. Aber sag mir, Papa, wer ist deiner Meinung nach älter: die Etrusker oder die Juden?«
Ihr Vater brach in lautes Lachen aus.
»Frag einmal diesen Herrn danach«, sagte er und wies mit dem Daumen auf mich.
Giannina wandte sich um. Den Mund hinter der Rückenlehne versteckt, warf sie einen geschwinden, strengen, mißtrauischen Blick auf mich. Ich wartete darauf, daß sie ihre Frage wiederholte. Doch nichts geschah. Plötzlich wandte sie sich wieder um und blickte geradeaus.
Auf der stets leicht ansteigenden, von einer doppelten Zypressenreihe eingefaßten Straße kamen uns Gruppen von jungen Mädchen und Burschen aus den Dörfern entgegen. Es war ihr Sonntagsspaziergang. Die jungen Mädchen, die Arm in Arm miteinander gingen, bildeten zuweilen zu fünft oder zu sechst Ketten, die bis zur Straßenmitte reichten. Seltsam, sagte ich mir, während ich sie betrachtete. Während wir an ihnen vorüberfuhren, sahen sie mit lachenden Augen neugierig durch die Scheiben, aber in die Neugier mischte sich etwas wie ein merkwürdiger Stolz, wie eine kaum verhehlte Verachtung. Wirklich seltsam, schön und frei sind sie.
»Papa«, fragte Giannina, »warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?«
Eine Spaziergängergruppe, diesmal noch größer, die die Straße zu einem guten Teil für sich beanspruchte und, im Chor singend, nicht daran dachte, beiseitezutreten, hatte unseren Wagen fast zum Halten gezwungen. Gianninas Vater schaltete in den zweiten Gang zurück.
»Weißt du«, antwortete er, »die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot« – und wieder erzählte er ein Märchen-, »daß es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.«
Wieder entstand eine Pause, noch länger als zuvor. Aber dann (wir waren inzwischen bis kurz vor den weiten Platz am Eingang zur Nekropole gekommen, wo in dichter Reihe Wagen und Reiseautobusse standen) war die Reihe an Giannina, uns eine Lektion zu geben.
»Aber so, wie du das sagst, glaube ich jetzt, daß die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen.«
Der Besuch der Gräberstadt stand nun ganz unter dem Zeichen des ungewöhnlichen Zartgefühls, das aus Gianninas Worten sprach. Kein anderer als sie hatte unser Verständnis geweckt. Sie, die jüngste, hatte uns gewissermaßen an der Hand genommen.
Wir stiegen in das Innere des bedeutendsten Grabes, das der vornehmen Familie Matuta: Es war ein niedriger unterirdischer Saal, in dem etwa zwanzig Totenbetten in je einer Nische der Tuffsteinwand stehen und der reich geschmückt ist mit farbigen Stuckarbeiten, die die geliebten, vertrauten Gegenstände des täglichen Lebens darstellen, Hacken, Äxte, Seile, Scheren, Spaten und Messer, Bogen und Pfeile, aber auch Jagdhunde und Sumpfvögel. Indessen versuchte ich, bereitwillig jeden Rest philologischer Skrupel unterdrückend, mir konkret vorzustellen, was für die späten Etrusker von Cerveteri, das heißt die Etrusker aus der Zeit nach der Unterwerfung durch die Römer, der eifrige Besuch ihres Friedhofs vor der Stadt bedeutet haben mochte.
Noch heute ist ja in den kleinen Orten der italienischen Provinz das Friedhofstor das obligate Ziel eines jeden Abendspaziergangs. Sie kamen aus den in der Nähe gelegenen Wohnhäusern, wahrscheinlich zu Fuß – so malte ich mir aus –, familienweise oder in Gruppen von jungen Menschen, wie wir ihnen gerade auf der Straße begegnet waren; es mochten Liebespaare dabei sein, und manche kamen vielleicht allein. Sie gingen zwischen den konisch geformten Grabkammern umher, solide und massiv wie die Bunker, mit denen die deutschen Soldaten Europa während des letzten Krieges vergebens übersät haben (die eisenbeschlagenen Räder der Leichenwagen hatten im Lauf der Jahrhunderte zwei tiefe Furchen in die gepflasterte Straße gegraben, die den Friedhof durchquerte) – Grabkammern, die gewiß, auch in ihrem Innern, den Wohnburgen der Lebenden ähnelten. Die Zeiten ändern sich – das hatten sie sich gewiß gesagt. Die Zeit war vorbei, in der Etrurien mit seinem Bund freier aristokratischer Stadtstaaten fast die ganze italische Halbinsel beherrscht hatte. Eine neue Kultur, roher und weniger aristokratisch, aber auch stärker und kriegstüchtiger, behauptete nun das Feld. Doch was sagte das schon?
Hatte man die Schwelle des Friedhofs überschritten, wo jeder von ihnen sein zweites Haus besaß, in dem er schon das Lager bereitet hatte, auf dem er bald neben den Vätern ruhen würde, konnte die Ewigkeit nicht länger eine Illusion bleiben, ein Märchen, ein Versprechen der Priester. Die Zukunft mochte, soviel sie wollte, die Welt auf den Kopf stellen; aber dort, in dem engen Bezirk, der den toten Angehörigen geweiht war – dort, inmitten der Gräber, in die man zusammen mit den Toten alles hinabtrug, was das Leben schön und lebenswert machte –, in diesem geschützten, abgeschirmten Winkel der Welt, wenigstens dort (und ihr Denken und Wähnen schwebte noch immer, nach fünfundzwanzig Jahrhunderten, um die konisch geformten Grabhügel, bedeckt von Gras und Kraut), wenigstens dort würde sich nie etwas ändern.
Als wir zurückfuhren, war es dunkel geworden.
Von Cerveteri nach Rom ist es nicht weit, um den Weg zurückzulegen, reicht eine knappe Autostunde. Und doch war es an diesem Abend keine kurze Fahrt. Auf halbem Wege war die Via Aurelia verstopft von Wagen, die aus Ladispoli oder Fregene kamen. Wir waren gezwungen, beinahe im Schritt zu fahren.
Und da, inmitten der Ruhe und Schläfrigkeit (auch Giannina war eingeschlafen), gingen meine Gedanken wieder einmal zurück zu den Jahren meiner Kindheit und Jugend, zurück nach Ferrara und zu dem jüdischen Friedhof am Ende der Via Montebello. Ich sah dort wieder die weiten Rasenflächen, auf denen hier und da ein Baum stand, die Grabsteine und Stelen, die nur am Rand der Ringmauer und der Scheidemauern dichter wurden, und, wie wenn ich sie unmittelbar vor Augen hätte, die monumentale Familiengruft der Finzi-Contini: ein häßliches Grab, zugegeben – ich hatte es von Kindheit an zu Hause sagen hören –, aber immerhin imposant und allein schon dadurch bezeichnend für die Bedeutung der Familie.
Wie noch nie krampfte sich mir das Herz zusammen bei dem Gedanken, daß in dieser Gruft, die doch wohl bestimmt gewesen war, die ewige Ruhe des Auftraggebers zu sichern – seine und die seiner Nachkommenschaft –, nur einer von all den Finzi-Contini, die ich gekannt und geliebt hatte, Ruhe gefunden hatte. Nur Alberto, der älteste Sohn, gestorben 1942 an einem Lymphogranulom, ist dort beigesetzt worden. Während keiner weiß, ob Micòl, die Zweitgeborene, ihr Vater, Professor Ermanno, ihre Mutter Olga und deren gelähmte uralte Mutter, Signora Regina, die alle im Herbst 1943 nach Deutschland deportiert wurden, überhaupt ein Grab gefunden haben.
Es war ein großes und massives Grabmal, wirklich imposant; eine Art von Tempel, halb antik und halb orientalisch, wie man sie noch vor ein paar Jahren in den auf unseren Opernbühnen üblichen Inszenierungen von Aida und Nabucco sah. Auf einem anderen Friedhof, zum Beispiel auf dem anstoßenden Städtischen Friedhof, hätte ein derart anspruchsvolles Grabmal durchaus nichts Erstaunliches gehabt, ja, es wäre vielleicht in der Masse der anderen unbemerkt geblieben. Aber auf unserem Friedhof war es das einzige seiner Art, und so kam es, daß es dem Besucher sogleich in die Augen fiel, obwohl es ziemlich weit vom Eingang entfernt stand, im alten Teil des Friedhofs, wo es seit mehr als einem halben Jahrzehnt keine neuen Begräbnisse mehr gegeben hatte.
Der Mann, der einem angesehenen Architektur-Professor, verantwortlich für weitere mißlungene Bauten der Stadt, den Auftrag zu diesem Grabmal gegeben hatte, war Moisè Finzi-Contini gewesen, Urgroßvater väterlicherseits von Alberto und Micòl, der im Jahre 1863 gestorben war, kurz nach der Eingliederung der Territorien des Kirchenstaates in das Königreich Italien und der damit verbundenen endgültigen Abschaffung des Ghettos auch für die Juden von Ferrara. Großgrundbesitzer und ›Reformer der Landwirtschaft Ferraras‹–wie auf der Gedenktafel zu lesen war, die die jüdische Gemeinde auf der Höhe der dritten Etage im Treppenhaus der Synagoge in der Via Mazzini angebracht hatte, um die Verdienste des Verblichenen ›als Italiener und Jude‹ für alle Ewigkeit festzuhalten–, aber in künstlerischen Dingen von einem nicht besonders kultivierten Geschmack, hatte er sich offenbar mit dem Entschluß begnügt, ein Grabmal bauen zu lassen, und alles Weitere dem Architekten anheimzustellen. Es schien damals eine Zeit der Blüte zu sein; alles forderte zu Hoffnung und Wagemut heraus. Ganz erfüllt von dem Glücksgefühl, die bürgerliche Gleichberechtigung erreicht zu haben – die es ihm als jungem Mann zur Zeit der Repubblica Cisalpina erlaubt hatte, seine ersten tausend Hektar Boden zur Trockenlegung zu erwerben–, hatte sich der gestrenge Patriarch, wie zu verstehen war, bewogen gefühlt, bei einem so feierlichen Anlaß nicht knauserig zu sein. Sehr wahrscheinlich hatte er dem hervorragenden Architektur-Professor freie Hand gelassen, der dann seinerseits, mit all diesem Marmor zu seiner Verfügung – weißem aus Carrara, rosa-fleischfarbenem aus Verona, grauem, schwarz geädertem, gelbem, blauem und zartgrünem Marmor–, buchstäblich den Kopf verlor.
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