Die Gefangene von Golvahar - Melissa Bashardoust - E-Book

Die Gefangene von Golvahar E-Book

Melissa Bashardoust

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Beschreibung

Ein tödlicher Fluch und ein schrecklicher Verrat: fantastischer Lesegenuss für Mädchen und junge Frauen ab 13 Jahren. 

Prinzessin Soraya würde alles tun, um den Fluch, der als Säugling über sie verhängt wurde, zu brechen - jede ihrer Berührungen ist tödlich. So hat Azad, Dämon in Menschengestalt, leichtes Spiel und verführt sie zu einem Verrat, der das gesamte Reich in Gefahr bringt. Kann Soraya ihren Fehler wiedergutmachen und ihre Familie und die Menschen im Land retten?

Ein Fantasyroman, der einen alles um sich herum vergessen lässt.

 

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Das Buch

Verborgene Zimmer, Türen und Gänge – das ist Sorayas Welt am Hofe. Sie lebt in den Schatten des prunkvollen Palasts, wie eine Gefangene, nicht wie eine Prinzessin, und dabei ist Soraya die Zwillingsschwester des jungen Schahs. Doch nur so kann sie ihr tödliches Geheimnis verbergen: Durch ihre Adern fließt Gift, wen sie berührt, der muss sterben. Dann begegnet sie Azad und der Wunsch, ihn zu berühren, wird übermächtig. Aber Soraya kann den Fluch des Dämons nicht brechen, ohne ihre Familie und ihr Volk in große Gefahr zu bringen ....

Die Autorin

© TMP PHOTOGRAPHY

Melissa Bashardoust studierte Anglistik an der University of Cali-fornia. Dort entdeckte sie auch ihre Liebe zu kreativem Schreiben, zu Kinder- und Jugendliteratur sowie zu Märchen und ihren Nacherzählungen. Inzwischen lebt sie im Süden von Kalifornien mit einer Katze namens Alice und mehr Ausgaben von Jane Eyre, als sie vermutlich braucht.

Mehr über Melissa Bashardoust: www.melissabash.com

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

FÜR ALLE, DIE SICH JEMALS WIE EINE MIT GIFTSTACHELN BESETZTE BESTIE GEFÜHLT HABEN

Ich bin Dornröschen und gleichzeitig das verwunschene Schloss; die Prinzessin schlummert im Schloss ihres Körpers.

ANGELA CARTER, VAMPIRELLA

Prolog

Geschichten fangen immer gleich an: Es war einmal und es war niemals … In diesen Worten schwingt eine Möglichkeit mit, die Chance auf Hoffnung oder Verzweiflung. Wenn die Tochter zu Füßen ihrer Mutter sitzt und sie bittet, ihr die Geschichte zu erzählen – immer dieselbe Geschichte –, hört sie am liebsten diese Worte, weil sie bedeuten, dass alles möglich ist. Es war einmal und es war niemals … Sie existiert und sie existiert nicht.

Ihre Mutter erzählt die Geschichte stets auf genau dieselbe Weise, mit genau denselben Worten, als seien sie sorgfältig einstudiert.

Es war einmal und es war niemals ein dreizehn Jahre altes Mädchen, das in einem vornehmen Haus im Osten des Arzur-Berges aufwuchs. Jeder hütete sich davor, dem Berg zu nahe zu kommen, weil dort die Heimat der Dîws war – die dämonischen Diener des Zerstörers, dessen einziges Ziel es war, Vernichtung und Chaos in die Welt des Erschaffers zu bringen. Die meisten Menschen mieden sogar den lichten Wald, der sich im Süden des Berges erstreckte. Doch manchmal trieben sich tagsüber ein paar waghalsige Kinder dort herum, um nach ihrer Rückkehr damit zu prahlen.

Eines Tages wollte das Mädchen seine Tapferkeit unter Beweis stellen, und so machte es sich auf den Weg in diesen Wald. Die Kleine wollte nur weit genug gehen, um einen Zweig von einer der Zedern abzubrechen, die dort wuchsen, als Beweis, dass sie dort gewesen war. Was sie stattdessen fand, war eine junge Frau, die sich in einem Netz verfangen hatte und um Hilfe flehte. Es sei eine Dîw-Falle, erklärte sie dem Mädchen, und wenn der Dîw zurückkehre, werde er sie gefangen nehmen.

Das Mädchen hatte Mitleid mit der jungen Frau, suchte sich schnell einen scharfkantigen Stein und durchtrennte damit die Seile des Netzes. Als die Frau befreit war, dankte sie dem Mädchen und lief davon. Die Kleine hätte dasselbe tun sollen, zögerte jedoch und bald senkte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter.

Sie schaute zu dem riesigen Dîw auf und beim Anblick seiner schauerlichen Gestalt überkam sie ein solches Entsetzen, dass sie nicht imstande war, die Flucht zu ergreifen oder auch nur um Hilfe zu rufen. Ihr war, als würde ihr das Herz vor Angst stehen bleiben und so dem Dîw die Mühe ersparen, sie zu töten.

Der Dîw warf einen Blick auf das leere Netz, die durchtrennten Schnüre und den Stein in der Hand des Mädchens und wusste, was geschehen war. »Du hast etwas gestohlen, das mir gehört«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Deshalb werde ich jetzt dir etwas stehlen, das dir gehört.«

Die Kleine glaubte, er würde ihr das Leben rauben, doch stattdessen belegte der Dîw ihre erstgeborene Tochter mit einem Fluch, der sie giftig machen sollte, sodass jeder, der sie berührte, sterben würde.

An dieser Stelle unterbricht die Tochter immer ihre Mutter und fragt – warum die erstgeborene Tochter? Sie braucht nicht auszusprechen, dass sie voller Neid oder gar mit ein wenig Groll an ihren Zwillingsbruder denkt. Ihr Gesicht verrät es.

Worauf die Mutter stets erwidert, dass die Handlungsweisen der Dîws unerklärlich und ungerecht seien, und rätselhaft für jeden außer für sie selbst.

Der Dîw ließ das Mädchen daraufhin gehen und es lief sofort nach Hause, unwillig oder unfähig, jemandem von der Begegnung zu erzählen. Sie beschloss, den Fluch des Dîws zu vergessen und so zu tun, als hätte es ihn nie gegeben. Außerdem würde es ja noch viele Jahre dauern, bis sie Kinder bekäme, um die sie sich sorgen müsste. Nach einer Weile gelang es ihr tatsächlich, den Fluch des Dîws zu vergessen – meistens.

Jahre vergingen und als das Mädchen zu einer jungen Frau wurde, erwählte der Schah von Ataschar sie zu seiner Braut und Königin. Sie erzählte ihm nichts von dem Fluch des Dîws und dachte selbst kaum noch daran.

Erst als ihre Kinder – Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen – geboren wurden, erinnerte sie sich wieder an jenen Tag im Wald. Doch da war es natürlich schon zu spät und drei Tage nach der Geburt fand sie heraus, dass der Dîw die Wahrheit gesagt hatte. Am Morgen dieses dritten Tages bückte sich die Amme, um ihre Tochter aufzuheben und zu stillen – doch sobald die Amme die Haut des Kindes berührte, sackte sie zu Boden und war tot.

Und deshalb ist die Mutter bereit, ihrer Tochter diese Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Sie will nicht, dass sie jemals vergisst, ständig Handschuhe zu tragen, damit sie niemanden berührt. Sie will nicht, dass ihre Tochter so waghalsig ist, wie sie selbst es einmal war, als sie sich im Alter von gerade einmal dreizehn Jahren zu weit in den Wald gewagt hatte.

An diesem Punkt der Geschichte blickt die Tochter stets auf ihre behandschuhten Hände und versucht, sich an die Amme zu erinnern, die wegen ihr sterben musste. Es war einmal und war niemals …, ruft sie sich ins Gedächtnis. Es ist nur eine Geschichte.

Die Tochter möchte auf den Schoß ihrer Mutter klettern und den Kopf an ihre Brust schmiegen, aber sie tut es nicht. Sie tut es niemals.

Es ist nicht nur eine Geschichte.

1

Wenn sie auf dem Dach des Golvahar-Palastes stand, konnte Soraya fast glauben, dass sie tatsächlich existierte.

Das Dach war ein gefährlicher Ort, ein schmerzvoller Luxus. Vom Rand aus konnte sie den Garten überblicken, der sich vor dem Palast erstreckte, üppig grün und wunderschön wie eh und je. Doch dahinter, hinter den Toren von Golvahar, befand sich der Rest der Welt, unendlich viel größer, als sie es jemals ermessen konnte. Eine Stadt voller Menschen umgab den Palast. Eine Straße führte nach Süden, bis hinunter zur Wüste, dann in andere Provinzen und andere Städte und immer weiter bis zum äußersten Ende von Ataschar. Dahinter gab es weitere Königreiche, weitere Länder, weitere Völker.

Vom anderen Ende des Daches aus konnte sie in nordöstlicher Richtung das trockene Waldland und den gefürchteten Arzur-Berg sehen. Von jedem Punkt aus gab es mehr und mehr von allem – Hügel und Wüsten und Meere, Berge und Täler und Ansiedlungen, die sich endlos weit erstreckten. Angesichts dessen hätte sich Soraya klein und unbedeutend fühlen müssen. Und manchmal war es auch so und sie zog sich mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten zurück. Doch meistens fühlte sie sich frei und unbeschwert, wenn sie allein unter dem dunklen Himmelszelt stand. Aus dieser Höhe schien jeder klein und bedeutungslos, nicht nur sie.

Doch heute war es anders. Heute war sie auf dem Dach, um den Einzug der königlichen Familie in die Stadt zu beobachten. Heute durfte ihre Existenz von niemandem zu erahnen sein.

Die königliche Familie traf immer kurz vor dem ersten Frühlingstag ein – dem ersten Tag des neuen Jahres. Sie besaß Paläste in allen Teilen des Reiches, um die Satrapen, die die Provinzen des Landes im Auftrag des Schahs regierten, besser im Auge behalten zu können. Doch auch wenn Soraya die Schwester des Schahs war, zog sie niemals mit ihnen. Sie blieb immer in Golvahar, dem ältesten Palast, denn nur hier gab es verborgene Zimmer, Türen und Gänge. Es war der perfekte Ort, um einen Gegenstand oder eine Person versteckt zu halten. Soraya lebte im Schatten von Golvahar, damit ihre Familie nicht in ihrem Schatten leben musste.

Von hier oben ähnelte die königliche Karawane einer glitzernden, goldenen Kette, die sich durch die Straßen der Stadt schlängelte. Goldene Sänften trugen die adeligen Damen, unter ihnen Sorayas Mutter. Goldene Rüstungen umschlossen die mutigen Soldaten auf ihren Pferden, an ihrer Spitze der Spahbed, der getreueste General des Schahs, sein von Falten gefurchtes Gesicht so streng wie eh und je. Goldene Kamele bildeten den Schluss. Sie trugen die getreuen Bozorganen, die den Hof begleiteten, und transportierten die vielen Besitztümer der königlichen Familie.

Und an der Spitze der Karawane, unter dem Bildnis des majestätischen grün und orangefarbenen Vogels, der seit Urzeiten die Flagge ihrer Familie zierte, ritt Sorusch, der junge Schah von Ataschar.

Licht und Schatten. Tag und Nacht. Manchmal vergaß Soraya, dass sie und Sorusch Zwillinge waren. Doch nach den Worten der Priester waren der Erschaffer und der Zerstörer ebenfalls Zwillinge. Der eine aus Hoffnung geboren, der andere aus Zweifeln. Soraya fragte sich, welche Zweifel ihrer Mutter während der Geburt ihrer Tochter durch den Kopf gegangen sein mochten.

Auf den Straßen jubelten die Leute, als der Schah und seine Höflinge Goldmünzen in die Menge warfen. Soraya konnte verstehen, warum die Menschen ihren Bruder so sehr liebten. Sorusch erstrahlte im Glanz ihrer Lobpreisungen, aber sein Lächeln war demütig und seine Haltung wirkte entspannt, im Vergleich zu der starren Förmlichkeit seines ersten Generals. Soraya träumte schon lange nicht mehr davon, zusammen mit ihrer Familie von einem Ort zum anderen zu reisen, doch ihr Körper verriet sie noch immer, denn ihre Hände hielten die Brüstung so fest umklammert, dass ihre Knöchel schmerzten.

Als die Karawane die Palasttore durchquerte und in den riesigen Garten von Golvahar einzog, konnte Soraya die Gesichter klarer erkennen. Sie schnitt eine Grimasse, als sie Ramin in seiner roten Azatanen-Uniform entdeckte. Er trug sie stolz und hocherhobenen Hauptes, in dem Bewusstsein, als einziger Sohn und voraussichtlicher Nachfolger des Spahbeds dazu geboren worden zu sein, Rot zu tragen.

Ihr Blick wanderte fort von Ramin zu einer Gestalt, die ein paar Pferde hinter ihm ritt. Es handelte sich um einen etwa gleichaltrigen jungen Mann, dessen Gesichtszüge aus dieser Entfernung nicht gut zu erkennen waren. Er war nicht wie ein Soldat in Rot und Gold gekleidet, sondern trug einen schlichten, braunen Waffenrock. Soraya hätte ihn vielleicht gar nicht bemerkt, wenn ihr nicht etwas Außergewöhnliches aufgefallen wäre:

Er schaute ihr mitten ins Gesicht.

Trotz der prunkvollen Karawane, der üppigen Schönheit der Gärten und der Pracht des Palastes, der sich vor ihm erhob, hatte der junge Mann nach oben geschaut und eine einsame, schattenhafte Gestalt bemerkt, die vom Dach herunterblickte.

Soraya erstarrte, zu überrascht, um sich wegzuducken. Ihr Instinkt sagte ihr – versteck dich, verschwinde, damit dich bloß keiner sieht, doch ein anderer Instinkt, von dem sie glaubte, ihn vor langer Zeit begraben zu haben, ließ sie an Ort und Stelle verharren und dem jungen Mann in die Augen sehen – brachte sie dazu, hinzuschauen und sich sehen zu lassen. Und bevor sie von der Dachkante zurücktrat und sich außer Sichtweite brachte, sandte sie zwei Befehle an den jungen Mann, der erblickt hatte, was er nicht sehen sollte.

Der erste Befehl war eine Warnung: Schau weg.

Doch der zweite Befehl war eine Herausforderung. Komm und finde mich.

Dicht bei der Stelle, wo Soraya kniete, krabbelte ein Käfer durchs Gras. Sein Anblick ließ sie erstarren, ihre nackten Hände verharrten in der Luft, bis er sich in sicherer Entfernung von ihr befand. Sie rückte ein Stückchen weg von ihm und arbeitete weiter.

Nachdem sie der königlichen Karawane zugeschaut hatte, war Soraya in den Golestan gegangen, um ihren Gedanken und Händen eine Beschäftigung zu geben. Der von einer Mauer umschlossene Rosengarten war ein Geschenk ihrer Mutter, die sie als weiteres Geschenk auch das Lesen gelehrt hatte. Seit Soraya als Kind herausgefunden hatte, dass sie Blumen und andere Pflanzen berühren konnte, ohne ihr Gift auf sie zu übertragen, schenkte ihr ihre Mutter bei ihren jährlichen Frühlingsbesuchen immer eine eingetopfte Rose und ein Buch. Im Laufe der Jahre vergrößerte sich Sorayas Sammlung und in ihrem Garten gediehen Unmengen von Rosen – pinkfarbene Rosen, rote Damaszener-Rosen, Büsche mit weißen, gelben und lilafarbenen Rosen, die an den roten Ziegelmauern hinaufkletterten und ihren honigsüßen Duft verströmten.

Wie der viel größere Palastgarten wurde der Golestan von gefliesten Wegen unterteilt, die in der Mitte an einem achteckigen Teich zusammentrafen. Im Gegensatz zum Palastgarten gab es nur zwei Eingänge zum Golestan – eine Pforte in der Außenmauer, für die nur Soraya einen Schlüssel besaß, und eine Flügeltür, die von Sorayas Zimmer aus zu öffnen war. Der Golestan gehörte ihr, und zwar ihr ganz allein, und deshalb war er der einzige Ort, an dem sie nicht fürchten musste, irgendjemanden oder irgendetwas zu berühren – abgesehen von den ahnungslosen Insekten, die sich hierher verirrten.

Soraya beobachtete noch immer den davonkrabbelnden Käfer, als sie das Geräusch würdevoller Schritte vernahm, die aus ihrem Zimmer zu hören waren. Hastig erhob sie sich, streifte den Schmutz von ihrem Kleid und zog ihre Handschuhe an, die sie in ihrer Schärpe bei sich getragen hatte.

»Gegrüßt seist du, Soraya Joon«, sagte ihre Mutter und trat in die offene Tür. Groß und majestätisch, eingehüllt in seidene Gewänder, das Haar mit glitzernden Juwelen geschmückt, wirkte Sorayas Mutter immer ein wenig übermenschlich. Da Soraya und Sorusch beim sieben Jahre zurückliegenden Tod des Schahs erst elf Jahre alt waren, hatte Tahmineh anstelle ihres Sohnes die Regentschaft des Reiches übernommen. Trotz der erdrückenden Verantwortung ihres Amtes, hatte sie nie vergessen, die Gaben mitzubringen, die die Bürde ihrer Tochter erleichterten. So hielt Tahmineh auch jetzt wieder ein Buch in der einen und einen Blumentopf in der anderen Hand.

Ihre Hände durch die Handschuhe sicher geschützt, trat Soraya vor, um die Geschenke ihrer Mutter entgegenzunehmen. »Vielen Dank, Maman«, sagte sie und umschloss den Blumentopf mit sanftem Griff. Aus der dunklen Erde lugte nur ein winziger Hauch von Grün hervor, so wie Soraya es am liebsten hatte. Sie mochte es, die Rosen mit eigenen Händen einzupflanzen und in ihrem Garten zum ersten Mal blühen zu sehen. Es bewies, dass sie Dinge nicht nur zerstören, sondern auch pflegen und aufziehen konnte.

»Ich hoffe, Eure Reise war nicht zu ermüdend«, rief Soraya über ihre Schulter, während sie ein vorläufiges Zuhause für die Topfrose suchte, bevor sie sie einpflanzen konnte. Sie hatte so lange mit niemandem mehr gesprochen, dass die Worte ihr schwer von der Zunge gingen. Ihre Begrüßungen waren immer steif und formell, da sie sich nicht umarmen konnten, doch Soraya hatte die Wärme in den Augen und im Lächeln ihrer Mutter gesehen und hoffte, dass ihre eigene Miene dasselbe ausdrückte.

»Keineswegs«, erwiderte Tahmineh. »Hier«, sagte sie und hielt Soraya das Buch entgegen. »Geschichten aus Hellea«, erklärte sie, »denn ich glaube, du kennst mittlerweile jede Geschichte aus Ataschar, die jemals erzählt wurde.«

Soraya ergriff das Buch und blätterte durch die reich illustrierten Seiten, während ihre Mutter im Golestan herumschlenderte. »Wunderschön«, murmelte Tahmineh den Kletterrosen zu und Soraya platzte insgeheim fast vor Stolz. Sie konnte niemals so hell strahlen wie ihr Bruder, aber dennoch konnte sie ihre Mutter zum Lächeln bringen.

»Heute waren mehr Leute in der Karawane als sonst«, sagte Soraya, deren Zunge sich langsam löste. »Sind sie alle wegen Nog-Roz gekommen?«

Tahmineh erstarrte und ihr Rücken war so gerade wie der einer Statue. »Nicht nur wegen Nog-Roz«, sagte sie schließlich. »Lass uns hineingehen, Soraya Joonam. Ich habe dir etwas zu sagen.«

Soraya schluckte, ihre Fingerspitzen waren trotz der Handschuhe kalt wie Eis. Sie machte einen Schritt zur Seite, um ihre Mutter zuerst eintreten zu lassen, dann folgte sie ihr, das Buch noch in den Händen haltend.

Sie hatte nichts, was sie ihrer Mutter anbieten konnte, keinen Wein, keine Früchte noch irgendetwas anderes. Dienerinnen brachten Soraya dreimal am Tag etwas zu essen und stellten das Tablett mit den Speisen vor ihrer Zimmertür auf dem Boden ab. Die Leute wussten, dass der zukünftige Schah eine zurückgezogen lebende Schwester hatte, und vielleicht hatte jeder seine eigene Theorie, warum sie sich vor der Welt versteckte, aber keiner von ihnen kannte die Wahrheit und es war Sorayas Pflicht, dafür zu sorgen, dass es so blieb.

Sorayas Zimmer war sehr gemütlich eingerichtet. Überall lagen kunstvoll gewebte, farbenprächtige Kissen – auf dem Bett, auf dem Sessel, auf dem Fenstersitz und sogar auf dem Fußboden. Teppiche, deren leuchtende Farben mit der Zeit ein wenig verblasst waren, bedeckten den gesamten Boden. Auf jeder Fläche lag irgendetwas Weiches, als könnte Soraya sich mit künstlichen Dingen darüber hinwegtrösten, dass sie von niemandem berührt werden durfte. Überall standen gläserne Vasen mit welken Rosen aus ihrem Garten und erfüllten den Raum mit dem erdigen Geruch sterbender Blumen.

Es gab nur einen einzigen Sessel im Zimmer, weshalb Tahmineh sich auf dem Fenstersitz niederließ. Umsichtig setzte Soraya sich ans andere Ende, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie zusammengepresst, um so wenig Platz wie möglich einzunehmen, damit ihre Mutter es sich bequem machen konnte.

Doch Tahmineh wirkte alles andere als entspannt. Sie mied Sorayas Blick und konnte die Hände nicht stillhalten. Schließlich holte sie tief Luft, blickte auf und sagte: »Wir haben diesmal so viele Besucher, weil dein Bruder im nächsten Monat heiraten wird.«

»Oh«, sagte Soraya ziemlich überrascht. Nach dem Verhalten ihrer Mutter hätte sie eher erwartet, von einer bevorstehenden Beerdigung zu erfahren statt von einer Hochzeit. Sie wusste, dass Sorusch wahrscheinlich früher oder später heiraten würde. Glaubte ihre Mutter, sie würde neidisch sein?

»Die Braut ist Laleh«, fügte Tahmineh hinzu.

»Oh«, entgegnete Soraya wieder, diesmal mit tonloser Stimme. Es klang vernünftig, sagte sie sich. Laleh war die Tochter des Spahbeds, sowohl gutherzig als auch wunderschön. Sie verdiente es, die meistgeliebte und einflussreichste Frau in Ataschar zu werden. Jeder würde – sollte – sich für sie freuen.

An Sorayas Ärmelsaum war ein loser Faden. Sie nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und zog daran, schaute zu, wie das Gewebe langsam aufgeribbelt wurde. Gefühle, die sie weder haben noch benennen mochte, ließen ihren Puls schneller gehen. Soraya atmete langsam ein und aus, den losen Faden ein paarmal um die behandschuhten Finger gewickelt. Sie würde sich nicht von Bitterkeit und Missgunst überwältigen lassen. Sie durften sich nicht in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegeln. Soraya holte tief Luft, wickelte den Faden von ihren Fingern und schaute lächelnd zu ihrer Mutter auf. »Sie passen gut zusammen«, sagte sie.

Das Lächeln ihrer Mutter war warmherzig und aufrichtig – und erleichtert. »Das glaube ich auch«, sagte sie mit sanfter Stimme. Ihr Lächeln schwand dahin und sie senkte den Blick. »Bis zur Hochzeit werde ich wahrscheinlich nicht so viel Zeit mit dir verbringen können wie sonst. Es gibt eine Menge zu tun.«

Soraya musste schlucken. »Das verstehe ich«, erwiderte sie. Die Welt würde sich ohne sie weiterdrehen, wie sie es immer getan hatte.

»Du weißt, dass ich dich liebe.«

Soraya nickte. »Ich liebe Euch auch, Maman.«

Sie tauschten weiter Höflichkeiten und ein bisschen Hoftratsch aus, doch es war eine ziemlich einseitige Unterhaltung. Soraya war zu sehr damit beschäftigt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, und schaute immer wieder verstohlen nach unten, um sich zu vergewissern, dass die hellbraune Haut ihrer Handgelenke keine verräterischen Verfärbungen aufwies. Als Tahmineh den Rückweg antrat, war Soraya erschöpft von der Anstrengung.

Wieder allein, kehrte sie in den Golestan zurück, um die Rose einzupflanzen, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Sie riss die Handschuhe herunter und ignorierte die grünlichen Linien, die sich über ihre Arme zogen, und versuchte, Trost beim Anblick ihrer Rosen zu finden. Sie umschloss eine der Blüten mit den Händen, atmete ihren Duft ein und ließ die Blütenblätter über ihre Wangen streichen. So weich und sanft wie ein Kuss, stellte sie sich vor. Gedankenverloren drückte sie die Fingerspitze in einen der spitzen Dornen, und auch das war ein Trost – zu wissen, dass etwas Gefährliches gleichzeitig wunderschön war und geliebt wurde.

Doch jetzt konnte sie nicht anders, als ihre Hände anzuschauen, die Innenseiten ihrer Handgelenke, wo ihre Adern sich dunkelgrün verfärbt hatten. Sie wusste, dass die Adern in ihrem Gesicht und am Hals dieselbe Farbe annehmen und sich auf ihren Wangen zu einem grünen Spinnennetz ausbreiten würden, bis sie sich beruhigt und den Sturm ihrer Gefühle bezwungen hatte.

Einst waren sie alle unzertrennlich gewesen: Sorusch und Soraya, Laleh und ihr Bruder Ramin, der meist nicht von ihrer Seite wich. Laleh und Ramin waren die einzigen Menschen außerhalb ihrer Familie, die von ihrem Fluch wussten – durch ein Missgeschick, jedoch eines, für das Soraya dankbar war. Sonst hätte sie vielleicht niemals eine Freundin gehabt. Es schien alles so einfach, als sie Kinder waren. Tahmineh hatte sich Sorgen gemacht, aber Soraya bewies, dass sie sorgsam darauf achten konnte, niemanden zu berühren, und Laleh war immer sehr umsichtig gewesen. Sorusch hatte aufgepasst, dass nichts Schlimmes geschah. Und für eine Weile ging alles gut.

Aber dann starb der Schah, und obwohl seine Witwe die Regierungsgeschäfte übernahm, stand Sorusch plötzlich unter viel strengerer Beobachtung als zuvor. Ihre Mutter erklärte ihr mit freundlichen Worten, dass er weniger Zeit zum Spielen habe, doch im Laufe der Jahre, fand Soraya den wahren Grund heraus, warum sie ihren Bruder nicht mehr zu Gesicht bekam. Ihre Familie hatte einen Ruf zu schützen, und giftige Kreaturen wie sie gehörten zum Zerstörer. Wenn Sorayas Fluch öffentlich bekannt würde, könnten die Bozorganen denken, dass der Zerstörer sich ihrer Erblinie bemächtigt hätte. Sie würden ihr Vertrauen in den Schah und seine Dynastie verlieren und ihn entmachten.

Und Laleh – wie lange war es her, seit sie zum letzten Mal mit ihr gesprochen hatte? Waren es drei Jahre oder vier? Sie hatten versucht in Kontakt zu bleiben, auch nachdem sie Sorusch verloren hatten, aber während zwei Kinder immer Platz und Gelegenheit fanden, zu spielen und kandierte Früchte zu teilen, war es für zwei junge Frauen weitaus schwieriger – vor allem, wenn eine von ihnen auf direktem Wege auf die Welt des Hofes zusteuerte, von der die andere für immer ausgeschlossen sein würde. Mit jedem Jahr entfernten sie sich mehr voneinander, ihre Treffen wurden kürzer und befangener, da beide jetzt alt genug waren, um zu verstehen, wie unterschiedlich ihr Leben war und für immer bleiben würde. Das Jahr, in dem Soraya fünfzehn wurde, war das erste, in dem sie Laleh überhaupt nicht mehr sah, doch sie hatte damit gerechnet. Laleh gehörte zu derselben Welt wie Sorusch – zu einer Welt voll Licht und nicht voll Schatten. Mit freiem Himmel statt enger, versteckter Geheimgänge.

Soraya bückte sich und grub mit bloßen Händen ein Loch in die Erde – ein Zuhause für ihre neue Rose. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Käfer sich noch immer seinen mühseligen Weg durch den Garten bahnte. Soraya beobachtete ihn, diesen Eindringling in ihrer Zufluchtsstätte. Und dann streckte sie den Arm aus und strich mit der Fingerspitze über seinen glatten Rücken.

Der Käfer regte sich nicht mehr, und Soraya setzte ihre Arbeit fort.

2

Fünf Tage nach der Rückkehr ihrer Familie stand sie wieder auf dem Dach. Es war die Nacht des Suri-Festes, die letzte Nacht des Winters, und Soraya starrte tief ins Herz des Feuers und versuchte, eine Verbindung zu ihren Vorfahren zu spüren. In ihrem Fall war das schwierig, denn ihr Urahn war ein Vogel.

So wurde es jedenfalls erzählt. Der erste Schah in der Erblinie ihrer Dynastie, der Schah, der den bösartigen Schahmar stürzte und vor über zweihundert Jahren den Thron bestieg, war ein Findelkind gewesen. Seine Eltern hatten ihn ausgesetzt und am Fuße eines Berges niedergelegt, um ihn den Dîws zu überlassen. Doch statt der Dîws fand ihn die Simorgh, jener sagenumwobene Vogel, der als Symbol und Beschützer Ataschars diente, und nahm ihn als ihren Sohn bei sich auf. Jahre später, nach der Niederwerfung des Schahmars, schenkte die Simorgh ihrem frisch gekrönten Sohn eine ihrer Federn, die ihn und alle Schahs oder Schahbanus, die von ihm abstammten, vor den Kräften des Zerstörers schützen sollte. Obgleich der Schutz der Simorgh keine Macht über natürliche Todesfälle besaß, wie bei Sorayas Vater, schützte er den amtierenden Schah vor Dîws und menschlichen Zauberern, bekannt als Yatus.

Der Schutz der Simorgh musste aus freien Stücken von der Simorgh persönlich gewährt werden, er konnte nicht gewonnen oder durch Unterwerfung erlangt werden, und deshalb war er der ganze Stolz ihrer Familie, auch wenn die Simorgh während der Regierungszeit von Sorayas Urgroßvater verschwunden war. Die Unterstützer ihrer Familie glaubten, die Simorgh sei fortgegangen, weil sie nicht mehr gebraucht wurde, während Gegner behaupteten, die Simorgh hätte die königliche Familie verlassen, weil ihr missfallen hatte, dass Sorayas Urgroßvater einen Waffenstillstand ausgerufen hatte, um den jahrelangen Krieg mit Hellea zu beenden. Andere vermuteten, dass der Schahmar noch am Leben war und die Simorgh aus Rache für seine Niederwerfung gejagt und getötet hatte. Was ihr auch immer zugestoßen sein mochte, es gab kaum noch Menschen, die lange genug gelebt hatten, um sich daran zu erinnern, sie jemals gesehen zu haben.

Und das war der Ursprung ihrer Ahnenreihe, den Soraya in dieser Nacht ehren sollte. Morgen, beim Nog-Roz-Fest, würde der ganze Palast das Leben feiern, doch Suri war eine Nacht, die den Geistern der Toten gewidmet war. Das Feuer, das vor ihr auf dem Dach loderte, war entzündet worden, um ihre Ahnen willkommen zu heißen, die Schutzgeister, die ihre Familie bewachten.

Jedes Jahr versuchte Soraya, die Rückkehr ihrer Vorfahren zu spüren – irgendein Gefühl der Verbundenheit zwischen dieser langen Reihe von Schahs und ihr selbst, der verfluchten Schahzadeh, die allein in der Dunkelheit stand. Oder zwischen ihr und den Menschen von Ataschar, die auf den Dächern ihrer Häuser Feuer brennen ließen, um ihre eigenen Vorfahren willkommen zu heißen. Ihre Ahnen, ihr Volk, ihr Land – dies waren die Wurzeln eines Menschen, die Kräfte, die jemanden mit einer Zeit und einem Ort verbanden, ein Gefühl von Zugehörigkeit. Soraya spürte nichts davon. Manchmal wünschte sie, sie könnte aus diesem Leben davonschweben wie eine Rauchfahne und noch einmal von vorn anfangen, weit entfernt, ohne jegliches Bedauern.

Soraya wandte sich vom Feuer ab und schlenderte zum Rand des Daches. Unter ihr brannten im Garten verteilt mehrere kleinere Feuer. Mitglieder des Hofs hatten sich darum versammelt. Sie versuchten, ernst und respektvoll zu wirken, doch wahrscheinlich tratschten sie nur bei einem Becher Wein. Sollte einer von ihnen in ihre Richtung schauen, würde sie sich nur als dunkle, trübsinnige Silhouette vor dem Feuerschein abheben.

Ja, sie blies Trübsal. Nach der Ankündigung ihrer Mutter hatte sie sich geschworen, nicht zu schmollen – es wäre zu einfach, in Neid zu versinken, diese Art von Gift in ihr Herz und ihre Adern fließen zu lassen. Und doch stand sie wieder einmal allein auf dem Dach und schmollte.

Seufzend beugte sich Soraya nach vorn und stützte sich mit den Ellbogen auf der Brüstung ab. Immer wenn sie auf dem Dach war, betrachtete sie gern, wie ihr langes, dunkles Haar über die Mauer herabfiel, weil es sie an eine ihrer liebsten Geschichten erinnerte. Eine Prinzessin hatte einen heimlichen Liebsten, der an ihr Fenster kam, um sie zu sehen. Sie ließ ihr Haar herab, damit er daran zu ihr heraufsteigen konnte, aber er weigerte sich. Er wollte kein einziges Haar auf ihrem Kopf krümmen, erklärte er ihr, und ließ stattdessen nach einem Seil schicken. Soraya hatte diese Geschichte im Laufe der Jahre wieder und wieder gelesen und sich gefragt, ob sie jemals aus dem Fenster schauen und jemanden sehen würde, der unten auf sie wartete, jemanden wie dieser junge Mann, dem ihre Sicherheit wichtiger wäre als seine eigene.

Ein törichter Gedanke. Ein sinnloser Wunsch. Soraya hätte es mittlerweile klar sein müssen, dass es keinen Zweck hatte, in derartigen Fantasien zu schwelgen. Sie hatte genug Märchen gelesen, um zu wissen, dass die Prinzessin und das Ungeheuer niemals dieselbe Person waren. Und sie war lange genug allein gewesen, um zu wissen, wer von beiden sie war.

Soraya wollte sich abwenden, doch dann fiel ihr etwas anderes ins Auge. Eine Gruppe rot gekleideter Soldaten stand beieinander und scharte sich um einen ihrer Kameraden. Auf den zweiten Blick wurde ihre spontane Vermutung bestätigt, dass der junge Mann in der Mitte derselbe Mann war, der sie ein paar Tage zuvor beim Einzug der königlichen Karawane entdeckt hatte. Jetzt trug er den roten Waffenrock der Azatanen, ein Privileg, das die meisten durch ihre Geburt erworben hatten. Die Ernennung eines gemeinen Bürgers zum Azatan war normalerweise die Belohnung des Schahs für jene, die sich durch große Heldentaten für die Krone verdient gemacht hatten. Wenn dieser junge Mann in die Ränge der Azatanen aufgestiegen war, musste er eine solche Heldentat begangen haben.

Neugierig ergriff Soraya die Gelegenheit beim Schopf, um ihn genauer zu betrachten. Auf den ersten Blick unterschied er sich kaum von den übrigen Soldaten mit ihren roten Waffenröcken, aber sein Körperbau war anders. Seine Kameraden hatten breite Schultern und muskelbepackte Arme, während dieser junge Mann groß und schlank war. Geschmeidig, dachte Soraya. Er strahlte Anmut aus – seine Haltung, wie er den Kopf neigte, wie er den Weinkelch hielt – etwas, das den anderen fehlte. Neben ihm wirkten sie ungeschlacht und schwer wie Holz, während seine Bewegungen flüssig und graziös anmuteten.

»Soraya?«

Soraya richtete sich erschrocken auf und wandte sich der zögerlichen Stimme zu. Sie fühlte sich auf seltsame Weise schuldig, als wäre sie beim Lauschen erwischt worden – doch als sie sah, wer sie angesprochen hatte, waren alle Gedanken an den jungen Mann vergessen.

»Laleh!«

Der Feuerschein verlieh ihrem Haar einen goldenen Schimmer und ließ Laleh wie eine Lichtgestalt aussehen. Über ihrem hellen Gewand trug sie eine kunstvoll drapierte orangerote Schärpe. Sie würde ja bald Soruschs Ehefrau werden, und durch ihre Erscheinung und ihr Verhalten wirkte sie schon jetzt wie eine Königin.

»Ich habe jemanden auf dem Dach stehen sehen und dachte mir, dass du es bist«, sagte Laleh. Ihre Sprache klang so geschliffen, wie die einer jungen Frau, die es gewohnt war, Konversation zu betreiben, gleichzeitig schwang in ihrer Stimme eine gewisse Unsicherheit mit.

»Meine Mutter hat mir die Nachricht überbracht«, sagte Soraya. »Ich freue mich, dass ich die Möglichkeit habe, dir persönlich meine Glückwünsche auszusprechen.«

Soraya fürchtete, nicht besonders überzeugend zu klingen, doch Laleh lächelte und ihre Schultern entspannten sich. Sie trat neben Soraya an die Brüstung und Soraya war gerührt, weil Laleh sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Schritte zwischen ihnen abzuzählen oder zu schauen, wo Sorayas Hände sich befanden. Laleh war immer der einzige Mensch gewesen, der sie vergessen ließ, dass sie mit einem Fluch belegt war. Soraya wandte ihr Gesicht ab, damit Laleh ihre Augen nicht sah.

»Ich habe vor ein paar Tagen daran gedacht, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, sagte Laleh. »Weißt du noch?«

Soraya versuchte zu lächeln. »Ob ich noch weiß, wie ich aus Versehen in dein Zimmer gestolpert bin? Wie könnte ich das vergessen?« Als Kind kannte sich Soraya in den Geheimgängen Golvahars noch nicht so gut aus wie heute. Sie hatte sich bei den Türen verzählt und war durch eine geheime Tapetentür in Lalehs Schlafzimmer getreten und dabei über ihre eigenen Füße gestolpert. Soraya erinnerte sich noch an die verblüfften Gesichter von Laleh und Ramin, die über ein Spiel gebeugt am Tisch gesessen hatten, als ein fremdes, Handschuhe tragendes Mädchen aus dem Nichts in ihr Zimmer gestürzt war.

»Ich hatte dich nicht durch die Wand kommen sehen«, sagte Laleh. »Deshalb dachte ich, ich hätte geträumt.« Sie schüttelte irritiert den Kopf. »Und natürlich ist Ramin nichts Besseres eingefallen, als dich zur Rede zu stellen – als hätte irgendein Attentäter ein siebenjähriges Mädchen losgeschickt, um uns anzugreifen.«

Soraya lächelte ein wenig, doch so ungern sie Ramin auch recht geben mochte, so hatte er mit seiner Vermutung, sie könne eine Gefahr darstellen, nicht ganz falschgelegen. Während sie versuchte, die Tapetentür wieder zu öffnen, kam Ramin näher und näher auf sie zu. Als er wissen wollte, wer sie war, und die Hand nach ihr ausstreckte, warnte sie ihn davor, sie zu berühren, da er sonst sterben müsse, weil sie vergiftet sei. Sie sollte niemandem davon erzählen, aber die Worte waren ihr entschlüpft, bevor sie sie zurückhalten konnte.

»Ich hatte solche Angst, er würde mir nicht glauben«, sagte Soraya leise und schaute auf ihre Hände, die auf der Brüstung lagen. »Ich fürchtete, er könnte einen Beweis fordern und dass ich etwas töten müsste, damit er mich in Ruhe ließ. Aber du hast ihn weggezogen und mich gefragt, ob ich bei eurem Spiel mitmachen wollte.« Soraya hob den Kopf und schaute Laleh in die Augen. »Du warst der einzige Mensch, der mir jemals das Gefühl gab, dass ich jemand war, der es wert war, beschützt zu werden.«

Laleh schwieg und an der Art, wie sie die Mundwinkel verzog und die Augenlider senkte, erkannte Soraya, wie sich ihre Gefühle von Stolz in Mitleid und schließlich in Schuldbewusstsein verwandelten, als ihr klar wurde, was Soraya gesagt hatte – du warst, nicht du bist. Soraya war es zuerst gar nicht aufgefallen. Verzweifelt suchte sie nach einem Weg, den dunklen Schatten zu verscheuchen, den sie heraufbeschworen hatte. »Du wirst eine wundervolle Königin sein«, sagte sie. »Sorusch hat großes Glück.«

Das half ein wenig. Lalehs Blick hellte sich wieder auf, als sie Soraya dankte, und ein schelmisches Lächeln trat auf ihre Lippen. »Weißt du noch, wie ich mir immer gewünscht habe, dass du eines Tages Ramin heiraten würdest?«

Soraya blinzelte überrascht. »Warum solltest du mir jemals so etwas wünschen?«, fragte sie mit gespielter Entrüstung.

Sorayas entsetzter Blick brachte Laleh zum Lachen. Verschämt hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Als wir alle noch Kinder waren, habe ich gehofft, dass ihr zwei eines Tages zueinanderfinden würdet. Ich wollte, dass wir Schwestern werden.«

Ja, Soraya konnte sich wieder daran erinnern. Eines Morgens hatten sie auf der Obstwiese gelegen, nachdem sie ein paar Feigen stibitzt hatten. Sie lagen nebeneinander, ihre Schultern berührten sich zwar nicht, waren jedoch nicht so weit voneinander entfernt, dass es schien, als würden sie sich absichtlich nicht berühren. Laleh hatte gesagt, sie würde sich wünschen, sie wären Schwestern, und Soraya hatte über ihren Vorschlag nachgedacht und gemeint, dass sie ja vielleicht heiraten könnten, wenn sie erwachsen wären. Laleh hatte gelacht, als wäre es ein Scherz gewesen, und Soraya hatte auch gelacht, obwohl es keiner war.

Jetzt fragte sie sich, ob Laleh sich an diesen Teil erinnerte und immer noch glaubte, es sei ein Scherz gewesen. Doch Soraya wollte nicht, dass wieder ein dunkler Schatten auf das Gesicht ihrer Freundin trat. Deshalb sagte sie: »Es sieht so aus, als ginge dein Wunsch doch noch in Erfüllung.«

Und da ist er, der Grund, aus dem Lalehs Wünsche alle in Erfüllung gehen, dachte Soraya, als sie Sorusch unten in der Menge entdeckte. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sich ihr Vater, der frühere Schah, nicht unters Volk gemischt, außer an Nog-Roz, doch Sorusch war zu jung und temperamentvoll, um sich abzusondern. Nicht neidisch sein, ermahnte sich Soraya.

Dann bemerkte sie den jungen Mann, mit dem er sprach, und schnappte nach Luft. Laleh schaute sie fragend an und folgte Sorayas Blick. »Ah, du hast Azad entdeckt.«

Der leicht anzügliche Unterton in ihrer Stimme und ihr wissendes Lächeln machten Soraya zornig. Selbst wenn sie diesem jungen Mann, abgesehen von Neugierde, irgendwelche anderen Gefühle entgegengebracht hätte, glaubte Laleh doch nicht im Ernst, dass sich jemals mehr daraus entwickeln könnte! Oder wollte sie ihre Schuldgefühle mildern, indem sie sich einredete, dass Soraya jetzt jemand anderen gefunden hatte, um die Lücke ihrer früheren Freundschaft zu füllen?

»Er ist mir vor ein paar Tagen in der Karawane aufgefallen«, erklärte Soraya und versuchte, ihre verbitterten Gedanken herunterzuschlucken. »Ich habe mich gefragt, warum er jetzt die Azatanen-Uniform trägt, und in der Karawane noch nicht.«

»Einige Tage bevor wir nach Golvahar aufbrachen, hörten wir Berichte über einen Dîw-Angriff auf ein nahe gelegenes Dorf«, erläuterte Laleh. »Sorusch ist selbst hingeritten und einer der Dîws wollte ihn von hinten angreifen. Aber er steht ja unter dem Schutz der Simorgh und bevor der Dîw zuschlagen konnte, hat ein junger Mann aus dem Dorf ihn bewusstlos geschlagen. Für seine Tapferkeit machte Sorusch ihn zum Azatan. Die Aufnahmezeremonie war gestern, und Sorusch hat ihn eingeladen, bis nach der Hochzeit in Golvahar zu bleiben.«

Soraya erwog Lalehs Worte. Sie bemerkte den Stolz in Lalehs Stimme, wenn sie von Sorusch sprach, ihre Dankbarkeit, die sie diesem jungen Helden gegenüber empfand, der den Mann gerettet hatte, den sie liebte. Da Sorusch unter dem Schutz der Simorgh stand und durch die Hände eines Dîws nicht zu Schaden kommen konnte, fand Soraya die Dankbarkeit ihrer Freundin jedoch ein wenig übertrieben.

»In der Tat …«, begann Laleh und starrte weiter in den Garten hinab, dann schaute sie mit entschlossenem Blick zu Soraya auf. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren Augen. »Das ist der Grund, aus dem ich hergekommen bin, um mit dir zu sprechen«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort. »Der Dîw, der Sorusch angreifen wollte, wurde lebend gefangen genommen und in den Kerker gesperrt. Keiner soll es erfahren, aber ich hörte zufällig, wie Ramin und mein Vater darüber sprachen.«

Soraya schüttelte den Kopf und verstand nicht recht, warum Laleh ihr all dies mit derartiger Eindringlichkeit erzählte, aber dann erkannte sie die unausgesprochene Frage, die in Lalehs Worten mitschwang, und ihre Bedeutsamkeit traf sie wie ein Keulenschlag, sodass sie sich an der Brüstung festhalten musste, um nicht zu stürzen.

Was wäre, wenn dieser Dîw weiß, wie dein Fluch aufgehoben werden kann?

Um ein Haar hätte sie aufgeschluchzt – nicht vor Traurigkeit, sondern vor Erleichterung. Vor Hoffnung. Soraya hatte noch nie zuvor einen leibhaftigen Dîw gesehen, doch ihr eigener Leib erinnerte sie ständig an ihre Existenz, ihre Macht, ihre Boshaftigkeit. Es war ein Dîw, der sie verflucht und dadurch den gesamten Verlauf ihres Lebens bestimmt hatte.

War es dann nicht genauso gut möglich, dass ein Dîw sie retten konnte?

3

Soraya öffnete die in der Vertäfelung versteckte Tür zum Vorzimmer ihrer Mutter und hielt instinktiv den Atem an, als sie in den leeren Raum trat. Schon als Kind hatte sie sich in den luxuriös eingerichteten Gemächern ihrer Mutter immer ein wenig unbehaglich gefühlt. Hier drinnen war alles makellos – die goldverzierten Möbelstücke, die Kristall- und Silberschalen mit Nüssen und Datteln, die auf einem elfenbeinernen Tisch vor dem niedrigen Sofa standen, die Teppiche unter ihren Füßen. Soraya hielt die Hände dicht am Körper, aus Angst, diesen wunderschönen, tadellosen Raum, der so perfekt zu ihrer Mutter passte, durch ihre Berührung zu zerstören.

Nachdem sie Laleh für ihren Bericht über den Dîw gedankt hatte, war Soraya auf direktem Wege hierhergekommen, um auf ihre Mutter zu warten. Sie brauchte ihre Erlaubnis, um den Kerker zu besuchen, doch viel wichtiger war ihr, das Gesicht ihrer Mutter mit derselben Hoffnung aufleuchten zu sehen, die sie selbst gerade verspürte. Tahmineh versuchte, die Belastung, die Sorayas Fluch für sie bedeutete, nicht zu zeigen, aber eine feine Linie trat auf ihre Stirn und vertiefte sich zusehends, je mehr Zeit sie mit ihrer Tochter verbrachte. Soraya wollte, dass diese Linie sich glättete und verschwand.

Soraya setzte sich, stand aber gleich wieder auf und ging im Zimmer auf und ab. Als die Tür des Vorzimmers endlich aufschwang, erschrak sie und wünschte, sie hätte im Geheimgang gewartet. Ihre Mutter, in leuchtend violette Gewänder gekleidet, stand mit ihren Dienerinnen auf der Schwelle – und alle starrten auf Soraya.

Tahmineh übernahm sofort die Kontrolle. Sie nickte Soraya kurz zu, wandte sich nach ihren Dienerinnen um und entließ sie für die Nacht. Als sie sich zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, kam sie mit besorgtem Blick auf Soraya zu. Die Linie auf ihrer Stirn trat deutlich hervor. »Ist etwas geschehen?«

Soraya schüttelte den Kopf. »Ich muss Euch etwas sagen, Maman – etwas, das Euch glücklich machen wird.« Sie hätte damit beginnen müssen, ihre Mutter nach ihrem Wohlergehen zu befragen, oder sie mit einer höflichen Plauderei zu unterhalten, aber sie konnte nicht länger warten. Ohne Laleh zu erwähnen, erzählte sie ihr von dem gefangenen Dîw, den sie gern wegen ihres Fluches befragen wollte.

Es folgte ein Augenblick der Stille, dann noch einer und Soraya wartete darauf, dass Begeisterung die Sorgenfalten im Gesicht ihrer Mutter vertreiben würde. Doch stattdessen presste Tahmineh die Lippen zusammen, durchquerte schweigend den Raum, nahm auf dem Sofa Platz und deutete auf den Sessel, der ihr gegenüber stand. »Komm setz dich, Soraya.«

Soraya gehorchte und begann plötzlich zu frieren. Ihrer Mutter am Tisch gegenüberzusitzen ließ sie befürchten, zur Rede gestellt zu werden.

Und sie hatte recht – das Erste, was ihre Mutter zu ihr sagte, war: »Wie hast du von dem Dîw erfahren?«

Sie begann Ausflüchte zu machen und behauptete, es zufällig gehört zu haben, bis ihr bewusst wurde, was die Frage ihrer Mutter tatsächlich bedeutete. »Ihr habt es gewusst und mir nichts davon gesagt?« Soraya konnte den vorwurfsvollen Unterton ihrer Worte nicht verbergen. »Ihr wusstet es und habt mir nichts davon gesagt?« Sie war nicht überrascht gewesen, dass Sorusch es ihr nicht selbst mitgeteilt hatte – sie sahen einander ja kaum noch, und er trug die Last von ganz Ataschar auf den Schultern, sodass sie wahrscheinlich seine geringste Sorge war. Aber ihre Mutter … Soraya hätte erwartet diese Neuigkeit zuerst von Tahmineh zu erfahren statt von Laleh.

»Ich wusste es, aber dachte nicht, dass es dich beträfe«, erwiderte Tahmineh.

»Aber der Fluch …«

»Dîws sind Lügner, Soraya. Und sie sind gefährlich. Ich werde dich dieser Gefahr nicht aussetzen.«

»Ein Dîw kann mir nichts anhaben – erst recht nicht im Kerker.«

Tahmineh zupfte am Stoff ihres Gewandes. »Die Gefahr ist nicht immer offensichtlich. Dîws können Menschen manipulieren. Sie können dich mit einem einzigen Wort vernichten.«

»Bitte, Maman – ich werde ganz vorsichtig sein. Lasst mich nur einmal mit ihm reden.«

»Soraya, das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte Tahmineh mit lauterer Stimme. »Es ist zu gefährlich, und du kannst nichts von dem glauben, was der Dîw dir sagt. Ich werde es nicht erlauben.«

Der scharfe Tonfall ihrer Mutter ließ Soraya erröten. Sie wusste, dass ihre Adern ihre Enttäuschung in ihrem Gesicht sichtbar machten, und sie konnte nicht glauben, dass ihre Mutter tatenlos zuschaute, wie sich das Gift im Körper ihrer Tochter ausbreitete, und ihr diese winzige Chance versagte, sich davon zu befreien. Soraya schüttelte den Kopf, spürte wie das Gift durch ihre Adern rann, aus ihrer Haut perlte und ihre Zunge überzog. »Wie könnt Ihr das zu mir sagen, wo Ihr …«

Sie verstummte, bevor sie dieses eine Thema berührte, das immer unausgesprochen zwischen ihnen stand, aber es war zu spät. Tahminehs Hände blieben reglos in ihrem Schoß liegen und ihr Gesicht wurde aschfahl, als sei sie es, die vergiftet worden war.

Soraya hatte ihrer Mutter niemals einen Vorwurf gemacht. Noch nie hatte sie gesagt: Mein Leben ist so geworden wegen einer Entscheidung, die du getroffen hast. Schließlich war ihre Mutter fast noch ein Kind gewesen, als der Dîw ihre zukünftige Tochter verflucht hatte. Soraya hatte niemals eine Entschuldigung gefordert für das, was geschehen war, und Tahmineh hatte ihrerseits nie eine angeboten. Stattdessen war da jene Linie auf ihrer Stirn, die bedrückende Last unausgesprochener Worte.

Soraya senkte den Kopf, ihr Zorn verrauchte zu einem Gefühl der Schuld. Sie hätte sich die Zunge abgebissen, hätte sie damit ungeschehen machen können, was sie beinahe gesagt hatte. Ihre Finger tasteten nach dem losen Faden an ihrem Ärmel. Ein Teil von ihr wollte ihrer Mutter immer noch sagen, dass sie sich mit dem Verbot nicht abfinden konnte und mit dem Dîw sprechen musste. Und ein anderer Teil von ihr wollte einfach losschreien.

Doch schließlich holte sie nur tief Luft, als wollte sie ganz lange unter Wasser tauchen, und sagte: »Ich verstehe.«

Mitten in der Nacht schreckte Soraya keuchend aus dem Schlaf. Wieder hatte sie von dem Schahmar geträumt.

Die Träume waren jedes Mal anders, aber sie endeten immer gleich. Der Schahmar erschien, erhob einen seiner gekrümmten, schuppigen Finger und deutete damit auf ihre Hände. Soraya schaute nach unten und sah, wie sich die Adern auf ihrem Handrücken dunkelgrün verfärbten, doch diesmal konnte sie sie nicht aufhalten, als sie sich über ihren ganzen Körper ausbreiteten und eine endgültige, nicht mehr rückgängig zu machende Verwandlung bewirkten. Ein quälender Druck baute sich in ihrem Inneren auf, als würde etwas aus ihrer Haut hervorbrechen wollen, doch immer wenn sie glaubte, es nicht länger ertragen zu können, wachte sie auf, das schallende Gelächter des Schahmars noch in den Ohren.

Die erste Geschichte, die Soraya jemals gehört hatte, war ihre eigene – die Geschichte über den Dîw, der die zukünftige Tochter ihrer Mutter verflucht hatte. Die erste Geschichte, die Soraya selbst gelesen hatte, war die Geschichte über den Schahmar: der Prinz, der durch seine Untaten so verdorben worden war, dass er sich in einen schlangenartigen Dîw verwandelt hatte.

Voller Entsetzen hatte Soraya die Illustrationen angestarrt, auf denen zu sehen war, wie aus den Armen des jungen Mannes grüne Schuppen hervortraten, und dann war ihr Blick zu den grünen Linien auf ihren Handgelenken gewandert. Sie hatte das Buch zugeschlagen und sich vorgenommen, immer gut zu sein und böse Gedanken von sich fernzuhalten, in der Hoffnung, dass der Fluch niemals ihren Geist entstellen oder ihren Körper noch mehr verwandeln würde, als er es bislang getan hatte.

Es gab andere Dîws, die ein Kind noch mehr ängstigen konnten – der wutschnaubende Aeschma mit seiner blutigen Keule, oder Nasu, die, wo auch immer sie auftauchte, Verderben säte – doch der Schahmar war derjenige, der sie immer wieder magisch anzog, der ihr furchtbare Angst einjagte und dem sie trotzdem nicht widerstehen konnte. Doch bald brauchte sie den Schahmar nicht mehr in Büchern zu suchen, denn er begann, in ihren Träumen zu erscheinen, in denen er lachend über ihr aufragte, während seine Vergangenheit zu ihrer Zukunft wurde.

Soraya setzte sich auf und versuchte, die Bilder aus ihrem Traum und das Druckgefühl unter ihrer Haut auszulöschen. Noch nie hatte sie jemandem von ihrer Angst erzählt, sich zu verwandeln, nicht einmal ihrer Mutter. Und vielleicht konnte Tahmineh deshalb Sorayas dringenden Wunsch nicht verstehen, einen Weg zu finden, den Fluch aufzuheben, oder warum es Soraya so müßig schien, sich vor einem Dîw zu fürchten. Soraya hatte viel mehr Angst vor sich selbst und davor, was vielleicht aus ihr werden könnte.

Hastig schwang Soraya sich aus dem Bett und öffnete die Tür zum Golestan. Der Mond war nur eine dünne Sichel in dieser Nacht, aber die Glut des heruntergebrannten Feuers verlieh den sonst so bunten Farben ihres Gartens einen einheitlichen, orangefarbenen Schimmer. Das Gras war kalt und feucht unter ihren nackten Füßen, als sie durch den Garten zu der Mauerpforte tappte. Sie kam sich vor wie eine Schlafwandlerin, ging einen Schritt nach dem anderen, als würde sie von irgendeiner fremden Macht geleitet. Es kümmerte sie nicht, dass es mitten in der Nacht war. Es kümmerte sie nicht, dass sie nur ein Nachthemd trug und dass ihre Füße nackt waren. Sie dachte nur an das Ungeheuer, das im Kerker unter dem Palast auf sie wartete.

Es gab keinen Geheimgang, der hinunter führte – dieser Weg war vor Sorayas Geburt abgesperrt worden. Stattdessen musste sie an der Palastmauer entlangwandern, bis zur gegenüber liegenden Ecke, wo sich, wie sie wusste, eine kleine, unscheinbare Tür befand, durch die man eine schmale, nach unten führende Treppe erreichte.

Sie verhielt sich vollkommen leichtsinnig und nicht nur, weil ihre Hände und Füße bloß und ihre Kleider unangemessen waren. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie den Kerker erreicht hatte. Dort würden sicher Wärter sein, an denen sie sich irgendwie vorbeischleichen musste. Trotz aller Bedenken steuerte sie unbeirrbar auf den verwitterten Türbogen zu, der sich finster vor ihr auftat. Als sie durch die Tür getreten war und vor der schmalen Treppe stand, die in das düstere Verlies hinabführte, wusste sie, dass sie einen Weg finden würde – sie musste einen Weg finden. Nichts anderes zählte für sie, nichts anderes existierte, nichts konnte sie aufhalten …

Ein lautes, klirrendes Geräusch unterbrach ihre Gedanken, und sie spürte eine kalte Metallklinge an ihrer Kehle.

»Keinen Schritt weiter!«, knurrte eine vertraute Stimme in der Dunkelheit.

Sie hatte Glück, dass er sie nicht auf der Stelle getötet hatte, doch als sie Ramins Stimme erkannte, fühlte sie sich wahrhaftig verflucht. Warum musste sie ausgerechnet von ihm erwischt werden?

»Ich bin es, Ramin«, sagte sie. Ihre Stimme schien von der Dunkelheit verschluckt zu werden, deshalb wiederholte sie ihre Mitteilung mit lauterer Stimme. »Ich bin es, Soraya.«

Jeder andere wäre augenblicklich zurückgewichen – erstens weil sie die Schahzadeh war und zweitens wegen ihres Fluches – doch Ramins Schwert blieb noch einen Moment an ihrer Kehle, als würde er gegen einen inneren Zwang ankämpfen. Schließlich schob er das Schwert in die Scheide und stemmte die Hände in die Hüften. »Soraya. Dich habe ich hier nicht erwartet.« Er trat einen Schritt näher an sie heran und zwang Soraya zurückzuweichen.

»Es war nur – ich wollte sehen …«

Ihre Stimme war zu leise und er rückte immer näher. Sie wich noch weiter zurück, aber er sorgte dafür, dass der Abstand zwischen ihnen nicht mehr als eine Schrittlänge betrug. »Du bist mir zu nah«, flüsterte sie heiser.

Er schnaubte höhnisch. »Ich hab keine Angst vor dir, Soraya.«