ILLUSTRIERT VON
MARK JANSSEN
LOTTE STEGEMAN
DER TIERE
Gefühle
DIE
VON EIFERSÜCHTIGEN AFFEN, ÄNGSTLICHEN
HUNDEN UND PFIFFIGEN RATTEN
Aus dem Niederländischen
von Verena Kiefer
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen
Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-book ist urheberrechtlich geschützt.
Die niederländische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel
«Ik voel ik voel wat jij niet ziet» bei uitgeverij Luitingh-Sijthoff bv, Amsterdam.
Die Übersetzung des vorliegenden Buches wurde vom Nederlands Letterenfonds gefördert.
Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für ihre Unterstützung.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Deutsche Erstausgabe
Copyright für die deutsche Übersetzung © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Ik voel ik voel wat jij niet ziet» Copyright © 2022 by Lotte Stegeman
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining
im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Lektorat Christiane Steen
S. 16 Gemälde des siebenjährigen Charles Darwin mit seiner Schwester
© 1816 Ellen Sharples, Foto 2016 Alamy Stock Photo/Pictorial Press Ltd
S. 18 Seite aus dem Buch «The Expression of the Emotions in Man and Animals»
von Charles Darwin aus dem Jahr 1872, Foto Alamy Stock Photo/914 Collection
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg,
nach dem Original von uitgeverij Luitingh-Sijthoff bv 2022
Coverabbildung Mark Janssen
Satz aus der Questa bei CPI books GmbH, Leck
E-Book Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
ISBN 978-3-7336-0647-3
Für Flip,
meinen süßen kleinen
eifersüchtigen Drachen
INHALT
Vorwort 9
Im Kopf eines Tieres 11
An-thro-po-mor-phi-sie-ren 12
Darwins Entdeckungen 17
Wie wir wissen,
was wir wissen 20
Ein Dschungel voller
Emotionen 27
EIFERSUCHT
Eine Steine werfende Affentochter
und superschlaue Vögel 29
ANGST
Ängstliche Bauchkriecher
und eine bewusstlose
Beutelratte 39
WUT
Ein brüllender Löwe und
eine wütende Pumamutter 47
FREUDE
Planschende Sittiche
und ein lachender Bonobo 55
TRAUER
EKEL
Der Makake, der in die
Kacke trat – und noch
mehr Häufchen 65
Der Orca, der nicht losließ,
und ein untröstlicher
Schimpanse 73
EMPATHIE
Die Ratte, die nasse Ratten rettete,
und Pottwalfreunde in Panik 81
SCHMERZ
Ein Oktopus in
Schwierigkeiten und
Fische mit Gefühl 89
LIEBE
Kuscheltiere, ein Schildpferd
und eine Nilkröte 97
Wer die Wahl hat … 106
Und dann noch kurz … 108
Woher alle Informationen aus
diesem Buch stammen 111
ww
VORWORT
I
ch bin mit einer großen Liebe für
Tiere zur Welt gekommen, ihr Ver-
halten faszinierte mich von klein auf.
Als ich jung war – ich bin 1934 geboren – ,
konnte man nicht fernsehen, denn kaum
jemand besaß ein Fernsehgerät. Über
Eichhörnchen, Vögel und Insekten lern-
te ich also, indem ich sie rund um unser
Haus beobachtete und viele Bücher las.
Daheim hatten wir immer eine Katze, und
ich selbst hatte noch viel mehr Haustiere.
Einen Kanarienvogel zum Beispiel, der
frei durchs Haus flog und nur nachts in
seinen Käfig ging. Ich finde es schrecklich,
Tiere einzusperren. Es gab zwei Meer-
schweinchen, mit denen wir spazieren
gingen, einen Hamster, der im Sofa wohn-
te, zwei Schildkröten aus dem Tierheim
und einen trägen Wurm. Als ich zwölf
war, kam Rusty in mein Leben. Er war
der klügste Hund, der mir je begegnet
ist. Wir haben alles zusammen gemacht,
er durfte nur nicht mit zur Schule. Jedes
einzelne dieser Tiere hatte seine eigene
Persönlichkeit. Ich wusste immer, ob
sie fröhlich oder traurig waren, wütend
oder ängstlich. Und ich wusste, wann
sie Schmerzen hatten.
Mit zehn Jahren beschloss ich, dass ich
bei wilden Tieren in Afrika leben wollte
9
und Bücher über sie schreiben würde.
Alle lachten mich aus. Afrika war so weit
weg, wir hatten sehr wenig Geld, und ich
war bloß ein Mädchen. Vor achtzig Jahren
durften Mädchen noch nicht so viel tun.
Aber meine Mutter war anders. Sie mach-
te mir klar, dass ich hart arbeiten und jede
Chance ergreifen müsste, die sich mir
bieten würde. Dann fände ich vielleicht
eine Möglichkeit, das hinzukriegen.
Und ich habe es geschafft!
1960 landete ich schließlich im Gombe-
Nationalpark, im ostafrikanischen Land
Tansania. Ich hatte Geld gespart und
einige Zeit bei einer alten Schulfreundin
in Kenia verbracht. Dort lernte ich den
berühmten Wissenschaftler Dr. Louis
Leakey kennen. Er kümmerte sich um ein
Stipendium, das mir ermöglichte, Schim-
pansen in freier Wildnis zu beobachten.
Das hatte es noch nie zuvor gegeben.
Anfangs liefen die Schimpansen vor mir
davon. Aber allmählich verloren sie ihre
Angst, und ich lernte ihre unterschied-
lichen Charaktere kennen. Und du lieber
Himmel, wie sehr ähnelten sie uns! Küs-
sen, umarmen, Hände halten, Werkzeuge
herstellen und benutzen … Sie können
gemein und aggressiv sein, aber auch
fürsorglich und liebevoll. Sie pflegen enge
Beziehungen zu ihren Familienmitglie-
dern, und wenn ein Kind stirbt, ist eine
Mutter traurig und depressiv.
Wenn eine Mutter stirbt, trauern ihre
Kinder.
Wie bei uns.
Dieses wichtige Buch, das du jetzt in
Händen hältst, hilft dir, mehr über all
diese besonderen Tiere herauszufinden,
mit denen wir unseren Planeten teilen.
Es kann dich dazu bewegen, noch mehr
über sie in Erfahrung bringen zu wol-
len – und es gibt immer noch so vieles zu
lernen. Je besser wir die Tiere verstehen,
desto bewusster wird uns, wie oft sie
schlecht von Menschen behandelt wer-
den, denen einfach nicht klar ist, dass
Tiere Gefühle haben wie wir. Nicht nur
Menschenaffen und andere Affen,
Elefanten und Wale, sondern auch Kühe
und Schweine und Nagetiere und Vögel –
und damit auch Hühner.
Wir alle, ob wir acht Jahre alt sind oder
achtzig, können für das Leben auf dieser
Erde etwas bewirken. Auch Kleinigkeiten
zählen, wie zum Beispiel Gassi gehen mit
einem Hund, wenn Herrchen oder Frau-
chen krank sind. Denn eines sollten wir
nicht vergessen: Ein einziger Tropfen mag
klein sein, doch ein Ozean besteht aus
vielen kleinen Tropfen. Und wenn Tau-
sende von Menschen kleine Dinge tun,
um Tieren zu helfen, entsteht ein ganzes
Meer aus Fürsorge. Ich kenne Hunderte
Kinder auf der ganzen Welt, die Groß-
artiges leisten, um das Leben von Tieren
zu verbessern. Viele von ihnen gehören
zu meiner Roots & Shoots-Bewegung,
die Mitglieder in 65 Ländern hat, von der
Grundschule bis zur Universität. Auch
du kannst dich gern anschließen (über
rootsandshoots.org).
Die meisten Kinder lieben Tiere, aber oft
wissen sie noch nicht, wie man sie glück-
lich macht. Dieses Buch hilft, das zu än-
dern. Es ist voller wunderbarer Geschich-
ten über Tiere, die beweisen, dass sie
genau wie wir alles Mögliche empfinden.
Du wirst mitfühlende Bonobos kennen-
lernen, trauernde Schimpansen und
Orcas, fröhliche Wellensittiche, eifer-
süchtige Affen, fürsorgliche und liebevolle
Hunde und noch viele mehr. Wenn du
diese Geschichten gelesen hast, wirst du
Tiere nicht nur lieben, sondern sie auch
besser verstehen. Und du kannst diese
Geschichten mit Freunden und Familie
teilen. Gemeinsam werden wir es schaf-
fen, die Welt für alle Tiere schöner zu
machen, überall.
Jane Goodall
Doktor der Ethnologie, Gründerin des Jane Goodall Instituts und des Roots & Shoots-
Jugendprogramms, UN-Friedensbotschafterin, IUCN-Naturschützerin
IM KOPF EINES TIERES
Hast du Kummer?
«Ich bin traurig», antwortest du weinend.
Bist du überglücklich?
«Ich bin so furchtbar froh», jubelst
du vielleicht.
Bist du verliebt?
«Äh … bestimmt nicht», stammelst du
(mit rotem Kopf).
M
anchmal ist es gar nicht einfach
zu verstehen, wie Menschen
sich fühlen. Aber wer geduldig
kluge Fragen stellt, bekommt bestimmt
ein paar Worte aus ihnen heraus.
Wörter sind etwas Großartiges. Egal,
ob man sie schreit, flüstert oder auf-
schreibt – man kann so viel damit sagen.
Aber was, wenn du ein trauernder Orca
bist? Ein eifersüchtiger Affe? Oder ein
völlig verängstigter Hund? Schon mög-
lich, dass dein Nachbarhund oder das
Affenkind versteht, was in deinem Kopf
vorgeht.
Doch Menschen verstehen davon oft gar
nichts. Sehr lange dachten sie, nur Men-
schen hätte überhaupt Emotionen, also
Gefühlsregungen, und Tiere seien so
etwas wie lebende Maschinen. Aber nach
jahrelanger Beobachtung von Raben, Ele-
fanten, Hunden und sogar Fischen wissen
wir es besser: Natürlich sind Tiere mehr
als Maschinen! Von einem Delfin in der
Nordsee bis zum afrikanischen Elefan-
ten, von der Kuh im Stall bis zum Papagei
vom Nachbarn gegenüber – auch in ihren
Köpfen ist jede Menge los.
11
AN-THRO-PO-
MOR-PHI-SIE-REN
O
kay, Tiere können also auch
unsterblich verliebt, krankhaft
eifersüchtig oder überglücklich
sein, wie Menschen? Nun, ob sie die Dinge
genauso empfinden wie wir, wissen wir
nicht genau. Menschen anthropomor-
phisieren im Übrigen auch gern.
Wie bitte?
Was?
Wir Menschen an-thro-po-mor-phi-sie-ren
ziemlich gern.
Es wäre schon ein Wunder, wenn du
nicht über dieses Verb stolpern würdest.
Für manche Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen, die das Verhalten von
Tieren beobachten, ist es sogar ein
regelrecht schmutziges Verb.
«Man darf nie anthropomorphisieren»,
sagen sie naserümpfend.
Damit sind dann wiederum andere
Tierverhaltensforschende1
nicht ein-
verstanden.
«Natürlich darf man anthropomorphi-
sieren», sagen sie seufzend.
Und dann: «Manchmal ist es sogar not-
wendig – Hauptsache man weiß, worüber
man spricht.»
Und so purzeln die Forschenden – nach-
dem sie über dieses schwierige Wort ge-
stolpert sind – auch noch übereinander.
Oh warte, vielleicht möchtest du mittler-
weile ja gern wissen, was es bedeutet.
Du anthropomorphisierst, wenn du deine
eigenen Gefühle in Tiere hineininter-
pretierst, also aus deinem menschlichen
Verhalten heraus versuchst zu erklären,
was Tiere fühlen.
«Guck mal, der Affe ist froh, denn er
lacht.»
Oder:
«Wie niedlich. Der Hund rennt so fröhlich
hinter dem Eichhörnchen her, er will
bestimmt mit ihm spielen.»
Oft irrst du dich dann aber gründlich.
* Tierverhaltensforschende nennt man auch Verhaltensbiologen oder Ethnologinnen.
Nur zu deiner Information.
12
Denn ein Affenlachen sieht nicht genau-
so aus wie ein Menschenlachen. Und
vielleicht wollte der Hund tatsächlich
spielen, aber es kann auch sein, dass er
einfach Appetit hatte – auf Eichhörnchen.
Wer weiß das schon … Deswegen liegst
du beim Anthropomorphisieren manch-
mal völlig daneben. Und manchmal auch
nicht.
Ob manche nun die Nase rümpfen oder
nicht – in diesem Buch wird schon hin
und wieder an-thro-po-mor-phi-siert. Es
wimmelt hier nämlich nur so vor Emo-
tionen und Zuständen, denen wir – die
Menschen – einen Namen gegeben haben
und die viele Wissenschaftler und Wis-
13
senschaftlerinnen in ihren Tierforschun-
gen benutzen. Die meisten kennst du be-
stimmt. Eifersüchtig, böse und froh, zum
Beispiel. Oder angewidert, wie die For-
schenden mit ihren gerümpften Nasen.
Tja, all diese Gefühlsregungen sind sehr
menschlich. Aber dass sie auch sehr tie-
risch sein können, wusstest du vielleicht
für Tiere benutzen? Sie können sich
schließlich schlecht selbst Wörter aus-
denken für das, was sie empfinden.
Und für uns ist es wichtig, Tiere besser
zu verstehen. So entdecken wir, dass …
… unsere Art doch weniger einzigartig
ist, als wir vielleicht dachten;
… auch Tiere viel mehr fühlen und
können, als viele Menschen wussten;
… wir uns lieber sehr gut um sie kümmern
sollten. Nicht nur um unsere
Haustiere, sondern auch um alle ande-
ren Tiere auf der Erde – ob sie auf
einem Bauernhof leben, in einem Zoo,
in einem Labor oder in der Wildnis.
Siehst du, wenn du es richtig machst,
ist anthropomorphisieren gar kein so
schmutziges Wort.
(Aber man stolpert trotzdem darüber!)
DU BIST EIN AFFE
In diesem Buch wirst du – neben
Scharen von anderen Tieren –
auch etlichen Menschenaffen
begegnen. Menschenaffen sind
Gibbons, Schimpansen, Bono-
bos, Orang-Utans, Gorillas und …
Menschen selbst. Ja, wir sind
auch Tiere. Aber weil wir in
diesem Buch Menschen und
andere Tierarten oft ein wenig
vergleichen, dreht es sich
manchmal doch um «Menschen»
und «Tiere».
Das liest sich leichter, so einfach
ist das.
ein f liegender Vogel?
Was fühlt
OB TIERE WOHL EMOTIONEN HABEN,
DIE WIR NICHT KENNEN?
DARWINS
ENTDECKUNGEN
A
ber Mutter, wie lange muss ich
denn noch still sitzen bleiben?»
«Weißt du was, Robert, wir geben
ihm eine Pflanze. Dann hat er etwas zum
Festhalten. Vielleicht wackelt er dann
nicht mehr so.»
«Eine Pflanze? Was um Himmels willen
soll mein Sohn denn mit einer Pflanze?»
«Vater, ich will spielen!»
« … »
«Hier, Charles, ein Pflänzchen. Halt es gut
fest. So, ja. Und jetzt still sitzen, bitte, und
Frau Sharples ein wenig anlächeln. Weißt
du denn, was so ein Bild kostet? Nun?»
Auf einem englischen Gemälde aus dem
Jahre 1816 ist ein lächelnder siebenjähri-
ger Junge mit roten Wangen abgebildet.
In den Händen hält er einen Blumentopf,
in dem eine Pflanze mit gelben Blüten
blüht. Früher hat man Kindern oft etwas
in die Hände gedrückt, wenn sie gemalt
werden sollten. Denn tagelang Stunde
um Stunde still sitzen, ist nicht einfach.
Wenn man etwas festhalten muss, kann
man sich weniger gut bewegen. Ein guter
Trick! Aber Vater Robert und Mutter Su-
sannah Darwin war bestimmt nicht klar,
wie passend diese Pflanze war. Schließlich
17
konnten sie nicht wissen, dass Charles
einmal ein brillanter und weltberühmter
Naturwissenschaftler werden würde. Sie
hatten ganz andere Pläne mit ihm.
Charles liebte die Natur und stöberte gern
nach Insekten und anderen kleinen Tier-
chen. Seinem Vater gefiel das gar nicht.