Die geheime Sehnsucht der Bücher - Nina George - E-Book

Die geheime Sehnsucht der Bücher E-Book

Nina George

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Beschreibung

Bestseller-Autorin Nina George kehrt zurück auf das Bücherschiff und erzählt eine bewegende, bezaubernde und kluge Geschichte über Freundschaft, das Lesen und alle Facetten der Liebe. Monsieur Perdu ist mit seinem Bücherschiff Lulu wieder in Paris. In seiner »Pharmacie Littéraire«, der Literarischen Apotheke, folgt der leidenschaftliche Buchhändler seiner Berufung: Menschen und Bücher zusammenzubringen, damit jede Maladie von Herz und Seele mit der richtigen Geschichte geheilt werden kann. Unterstützt wird Perdu bei dieser unendlichen Aufgabe von der jungen Pauline Lahbibi. Wie ihr Mentor hat Pauline ein feines Gespür für Menschen und für Bücher, für ihre Träume, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte. Aber hat sie dieses Gespür auch für ihr eigenes Herz? Bis die Zwölfjährige Françoise eines Tages im Schott steht – mit Geheimnissen, die größer sind als sie selbst. Jean Perdu und die junge Buchhändlerin Pauline, mit ihrem untrüglichen Gespür für die verschwiegenen Wünsche der Lesenden, stehen ihr bei bei der größten Mission ihres jungen Lebens – und verteidigen mit ihr gemeinsam Bücher gegen Verbannung und Zensur. Ein inspirierender Roman über die Alchemie der Bücher und die Macht der Freundschaft »Die geheime Sehnsucht der Bücher« ist die Fortsetzung von »Das Bücherschiff des Monsieur Perdu« und »Das Lavendelzimmer«, das Leserinnen und Leser weltweit verzaubert hat. Lebensweise und berührend, humorvoll und ehrlich erzählt Nina George von den Höhen und Tiefen des Lebens und vom Trost, den uns das richtige Buch spendet. Dabei durchwebt ein feiner, poetischer Zauber ihre Romane, der sie fest in unseren Herzen verankert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nina George

Die geheime Sehnsucht der Bücher

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Monsieur Perdu ist mit seinem Bücherschiff Lulu wieder in Paris. In seiner »Pharmacie Littéraire«, der Literarischen Apotheke, folgt der leidenschaftliche Buchhändler seiner Berufung: Menschen und Bücher zusammenzubringen, damit jede Maladie von Herz und Seele mit der richtigen Geschichte geheilt werden kann.

Unterstützt wird Perdu bei dieser unendlichen Aufgabe von der jungen Pauline Lahbibi. Wie ihr Mentor hat Pauline ein feines Gespür für Menschen und für Bücher, für ihre Träume, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte.

Aber hat sie dieses Gespür auch für ihr eigenes Herz?

Bis die Zwölfjährige Françoise eines Tages im Schott steht – mit Geheimnissen, die größer sind als sie selbst. Jean Perdu und die junge Buchhändlerin Pauline, mit ihrem untrüglichen Gespür für die verschwiegenen Wünsche der Lesenden, stehen ihr bei bei der größten Mission ihres jungen Lebens – und verteidigen mit ihr gemeinsam Bücher gegen Verbannung und Zensur.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Und dann war noch …

Die Wälder der Zeit

Für meinen Mann J. Du bringst mich immer wieder dazu, das zu schreiben, was ich will, und nicht zurückzuscheuen vor meinen wilden Büchermädchengedanken. Ich liebe Dich. Ohne Dich wäre ich nicht ich, oder zumindest ziemlich zerzaust und unfroh.

Wo endet das Buch, wo beginnt das Leben? Oder ist es ganz anders, und wir bewahren dich in uns auf, damit du weitergehen kannst?

Kapitel 1

Françoise

Das Allerwichtigste war, dass einem keiner draufkam, dass die eigene Mutter verrückt war. Nicht die Nachbarn, vor allem nicht die Dubois von gegenüber, die sich über den Geruch von Apfeltabak beschwerte, der angeblich durch ihren Briefschlitz reinzog und ihren Zwergpinscher Pippin ganz rammdösig machen würde. Seither klebte Françoise jeden Abend die Türritzen mit Kreppband ab. Auch nicht die Lehrerinnen der École Élémentaire, weswegen Françoise penibel darauf achtete, jeden Morgen ordentliche Sachen anzuziehen, ihre dünnen braunen Haare mit einer blütenweißen Schleife hochzubinden und keinerlei Anlass für unerwünschte Aufmerksamkeit zu geben. Also zum Beispiel im Unterricht einzuschlafen, nur weil sie die Nacht auf dem Küchenboden neben ihrer Mutter verbrachte, die weinte und weinte und ständig aus dem Fenster steigen wollte, um die Abkürzung vier Stockwerke runter zu nehmen. Auch nicht die Concierge, die zwar auf einem Auge blind war, aber dafür auf allen Ohren hellhörig und neulich fragte, warum Françoises Mutter dreiundzwanzigmal dasselbe Lied hörte. Dreiundzwanzigmal Non, je ne regrette rien von der Piaf.

»Sie studiert die Bedeutungsverschiebung in der Musiktheorie von wahrer Liebe zur peripheren Schwärmerei«, hatte Françoise todernst erwidert. »Für ihre nächste Filmkomposition. Eine ganz neue Serie. Bei Netflix. Aber das ist noch geheim.«

Die Concierge hatte das Wort »peripher« hinter ihrer engen Stirn hin und her gewendet und Françoise die Schwindelei abgekauft. Ja, sie war sogar begeistert gewesen, jetzt mehr zu wissen als alle anderen im Hause. Françoise log nicht gern – um genau zu sein, verabscheute sie es zutiefst. Aber sie war darin außerordentlich gut geworden. Lügen war einfach, wenn sie hier und da wichtigtuerische Fremdwörter einbaute. Einer gekämmten Fastzwölfjährigen, die schwierige Wörter benutzte, glaubte jeder. Françoise konnte das Larousse-Wörterbuch und das Synonymlexikon auswendig.

Anderes Wort für Fremdwort: Xenismus, Lehnwort.

Anderes Wort für Lügen: Wachträumen.

Wort im Alphabet vor Lügen: Luftzug.

Wachträumen. Das gefiel Françoise. Wenn sie sich einredete, dass sie in einen Luftzug gehüllt, der nach Meerwasser, Rosmarin und Seide duftete, nur wachträumte, dann ging’s.

Dann konnte sie ihre Mutter zur Filmkomponistin machen. Diplomatendolmetscherin. Finanzprüferin. Man musste nur aufpassen, wem man was erzählte.

Und natürlich Details. Es waren immer die Details, die überzeugten und von den offenen Geheimnissen ablenkten. Wie eben die blütenweiße Haarschleife von ihren Augenringen.

Françoises Mutter log nie, und das war ein weiterer Teil des Problems. Sie sagte den Leuten, was sie dachte, was sie fühlte, sie verbarg ihre Talente nicht, und die waren den meisten unheimlich. Françoises Mutter konnte einen Haufen heruntergefallener Zahnstocher anschauen und sagte: 87, und es stimmte. Sie sah der Dubois ins Gesicht und sagte: FN-Wählerin. Sie guckte auf eine bestimmte Art, und die Leute erzählten ihrem kornblumenblauen Blick die ungeschönte Geschichte ihres gescheiterten Lebens. Ihre Mutter besichtigte Françoises dunkelbraune Augen und sagte: seine, nicht meine.

Sehr viel mehr wusste Françoise nicht über ihren Vater; es stand zu vermuten, dass er nicht mal wusste, dass es sie gab.

Im Alphabet vor Problem: Probierglas.

Das war aber nicht wichtig.

Wichtig war, dass es auch gute Wochen gab. Wichtiger war, ihnen nicht zu trauen. Am allerwichtigsten: dass ihnen niemand draufkam.

Das wusste Françoise ganz genau, aus all den Büchern der Schulbibliothek, die sie heimlich gelesen hatte, still vor der Wohnung im kalten Treppenhaus sitzend, während die Dubois mit ihrem nervösen Pinscher unten im Jardin du Luxembourg unterwegs war und Pippin die hellen Wege mit seinem Dünnpfiff bekleckerte. Wenn Françoise draußen vor der Tür noch ein wenig wartete, nur ein klein wenig, eine winzige Stunde, bevor sie hineinging, um zu schauen, ob ihre Mutter wieder mit Hut und sonst nichts am Leib in einer leeren Raviolidose rührte, dann war es fast, als ob Françoise die Zeit anhalten konnte. Und in dieser angehaltenen Zeit, da beriet sie sich mit den Büchern über das Leben. Sie durfte jede Woche fünf Bücher aus der Bibliothek mit nach Hause nehmen, aber nie welche für Erwachsene, selbst wenn sie eine gute Mathenote hatte. Sie las sie alle und versteckte sie hinter der nicht mehr benutzten Revisionsklappe der Schornsteinfeger an der Stiege zum Dachboden und den ehemaligen bonne-Zimmern. In denen jetzt Tauben in einer Wohngemeinschaft mit jenen Büchern lebten, die Françoise für ein paar Cents auf Flohmärkten kaufte und in der Kammer hortete.

Die Bücher hatten ganz klar, wenngleich auch in unterschiedlicher Weise, gesagt: Wenn man ihnen daraufkam, würde sie, also Françoise, in ein Heim geschafft werden, oder, wie die älteren unter den Büchern es gern schauderhaft nannten: Erziehungsanstalt. Und ihre Mutter in eines dieser weißen Häuser, und von da an gehörte einem das eigene Leben nicht mehr. Man war entweder den allerliebsten, aber hilflosen, oder den bösartigsten und machtvollsten Leuten ausgeliefert. Ganz normale kamen bei so was nicht vor. Das hatte Françoise von Oliver Twist, von Deutschstunde und Krabat erzählt bekommen. Und sie hatte eine Regel: Wenn drei Bücher ungefähr dasselbe meinten, stimmte es.

Nun aber waren bald Ferien, ein endloses Meer an Sommertagen. Was hieß, Françoise müsste die winzige Lesestunde irgendwo im Tag verstecken, in der ihr Fernbleiben nicht auffiel. Auch das Danach bereitete Françoise Sorgen. Sie würde nicht mehr in die Grundschule, sondern ins Collège gehen müssen, hätte Mittwochnachmittag nicht mehr frei und würde täglich zwei Stunden länger in der Schule bleiben. Das waren deutlich mehr Zeitfenster, durch die ihre Mutter entkommen und das, was nach Probierglas im Alphabet kommt, machen würde.

Aber wer weiß: Vielleicht waren es ja mal wieder gute Wochen.

Wenn ihre Mutter ihren schwarzen Chanel-Hut mit Schleier trug, war es kein guter Tag, und er wurde selten besser. Trug sie ihren gelben Hut mit dem Obstgesteck, war sie unternehmungslustig, und eine helle Phase konnte sich danach entfalten. Wie eine dieser merkwürdigen Blumen, die sehr kurz, aber sehr prächtig blühen. In diesen hellen Wochen waren sie mal ans Meer nach Deauville gefahren, von Saint-Lazareim Zug, und mit einem riesigen aufblasbaren Einhorn, das ständig mit einem Plastiklachen quietschte, wenn man es bewegte. Ihre Mutter wäre so gern im Meer geschwommen, traute sich aber nicht, und schloss sich in ihrem Zimmer ein.

Sie hatten im Kaufhaus Lafayette bei dem putzigen kleinen Asiaten hinter den Haushaltswaren Dim-Sums aus dampfenden Stapelkörbchen gegessen, bis sie fast platzten, und ihre Mutter hatte ihr die Tricks mit den Stäbchen gezeigt. Ihre Mutter hatte Françoise auch die Geheimnisse der Häuserfassaden von Paris offenbart, und sie waren Hand in Hand durch die Gegend gestolpert mit in den Nacken gelegten Köpfen und hatten nach Karyatiden und Atlanten gesucht. Steinerne Frauen und Männer, näher am Himmel als am Boden, am liebsten mochte ihre Mutter den bizarren Engel in der Rue de Turbigo. »Schau mal, alle denken, sie hat ein Geldtäschchen dabei. Aber wozu brauchen Engel Geld? Daran merkt man übrigens, dass wir keine sind, Frankie: Wir haben so viel Geld, dass wir keine Heiligen sein können.«

Sie waren durch Paris gestromert, und ihre Mutter hatte die Preisaushängeschilder der Friseursalons studiert und Françoise erklärt: »Das ist der Arroganzindex. Du musst nach dem Preis für Koloration schauen. Alles unter fünfzig Euro bedeutet, hier sind die Leute arm, aber meistens freundlich. Je höher die Haarfärbepreise, desto mehr Arroganz.« In ihrem Viertel kosteten allein Strähnchen hundertzwanzig.

Ihre Mutter wusste so vieles, aber woher, wusste Françoise nicht. Und auch nicht, ob es wahr war.

Aus Büchern jedenfalls hatte sie all das nicht, sie las nie und hatte nicht mal, wie viele andere Erwachsene, Bücher wenigstens als Dekoration herumstehen, um sich den Anstrich von Belesenheit zu geben.

Und warum ihre Mutter Frankie zu ihr sagte und nicht Françoise, so, wie die Sagan mit Vornamen hieß, das wusste Françoise auch nicht. Die, die Sagan noch nicht lesen durfte, es aber dennoch gewagt hatte, in Bonjour Tristesse zu spinksen, als die Bibliothek der Schule kurz vor Ferienbeginn renoviert wurde und ein Teil der Erwachsenenliteratur unbeaufsichtigt im Flur zu den Kopierräumen gelagert worden war. Und Françoise las schnell, meist schaffte sie eine Seite pro Minute. Aber nur, wenn sie dabei versuchte, ihre Stimme im Kopf auszuschalten, die sonst immer mitsprach, wenn sie las.

Cécile war Françoise in den gestohlenen Leseminuten zu einer fernen großen Schwester auf südlichen Reisen geworden. Sie hätte sich gern länger mit ihr besprochen, aber da kam schon die Bibliothekarin, Madame Herodot, nahm ihr den Roman aus der Hand und meinte: »Das ist nichts für dich.«

»Warum?«

»Da geht es um Sachen, die …« Madame Herodot hatte nach Adjektiven gesucht, und beinahe hätte Françoise ihr welche aus ihrem Lieblingsrepertoire zur Verfügung gestellt.

Lasziv? Obskur? Betriebsstörend?

Aber bei manchen Erwachsenen musste man aufpassen, nicht allzu naseweis zu sein. Dann schöpften sie sofort Verdacht und schickten einen zur Schulpsychologin.

»… die Erwachsene beschäftigen. Sei froh, dass du solche komplizierten Probleme nicht hast.«

Françoise hatte ernst genickt.

»Ja, da bin ich froh«, hatte sie gewachträumt und bei einer der übernächsten Gelegenheiten bei einem der Bouquinisten an der Seine nach dem Buch gefragt. »Für meine Schwester zum Geburtstag, sie heißt auch Cécile und studiert komparative Linguistik des ausgehenden 20.Jahrhunderts.«

Sie hatte eine angegilbte Taschenbuchausgabe mit Stockflecken erstanden, für sagenhafte drei Euro.

Als sie das Buch behutsam in ihre Schultasche steckte, hatte der Bouquinist noch was gesagt. Es war wichtig, vielleicht sogar wichtiger, vielleicht wurde es am allerwichtigsten, je länger Françoise am Ufer dieses Ferientageozeans stand und darüber nachdachte, wie sie ihre Mutter endgültig und allerwahrhaftigst retten könnte. Und es hatte ihr da auch fast nichts mehr ausgemacht, dass er sie duzte, was Françoise ansonsten nicht angemessen fand, nur weil sie gerade noch elf, sogar fast zwölf war.

»Wenn du ’ne schönere Ausgabe haben willst, geh mal runter zur Literarischen Apotheke bei Jean Perdu. Der hat auch Erstausgaben, frisch aus dem Ei gepellt. Musst halt dein Taschengeld aufstocken lassen, kleine Mademoiselle. Aber so ’ne große Schwester, die isses bestimmt wert.«

Françoise hatte nachgefragt, also wirklich: eine Pharmacie Littéraire? Ernsthaft? Wie das denn ginge? Brauchte man da ein Rezept? Konnte da jeder hingehen? Mit jeder Sorte Krankheit?

Schulterzucken, »Ist nicht jedes Buch auch eine Aspirin für die Seele?«, aber Françoise kannte sich mit Aspirin nicht aus. Nur mit Tianeptin, Dalcipran, Esketamin; außerdem Normodorm und noch ein paar anderen Sachen, deren Beipackzettel sie studiert und in der Bibliothek nachgeschlagen hatte.

Der Bouquinist hatte eine vielversprechendere Kundin erspäht, hielt sich nicht länger mit einer gekämmten Schülerin auf und meinte nur noch: »Manchmal gibt’s halt Zustände, da weiß keiner weiter, außer Jean Perdu. Der verschreibt dann ein Buch aus seinem Bücherschiff oder zwei oder fünfzehn, und danach geht’s wieder, frag mich nich, wie das funktioniert, ich fühl mich jedenfalls auch immer besser nach einer Dosis Henry Miller, das kann ich dir sagen.«

Das sagte Françoise nun rein gar nichts, aber was sie verstand, war, dass auch sie sich besser fühlte bei manchen Büchern als bei anderen. Leichter. Zuversichtlicher. Als ob ihr alles schon gelänge, wenn sie nicht den ganzen Berg anschaute, sondern immer nur den nächsten Schritt.

Sie war dann innen drin warm und weit und hatte erfahren, dass in ihr Gedanken und Wünsche wohnten, die »richtig« waren. Sie dachte dieses »richtig« in Anführungszeichen, weil es nicht das »richtig« aus richtig und falsch war, also recht und unrecht und vorschriftsmäßig. Auch nicht das richtig, was die Dubois so alles fand, was sich gehörte, anständig, aber Leute von woanders damit nicht meinte, was Françoise empörte. Auch nicht das richtig – korrekt, fehlerlos – aus dem Übungsheft in Mathe.

Anderes Wort für richtig: Wahrhaftig. Fürwahr. Waschecht.

Sie fühlte sich waschecht. Dass es okay war, so zu sein, wie sie war. Weder vorschriftsmäßig noch anständig noch fehlerlos.

Und dieser Monsieur Perdu in seiner Literarischen Apotheke, der konnte also machen, dass man sich nicht nur waschecht fühlte. Sondern dass es dann »wieder ging«, und zwar bei Zuständen, wo keiner weiterwusste, und das beschrieb den Zustand ihrer Mutter aus Françoises Sicht ziemlich genau.

Françoise wusste jedenfalls nicht weiter, wie sie die Sommerferien überstehen sollte und das Danach, und nach dem Danach außerdem den Rest ihres Lebens.

Weil, ganz manchmal, da sorgten Bücher dafür, dass sich Françoise eben nicht »richtig« fühlte, sondern völlig an der falschen Stelle. Und dass sie gern woanders sein wollte und das andere Wort im Alphabet, das nach Probierglaskommt haben. Bei der Familie Weasley wohnen und aufpassen, keine Popelbonbons zu essen, die einem die munteren Zwillinge unterjubelten. Oder beim Alm-Öhi. Oder die Kindliche Kaiserin retten, Françoise hätte Dutzende Namen für sie. Oder die imaginäre Cécile abhalten, dumme Sachen aus Langeweile und Eifersucht anzustellen, wie eben so eine altkluge kleine Nervschwester es machen würde, wenn ihre große Schwester Hormone hat.

Immerhin gab es Schiller. Schiller war eine Tierheimkatze, und ihre Mutter hatte Françoise vor zwei Jahren einen Weidekorb hingestellt mit einem zerzausten schwarzen Kater. »Und, freust du dich?«

Da hatte Françoise ihn Schiller genannt.

»Ist das einer deiner Lehrer?«, hatte ihre Mutter gefragt, und Françoise hatte nach einer Weile stumm genickt.

Am Ende ihrer hellen Wochen tat ihre Mutter meist etwas exemplarisch Kolossales. So waren sie nicht nur zu einer Katze namens Schiller gekommen, sondern auch zu einem Zimmer voller Staffeleien und Farbe, in der Tiefgarage stand ein nie gefahrenes Jaguar Coupé XJS von 1991, und in der Haushaltskammer wohnten fünf automatische Saugroboter. Die Morlocks. Mit denen hatte sich Schiller nicht verstanden, da sie ihm in Formation durch die Flure nachgebrummt waren und nach seiner Schwanzspitze schnappten.

Die letzten Tage vor den großen Ferien im Juli waren an der Elementarschule wie kleine Vorferien, vor allem für jene, die nach der Sommerpause nicht mehr zurückkehren würden. Und so war es Françoise möglich, zwei Stunden früher als sonst zu entwischen, bevor ihre Mutter mit ihr rechnete, um in den Champs-Élysées-Hafen zu pilgern und sich diese Literarische Apotheke mal näher anzuschauen.

Sie postierte sich auf der Pont Alexandre III und stützte das Kinn auf ihre Fäuste, beäugte dieses Bücherschiff, ein umgebauter Frachtkahn mit einem beeindruckenden, riesigen Bullauge zur Flussseite. In der Bibliothek hatte sie einen Computer-Terminal benutzen dürfen und hatte sich diesen Literarischen Apotheker angesehen, der Videos von Büchern machte, eine »Sprechstunde«, und dabei erklärte, bei welchen Infektionen des Gemüts was geeignet war. Françoise mochte Monsieur Perdus Gesicht, es war ruhig und melancholisch und ein kleines bisschen schön, aber eben nicht so schön, dass sie misstrauisch wurde. Sie mochte seine Stimme. Er war sicher, wenn er über Bücher sprach, aber darunter nahm Françoise die Wackeligkeit wahr, die sie kannte, wenn sie vor der Klasse stehen und irgendeinen Laut aus ihrem Mund kommen lassen musste. Es war zum Sterben scheußlich.

Madame Herodot hatte »Pscht!« gemacht, und Françoise hatte »Pardon« getüstert und die Literarische Sprechstunde weiter ohne Ton angesehen. Seine Hände streichelten die Bücher. Ganz vorsichtig. Als ob sie lebten. Taten sie ja auch, nur war das den wenigsten bekannt, dachte Françoise und wusste gar nicht, warum sie so was dachte.

Danach hatte sie rumgeklickt und einen Artikel gefunden, in dem der ehemalige Präsident über Jean Perdu sprach, uiuiui, der Präsident hatte also auch mal Zustände gehabt. Und dann noch einen Artikel von der Wiedereröffnung im Jahr 2016, nach zwei Jahren Absenz. Also war der Buchapotheker mal weg gewesen und dann wieder da, gut, darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern, was er beim Wegsein alles erlebt hatte.

Was Françoise jetzt noch fehlte, war die Expedition in diese Literarische Apotheke, um ganz sicher zu sein. Sie würde lügen, aber nicht zu viel, nur gerade so, dass man ihr nicht draufkam. Ja, sie würde sich eine Maladie ausdenken müssen, um ihn zu testen. Vielleicht war dieser Monsieur Perdu einer, der ihre Mutter heil machen konnte.

Kapitel 2

Françoise

Guten Tag, mein Name ist Françoise Bellanger, und ich benötige literaturmedizinische Beratung.«

Das war der Satz, den sich Françoise für den Einstieg zurechtgelegt hatte. Außerdem hatte sie sich ihre derzeitigen zehn Lieblingsbücher angesehen, eigentlich elf, weil Wer die Nachtigall stört unerreichbar gut war, aber Oliver Twist auch, und diese beiden sich den ersten Platz teilten. Also jedenfalls in diesem Semester des Jahres 2017. Sie führte Buch, ihr Lesejournal lag oben in der Bücher-Tauben-WG. Bei Oliver Twist hatte Françoise der Buchhändler gefallen, der erste wirklich anständige Mensch nach elf Kapiteln. Bis dahin war alles einfach zum Heulen gewesen, und die meisten Probleme hatten Leute gemacht, die wichtig sein wollten. Also diese zehn bis elf Bücher, ihre Lieblingsbücher, wenn sie die auf bibliotherapeutische Gründe hin untersuchte (sie hatte das Wort nachgeschlagen, es kam dem, was dieser Monsieur Perdu da machte, recht nah), dann wäre die Diagnose ihres Leidens… tja … also … Gerechtigkeitsfimmel vielleicht?

Françoise hatte nie darüber nachgedacht, ob sie ein Leiden hatte, denn ihre Mutter hatte eindeutig eine halbe Trillion, aber sie selbst, Françoise? Ihr ging’s doch, na, ja, es ging halt.

Und was waren überhaupt anerkannte Leiden im literaturpharmazeutischen Gewerbe? Sie hatte nirgends eine Liste auftreiben können, nicht mal auf der Webseite der Weltgesundheitsorganisation.

Ihr sank das Herz, tief wie die Nemo.

Aber es nützte ja nichts. »Für England«, flüsterte sie sich Mut zu und rannte mit rutschenden Kniestrümpfen hinunter zu dem Bücherschiff und sprang in vollem Lauf durch das Schott und hinein in seinen Bauch, Jonas und den Walfisch im Kopf.

 

»Ah«, machte eine unglaublich leuchtende junge Frau, als sie Françoise hereinkullern sah, und blickte von dem Kassentresen links neben dem Schott auf. »Du kommst ein bisschen früh. Aber wir haben heute Bücher für Jugendliche im Bücherbuffet, Jane Austen, Patrick Süskind, bisschen New Adult, nur als Vorwarnung, das Letztere wird vielleicht ein bisschen …«

»Obskur?«, platzte es aus Françoise heraus, die dieses Wort wirklich liebte.

»Ja, das trifft es«, sagte die unglaublich leuchtende Frau. »Aber du bist jederzeit willkommen, und wenn’s zu obskur wird, halt dir die Ohren zu oder ruf ›voll eklig‹.«

Françoise blinzelte mehrmals. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr der Buchapotheker ernst und melancholisch gegenüberstünde, wahrscheinlich sogar im Weg, weil er wie alle Erwachsenen fürchten würde, Kinder seien betriebsstörend. Und jetzt lud diese Frau mit Augen wie Schokoladenmacarons und diesen lustigen geflochtenen Haaren mit den klickernden Schmucksteinchen sie einfach ein, bei einem Bücherbuffet für Jugendliche »voll eklig« dazwischenzurufen? Madame Herodot hätte ihr nie gestattet, Das Parfum oder diesen obskuren New Adult-Romantikkram auch nur anzufassen.

»Ich hab Bonjour Tristesse angefangen«, rutschte es Françoise raus. »Daran ist gar nichts eklig. Eher wie ein trauriges Spiel, das man allein spielt, weil einem sonst nichts einfällt. Wie an Schorf rumknibbeln. Es tut weh, aber es ist auf eine Weise schön. Und man kann es nicht lassen.«

»Dope«, sagte die junge Frau. »Recht hast du.«

Sie schwiegen. Françoise war es nicht gewohnt, dass jemand ihr sagte, dass sie recht hatte. Und kein »Aber«. Wenn einer was Nettes sagte und danach ein »Aber« kam, konnte man alles vor dem »Aber« streichen, so viel wusste Françoise.

Verlegen sah sie sich um. Das waren ganz schön viele Bücher, aber sie schienen weder nach Genre noch nach Alter der Lesenden geordnet zu sein. Gar nicht wie in der Schulbibliothek. Da standen die Klassiker artig zusammen, und die Bücher für Kinder waren von denen für Jugendliche und für Erwachsene streng getrennt, als ob sie Masern hätten. Hier war Oliver Twist im selben Regal wie Das Schicksal ist ein mieser Verräter und ein Buch, das hieß Alles, was wir geben mussten. Sie verrenkte sich den Kopf, um den wirklich schwierigen Namen zu entziffern. Ishiguro?

»Und jetzt?«, fragte die leuchtende Frau.

Françoise wog innerlich ab, was sie dringender fragen wollte: Wo ist Monsieur Perdu?, oder: Warum stehen diese Bücher zusammen?, oder: Wer ist Ishiguro? Aber da sie nicht wusste, wie man den aussprach, entschied sie sich für: »Warum stehen diese Bücher zusammen?«

»Sie helfen beim Weinen.«

»Geht das nicht von allein?«

»Bei manchen Menschen nicht.«

»Warum?«

»Vielleicht, weil sie es sich so lange verboten haben, dass sie nicht mehr wissen, wie es geht. Oder weil sie fürchten, sie hören dann nie wieder auf. Oder weil sie innerlich ganz versteinert sind. Und nicht mehr den Stein im Bauch herumtragen wollen. Vielleicht, weil er gar nicht ihrer ist. Manchmal geben die Alten den Jungen ihre Bauchsteine weiter. Angststeine, Leistungssteine, Makelsteine, so was.«

Da sprach diese junge Frau mit ihr, als sei Françoise eine Erwachsene! Und sagte derweil so herrlich ominöse Dinge!

Worte im Alphabet vor ominös: Omelette, Omen, Omi.

Es gab in Françoises Leben keine Omi, und Bücher gaben über diese Spezies unterschiedliche Auskünfte. Backen zu können schien eines der typischen Merkmale zu sein. Manchmal dachte Françoise, ihre Mutter hatte sich eines Tages von selbst materialisiert. Wie das Universum. Es gab keine Omi, keinen Opi, keine Geschwister, und Mamas Freunde: tja. Die materialisierten sich auch, aber nur in der Fantasie ihrer Mutter.

»Was ist denn ein Makelstein?«

»Wenn man denkt, alle anderen seien besser in allem.«

»Sind Sie auch eine Literarische Apothekerin?«, fragte Françoise. »Wie Monsieur Perdu? Ich hab ihn im Video gesehen.«

»Sag ruhig Du, wir sind ja fast aus derselben Dose. Ich bin Pauline. Buchapothekerin in Ausbildung.«

»So was kann man werden?«

»So was kann man werden.«

Françoises Gedanken schlenkerten freihändig in der Luft herum, und irgendwie war ihre Haut zu groß geworden, und die Zunge hatte sich in das Löschblatt im Matheheft verwandelt.

»Und wo steht Wer die Nachtigall stört?«, fragte sie an dem Klumpen Papier vorbei.

»Gleich in zwei Abteilungen. Ich zeig’s dir.«

Pauline ging mit ihren klickernden Haaren voran, hielt inne. »Schau, einmal bei Vatersehnsucht.«

Françoise schluckte den Papierklumpen herunter und trottete Pauline hinterher wie die Morlocks Schiller.

»Und dann noch bei Uneingestandene Vorurteile.«

Uiuiui. Diese Abteilung war ganz schön groß. Das schien ein ziemlich verbreitetes Leiden zu sein. Wie Fußpilz. Und es schien nicht nur die Dubois befallen zu haben.

Pauline wandte sich um. »Und hast du noch eine Frage?«

Da holte Françoise tief Luft und ratterte hervor: »Mein Name ist Françoise Bellanger, und ich benötige literaturmedizinische Beratung!«

Am liebsten hätte sie noch hinterhergeschoben: bei Monsieur Perdu, aber Pauline war so freundlich und besaß dieses warme Leuchten in sich und um sich herum, und Françoise wollte sie nicht damit beleidigen, dass sie lieber den Monsieur Perdu gesprochen hätte, auch wenn der zum Glück weniger schön und vielleicht gar nicht freundlich war. Aus Gründen, die sie sich hätte ausdenken müssen. Bei Pauline fürchtete Françoise, dass all ihr ausgefeiltes Wachträumen nicht funktionierte. Weil Pauline und Françoise, wie sagte sie noch, aus derselben Dose kamen.

»Jean?«, rief Pauline unbestimmt in den Bücherschiffbauch.

»Kundschaft!«

War das so was wie ein Codewort? »Kundschaft, Achtung, Lügenboldin«, und als Nächstes würde er ihr die Fünf Freunde aufschwatzen und sie nach Hause scheuchen, und Françoise wusste, sie musste das aufhalten, nicht aushalten, und warum waren manche Wörter auch so verflixt verzwickt, dass nur ein einziger anderer Buchstabe ein ganz anderes Leben entwerfen konnte, was vermochte da nicht alles schiefzugehen, so insgesamt, auch beim Beten, wenn jemand lispelte oder nuschelte, mach, dass sie mich liebt, mach, dass sie mich siebt, wobei Gebete eigentlich Selbstgespräche waren, sagte Françoises Mutter, und wieso mussten ihre Gedanken ausgerechnet jetzt überall herumstreunen, und, klar, da meldete sich auch noch ihre innere Gouvernantenstimme: »Nun konzentrier dich, Françoise!«

»Bonjour Madame«, sagte da der Buchapotheker, und in echt war Monsieur Perdu sehr groß und schaute ruhig auf Françoise herunter, ohne auf sie herabzusehen.

Und er hatte sie nicht geduzt.

Sie sah ihm von ziemlich weit unten in die Augen. Und er guckte von ziemlich weit oben direkt bis auf die losen Schrauben ihrer schlenkernden Gedanken in sie hinein.

»Mein Name ist Françoise Bellanger, und ich benötige literaturmedizinische Beratung«, flüsterte Françoise hervor, der einzige geordnete Satz, der nicht wild herumpendelte.

»Selbstverständlich«, sagte der Buchapotheker, »wollen wir uns setzen?« Monsieur Perdu wies zu dem großen Bullauge, in dem sie aufrecht stehen könnte. Er müsste sich bestimmt einrollen wie eine Garnspule.

Und … er lächelte. Nur ein wenig. Auf eine gute Art. Nicht die anderen Arten, spöttisch, maliziös, mokant. Falsch.

Er lächelte waschecht.

Françoise hatte mal gelesen, dass es Momente im Leben gab, die so klein waren, dass sie einem zuerst nicht auffielen. Weil es so viele davon gab, an nur einem einzigen Tag. Ein Lächeln oder keins. Ein Na gut oder Ach nee. Ein Schritt zu viel oder zu wenig, Abendbrot kaufen oder unterm Lkw-Reifen liegen.

Und später, wenn man zurücksah, bemerkte man, dass diese winzigen, kaum drei Herzschläge andauernden Momente alles änderten und in völlig neue Bahnen leiteten. Irgendein Zugbegleiter des Universums machte »Och, legen wir mal den Schalter hier um und gucken, was passiert, nech«, und tja.

Und dieses waschechte Lächeln, da wusste Françoise: Sie konnte Monsieur Perdu nicht anlügen.

Oder, viel obskurer: Sie hätte schon können.

Aber sie wollte nicht.

Françoise wollte Monsieur Perdu alles sagen, von den Hüten und den hellen und den dunklen Wochen und dass sie gern eine Schwester hätte oder wenigstens eine Freundin, und Mamas Augen, nicht die des Vaters, es sei denn, er wäre Atticus Finch, und Perdu fragen, warum sie Oliver Twist so liebte, wegen des Fimmels vielleicht, und dass sie Ravioli aus Dosen verabscheute, aber gern Tarte au Citron aß, aber keine Omi hatte, die das backen konnte, und dass sie nach dem Kochen für sich und ihre Mutter immer Angst hatte zu vergessen, das Gas ganz abzuschalten, wenn sie in die Schule ging, wegen Mama und ihrer vergessenen Dosen auf dem Herd, und all das schied nun wirklich völlig aus. Dann würde man ihnen draufkommen.

Also presste Françoise durch den Schnürsenkel, der sich fest um ihre Kehle geringelt hatte, hervor: »Ich möchte lieber doch nicht« – und rannte aus dem Bücherschiff, so schnell sie konnte. Sie jagte über den Quai, ihr Ranzen schüttelte sich auf ihrem Rücken, und während sie rannte, begann sie zu weinen, zu weinen, zu weinen, nein, sie brauchte weder einen Ishiguro oder Dickens, es ging auch so ganz hervorragend, und weinend lief Françoise bis zur nächsten Metrostation, nahm irgendeine Linie, machte sich klein in einer Ecke des muffigen Waggons, das Gesicht zur Wand, und verbarg es hinter beiden Händen, bis sie die Endstation erreicht hatten und sie ganz leer war und ihr Bauch wehtat und sie nicht wusste, wo sie war.

 

»Frankie!«, rief ihre Mutter aus irgendeinem der vielen Zimmer, als Françoise am späten Nachmittag die Wohnungstür aufschloss, mit ausgefranstem Herzen aus ihren Halbschuhen schlüpfte und sie ordentlich neben die Kommode stellte. Auch den Einkauf postierte sie daneben, sie kaufte nach der Ampelfarben-Pyramide ein, die sie als Achtjährige auf der Rückseite einer Cornflakesschachtel gesehen hatte. Ihre Mutter aß deutlich zu viel »rot« und viel zu wenig »grün« und wollte ständig was Süßes von der Pyramidenspitze.

»Frankie, schau mal, wer da ist!«

Sah ihre Mutter wieder ihre Freunde in einer Ecke sitzen? Oder war doch das Jugendamt vorbeigekommen – »Ach, guten Tag, Madame Bellanger, ja, dann packen wir Ihrer Tochter mal einen Koffer, keine Sorge, nur einen kleinen, sie schläft ja mit fünf anderen Mädchen in einer Schuhschachtel. Sie müssen auch nicht viel einpacken, Madame, in der Einrichtung für Sie gibt es genug hochwertige Overalls mit praktischem Zwangsverschluss, abwaschbar und kleidsam.«

Françoise prüfte den Sitz ihrer Haarschleife, strich sich die zerknitterte weiße Bluse zurecht und steckte sie mit zitternden Fingern fester in den Bund des Faltenrocks. Sie fand, sie sah immer noch aus wie ein ungemachtes Bett.

»Frankie?«

»Lächeln, Françoise! Bah, bouf, nicht so sehr, bist du ein debiler Honigkuchen aus der Lebensmittelpyramide?«

Anderes Wort für debil im Alphabet davor: Debitsaldo (höheres Soll als Haben). Debauchieren (sich amüsieren).

Ihre Mutter hatte mal gemeint, man dürfe sich mit seiner inneren Gouvernante, »oder falls es eine ganze Konferenz ist, wende dich an die Sitzungsleiterin«, keinesfalls auf eine Debatte einlassen. Man müsse ganz laut denken: »Ende der Debatte!«, und das tat Françoise.

Schiller ließ sich nirgends blicken. Manchmal entwischte er durch ein Fenster, oder ihre Mutter ließ ihn ins Treppenhaus, und er ging seinen Katzenangelegenheiten nach.

Auf Strümpfen tappte Françoise in Richtung der Stimme ihrer Mutter, die ab und an in ein Glockenspiel-Lachen ausbrach. Dieses Lachen machte Françoise Sorgen. Jeder murmelgroße Ton war eigentlich eine gefrorene Träne. Wenn man die auf einen Faden zog, kam das Glöckchenspiel heraus.

Sie saß im blauen Salon. Es gab auch einen grünen und einen Musiksalon und einen Tanzsalon.

Ihre Mutter saß auf dem Diwan, wie sie das unbequeme blaue Sofa nannte, sie trug den gelben Hut und hatte sogar was an, und ihr gegenüber, mit dem Rücken zu Françoise, saß ein Mann. Er drehte sich halb um, als sie hereinkam.

»Schau doch mal«, sagte ihre Mutter wieder, jetzt mit einer Federball-Stimme, hell wie ein Spatz, »Frankie, dein Vater ist da.«

Er war ein sehr schöner Mann, was Françoise auf Anhieb nicht an ihm mochte.

Kapitel 3

Jean

Es gab auf dem Bücherschiff, der Pharmacie Littéraire im Champs-Élysées-Hafen von Paris, einen halbmagischen Platz, den Jean Perdu mehr liebte als alle anderen Orte. Das kreisrunde, hohe Fensterauge gleich hinter der Abteilung »Nostalgie des Unmöglichen«. Dort warteten Heilmittel gegen den Krieg im eigenen Kopf und Symptome von »Wenn ich doch nur dies … wenn ich doch nur das nicht!«.

Wenn ein Mensch es gerade noch so bis zur Literarischen Apotheke schaffte, dann führte Jean Perdu ihn zu diesem Auge. »Setzen Sie sich doch.«

Das taten sie dann, bang wie bei einem Arztbesuch, während Perdu dies und das fragte, kleine Fragen, auf deren Antworten es nicht allzu sehr ankam, sondern auf die Melodien der Stimme. Den festgehaltenen Atem. Die Krümmung der Schultern.

Mut und Trost und sich verzeihen: Jean fand immer das richtige Buch für die Wunden und Kratzer der Seele, für die es sonst keine Pillen, Chirurgen oder Reklamationsstellen gab. Er hatte die Literarische Apotheke vor vierzig Jahren, als Achtzehnjähriger, genau dafür gebaut: für mittlerweile neuntausendachthundertsiebenunddreißig ausgewählte Bücher, anwendbar bei eintausendfünfhundert und einem Leiden, die er über die Jahre sorgfältig definiert hatte. Das war sein Zuhause, das war jener Ort, an dem Jean Perdu Antworten fand. Auch auf Fragen, die ihm nie jemand stellte.

Heute war er allerdings grandios gescheitert.

Als das Mädchen vom Schiff gestürmt war, hatten sich Pauline und Perdu bestürzt angeschaut.

»Was habe ich gemacht?«, hatte er voller Schreck gefragt, und Pauline hatte sehr Pauline-mäßig mit ihren Macaronaugen gerollt, »Sheesh« gezischt und gemeint: »Bezieh’s nicht gleich immer auf dich, wenn in der Welt was schiefgeht. Sie hat in sich einen Kampf ausgefochten, mit dem du nichts zu tun hast.«

»Sie hat mich angeguckt, als sei ich ein Oger.«

Pauline verbiss sich das Lachen nur mäßig. »Sie ist eine Vielleserin und weiß, dass man im Zweifel einem Oger trauen kann. Sie hat Harper Lee gelesen. Und Françoise Sagan.«

»Aber wohl kaum Oskar Loerke.«

»Wer weiß? Sie heißt übrigens Françoise, hat deine ›Sprechstunde‹ gesehen und fand dich offenbar einigermaßen passabel, genug, um hierherzukommen. Und schau mal, für wen hältst du dich, Atlas? Ich hätte bei Fällen von Atlassyndrom ein Buch zu empfehlen, willst du’s hören?«

»Ich kenne Per Petterson, danke. Hat bei mir keinerlei Wirkung, da ich kein Atlassyndrom habe.«

»Und trotzdem willst du sie alle retten? Jeden Einzelnen?«

»Vorzugsweise ja.«

Jean Perdu wusste, manche Geschichten wurden nur für einen einzigen Menschen geschrieben, zum Unmut geschäftstüchtiger Verleger. Aber diese Bücher für einen sehnten sich danach, dass sie von dem ihm bestimmten Menschen aufgeschlagen wurden, an der einen Stelle, bei diesem einen Satz, der präzise im fatalsten Moment des schlimmsten Tages dem Unglücklichen zugeführt werden musste. Jean Perdu tat seinen Teil dazu, dass dieses vergessene alchemistische System funktionierte und er Bücher und Menschen rechtzeitig zusammenbrachte, die einander brauchten.

War er naiv? Bestimmt. Machte er es trotzdem? Bestimmt.

Und er war sich sicher, er hätte der jungen Madame wenigstens ein bisschen helfen können. Wenn sie ihn gelassen hätte.

»Weißt du, was das Schlimmste an deinem Rettungsfimmel ist?« Pauline funkelte Perdu an.

»Und zwar?«, machte er vorsichtig. Die Zornesbeben der Pauline Lahbibi waren eine Richterskala für sich.

»Dass ich solche Anwandlungen selbst verspüre. Du bist wie Windpocken, echt.«

»Ich nehme das auf in meine Preziosensammlung deiner durchaus … exotischen Komplimente.«

Windpocken. Zunicken, gut, das war geklärt.

»Hör mal, ich pack noch die Bücher fertig für die Mittwochsrunde«, sagte Pauline. »Stellst du mir noch was für Madame Bomme zusammen?«

Ihre Stimme im buchbewohnten Bauch der péniche zu hören, war auch nach einem Jahr für Jean Perdu noch »das Wunder«. Eines von der Sorte, die einem wie geliehen vorkommen, weil sie so groß und leuchtend sind und man sich fragt, wann der Moment kommt, wo das Wunder einem aus den ungeschickten Fingern gleitet, weil man zu doof gewesen war, es richtig herum zu halten. Seine erste Auszubildende. Der erste Mensch, mit dem er seither tagtäglich seine innere Haut teilte. Eine, die Bücher als »meine Freunde« bezeichnete. Pauline arbeitete zu viel, fand Perdu, sie sollte noch ein paar Freunde aus Herz und Haaren haben. Aber er hütete sich, ihr onkelhaft ins Sein zu quatschen.

»Schaust du später bei Marie vorbei?«, rief er, während er sich durch die Nackenbeißer-Titel wühlte, die er für Madame Bomme und andere Symptome von Zuckermangel-fürs-Gehirn bestellt hatte.

»Trägt der Papst rote Schuhe?«

»Nur an hohen Feiertagen und deiner ist erst am Samstag.«

Pauline Lahbibi steckte wieder den Kopf aus der Abteilung Lanostalgie du possible und schob den verrutschten Tabucchi und seine Fernando-Pessoa-Biografie sanft zurück in sein Fach.

In der Hand hielt sie einen Rollerhelm, um ihren Hals hing ein rotes Schaltuch. Die meisten Bücher für die Abendrunde waren bereits in den Seitenkoffern der Vespa verstaut, bis auf die Auswahl von Lektüren für Madame Bomme und ihren Witwenclub der Rue Montagnard. Perdu hätte sie auch selbst bringen können, da Madame Bomme seine Nachbarin im Haus No. 27 war, aber er hatte heute mit Catherine einen »Ehepflegeabend«. Das hatte seine Frau sich ausbedungen kurz nach ihrer Hochzeit: »Wir lieben beide unsere Arbeit deutlich mehr als alles andere. Deswegen brauchen wir Struktur, damit wir nicht vergessen, wozu dieses Ding hier«, sie hatte auf den hübschen schmalen Roségoldring gedeutet, »genau da ist.«

Er hatte protestieren wollen, er liebte seine Arbeit nicht mehr als sie, nur … anders.

Mit ihren perlgrauen Augen hatte Catherine Jean gemustert.

»Aber ich liebe meine Arbeit sehr«, hatte sie gehaucht, »und ich brauche meine wie du deine, um mich als ich zu fühlen.«

Catherine war Bildhauerin und bereitete ihre Ausstellung »Ewigkeit« – éternité vor. In der Hochphase ihres Schaffens schlief sie in ihrem Atelier im 13.Arrondissement, in dem ehemaligen und nun umgebauten Kühlhaus »Les Frigos«.

Sie waren acht Monate verheiratet, und er fand das auch ein Wunder. Jean Perdu war von Wundern umgeben und stakste zwischen ihnen herum wie ein alter Storch im Salat, so kam er sich vor.

Also: Ehepflegeabend. Mit allem, Dinner, Kino, Bar, »und Küssen in dunklen Ecken«, darauf hatte Catherine ebenfalls bestanden.

»Soll ich über Mittag zumachen?«, fragte Pauline. »Oder rechnest du mit einer verschwitzten Gruppe Amerikanerinnen, die erst verzweifelt im Café Deux Magots auf den Geist Simone de Beauvoirs gelauert haben und sich nun mit dem Wort Pharmacie vertun und nach Blasenpflastern fragen?«

»Was meinst du, was ich in dem kleinen Kühlschrank unter der Kasse hinter den Oranginas horte.«

»Gut, bis morgen Nachmittag, ich hab vormittags noch Buchschule in Créteil. Und keine Torte, ja, oder irgendwie cringes Zeug. Ich werde nur siebzehn.«

»Dann muss ich das Violinenquartett wieder ausladen.«

Sie rollte auf ihre unnachahmliche Pauline-Art mit den Augen und zog sich den Helm über.

Er schob ihr den Stapel für Madame Bomme in die Arme.

»Salut«, nuschelte sie, »du machst Kassenschluss?«

»Ich mach Kassenschluss.«

»Du kommst mit den Teenies nachher klar?«

»Meine liebe Windpockenpatientin, ich habe Teenies schon Lesenachmittage in der Abteilung für explizite Schwärmereien angeboten, als es so etwas wie spicy romance als Genre nicht mal gab. Zur Erleichterung ihrer Eltern, die Aufklärungsgespräche so lange vermeiden, bis es zu spät ist.«

»Ist ja gut. Aber du ogerst nicht wieder kindliche Kunden an?«

»Kann ich nicht versprechen.«

»Na gut. Aber gib ma’n Kuss auf Catherine.«

Pauline pflegte ihre Kurt-Tucholsky-Phase, sie sprach wie Lydia aus Schloss Gripsholm ein missingsch, Hochfranzösisch gemischt mit Argot und tausend erfundenen Flüchen. Und manchmal wie Tucholsky selbst, meist dann, wenn sie über Emile, ihren – tja, was? Oder wer und wer für sie? – sprach: »Er ist mir Freund, Bruder und komische Oper, und ich zeige ihm alle Schaufenster meines Herzens.«

Perdu hoffte still, dass eines Tages Emile nicht nur die Auslagen des Herzens bewundern durfte, sondern der bretonische Hafengendarm womöglich sogar den Laden betreten würde. Die beiden kreisten nun schon ein Jahr umeinander.

Aber alles nahm sich die Zeit, die es wollte – bis es in der Abteilung des Nichtmehrmöglichen landete.

Sie schob sich eine kühne Pilotensonnenbrille ins Gesicht, und Perdu wusste, Pauline würde mit deutlich zu wenig Angst über die Boulevards brausen, sich mit flatterndem roten Schal zwischen Renaults und Bussen entlangschlängeln und immer als Erste am Kreisel durchstarten. Zusammen mit einer Legion anderer Roller, fauchende Hornissenschwärme, Millimeter an Außenspiegeln und Glanzlack vorbei.

Perdu spähte durch das Bullauge hoch zur Brücke Pont Alexandre III. Kein Mädchen, das es sich überlegt hatte und wieder zurückkam. Er musste ohnehin die Bücherwannen disziplinieren. Kurz vor den Ferien nahmen die Bestellungen zu, als ob Eltern die fatale Sorge hatten, ihnen und den Kindern könnte der Ferien-Lesestoff ausgehen.

Kafka und Lindgren, die beiden in die Jahre gekommenen Schiffskatzen, beäugten Paulines Aufbruch milde beunruhigt von ihrem Platz auf dem »Paris«-Tisch nahe an der Kasse. Lindgren thronte auf Georges Perecs Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?, Kafka hatte das Kinn auf Ernest Hemingway abgelegt. Den »Paris«-Tisch hatte Pauline eingeführt mit der unfehlbaren Diagnose: »Jeder sucht in Paris das Paris, von dem er träumt, und ist völlig verzweifelt, dass er es nirgends findet. Bah voilà, wir leisten Erste Hilfe, ne c’est pas?«

Mit Pauline waren frische Luft und beherzte Neuerungen in der Literarischen Apotheke eingezogen; seien es die Bücherreisepässe für Kinder, in die sie nach jedem gelesenen Buch Stempel erhielten, wenn sie durch die Länder von Narnia, Phantásien oder mit Jules Verne in 80 Tagen um die Welt gereist waren. Oder die Samstagslesestunden mit Marie, die den Kleinsten aus subversiven Kinderbüchern vorlas. Oder die Sache mit Jean Perdus Video-Blog, der »Sprechstunde« – in der er versuchte, Neuerscheinungen vorzustellen und für welche Unwehen des Herzens sie geeignet waren, ohne vor Nervosität zu faseln. Doch, Pauline hatte aus dem zauseligen Digitalallergiker Perdu mit seinen Mitte fünfzig jemanden gemacht, der unfallfrei ein Video streamen konnte, ohne den Laptop über Bord zu werfen.

Er hörte das römische Röhren der Vespa, ein Meepmeep der Rollerhupe. »Eilige Arzneimittel« hatte Pauline auf das Heck-Case geschrieben, in denen sie Bücher transportierte, und sonderlich gelogen fand Jean Perdu das nicht.

Dann war sie weg.

Und ob er »cringes Zeug« für sie hatte. Er hatte die »Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle – Handbuch für Literarische Pharmazeuten«, an der er die vergangenen kaum zwanzig Jahre geschrieben und in die er alles gegossen hatte, was er in der Beziehung zwischen Büchern und Menschen beobachtet hatte, übertragen von seinen Clairefontaine-Schulheften in ein zickiges Schreibprogramm, das ihm ständig die schönsten erfundenen Wörter ändern wollte. Für den Zweck hatte er sich eine Computerarbeitsbrille anfertigen lassen – eine demütigende Prozedur bei einer viel zu vergnügten Optikerin in St. Germain, die ihm das unbarmherzige Altern fröhlich unter die Nase rieb –, das Endergebnis setzen und in der sensationellen Auflage von drei Exemplaren drucken lassen.

Eines davon war für Pauline. Zusammen mit einem Stoß leerer Schulhefte, in die sie die Beobachtungen ihres Buchhändlerinnenlebens eintragen konnte. Über all die neuen noch namenlosen Seinsschmerzen in dieser hyperbolischen Epoche.

Jean Perdu ließ seine Gedanken ausschwärmen, während er Wocheninventur machte und mit dem Kassenschluss abglich. Françoise also.

Er hatte gesehen, in dem tiefen See ihrer Augen, wie sie die verwüsteten Landschaften in sich durchwanderte.

Sie war tapfer. Tapfer und voller Angst. Und deswegen voller unglaublichem Mut, größer als sie selbst.

Der Buchapotheker hatte etwas an sich, das sein Vater, Joaquim Perdu, »Durchhörsicht« genannt hatte. »Du siehst und hörst durch das hinweg, womit sich die meisten Leute tarnen. Und dahinter siehst du alles, was sie sorgt, was sie erträumen und was ihnen fehlt.«

Jean Perdu achtete weniger auf das, was Menschen sagten. Sondern auf das, was sie nicht sagten.

Was hat Françoise nicht gesagt?

Etwas, das sie zutiefst beängstigte. Etwas, das sie nicht sagen wollte, um nicht ohne all das dazustehen, was sie ausmachte.

Viel weiter kam er nicht mit seinen Versuchen, seine Durchhörsicht zu Antworten zu beschmeicheln, denn da kullerte ein Trüppchen angeschwitzter Frauen durch das Schott, glasig wie Butterzwiebeln, und fragte nach Blasenpflaster. Während sie mit nackten Füßen dasaßen und ihre wunden Fersen und Zehen verklebten, beschwerten sie sich, dass Paris so gar nicht wie Paris sei, sie fühlten sich gründlich veräppelt.

»Darf ich Ihnen dagegen was empfehlen?«, fragte Perdu und machte sich einen Knoten ins Ohr, dass er Pauline berichten musste, dass ihr fabelhafter »Büchertisch für alle, die in Paris ihr Paris nicht finden«, der Knaller war.

Ein Fußpflaster für die durchgelaufene Seele, sozusagen.

»O Gott, o Gott, eine Metapherstreubombe«, würde Max Jordan, der Schriftsteller, zu dem Gedanken befinden. »Du weißt, wohin solche Wortungeheuer führen.«

Monsieur Perdu lächelte; als Max und er einander vor vier Jahren trafen, waren sie beide im Käfig eines erstickenden Lebens gefangen gewesen.

Während Perdu die barfüßigen Amerikanerinnen beriet, die sich jetzt ganz aufgeregt und gut gelaunt gegenseitig ihre Neuerwerbungen zeigten, die sie bei einigen Flaschen Rosé auf der Hotelterrasse inhalieren würden (ja, er hatte auf Pauline gehört und englische Übersetzungen seiner liebsten Paris-Arzneien ins Programm genommen), sah er den Bauch des Bücherschiffes vor vier Jahren vor sich.