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Wo Buchgeister und Fantasie lebendig werden
Um die Zerstörung der zauberhaften Buchwelt zu verhindern, müssen sich die Buks in ihr bislang größtes Abenteuer wagen: Sie erobern zum ersten Mal das für sie unbekannte „Draußen“ jenseits ihrer magischen Bibliothek. Zeitgleich reisen die Kinder Finn und Nola mithilfe von machtvollen Kristallmedaillons durch die Welt der tollsten Geschichten auf der Suche nach dem verschollenen Buchmeister und der Heilung gegen die schreckliche Bleichkrankheit. Inzwischen entdecken Mira und Thommy in der Welt der Menschen die geheime Büchergilde und kommen dem unbekannten Zerstörer der Bücher gefährlich nah. Doch nur gemeinsam können sie das Spiel um Freiheit und Fantasie gewinnen.
Der zweite Band der Buks des Bestseller-Autorenduos Nina George und Jens J. Kramer.
Band 3 der Buks erscheint im Frühjahr 2026!
Band 1: Die magische Bibliothek der Buks – Das Verrückte Orakel
Begeisterte Leserstimmen:
"Nina George und Jens J. Kramer haben eine unglaubliche Geschichte geschrieben, die für mich schon jetzt ein absoluter Klassiker ist. Die Kinder werden dieses Buch mit großen Augen verschlingen und auch ich als Erwachsene konnte nicht genug bekommen."
"Ich bin wirklich begeistert von der Welt, welche die beiden Autoren aufgebaut haben. Eine Welt die einen an andere Werke erinnert - Tintenherz -, die andere Werke einbaut - Fahrenheit 451 - und trotzdem einen ganz eigenen Charme entwickelt. Eine Welt, die mich nicht nur als Kind in den Bann gezogen hätte, sondern auch als Erwachsene wieder Kind sein lässt."
"Ich bin in ein Buch versunken, aus dem ich nie mehr fort möchte [...] Ein Jugendbuch ja, das ist zu kurz gegriffen, es ist ein Buch für alle und für mich das Jahreshighlight."
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Um die Zerstörung der zauberhaften Buchwelt zu verhindern, müssen sich die Buks in ihr bislang größtes Abenteuer wagen: Sie erobern zum ersten Mal das für sie unbekannte „Draußen“ jenseits ihrer magischen Bibliothek. Zeitgleich reisen die Kinder Finn und Nola mithilfe von machtvollen Kristallmedaillons durch die Welt der tollsten Geschichten auf der Suche nach dem verschollenen Buchmeister und der Heilung gegen die schreckliche Bleichkrankheit. Inzwischen entdecken Mira und Thommy in der Welt der Menschen die geheime Büchergilde und kommen dem unbekannten Zerstörer der Bücher gefährlich nah. Doch nur gemeinsam können sie das Spiel um Freiheit und Fantasie gewinnen.
Das Abenteuer geht weiter!
© www.juliabaier.de
Die mehrfach ausgezeichnete internationale Bestsellerautorin Nina George, geboren 1973 in Bielefeld, schreibt seit 1992 Romane, Sachbücher, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten, Blogs und Kolumnen. Ihr Roman Das Lavendelzimmer wurde in 36 Sprachen übersetzt und eroberte weltweit die Charts, so etwa die New York Times-Bestsellerliste in den USA. Sie lebt in Berlin und in der Bretagne. Seit Juni 2019 ist Nina George Präsidentin des European Writers’ Council, dem Dachverband von 46 europäischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbänden.
© Maurice Kohl
Jens J. Kramer, Jahrgang 1957, studierte in Berlin Ethnologie und Publizistik. 1999 debütierte er mit einem historischen Roman über das koloniale Afrika (Die Stadt unter den Steinen), dem zwei weitere folgten (Das Delta, Der zerrissene Schleier). Als Jo Kramer schrieb er romantische Komödien, als Mike Schulz Krimikomödien und zusammen mit seiner Ehefrau, der Bestsellerautorin Nina George, ist er Jean Bagnol, der Erfinder des provenzalischen Ermittlers „Commissaire Mazan“. Zuletzt erschien von ihm Johannas Rache, Droemer, 2020. Kramer ist seit 2017 Vorsitzender des SYNDIKAT e.V.
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Viel Spaß beim Lesen!
Nina George
Jens J. Kramer
Das verfluchte Medaillon
mit Illustrationen von Hauke Kock
Planet!
Etwas krabbelte an seinem Mund herum. Finn hob den Kopf und blies den kleinen Käfer weg, der empört summend davonschwirrte.
Moment mal. Wieso lag er mit dem Gesicht voran auf einer Wiese? Gelbe, blaue und rote Blüten leuchteten im Sonnenlicht, Insekten summten, graue Felsen erhoben sich hier und da aus dem Gras.
Wo war er? Was war geschehen? Eben war er doch noch ganz woanders gewesen! Da war sich Finn ganz sicher, obgleich er sich nicht erinnern konnte, wo genau … ein Keller …?
»Na, Kleiner, endlich aufgewacht?«
Finns Kopf ruckte herum. Ein paar Meter weiter saß ein Mädchen auf einem der Felsen. Sie pulte sich gelassen mit einem ziemlich spitzen und ziemlich gefährlich aussehenden Messer den Dreck unter den Fingernägeln hervor und guckte ihn nicht mal an.
Sie schien etwas älter als er zu sein, vielleicht vierzehn. Unter einer Lederweste, die vorne geschnürt war, trug sie ein Hemd, das irgendwann mal weiß gewesen war. Ihre Lederhose war abgewetzt und glänzte, und die eng anliegenden Stiefel hatten sicher auch schon viele Kilometer zurückgelegt. Finn konnte ihr Gesicht nicht erkennen, weil wilde Haarsträhnen davorhingen, die aussahen wie ein zerzaustes Vogelnest.
Er rappelte sich auf die Knie. »Wer bist du denn?«, fragte er.
Jetzt schaute sie auf, warf die Haare mit einer knappen Kopfbewegung nach hinten und schob das Messer mit einer fließenden Bewegung in ihren Gürtel. Kristallgrüne Augen musterten Finn kühl. »Ich bin Lysandra«, erwiderte sie amüsiert.
»Okay, Lysandra. Hi, ich bin …«
»Finn«, unterbrach sie ihn. »Weiß ich. Können wir?«
»Was? Aber woher kennst du mich?«
»Pff«, machte die Fremde nur und schüttelte entnervt den Kopf. »Nicht zu fassen!« Lysandra erhob sich geschmeidig von dem Felsbrocken. »Also, geht’s los?«
»Geht was los?«
Lysandra verdrehte die Augen. »Nola finden«, erklärte sie ungeduldig. »Deswegen bist du doch hier, oder? Finder?«
Mit diesem Wort war alles wieder da: das Kellergewölbe der Buks, das leuchtende Buch, in das erst Geraldine, dann Finns Zwillingsschwester Nola verschwunden war, und in das er ihnen gefolgt war. Der Sog aus Licht, tanzende Buchstaben, Dunkelheit.
Lysandra sprang mit einem gewaltigen Satz auf einen riesigen Felsen. Finn staunte, das hätte er nicht so leicht geschafft.
Sie legte die Hände an den Mund und rief laut: »Nooola!« Dann neigte sie den Kopf und legte die Hand hinters Ohr. Lysandra guckte spöttisch auf Finn herunter, zuckte mit den Achseln und meinte nur: »Tja. Keine Nola.«
Er starrte immer noch zu ihr hoch und wusste nicht, ob er dieses seltsame Mädchen grauenhaft finden sollte, da sie sich ganz offensichtlich über ihn lustig machte, oder doch eher sensationell.
Als Lysandra wieder vom Felsen herabsprang, schlug sie einen Salto, landete sicher auf den Füßen und lief einfach drauflos. So leichtfüßig wie … Finn fiel kein Tier ein, das so laufen konnte. Panther vielleicht. Gazellen. Sicher kein Mensch, nicht so schnell und behände. Und dabei rief sie immer wieder: »Nooola! Nooola!«
War das überhaupt ein Mädchen?
Falsche Frage, dachte Finn: War sie überhaupt ein Mensch?
Die Wiese, über die Lysandra sprintete, fiel zu einem rauschenden Fluss hin ab. Hinter ihnen begann ein mächtiger, dichter Wald, dessen Rand zwar nicht düster, aber auch nicht sonderlich einladend aussah.
Denk nach, Finn. Glotz nicht nur, schalt er sich.
Wenn Nola hier gelandet war, wäre sie sicherlich zum Fluss gegangen. Also folgte Finn Lysandra – schön langsam. Er hatte Mühe, einen sicheren Tritt auf der buckeligen Wiese zwischen den Felsen und Maulwurfshaufen zu finden. Lysandra verschwand schon zwischen den Büschen und Bäumen, die das Flussufer säumten, weiter nach Nola rufend.
Als Finn sich endlich über die Buckelwiese gearbeitet hatte, fand er das seltsame Mädchen im Gras sitzend, ein paar Meter vom Ufer entfernt. Das Wasser sprudelte über Felsen und sah wunderbar klar aus. Gierig ging Finn in die Hocke und schöpfte sich mit beiden Händen die kühle Flüssigkeit in den Mund, wusch sich das Gesicht, trank noch einmal.
»Aah«, machte er erleichtert. Er fing Lysandras Gesichtsausdruck auf, die ihn missmutig beobachtete. »Willst du?«, fragte er und schöpfte erneut Wasser, um es ihr zu bringen.
»Vergiss es!« Sie zog eine Schnute. »Ist ja ekelhaft.«
Finn runzelte verwundert die Stirn. »Du magst kein Wasser? Was trinkst du denn dann?«
Lysandra warf die Arme in die Luft. »Trinken. Trinken! Was müsst ihr alle immer nur trinken?«
Finn verstand gar nichts mehr. Dann fiel ihm ein, dass er in einem Buch, also einer Geschichte war. Vielleicht musste man da ja nicht trinken. Oder essen. Oder aufs Klo …
»Was bist du eigentlich?«
»Ah«, machte sie, »endlich mal eine vernünftige Frage.« Sie strahlte ihn an. »Ich, mein lieber Finder, ich bin eine Feuerfee«, erklärte sie.
»Eine was?«
Lysandra runzelte verärgert die Stirn. »Was ist mit dir? Hast du was an den Ohren?«
»Nein, aber du hast Feuerfee gesagt. Was ist das?«
Jetzt war ihr Lächeln ein bisschen fies. »Soll ich es dir zeigen?«, lockte sie genüsslich.
»Okay«, sagte Finn zögernd.
Sie streckte ihre Hand aus, legte den gekrümmten Zeigefinger auf den Daumen und schnippte dann in seine Richtung.
Ein Feuerfunken schoss aus ihrem Finger, direkt auf Finn zu.
»Hey!«, rief er. Er schaffte es gerade noch, sich zu ducken, und der Funken swuschte auf den Fluss hinaus und landete mit einem leisen Zischen im Wasser.
»Wow!«, machte Finn. »Ich glaube, hier gefällt es mir.«
Auf einmal spürte er ein ungewohntes Gewicht, das gegen seine Brust schlug, als er sich aufrichtete. Er fasste sich an den Hals und hob das Ding hoch, das da an einer Kette baumelte. Und machte große Augen.
Nola hielt das Kristallmedaillon in der Hand und betrachtete es verwundert. Es sah nicht nur anders aus als das, das ihr Schönaufpassa Buk umgehängt hatte – es war nicht mehr aus Holz, sondern aus glänzendem Metall. Das musste Messing sein. Die verschlungenen Linien, die vorher in das Holz geritzt waren, wurden nun durch Silberornamente gebildet. Dadurch war es deutlich schwerer. Und der Kristall in der Mitte, der matt gewesen war, schimmerte nun klar und prächtig im Sonnenlicht.
Dinge verändern sich also, wenn man in ein Buch eintaucht, dachte Nola und schaute unwillkürlich an sich herab, ob ihre Klamotten auf einmal anders waren oder ein Bein länger als das andere.
Alles sah gut aus. Doch was war mit ihrem Gesicht? Sie betastete ihre Wangen, ihre Nase, sie fühlten sich an wie immer. Und als sie sich fix eine Haarsträhne vor die Augen hielt, hatte die auch die vertraute rötliche Farbe.
Nola schob das Medaillon vorsorglich unter ihr T-Shirt und wandte sich langsam um. Sie schaute den Hang mit den Felsen an, auf dem sie aufgewacht und dann in Richtung Fluss geschliddert war, und versuchte sich zu erinnern, an welcher Stelle sie in die Geschichte gefallen war. War es da neben der Distel gewesen? Oder an dem Felsen mit dem Moos? Es sah alles ähnlich und doch verwirrend anders aus. Verflixt! Nola seufzte. Wenn sie Geraldine gefunden hatte, müsste sie einfach irgendwo hier am Hang versuchen, in die Bibliothek zurückzukehren.
Himmel, hatte sie Durst! Nola suchte sich einen Weg durch das struppige Gebüsch. War ja nicht das erste Mal, dass sie durch irgendwelches Unterholz kroch. Finn wäre bestimmt begeistert gewesen. Ach, Finn! Ihr Zwillingsbruder fehlte Nola jetzt schon ganz fürchterlich. Sie war noch nie getrennt von ihm gewesen und zum ersten Mal völlig auf sich allein gestellt. Komisches Gefühl. Scheußlich und … schön.
Am Ufer des Flusses kniete Nola nieder. Ob man das Wasser einfach so trinken konnte? Sie zögerte. Dann siegte der Durst. Sie schöpfte Wasser mit den hohlen Händen und trank gierig. Es war frisch, kühl und einfach köstlich. Danach schaute sie sich erneut um.
Erst jetzt traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht.
Sie war in einem Buch!
In einer anderen Welt.
Und bisher fühlte die sich ziemlich gut an. Staunend betrachtete Nola das Wasser, das melodisch um die Steine sprudelte. Die schimmernden großen Libellen, die vergnügt darüber hinwegsirrten. Den wilden Uferbewuchs mit seinen herabhängenden Zweigen. Nola atmete tief die reine Luft ein.
Als Antwort knurrte ihr Magen.
»Also gut«, befahl sie sich selbst und richtete sich auf. »Geraldine finden und auch etwas zu essen. Und dann wieder zurück. Marsch, Marsch, kleine Kriegerin!«
Erstens war das komisch, nur mit sich selbst zu sprechen. Und zweitens … zweitens hatte Nola gar keine Lust, so schnell wieder in die Echtwelt zurückzukehren. Am liebsten wollte sie die ganze Geschichte von vorne bis hinten erkunden und diese andere Welt durchwandern.
Als sie die Uferböschung hinter sich gelassen hatte, bemerkte Nola den ausgetretenen Trampelpfad, der sich am Fuße des Hangs entlangschlängelte und in dem tiefe Hufabdrücke in die Erde gestampft waren.
Und jetzt? Links, rechts? Nirgends waren Häuser oder gar eine Stadt zu sehen. Und auch nicht zu hören. Puh. Welche Richtung hatte wohl Geraldine genommen? Kaum anzunehmen, dass jemand wie die Tochter der Ministerin nur heulend auf einer Wiese sitzen würde. Schon gar nicht mit der Wut im Bauch, die sie bestimmt auch mit hierher genommen hatte.
Finn würde einfach drauflosmarschieren. Wie er es immer tat. Erst machen, dann denken. Und meist hatte er auch noch Glück mit diesem chaotischen Vorgehen. »Na, toll«, murmelte sie. Also machte sie es wie Finn, folgte dem nächstbesten Impuls – und lief den Pfad nach links.
Bald begann Nola zu schwitzen. War hier Sommer, weil auch in der Echtwelt Sommer war? Nee. Sie hätte auch in einem Buch landen können, wo gerade bitterer Winter herrschte. Insofern hatte sie es gut getroffen.
Ob Schönaufpassa und Queen Buk Nola schon sehen konnten? Wie hieß das: durch Anomalien im Text? Quatsch! Nola hatte ja noch gar nichts gemacht, was die Handlung verändern konnte. Oder? Jedenfalls hatte sich kein Pony nach ihr umgedreht.
Was Finn jetzt wohl tat? Wartete er neben dem Buch oder war er schon auf dem Heimweg? Was sagte er ihren Eltern? Wie ging es ihm, so ganz allein?
Darüber machte Nola sich am meisten Sorgen. Ihr um drei Minuten jüngerer Zwillingsbruder tat immer so, als ob er alles voll im Griff hätte. Aber Nola wusste sehr wohl, wie sehr er sich auf sie verließ. Sie waren beide nur halb, wenn sie getrennt waren.
Der elegante Flug eines Adlers schräg über ihr lenkte sie ab. Wie erhaben der aussah! Und wie schön er war.
Die Hitze lag seidenweich über dem blühenden Land voller wilder Büsche und urwüchsiger Bäume. Es zirpte, es tschirpte, es raschelte überall. Nola schritt versonnen und bewundernd den ausgetretenen Pfad entlang.
Hinter einer Biegung entdeckte sie in der Ferne niedrige Dächer. Rauch stieg von einem Feuer auf. Nola beschleunigte ihre Schritte. Ein Dorf! Da gab es bestimmt etwas zu essen. Und bestimmt fand sie dort auch Geraldine. Und ganz bestimmt wären sie in weniger als einer Stunde wieder zu Hause!
Im Näherkommen erkannte sie, dass die meisten Häuser aus Holz gebaut waren und ziemlich schäbig wirkten. Und der Trampelpfad, auf dem sie kam, verbreiterte sich zu der Straße, die quer durch das Dorf verlief. Die hatte aber keinen Straßenbelag. Sie bestand nur aus zertretener Erde und Furchen. Die wiederum rührten offenbar von altersschwachen Karren, die von Pferden gezogen wurden. Jedenfalls schaukelten zwei davon gemächlich zwischen den Häusern einher. Nola erblickte auch ein paar Menschen in altertümlicher Kleidung. Aber nicht so manierlich wie die Buks. Die Männer trugen unförmige Hosen und weite Hemden, die alle irgendwie grau aussahen. Die Frauen steckten in Kleidern, deren Saum im Dreck schleifte. Auf dem Kopf hatten sie komische Hauben, trotz der Hitze. Ein paar Kinder spielten mit Stöcken, sie waren alle barfuß. Nola blieb am Dorfeingang stehen und bestaunte die Szenerie. Und dann stieg die Erkenntnis heiß in ihr auf, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte.
Sie hatte nicht gefragt, in was für ein Buch sie hier geraten war. Sie hatte keine Ahnung, in was für einer Welt sie sich befand!
»Verflixte Lektorin!«, stieß sie den Fluch aus, den sie von den Buks gelernt hatte. Sie sah an sich herab. Ihr geliebtes grünes T-Shirt, enge Jeans, Sneakers – sie würde sehr auffallen in dieser Stadt. Hätten die Buks sie nicht warnen können?
Nola nahm sich ein Herz und ging weiter. Sie hatte eine Mission zu erfüllen: Geraldine finden! Da bemerkte sie eine Gruppe Menschen, die die Stadt verließ und direkt auf sie zukam. Voran schritt ein Mann, der einen scheinbar schweren Sack geschultert hatte. Ein paar Schritte hinter ihm folgte eine Frau, die ein Kleinkind auf der Hüfte trug und ein zweites an der Hand führte. Als der Mann Nola fast erreicht hatte, fragte sie: »Entschuldigung, haben Sie vielleicht ein zwölfjähriges Mädchen …«
Der Mann ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Verdutzt schaute Nola ihm nach. Dann wandte sie sich an die Frau. »Haben Sie vielleicht …«
»Nein, du bekommst keinen Kuchen«, sagte die Frau zu dem Jungen, der an ihrer Hand zerrte. Sie ging weiter, ohne Nola auch nur mit einem Blick zu beachten. Nicht einmal die Kinder schauten sie an. Mit offenem Mund starrte sie der Familie hinterher.
»Also, so etwas von unhöflich«, murmelte sie fassungslos. Sie setzte ihren Weg fort und hoffte, dass nicht alle Bewohner dieser Stadt so abweisend waren.
Mit einem Mal stieg ihr ein Geruch in die Nase, der all ihre Sinne alarmierte. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie schaute sich suchend um. Und dann entdeckte sie die Quelle dieses verführerischen Duftes.
Auf einer Fensterbank stand ein köstlich-knusprig-saftig aussehender Pflaumenkuchen, offenbar zum Abkühlen. Das Fenster war geöffnet, es führte wohl zur Küche des Hauses. Nola stand an der niedrigen, weißen Zauntür, die den Vorgarten von der Straße trennte, und starrte mit großen Augen auf den Kuchen. Sie schluckte den Speichel runter, der ihr im Mund zusammenlief. Ob die Köchin ihr wohl ein Stück geben würde? Sie hatte noch nie eine Fremde um ein Stück Kuchen gebeten. Es war auch niemand zu sehen.
Geh weiter, sagte sie sich. Aber ihre Füße rührten sich nicht vom Fleck. Sie könnte doch einfach ein bisschen näher rangehen und schnuppern. Da machten ihre Füße willig mit.
Nola öffnete das Gartentor und näherte sich dem Fenster. Mit jedem Schritt wurde der Duft intensiver. Dann stand sie direkt davor. Dieser Kuchen war das Köstlichste, was sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Sie spähte in die Küche. Niemand zu sehen. Sollte sie einfach …?
Nein! Sie war keine Diebin. Ihr Magen spielte verrückt. Rumpelte und zog und zerrte. Aber sie konnte doch nicht …
Sie stellte sich nur eine Frage: Was würde Finn tun? Die Antwort war klar. Entschlossen zog sie Rebellas Messer hervor und schnitt ein spitzes Stück aus dem Kuchen. Ui, der war noch heiß. Dennoch biss sie herzhaft hinein. Oh, war das gut. Ein seliges Stöhnen entglitt ihrer Kehle. Saftige Pflaumen, fester Teig, eine Süße, die nach Mandeln und Wiese schmeckte. Nola schluckte und biss ein weiteres Stück ab. Da ließ eine schrille Stimme sie erstarren.
»Ja, ist denn das zu glauben?!«
Eine Frau kam durch die Küche auf das Fenster zugeeilt. Sie fasste das Kuchenblech mit einem Handtuch und zog es ins Innere. Empört schaute sie auf die Lücke in ihrem Kunstwerk.
»Diese Lausbuben«, schimpfte sie. Dann beugte sie sich aus dem Fenster und schaute mit wildem Blick von links nach rechts.
»Ihr Bengel«, schrie sie. »Ich werde euch lehren, einer ehrbaren Hausfrau den Kuchen zu stehlen. Ich sag’s dem Pfarrer, der wird euch die Ohren lang ziehen.«
Nola starrte mit offenem Mund, der immer noch voller Kuchen war, auf die schimpfende Frau. Ihre Haube war verrutscht und saß nun schief auf dem Kopf. Nola stand direkt vor ihr, das angebissene Stück Kuchen in der Hand. Aber die Frau schickte ihre Schimpfkanonade an unsichtbare Diebe.
Unsichtbar?
Da begriff Nola.
»Ich habe etwas entdeckt!«, rief Schönaufpassa Buk aufgeregt.
Queen Buk eilte herbei. »Was denn? Was ist passiert?«
»Da, schau!« Schönaufpassa zeigte auf die Textstelle in dem aufgeschlagenen Buch. »Tante Polly hat einen Pflaumenkuchen gebacken und zum Abkühlen auf die Fensterbank gestellt. Sie war nur kurz weg, um Apfelmost zu holen, und da fehlt ein Stück von dem Kuchen. Das stand da vorher nicht.«
»Hm«, machte Queen Buk stirnrunzelnd. »Das sieht mir sehr nach Finn aus.«
»Tja«, gab Schönaufpassa zurück, »das wissen wir leider nicht.«
»Nein«, erwiderte Queen Buk bissig, »weil du ihn ja auch noch ins Buch hast gehen lassen.«
»Queenie«, seufzte Schönaufpassa, »das hatten wir doch schon. Er wollte seiner Schwester helfen. Die Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen machen.«
Queen Buk grummelte vor sich hin. Dann fragte sie: »Tante Polly weiß es auch nicht, oder?«
»Nein, sie sieht sie ja nicht.«
Die beiden Buks schauten auf den Text mit der schimpfenden Tante Polly herab.
»Haben wir ihnen eigentlich gesagt, dass sie in den Büchern unsichtbar sind?«, fragte Queen Buk schließlich.
Schönaufpassa schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Du?«
Queen Buk schüttelte ebenfalls den Kopf.
»Verbukst und zugedruckt«, murmelte Schönaufpassa.
Der Schuh. Es war Geraldines pinkfarbener Turnschuh, der Mira schließlich aus der Fassung brachte, als sie ihn auf der anderen Seite des Tors am Boden liegen sah.
Bis dahin hatte sie sich gut gehalten, fand Thommy. Den ganzen Weg durch den Garten und weg von der Bibliothek, Finns Blicke im Rücken. Mira hatte nicht geweint, nicht gezittert und nicht gefragt: »Was machen wir denn jetzt nur? Wie sollen wir das ihren Eltern erklären? Und der Gilde? Und was bedeutet das Orakel? Können wir je zurück? Und … « Alles Fragen, die Thommy hingegen panisch durch den Kopf wirbelten wie Flocken in einer geschüttelten Schneekugel. Wie großspurig er sich Finn gegenüber geäußert hatte: »Du kannst dich auf uns verlassen.« Ja, klar, von wegen. Innen drin fühlte sich Thommy wie eine trockene Salzstange. Würde Mira jetzt nur einen Ton sagen, würde er heulend zusammenbrechen, sich auf der Stelle auf dem Boden einrollen und fest die Augen schließen.
Aber dann: der pinkfarbene Sneaker.
Mira hatte ihn aufgehoben, sich heftig an die Brust gepresst und war in tiefe, verzweifelte Schluchzer ausgebrochen. Sie rang nach Luft und konnte kaum klar sprechen, während sie ruckartig hervorstieß: »Ich hab solche Angst, Thommy, das schaffen wir doch alles gar nicht! Wir sind doch nur Kinder! Keine … keine … Helden oder so! Nicht ich, und du …« Weiter kam sie nicht, ihre Augen waren riesengroß und voller Angst.
Thommy hielt Mira ganz, ganz fest, bis sie ruhiger wurde und schließlich wieder normal atmete. Da bemerkte er etwas Seltsames: Seine panischen Schneeflocken setzen sich ebenfalls ganz ruhig hin.
»Ich bin auch kein Held«, flüsterte er an Miras Schläfe gelehnt. »Und Angst habe ich auch. Das macht aber nichts. Versprochen. Man kann Angst haben und muss kein Held sein und es trotzdem hinkriegen. Eine Katastrophe nach der anderen. Okay? Komm. Gehen wir zur Gilde.«
Er nahm sie bei der Hand, und so suchten Thommy und Mira sich stumm und vor Anstrengung keuchend ihren Weg durch den schleimigen Tunnel, die dunkle Nacht über die Wiesen, zwischen Sumpf und Gras entlang, bis sie endlich den Saum der schlafenden Stadt erreichten.
Als sie von Schatten zu Schatten huschten, die Augen der Überwachungskameras meidend, quietschte Mira nervös: »Der Brief, Thommy! Ich muss den Brief an meine Mutter holen!«
Er nickte, natürlich! Alle vier hatten ihren Eltern Briefe hinterlassen, als sie für immer hatten verschwinden wollen, um in der geheimen Bibliothek der Buks zu leben. Queen Buk hatte ihnen ganz schön den Kopf gewaschen für diese Idee. Thommy konnte sich kaum vorstellen, wie es für die Eltern der Zwillinge sein mochte, gleich ihre beiden Kinder zu verlieren. Oder die Ministerin! Wie viele Legionen von Polizisten würde die wohl auftreiben, um ihre Tochter zu suchen?
Eine Katastrophe nach der anderen, mahnte er sich.
Also hasteten sie eilig zu Mira nach Hause. Thommy wartete draußen, während er Miras zierlichen Schatten beobachtete, als sie in das dunkle Haus pirschte und in der Küche Licht machte, um den Brief vom Tisch zu klauben. Er war erleichtert, als sie ihm einen gehobenen Daumen am Fenster zeigte: Alles klar!
Da flammte im Obergeschoss das Licht auf und Thommy hörte die gedämpfte, müde Stimme von Miras Mutter: »Mira? Bist du das? Warum schläfst du nicht?«
Thommy duckte sich. Verzweifelt beobachtete er Miras hektische Versuche, ihren Rucksack, Geraldines Schuh und ihren Parka im Kühlschrank zu verstecken. Aber sie würde es nicht schaffen, ihre schmutzigen Klamotten auszuziehen und in den Pyjama zu schlüpfen. Denn schon ging das Flurlicht unten an.
Mira bedeutete Thommy, zu verschwinden.
Und so hörte Thommy nur noch ein »Wo kommst du denn her, Fräulein?« Miras Antwort bekam er nicht mehr mit, und er hoffte nur, sie würde es über sich bringen, zu lügen. Thommy wusste, wie sehr Mira das hasste.
Doch es war gut gewesen, dass er sich davongemacht hatte. Als er sich aus der Ferne umdrehte, sah er Miras Mutter, die vor das Haus getreten war und mit der Taschenlampe den Garten ableuchtete. Was ihr Mira wohl gesagt hatte?
Thommy war verschwitzt und seine Augenlider vibrierten vor Müdigkeit und gleichzeitig vor unendlicher Wachheit, als er das Haus seiner Großeltern betrat.
Sollte er sie gleich wecken? Oder erst mal nachdenken?
Aber er musste sich gar nicht entscheiden.
Oma Anna und Opa Willem saßen dicht nebeneinander auf Thommys Bett. Sein Großvater hatte seinen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt, erschöpft lehnte ihr Kopf an seiner Schulter. In ihrem Schoß hielt sie Thommys Abschiedsbrief. Es sah aus, als habe seine Großmutter bitterlich geweint.
»Hallo«, machte sich Thommy schüchtern bemerkbar.
»Thomas«, sagte sein Großvater. Und dann, als er Thommys Gesichtsausdruck bemerkte: »Es ist etwas schiefgegangen, nicht wahr?«
Thommy nickte, und als er die feste, warme Umarmung seiner Großmutter spürte, die ihn zutiefst erleichtert an sich drückte, hörte er in sich ein ganz feines »Knacks«. Das war die Salzstange, gleich würde er losheulen, und dann würde er das alles wirklich nie schaffen. Was würde Finn jetzt tun? Oder, nein: Was würde der Zwilling in ihm tun, jener, der Orakel werfen konnte und mit Lyra durch die Eiswüste geritten war?
Also drückte Thommy seine Großmutter ganz sanft von sich, schluckte den Tränenklops runter, schaute sie beide fest an und begann mit den Worten: »Ich weiß, wohin der Buchmeister verschwunden ist. Wir müssen die Gilde zusammenrufen. Ihr wisst doch wie, nicht wahr?«
Anna und Willem tauschten einen Blick. Dann erwiderte seine Großmutter: »Ja, das wissen wir. Zumindest teilweise.«
»Ihr wart also in der geheimen Bibliothek«, murmelte dagegen Opa Willem. »Und dort ist etwas passiert, was nicht hätte passieren sollen, sonst …«, er suchte nach Worten und deutete auf den Brief, »sonst wärst du jetzt nicht wieder hier.«
Thommy nickte, und sie blieben ganz still, während er seinen Großeltern in fiebriger Hast erzählte, welche Katastrophen sich in dieser Nacht ereignet hatten.
Immer wieder wurde er durch eine Frage unterbrochen: »Und diese Bleichkrankheit, sie lässt sich gar nicht heilen?« – »Nein, sie geschieht von innen, in den Geschichten selbst, so ist jedenfalls die Vermutung.« – »Aber ihr kennt den Namen des Teufels nicht, der an der Bleichkrankheit schuld ist?« Hier seufzte Thommy tief auf. »Nein. Dieses Geheimnis hat der Buchmeister mit sich genommen, als er in einem der Kraftbücher verschwunden ist. Er wollte diesen Teufel dort wohl selbst finden.«
Für einen Moment waren seine Großeltern sehr still. Es war ja auch einiges zu verarbeiten: Kraftbücher, die Lesende verschluckten. Der Buchmeister, der in einem von diesen Büchern verschwunden war und seither nicht mehr zurückgekommen ist. Und der ominöse Gegenspieler, von dem niemand wusste: Lebte er in Büchern? War er in einem von ihnen entstanden? Oder war er gar jemand, der auch eines Tages versehentlich oder absichtlich verschluckt worden war – in einer alten, verwunschenen Zeit?
Oma Anna fing sich als Erste und bat Thommy, weiterzuerzählen, was da im Keller geschehen war. Also berichtete er von Schönaufpassa und dem Drachen, den sie genauso manifestiert hatte, wie andere Buks Wascheimer oder eben auch Schnitzel und Melonen manifestieren konnten.
Da prasselten wieder die Fragen los: »Es gibt sie also wirklich, die Buks? Und der Drache war aus einem Buch? Also, wirklich aus einem Buch?«, »Und man kann das Essen, was sie, wie sagtest du: manifestieren, wirklich essen, und es schmeckt nach was?«, und natürlich: »Aber bisher sind Nola, Geraldine und Finn nicht zurückgekehrt?«
Schließlich erzählte Thommy, dass er zum Orakelmeister geworden war und gelernt hatte, Prophezeiungen zu werfen. Solche, in denen zuvor auch sie, die Kinder, angekündigt worden waren. Da schauten ihn beide mit großen Augen an. Glaubten sie ihm etwa nicht? Trauten sie ihm das nicht zu? Oder glaubten sie nicht an so was wie Prophezeiungen und Magie?
Am Ende war Thommy völlig erschöpft.
Seine Großeltern schienen zwar einiges zu wissen, was ihnen der Buchmeister in dosierten Häppchen an Informationen überlassen hatte. Aber weder hatten sie je einen Buk gesehen noch war ihnen die Macht der Kraftbücher bewusst gewesen. Und schon gar nicht, wo sich die geheime Bibliothek befand und dass es dort das Verrückte Orakel gab, das manchmal bockige Antworten gab.
»Zur Sicherheit, weißt du«, erklärte Opa Willem. »Je weniger von uns Bescheid wussten, desto sicherer ist die geheime Bibliothek. Jeder von uns kannte nur seine direkte Aufgabe, und Alexander war der Einzige, der den Weg zu diesem Haus kannte.«
»Ganz offenbar hat er uns sehr wichtige, wesentliche Wahrheiten verschwiegen!«, merkte Oma Anna streng an.
»Du weißt ja, wie er war, Anna.«
»Wie denn?«, fragte Thommy.
»Er hätte sein Leben für den Schutz der Bücher gegeben«, antwortete sein Großvater. »Diese Pflicht war für ihn eine Lebensaufgabe. Aber er übertrieb es oft und meinte, er ganz allein sei für alles verantwortlich. So behielt er viel für sich. Dadurch konnten wir ihm weniger helfen.«
Draußen begann sich das Blau der Dämmerung zu färben, wie immer und jeden Morgen. Die ersten Vögel begannen zwitschernd ihre sicherlich sehr wichtigen Unterhaltungen. Auch wie immer. Für Thommy fühlte es sich jedoch so an, als ob sich um ihn herum eine völlig neue Welt auffaltete. Die es nie zuvor so gegeben hatte. Alles, was er von nun an tat, war neu, und es gab tausend Gelegenheiten, erbärmlich zu scheitern.
»Soll ich dir heute für die Schule eine Entschuldigung schreiben?«, fragte seine Großmutter. »Damit du dich erst mal ausruhen kannst?«
»Nein. Ich kann Mira doch nicht allein lassen«, erwiderte Thommy. »Wenn sich das rumspricht mit Finn, Nola und Geraldine, gehen die doch gleich auf uns los.« Er vergrub das Gesicht in beiden Händen.
»Die ihr rein gar nichts wisst«, meinte Opa Willem trocken.
»Und wer soll uns das bitte glauben?«
»Darauf kommt es nicht an.«
»Und worauf dann?«
»Zeit«, stellte Thommys Großvater mit einem verschmitzten Lächeln fest. »Alles, was wir brauchen, ist ein Vorsprung. Um die Gilde zu reaktivieren und um den Buks die Chance zu geben, den Kindern aus den Büchern herauszuhelfen.« Er stand auf. »Thommy, ich hole dich später von der Schule ab. Ich möchte dir etwas zeigen. Dir und Mira. Ihr werdet es gut brauchen können und seid nun mehr als bereit, ebenfalls alles zu erfahren.«
In der Schule hielt Thommy unruhig Ausschau nach Mira. Wo blieb sie denn nur? Auf seine Nachrichten antwortete sie auch nicht.
Während er mit mulmigem Gefühl zwischen den Blumenkübeln, ihrem sonst üblichen Platz, hin und her tigerte, bemerkte Thommy einen Knirps mit einem roten Käppi über seinen Segelohren, der ihn schüchtern aus der Ferne beäugte. Zweite, vielleicht dritte Klasse. Er sah aus wie eines jener Kids, die aufpassen mussten, dass sie nicht von Leuten wie Geraldine auf dem Schulhof herumkommandiert oder sonst wie von der Klasse runtergeputzt wurden. Thommy kannte das, es gab immer ein oder zwei, die irgendwie am unteren Ende der Leiter landeten und entweder gnadenlos ignoriert wurden oder eben rumgeschubst. Fast wäre er selbst auch ein Klassenpunchingball geworden, aber das hatten Nola und Finn nicht zugelassen.
Thommy hob kurz die Hand in Richtung des Knirpses. Der wurde so rot wie sein lustiges Käppi und starrte ihn überrascht lächelnd an. Doch Thommys Gedanken schnurrten direkt zurück zu den Zwillingen. Wie das schmerzte, sie jetzt nicht hier zu wissen, sondern wer weiß wo in der Buchwelt. Und ob sie es überhaupt schafften, wieder zurückzukehren, bevor die Bleichkrankheit sich das Buch vornahm, in dem sie steckten, und …
»Was ist denn mit dir los? Du siehst aus wie ein Stück nasse Watte«, schnaufte Mira, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie sah müde, angespannt und ebenso blass wie Watte aus.
»Ja, rat mal, aber sag’s lieber nicht laut«, murmelte Thommy.
Gemeinsam beobachteten sie Geraldines Freundinnen, Cassie und Penny, die ausnahmsweise nicht zu ihnen glotzten, sondern hektisch die Köpfe zusammengesteckt hatten und tuschelnd aufeinander einredeten. Wahrscheinlich wunderten sie sich, dass die Tochter der Ministerin noch nicht da war. Sie würden sich noch mehr wundern, wenn sie erfuhren, dass ihre Anführerin von einem Buch verschluckt worden war. Ohne Schuhe.
»Was hast du eigentlich mit dem Turnschuh gemacht?«, wisperte Thommy.
Mira senkte den Kopf, während sie murmelte: »Steckt im Eisfach. Bei den Fischstäbchen.«
»Und deine Mutter?«
»Ich hab ihr gesagt, dass da unheimliche Tiere im Garten waren und ich mal nachschauen wollte.«
»Du meinst mich, den rosaroten Elefanten im Tütü?«
Über Miras Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns, und Thommy war froh, sie für einen Moment abgelenkt zu haben.
Doch ihr Ernst kam rasch zurück. »Irgendwann werden sie uns Fragen stellen«, wisperte Mira. »Die Lehrer, Nolas und Finns Eltern, vielleicht sogar Geraldines Mutter.«
»Wir dürfen auf keinen Fall etwas verraten«, sagte Thommy. »Wir streiten einfach alles ab.«
»Hoffentlich schaffe ich das. Ich wusste nicht, dass es so anstrengend ist zu lügen, um etwas Schönes und Gutes zu beschützen.« Sie sah umher. »Sag mal, hast du einen neuen Fan?« Sie deutete auf den Knirps mit dem roten Käppi.
»Keine Ahnung.«
Auch Mira winkte dem kleinen Kerl zu, der daraufhin wieder anfing, vor Freude und Verlegenheit zu glühen. Fast schien es, als wolle er sich ihnen nähern, aber der Schulgong ertönte, und er flitzte mit hin und her hoppelndem Ranzen über den Schulhof.
Thommy berührte Mira leicht am Arm. »Hör zu, Mira. Wir müssen jetzt so mutig sein wie Finn und Nola. Sie verlassen sich auf uns. Wenn das Ministerium die Bibliothek findet, zerstören sie bestimmt die Bücher. Dann finden die beiden nie mehr zurück. Wir müssen lügen. Wir müssen auf Zeit spielen. Was immer sie fragen, wir wissen nichts. Und heute Nachmittag will uns Opa Willem etwas zeigen. Ich glaube, es hat mit all dem zu tun.«
Mira schluckte einmal schwer, dann nickte sie.
»Eines ist schon mal sicher«, flüsterte sie auf dem Weg in das Schulgebäude. »Was wir dort letzte Nacht gesehen haben, war ein Wunder. Aber ich weiß inzwischen auch, dass nicht jedes Wunder wunderbar ist.«
Als sie sich auf ihre üblichen Plätze setzten, neben die Lücken, die Finns und Nolas Abwesenheit hinterlassen hatten, taten beide so, als bemerkten sie die fragenden Blicke der anderen nicht. Auch der Platz ganz vorne blieb leer: Da, wo Frau Ministerins Tochter zu thronen pflegte.
Das nächste nicht ganz so wunderbare Wunder machte sich in der zweiten Stunde bemerkbar: Eine angespannte Schuldirektorin ließ Thommy und Mira aus dem Klassenzimmer holen.
Bevor sie ihr Büro erreicht hatten, blieb die Direktorin abrupt stehen. »Ihr müsst mir die Wahrheit erzählen, bevor wir dort hineingehen«, begann sie.
Mira sagte artig: »Aber natürlich, Frau Direktorin.«
»Worüber denn?«, tat Thommy harmlos.
»Über den Verbleib von Finn und Nola.« Die Stimme der Direktorin schwankte.
»Wieso?«, gab Mira zurück. »Sind sie krank?«
Die Schulleiterin knetete nervös die Hände. »Nein, ihre Eltern haben angerufen«, berichtete sie fahrig. »Nola und Finn … sie sind anscheinend weggelaufen.«
»Oh nein«, hauchte Mira und machte große Augen. »Wie furchtbar!«
»Aber wieso denn bloß?«, stammelte Thommy.
Da schmetterte die Tür zum Direktorinnenzimmer auf.
»Ich dulde es nicht länger, zu warten!«, rief die Ministerin und sah gleichermaßen erbost, verzweifelt und sehr, sehr entschlossen aus. Dann fiel ihr Blick auf Mira und Thommy. Ihre Augen verengten sich zu lauernden Schlitzen. »Ich würde gerne mit beiden Kindern sprechen. Einzeln. Nacheinander. Beginnen wir doch mit dem netten Mädchen, nicht wahr?«
Knacks machte es noch einmal in Thommy.
»Wenn ich helfen kann, gerne«, kiekste Mira neben ihm und ging tapfer in das Zimmer.
Das Wiesel schien genau zu wissen, was es zu tun hatte. Es hoppelte die Treppe hinab, schlug die Richtung zum Tor ein und verschwand im Gebüsch. Rebella und Queen Buk schauten ihm aus der verschatteten Eingangshalle aus nach, die Queen mit skeptischem Blick, Rebella voller Zuversicht.
»Wahrscheinlich hat es jetzt schon vergessen, was wir ihm aufgetragen haben«, meinte Queen Buk. Sie wandte sich ab, weil ihr das Tageslicht in den Augen wehtat, obwohl die Sonne hinter dichten Wolken verborgen war.
Es hatte eine ganze Weile und viel guten Zuredens gebraucht, ehe das Wiesel sich ihnen genähert hatte. Erst als Queen Buk ihm hoch und heilig versprochen hatte, es nicht wieder in sein Buch zurückzuschicken, kam es, vorsichtig schnuppernd, unter dem Busch hervor.
»Ob es den Weg wohl findet?«, sorgte sich Rebella.
Ein frischer Wind riss die Wolkendecke auf und gleißendes Sonnenlicht flutete den wilden Garten. Zeit für die Buks, in ihre geheime Bibliothek zurückzukehren, in der nur das Leuchten ihrer Augen die Dunkelheit durchbrach.
Derweil schlüpfte das Wiesel durch die Gitterstäbe des Tores und suchte sich zielsicher seinen Weg.
Wenn wir gewusst hätten, dass sie gerne Pflaumenkuchen essen«, merkte Schlemmer Buk leicht verschnupft an, »dann hätten wir ihnen den doch gemacht.«
»Kuchen, pah«, sagte Attila Buk und hangelte sich aus dem Regal herab, wo er sich vor Romantika versteckt hatte, die ihm gerade mal wieder mächtig auf die Nerven ging.
In der Ferne des Saales hörte man sie rufen: »Attilein, wo steckst du denn?«
»Ein ordentliches Steak gehört auf den Teller«, grummelte er und kam vorsichtig nach allen Seiten äugend die Buks-Stufen herab.
»Daher schlussfolgere ich, dass er keinen Teller zur Verfügung hatte«, näselte Sherlokko und paffte an seiner leeren Pfeife.
Natürlich machte jede Neuigkeit von den Kindern in der geheimen Bibliothek sofort die Runde. Zwischen dem Regal Fantastische Welten und Vampirismus steckten Sherlokko, Schlemmer Buk und Ooht-Kwisien die Köpfe zusammen. Attila Buk hatten sie erst bemerkt, als er seinen knurrigen Kommentar aus dem Regal dazugab.
»Ein schönes Pferdesteak«, sinnierte er jetzt und leckte sich die Lippen. »Außen knusprig, innen saftig.«
»Du isst Pferde?«, fragte Sherlokko entsetzt. »Ich dachte, Mongolen reiten auf ihnen.«
Attila warf sich in die Brust. »Ein echter Mongole reitet sogar zum Klo auf einem Pferd.«
»Dann, du Mini-Mongole«, gab Sherlokko süffisant zurück, »solltest du dich entscheiden. Ein Pferd kann man entweder essen oder reiten. Beides zusammen geht nicht.«
Attila, der noch nie auf einem Pferd gesessen, geschweige denn eines gegessen hatte, stieg bei diesen spöttischen Worten die Zornesröte ins Gesicht.
»Du aufgeblasenes Gentlemännchen wirst sofort …«, begann er schnaubend. Doch da kam Romantika um die Ecke des Regals getänzelt.
»Attilein, börps, da bist du ja!«, rief sie erfreut.
Attila Buk nahm sofort Reißaus. Romantika eilte ihm mit wehenden Gewändern hinterher. Sherlokko, Schlemmer Buk und Ooht-Kwisien schauten ihnen nach.
»Obwohl«, gab Ooht-Kwisien zu bedenken, »Tante Pollys Pflaumenkuchen legendär ist.«
»Wer ist Tante Polly?«, fragte Sherlokko irritiert.
Ooht-Kwisien verdrehte die Augen.
Müde schleppte sich Geraldine den Weg entlang, der eigentlich kein Weg war, sondern ein mit Furchen durchzogener Trampelpfad voller Dreck und Steinchen, sodass jeder Schritt wehtat. Ihre Füße waren wund von den stacheligen Gräsern der Wiese, auf der sie erwacht war. Autsch, hatte das wehgetan! Wieso hatte sie keine Schuhe mehr? Und wo war sie hier überhaupt? Nirgendwo war ein Haus zu sehen. Ihr erster Impuls war der Griff nach dem Handy gewesen. Aber das hatte sie ja zu Hause gelassen, sorgsam versteckt unter ihrem Kopfkissen. Damit das HierBinIch ihrer Mutter nicht verraten würde, dass sie nachts aus dem Haus geschlichen war, um die Zwillinge und ihre Freunde bei ihren Machenschaften zu erwischen. Und ja, sie hatte sie erwischt. In diesem grässlichen alten Haus, voll von bösen Büchern!
Sie erinnerte sich auch an den Keller, wo Finn, Nola und ihre Freunde mit Troll-Robotern gespielt hatten. Aber was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr. Nur gleißendes Licht, dann Dunkelheit. Aber es war klar, dass die Kinder sie betäubt hatten. Und dann hatten sie sie irgendwohin verschleppt. Ohne Schuhe!
Diese Bosheit machte Geraldine fassungslos.
»Na wartet«, murmelte sie immer wieder, »das werdet ihr büßen!«
Wenn sie doch nur nicht so einen Durst hätte. Zwar vernahm sie das Plätschern eines Baches hinter den Bäumen und Büschen zu ihrer Rechten. Aber erstens hätte sie sich durch das struppige Unterholz kämpfen müssen, um dorthin zu kommen. Ein Albtraum, mit nackten Füßen. Zweitens würde sie niemals schmutziges Flusswasser trinken. Wer weiß, was da drin war. Nein, was sie wollte, war eine schöne kühle Limonade. Oder Ananassaft. Während sie mit schmerzenden Fußsohlen weiterging, ließ der Gedanke an ein Glas ihres Lieblingssafts ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Nur die Insekten, die sie umschwirrten und die sie immer wegwedeln musste, störten diesen Traum. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon gelaufen war, als sie mit einem Mal Stimmen vernahm.
Geraldine blieb stehen. Lauschte. Woher kam das? Was war das? Helle Stimmen. Gekreische. Das waren Kinderstimmen. Das musste die Finn-Nola-Bande sein. Die hatten sie einfach auf der blöden Wiese liegen lassen und amüsierten sich jetzt. Wahrscheinlich lachten sie sich kaputt über ihren Streich. Na wartet!
Geraldine eilte weiter. Als sie den Geräuschen näher kam, begriff sie, dass die vom Fluss kamen. Jetzt konnte sie auch das Planschen hören. Badeten die etwa in dieser Brühe? Na, die würden was erleben! Das Baden im Fluss war verboten! Das käme noch dazu, zu den bösen Büchern und den Troll-Robotern.
Dummerweise müsste Geraldine dafür aber erst mal das Gestrüpp durchqueren. Da entdeckte sie einen Pfad, der durch das Gebüsch verlief. Aha, das machten die also nicht zum ersten Mal. Der Pfad war noch pieksiger als der Weg, den sie bis jetzt gegangen war. Vorsichtig und mit kleinen »Autsch«-Ausrufen näherte sie sich den Stimmen und dem Fluss.
Als sie das sandige Ufer erreichte, blieb Geraldine verdutzt stehen. Das war nicht die Bande, die sie entführt hatte. Das waren andere Kinder, die sie noch nie gesehen hatte. Sechs Jungen tobten im Wasser umher. Sprangen von einem Felsen, rangen miteinander, tauchten unter, kamen prustend wieder hoch. Während Geraldine noch verwundert auf ihr Treiben schaute, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass dieser Fluss nicht im Mindesten aussah wie der Alte Fluss, in den sie Steine geworfen hatte. Erst jetzt schaute sie sich richtig um. Sie erkannte auch von der Umgebung nichts wieder. Nola und Finn mussten sie sehr weit weggebracht haben. Umso wichtiger war es, dass sie endlich ein Handy in die Hand bekam, mit dem sie sich bei ihrer Mutter melden konnte.
»Hey, ihr da!«, rief sie.
Die Jungs machten weiter mit ihrem Geplansche und taten so, als hätten sie nichts gehört.
Geraldine stemmte die Fäuste in die Hüften. »Hey«, rief sie noch lauter, »ich rede mit euch.«
Die Kinder reagierten nicht.
»Das ist doch wohl …«, stieß sie empört hervor. So ein Verhalten war ihr noch nie untergekommen. Kein Kind auf der Schule würde es wagen, die Tochter der Ministerin so zu missachten. »Ich werde euch alle melden«, schrie sie. Dann fiel ihr Blick auf die Kleiderhaufen am Ufer. Da mussten auch die Handys der Kinder sein. Geraldine zögerte. In fremden Sachen herumzuwühlen, gehörte sich eigentlich nicht. Aber das hier war ein Notfall. Und wenn diese unverschämten Jungs ihr nicht helfen wollten, musste sie eben selbst tätig werden.
»Ich leihe mir mal ein Handy aus!«, rief sie dennoch und bückte sich zu den Kleiderhaufen.
Aber was waren das für Sachen? Das waren keine Kleidungsstücke, das waren eher Lumpen. Mit spitzen Fingern durchsuchte Geraldine die schmutzigen Hemden und Hosen. Sie fand: eine Walnuss, eine abgebrochene und stumpfe Messerklinge, ein Knäuel Bindfaden und – zu ihrem Entsetzen – einen toten Frosch. Was sie nicht fand, waren Handys.
Nachdenklich betrachtete Geraldine die Jungs, die sich immer noch nicht im Geringsten um sie kümmerten, obwohl sie ganz offen ihre Sachen durchsuchte. Anscheinend hatten auch diese Kinder ihre Handys zu Hause gelassen, um ihren verbotenen Spielen nachgehen zu können. Wahrscheinlich hatten sie sich das bei Finn und Nola abgeschaut. Ihre Mutter hatte recht gehabt: Dieses unerhörte Verhalten griff schnell um sich. Dem musste unbedingt Einhalt geboten werden. Zwar hatte sie ihr Handy auch zu Hause gelassen, aber das war ja wohl etwas anderes. Schließlich gehörte sie zu den Guten und hatte eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Und dabei ging es nicht mehr nur darum, die Finn-Nola-Bande zu erwischen. Sondern darum, die Mission ihres Vaters fortzuführen und die Lügenbücher zu vernichten! Geraldine fühlte sich geradezu erhaben bei dem Gedanken, die Mission ihres Vaters zu erfüllen.
Da fiel ihr Blick auf die Stiefel. Sie lagen neben einem der Kleiderbündel, ziemlich hässliche, ausgetretene Dinger. Schmutzig obendrein. Geraldine suchte nach einem anderen Paar, aber es gab nur dieses eine. Sie ergriff sie mit leichtem Ekel, roch daran.
»Puh«, machte sie. Dann sah sie auf ihre zerkratzten und wunden Füße hinab. »Alles für die Mission«, murmelte sie. Laut rief sie: »Ich leihe mir mal die Stiefel aus.«
Dann streifte Geraldine sie über. Gerade als sie aufstehen wollte, kam einer der Jungen aus dem Wasser ans Ufer. Sie erstarrte. Der Junge, etwa in ihrem Alter, bückte sich zu seinem Kleiderhaufen hinab und suchte etwas in den Taschen. Er trug eine so ausgeleierte, alte Unterhose, dass Geraldine angewidert das Gesicht verzog. Mit einem Mal runzelte er die Stirn, schaute sich suchend um und wandte sich dann an seine Freunde, die immer noch im Wasser planschten.
»Hey!«, rief er. »Wer hat meine Stiefel versteckt?«
Die anderen Jungs lachten. »Pass halt besser drauf auf«, antwortete einer.
»Das ist gemein. Wenn ich ohne Stiefel nach Hause komme, wird mein Vater stinksauer.«
Wieder lachten die anderen Jungs. »Geschieht dir recht!«
Dem Jungen ohne Stiefel stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Mit offenem Mund starrte Geraldine ihn an. Sah auf die Stiefel an ihren Füßen.
Und verstand die Welt nicht mehr.
»Wir sollten da lang gehen«, entschied Lysandra und zeigte nach links. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte sie los.
Das passte Finn nicht. Er mochte es nicht, wenn man ihn rumkommandierte. Das durfte nur Nola. Oh Mann, wo war sie bloß?
»Was ist?«, fragte Lysandra. Sie war stehen geblieben.
»Und ich denke, wir sollten dorthin gehen«, rief er und zeigte in die Richtung, die vom Flussufer aus gesehen rechts lag.
»Okay«, meinte sie nur und stiefelte in die entgegengesetzte Richtung.