3,99 €
Sie sind stark, Sie sind Legende. Sie sind die Amazonen: Von der Ägäis bis ans Nordmeer – die junge Wissenschaftlerin Diana Morgan ist einen jahrtausendealten Rätsel auf der Spur: Sind die Amazonen mehr als ein Mythos – und gibt es die GEHEIMEN SCHWESTERN heute noch? Der neue, mitreißende Roman von »Spiegel«-Bestsellerautorin Anne Fortier. Was, wenn die Legende wahr wäre? Diana Morgan ist vom Mythos der Amazonen fasziniert. Bei Grabungen in der Wüste stößt sie auf die Spur der ersten Königin der Amazonen, Myrina. Um ihre Kriegerinnen, einst von griechischen Kämpfern entführt, zu befreien, stürzte Myrina sich mitten in den berühmtesten Konflikt der Antike – den Trojanischen Krieg. Nun macht sich Diana mit Nick Barran, dem undurchsichtigen Leiter der Grabung, auf die Suche nach dem legendären Schatz, den die Amazonen beim Fall von Troja retten konnten. Aber sie wird dabei ausspioniert und gejagt. Ohne zu wissen, ob sie Nick trauen kann, folgt Diana der Spur der Amazonen von der Ägäis über Deutschland bis an den Rand der Welt – eine Suche, die ihr Leben auf immer verändern wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 955
Veröffentlichungsjahr: 2014
Anne Fortier
Die geheimen Schwestern
Roman
Aus dem Englischen von Annette Hahn
FISCHER E-Books
Für meine Schwiegermutter
Shirley Fortier
(1945–2013),
deren Kampfesmut es mit jeder Amazone
aufnehmen konnte
Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.
George Orwell
Die jungen Männer absolvierten ihr Rudertraining in Rekordzeit.
Es war einer jener seltenen hellen Morgen in Oxford, an dem sich der Nebel kurz vor der Flussbiegung lichtete, als hätte die Natur auf diesen Moment, diese Mannschaft gewartet, um sich zu entfalten.
Haz empfand ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, als er und seine Freunde unter der aufgehenden Sonne über die Kirchwiese der Christ Church zum College zurückkehrten. Seine Hochstimmung wurde jedoch jäh vom Pförtner beendet, der ihn kurz nach ihrem Eintreffen im College-Hof mit brüskem Winken zur Pförtnerloge beorderte. »Das ist für Sie abgegeben worden, Sir.« Mit tintenbeschmiertem Daumen deutete der Pförtner in Richtung des besagten Objekts auf der Posttheke. »Vor nicht ganz zehn Minuten. Ich wollte gerade den Dekan anrufen …«
»Was ist das?« Haz reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Und wo …?« Doch er brach ab, sobald er den Inhalt des Körbchens aus Segeltuch entdeckte. Denn darin lag unter einer Wolldecke und auf ein Kissen gebettet ein schlafendes Baby.
Haz kamen keine angemessenen Worte in den Sinn, um seine plötzlich durcheinanderwirbelnden Gedanken auszudrücken. Natürlich hatte er schon kleine Babys gesehen, aber in dieser stickigen Pförtnerloge, umgeben von Postsäcken und vergessenen Regenschirmen, hätte er nie mit einem Kind gerechnet, schon gar nicht mit einem so kleinen.
»Ganz recht, Sir.« In einer Andeutung von Mitgefühl hob der Portier die buschigen Brauen. »Aber vielleicht wird dieser Brief …«, er reichte dem jungen Mann einen Umschlag, der mit einer Schnur am Korb festgebunden war, »… die Angelegenheit erhellen.«
Und neun Tage trieb ich, von wütenden Stürmen geschleudert, über das fischdurchwimmelte Meer; am zehnten gelangt’ ich hin zu den Lotophagen, die blühende Speise genießen …
Homer, Odyssee
Auf ihre eigene verworrene Art hatte meine Großmutter alles getan, um mich vor dem Gemetzel des Lebens zu wappnen. Trampelnde Hufe, vorbeirauschende Streitwagen, raubgierige Gesellen … dank Granny wusste ich im Alter von zehn Jahren schon mehr oder weniger über alles Bescheid.
Doch dann erwies sich die Welt als ganz anders als das noble Schlachtfeld, auf das sie mich vorbereitet hatte. Die Herausforderungen waren kümmerlich, die Menschen fad und feige, meine Amazonenkünste nutzlos. Und ganz bestimmt war nichts von dem, das meine Großmutter mir an langen Nachmittagen bei Pfefferminztee und erfundenen Ungeheuern beigebracht hatte, dazu geeignet, mir in den wendigen Wetterlagen des Hochschullebens Halt zu geben.
An diesem speziellen Nachmittag im Oktober – an dem Tag, als alles begann – wurde ich etwa bei der Hälfte meines Vortrags von unerwartetem Gegenwind fast umgeworfen. Nach einem Blick zu Professor Vandenbosch in der ersten Reihe sprang die Diskussionsleiterin auf und deutete mit einer verstohlenen Schnittbewegung über ihre Kehle an, dass mir noch genau null Minuten blieben, meinen Vortrag zu beenden. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigte mir zwar, dass ich perfekt in der Zeit lag – jedoch lag meine akademische Zukunft in den Händen dieser erlesenen Gelehrten.
»Um also zum Schluss zu kommen …« Ich sah kurz zu Professor Vandenbosch, der mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen dasaß und mich streitlustig musterte. »Es ist offensichtlich, dass die tollkühnen Amazonen trotz all der bildhaften Beschreibungen ihrer Paarungsgewohnheiten für die griechischen Dichter nie mehr waren als fiktive, quasi-erotische Gespielinnen.«
Anerkennendes Raunen ging durch die Reihen des Hörsaals. Zu Beginn waren alle durchnässt und verdrießlich aus dem verregneten College-Hof hereingekommen, aber mein Vortrag hatte die Stimmung im Raum offenbar angeheizt.
»Das Wissen jedoch«, fuhr ich mit einem Nicken in Richtung der Diskussionsleiterin fort, um anzuzeigen, dass ich fast fertig wäre, »dass diese blutrünstigen Kriegerinnen reine Fiktion waren, hielt unsere Dichter nicht davon ab, sie als abschreckendes Beispiel für die Gefahren ungezügelter weiblicher Freiheit zu benutzen. Warum?« Ich musterte die Zuhörerschaft und versuchte, Gleichgesinnte zu erspähen. »Warum fühlten sich griechische Männer gezwungen, ihre Frauen im Haus gefangen zu halten? Wir wissen es nicht. Aber all die Panikmache um Amazonen hatte sicher auch den Zweck, ihre Frauenfeindlichkeit zu rechtfertigen.«
Sobald der Applaus verebbt war, überging Professor Vandenbosch die Diskussionsleiterin, indem er einfach aufstand, sich mit strengem Blick umsah und damit die vielen eifrig erhobenen Hände zum Verschwinden brachte. Mit fast hämisch zu nennendem Grinsen drehte er sich wieder zu mir. »Danke, Dr. Morgan. Ich freue mich überaus, feststellen zu können, dass ich nicht länger der antiquierteste Gelehrte in Oxford bin. Um Ihretwillen hoffe ich, dass sich die Akademie eines Tages wieder dem Feminismus zuwenden wird, aber der Rest von uns hat ihn, wie ich erleichtert sagen kann, hinter sich gelassen und die alte Streitaxt begraben.«
Obwohl er seine Anklage wie einen Witz klingen ließ, war die Bemerkung dermaßen unverschämt, dass niemand lachte. Selbst ich, gefangen hinter meinem Rednerpult, war zu schockiert, um zum Gegenschlag auszuholen. Der Hörsaal stand auf meiner Seite, da war ich sicher … trotzdem wagte niemand, sich zu meiner Verteidigung zu melden. Die Stille war so absolut, dass man das schwache Prasseln der Regentropfen auf dem Kupferdach hörte.
Zehn demütigende Minuten später konnte ich dem Hörsaal endlich entfliehen und im feuchten Oktobernebel untertauchen. Ich zog meinen Schal fest um den Hals und versuchte, mir die heiße Teekanne vorzustellen, die mich später zu Hause erwartete … doch ich war zu aufgebracht.
Professor Vandenbosch hatte mich noch nie gemocht. Einem bösen Gerücht zufolge hatte er seine Kollegen einmal mit der Geschichte unterhalten, wie ich aus Oxford entführt würde, um in irgendeiner »Mädchen-an-die-Macht«-Serie die Heldin zu spielen. Allerdings hegte ich den Verdacht, dass er mich nur benutzte, um seine Rivalin, meine Mentorin Katherine Kent, zu provozieren und ihre Position zu schwächen, indem er einen ihrer Lieblinge attackierte.
Katherine hatte mich davor gewarnt, eine weitere Vorlesung über Amazonen zu halten. »Wenn du diesen Analyseansatz weiter verfolgst«, hatte sie geradeheraus gesagt, »landest du irgendwann in der Sackgasse.«
Ich weigerte mich, das zu glauben. Eines Tages würde das Thema wieder aktuell werden, und Professor Vandenbosch könnte die hochschlagenden Wellen nicht mehr eindämmen. Wenn ich nur endlich die Zeit hätte, mein Buch fertig zu schreiben, oder besser noch, endlich die Historia Amazonum in Händen hielte! Ein weiterer Brief nach Istanbul, diesmal handgeschrieben, und Grigor Rezniks Schatztruhe würde sich vielleicht doch noch öffnen … Ich war es Granny schuldig, es wenigstens zu versuchen.
Den Kragen als wenig geeigneten Schutz vor den Elementen hochgeklappt eilte ich gedankenverloren die nasse Straße entlang und merkte erst an der Kreuzung zur High Street, dass mir jemand folgte, da dieser Jemand plötzlich seinen Schirm schützend über meinen Kopf hielt. Er war wohl um die sechzig und anscheinend kein Akademiker, denn unter seinem makellos glatten Trenchcoat trug er einen teuren Anzug, und ich ging davon aus, dass seine Socken exakt zur Krawatte passten.
»Dr. Morgan …«, sprach er mich an, und sein Akzent ließ auf eine südafrikanische Herkunft schließen, »Ihre Vorlesung hat mir sehr gefallen. Hätten Sie wohl einen Moment für mich Zeit?« Er nickte in Richtung des Grand Café auf der Straßenseite gegenüber. »Darf ich Ihnen einen Drink spendieren? Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen …« Ich sah auf meine Uhr. »Aber leider bin ich für einen weiteren Termin bereits spät dran.« Das stimmte tatsächlich. Im Fechtclub der Universität lief gerade die Schnupperwoche, und ich hatte versprochen, nach der Arbeit vorbeizukommen und bei einer Präsentation zu helfen – was sich zufällig als sehr passend erwies, da ich meiner momentanen Stimmung entsprechend gute Lust hatte, ein paar imaginäre Feinde niederzustechen.
»Oh.« Der Mann folgte mir, als ich weiterging, und die äußeren Enden seiner Schirmspeichen stachen mir ins Haar. »Wie wäre es später? Hätten Sie heute Abend Zeit?«
Ich zögerte. Die Augen dieses Mannes hatten etwas Beunruhigendes an sich, sein Blick war ungewöhnlich durchdringend und irgendwie starr – nicht unähnlich dem der Eulen auf den Bücherregalen meines Vaters.
Anstatt in die dunkle und meist wenig frequentierte Magpie Lane abzubiegen, blieb ich mit einem, wie ich hoffte, freundlichen Lächeln an der Ecke stehen. »Ich fürchte, ich habe Ihren Namen nicht verstanden …«
»John Ludwig. Hier …« Der Mann durchsuchte kurz seine Taschen, dann schnitt er eine Grimasse. »Keine Karte. Aber egal. Ich habe eine Einladung für Sie.« Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als wollte er sich meiner Tauglichkeit versichern. »Die Stiftung, für die ich arbeite, hat einen sensationellen Fund gemacht.« Er hielt inne und sah sich stirnrunzelnd um, wohl, weil ihm die exponierte Position in der Öffentlichkeit nicht behagte. »Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht auf ein Getränk einladen kann?«
Trotz meines unguten Gefühls überkam mich die Neugier. »Könnten wir uns vielleicht morgen kurz treffen?«, bot ich an. »Auf einen Kaffee?«
Mr Ludwig beobachtete einige Passanten, die vornübergebeugt an uns vorbeieilten, und lehnte sich näher. »Morgen«, raunte er im vertraulichen Flüsterton, »werden Sie und ich auf dem Weg nach Amsterdam sein.« Mein schockierter Gesichtsausdruck hielt ihn nicht davon ab zu lächeln. »Erster Klasse, natürlich.«
»Ja, natürlich!« Ich tauchte unter dem Schirm hervor und bog in die Magpie Lane ein. »Schönen Tag noch, Mr Ludwig.«
»Warten Sie!« Behände folgte er mir in die holprig gepflasterte Gasse. »Ich spreche von einer Entdeckung, die eine Neuschreibung der Geschichte zur Folge haben wird. Es handelt sich um eine brandneue Ausgrabung, streng geheim, und nun raten Sie mal: Wir wollen, dass Sie einen Blick darauf werfen.«
Ich verlangsamte meine Schritte. »Warum ich? Ich bin keine Archäologin, ich bin Philologin. Und wie Sie sicherlich wissen, geht es in der Philologie nicht ums Ausgraben, sondern um das Lesen und Entziffern von …«
»Genau!« Nach einem weiteren Durchforsten derselben Taschen, denen keine Visitenkarte zu entlocken gewesen war, zog Mr Ludwig eine leicht zerknitterte Fotografie hervor. »Wir brauchen jemanden, der das hier entziffern kann …«
Selbst im schummrigen Licht der Magpie Lane konnte ich erkennen, dass das Foto die Inschrift an einer offenbar altertümlichen Wand zeigte. »Wo wurde das aufgenommen?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Nicht, bis Sie sich einverstanden erklären, mit mir zu reisen.« Mr Ludwig trat näher und fuhr geheimnisvoll leise fort: »Wir haben einen Beweis gefunden, dass die Amazonen tatsächlich existierten, verstehen Sie?«
Ich war so überrascht, dass ich beinahe laut losgelacht hätte. »Das kann nicht Ihr Ernst sein …«
Abrupt richtete sich Mr Ludwig wieder zu voller Größe auf. »Entschuldigung, aber das meine ich sehr ernst.« Ungeachtet des Regenschirms breitete er die Arme weit aus, wie um die Größe der Thematik zu unterstreichen. »Das ist doch Ihr Spezialgebiet. Ihre Leidenschaft. Oder nicht?«
»Ja, aber …« Ich betrachtete noch einmal das Foto, das mich naturgemäß in den Bann zog. Ungefähr alle sechs Monate stieß ich auf einen Artikel über irgendeinen Archäologen, der behauptete, ein echtes Amazonengrab oder gar die legendäre »Stadt der Frauen« Themiskyra gefunden zu haben. Diese Artikel trugen meist Überschriften wie »Existenz der Amazonen durch neue Ausgrabungen bewiesen«, aber nach eifriger Lektüre wurde ich jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Wieder einmal hatte ein wettergegerbter Zähling im Kapuzenparka sein Leben damit verbracht, die Region um das Schwarze Meer nach toten Frauen abzusuchen, die mitsamt Pferden und Waffen begraben worden waren. Und ja, hin und wieder fand ein männlicher oder weiblicher Archäologe tatsächlich Hinweise auf einen antiken Volksstamm, der Frauen das Tragen von Waffen erlaubt hatte. Deshalb allerdings zu behaupten, diese Frauen hätten in einer männerlosen Amazonengemeinschaft gelebt, die sich hin und wieder wilde Schlachten mit den Griechen lieferte … tja, das klang ein bisschen so, als würde man ein Dinosaurierskelett finden und daraus ableiten, es hätte tatsächlich feuerspeiende Märchendrachen gegeben.
Mr Ludwig fixierte mich mit seinen Eulenaugen. »Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, dass Diana Morgan nach … wie viel? … neun Jahren Forschungsarbeit über Amazonen nicht wenigstens ein bisschen darauf brennt zu beweisen, dass sie tatsächlich existierten?« Er nickte in Richtung der Fotografie, die ich immer noch in den Händen hielt. »Was Sie hier sehen, ist ein bislang nicht entziffertes Schriftsystem der Amazonen, und wir geben Ihnen die Chance, sich als erste Wissenschaftlerin der Welt daran zu versuchen. Außerdem werden wir Sie mehr als hinreichend für Ihren Aufwand entschädigen. Fünftausend Dollar für eine Woche Arbeit …«
»Einen Moment, bitte«, unterbrach ich ihn, während mir aufgrund der Kälte und sicher auch der schockierenden Enthüllung die Zähne klapperten. »Was macht Sie so sicher, dass diese Inschrift etwas mit den Amazonen zu tun hat?« Ich wedelte mit dem Foto vor seiner Nase. »Sie haben mir gerade gesagt, sie sei noch nicht entziffert worden …«
»Aha!« Mr Ludwig streckte seinen Zeigefinger vor und berührte damit fast meine Nase. »Das ist genau die Art von klugem Denken, das wir brauchen. Hier …« Er griff in eine Innentasche und reichte mir einen Umschlag. »Das ist Ihr Flugticket. Morgen Nachmittag ab Gatwick. Wir sehen uns am Flugsteig.«
Und das war’s. Ohne meine Reaktion abzuwarten, drehte sich Mr Ludwig einfach um und tauchte im Getümmel der High Street unter.
Sterne, die den lieblichen Mond umstehen,
bergen bald vor ihm ihr erleuchtet Antlitz,
Wenn er ganz und voll
überstrahlt im Silberglanze die Erde.
Sappho
Als ich das College erreichte, hatte sich der Großteil des Fakultätslehrkörpers bereits zu Drinks im Gemeinschaftsraum versammelt. Wegen meines gehetzten Zwischenstopps im Fechtclub hatte ich es nicht mehr geschafft, mich präsentabel herzurichten, und als ich hereinkam, hörte ich dann auch ein paar gemurmelte Kommentare über die wie üblich zum Essen verspätete »Miss America«. Doch ich lächelte nur und tat, als hätte ich sie nicht gehört. Was wussten sie schon? Genauso gut hätte ich in irgendeiner staubigen Ecke der Bibliothek über einem alten Manuskript gebrütet haben können, was eine – nachweislich auch für meine Kollegen – akzeptable Entschuldigung dafür war, zur falschen Zeit am falschen Ort zu erscheinen und dabei auszusehen, als wäre man gerade aus der Renaissance in die heutige Zeit gefallen.
Leider war ich ziemlich sicher, dass die Bezeichnung »Miss America« nicht als Kompliment gedacht war. Auch wenn ich die meisten Menschen um einen halben Kopf überragte und – wie mein Vater es ausdrückte, wann immer ich mein Haar offen trug – auf trügerische Weise an eine Blumenfee erinnerte, war dieser Spitzname höchstwahrscheinlich auf meine Abstammung zurückzuführen, die in diesem Umfeld bedauerlicherweise nicht als »vornehm« galt. Ich würde niemals leugnen können, dass meine Mutter Amerikanerin war und ihr Vokabular meine Kindheit geprägt hatte. Obwohl mein Vater durch und durch Engländer und ich als Heranwachsende ausnahmslos von Engländern umgeben gewesen war, gab es Momente, in denen mir ganz natürlich amerikanische Ausdrücke über die Lippen kamen. Offenbar hatten einige der Professoren mit angehört, wie ich englische »dustbins« – Papierkörbe – verbal in »trash cans« – amerikanische Mülleimer – verwandelt hatte, oder mich gar dabei beobachtet, wie ich aus keinem anderen Grund am College vorbeijoggte als dem in ihren Augen wohl eher gewöhnlichen Bedürfnis, mich fit zu halten. Danach hatten sie eine weitere Prüfung meines Charakters wohl als unnötig abgetan.
»Diana?« Meine Mentorin Katherine Kent winkte mich ungeduldig an ihre Seite. Ihr eher strenges Gesicht spiegelte Selbstdisziplin, und ihr Haar war so kurz geschnitten, dass man es fälschlicherweise als Ausdruck eines modischen Stils verstehen könnte. »Wie ist die Vorlesung gelaufen?«
Wie immer fühlte ich mich durch ihre direkte Art überrumpelt, und meine Courage schien sich schutzsuchend zu verkrümeln. »Hm, nicht schlecht, denke ich … Eigentlich lief es sogar ganz gut.«
»Sag mir noch mal dein Thema.«
»Na ja …« Ich versuchte ein tapferes Lächeln. Es bestand wohl kaum eine Möglichkeit zu verbergen, dass ich ihren Rat missachtet hatte. »Ich hatte nicht besonders viel Zeit und da …«
Katherine Kent kniff die Augen zusammen, so dass sie an Schießscharten erinnerten. Normalerweise strahlten ihre Augen eindrucksvoll munter und lebendig in einem seltenen Türkis – und ihr Funkeln schien in den meisten Fällen eine gewisse Gereiztheit anzuzeigen –, aber ich deutete es mittlerweile als ihre natürliche Art der Interaktion mit Menschen, die sich ihren Respekt verdient hatten.
In diesem Moment ging ein erregtes Raunen durch den Raum. Erleichtert, dass Katherine vorübergehend abgelenkt war, drehte ich mich um. Ich war neugierig, wer es wohl geschafft hatte, noch später als ich einzutreffen und von der Partygesellschaft trotzdem wohlwollend aufgenommen zu werden.
Natürlich: James Moselane.
»Hierher!« Wiederum hob Katherine den Arm und winkte auf ihre ungeduldige Art, die keinen Widerspruch duldete.
»Kate …« James reichte der Grande Dame mit der erwarteten großen Geste die Hand. »Besten Dank für die lobende Kritik in der Quartalszeitschrift. Das war wirklich mehr als freundlich …« Erst jetzt entdeckte er mich. »Oh, hallo, Morg. Ich habe dich gar nicht gesehen …«
Was mir nur recht sein konnte. Denn wann immer James Moselane einen Raum betrat, brauchte ich ein paar Minuten, um meine Frontallappen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit meinen fortgeschrittenen und verantwortungsvollen achtundzwanzig Jahren war es fast erniedrigend zu spüren, wie sehr ich in seiner Gegenwart um Fassung und Verstand ringen musste, was umso qualvoller war, als ich ahnte, dass jeder um mich herum meine geröteten Wangen bemerkte und die richtige Schlussfolgerung zog.
Für einen Akademiker war James ungewöhnlich attraktiv. Irgendwie hatte er es geschafft, dem alten Grundsatz zu widersprechen, dass jemand, der ein Übermaß an Intelligenz abbekommen hatte, dies automatisch mit einem Mangel an gutem Aussehen wettmachen musste. Sein überdurchschnittlich kluger Kopf war mit dichtem blonden Haar bedeckt, und trotz seiner dreiunddreißig Jahre versprühte er jede Menge jungenhaften Charme. Und als wäre das noch nicht genug, besaß sein Vater Lord Moselane eine der schönsten Sammlungen antiker Skulpturen des Landes. Mit anderen Worten war James von allen Männern, die ich kannte, der Einzige, den ich mehr als Prinz denn als Frosch ansah.
»Diana hat heute eine Vorlesung gehalten«, informierte ihn Katherine. »Ich versuche gerade, ihr das Thema zu entlocken.«
James bedachte mich mit einem wissenden Blick. »Wie ich hörte, lief es ganz gut.«
Dankbar für die Rettung lachte ich erleichtert auf und wischte mir einen Schweißtropfen von der Schläfe, der noch auf die Fechtmaske zurückzuführen war, doch ich hoffte, James würde ihn als Hinweis auf eine vorangegangene Dusche deuten. »Du bist zu freundlich. Was gibt es bei dir Neues? Noch mehr Liebesbriefe mit Selbstmorddrohungen deiner Studentinnen?«
In diesem Augenblick ertönte der Gong für das Abendessen, und alle unterbrachen ihre Gespräche und strömten dem Ausgang zu. Unsere kleine Prozession marschierte die Treppe hinunter, überquerte im Nieselregen den Innenhof und betrat paarweise die große Versammlungshalle.
Die Studenten erhoben sich von ihren Bänken, während wir feierlich durch den Mittelgang zur erhöhten Tafel am hinteren Ende schritten. Ich setzte mich auf meinen Platz und spürte deutlich, wie mir alle Augenpaare aufmerksam folgten – das heißt, vermutlich folgten sie eher James, der sich neben mich setzte und in seiner schwarzen Robe ausgesprochen gut aussah und so bewundernswert entspannt wirkte wie ein Tudorprinz am Königshof.
»Nur Mut, Mädchen«, raunte er mir zu, während ein Diener uns Wein einschenkte. »Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass deine Vorlesung heute gut angekommen ist.«
Ich warf ihm einen hoffnungsvollen Blick zu. James war so etwas wie ein akademischer Superstar – allein seine Publikationsliste degradierte die meisten Kollegen zu kleinen Monden in erlahmenden Umlaufbahnen. »Warum hat dann niemand etwas gesagt?«
»Was denn, zum Beispiel?« Mit großem Appetit machte sich James über seine Vorspeise her. »Du konfrontierst sie mit schwitzenden Kriegerinnen in Pelzstiefeln und Kettenhemd-Bikinis. Das sind Akademiker, um Himmels willen! Sei froh, dass keiner einen Herzinfarkt bekommen hat!«
Ich lachte in meine Serviette. »Ich hätte eine Dia-Show daraus machen sollen. Vielleicht wäre ich Professor Vandenbosch dann endlich losgeworden …«
»Morg!« James sah mich mit diesem sehr eigenen Blick an, der mir nicht einmal ansatzweise verriet, was er dachte. »Du weißt doch, dass Professor Vandenbosch mindestens vierhundert Jahre alt ist. Ihn gab es hier schon lange vor uns, und er wird immer noch hier sein, nachdem du und ich in die ewigen Pologründe eingegangen sind. Also hör auf, ihn zu reizen.«
»Aber …«
»Nein, ich meine es ernst.« Und wieder einmal schaffte es James, mit seinem haselnussbraunen Blick unserem lockeren Geplauder eine ernste Note zu verleihen. »Du bist außerordentlich begabt, Morg. Wirklich. Aber um hier zu überleben, brauchst du mehr als Begabung.« Er lächelte, vielleicht, um seine Kritik abzuschwächen. »Lass dir das von einem alten Hasen gesagt sein: Du kannst die antiken Amazonenknochen nicht ewig aufkochen.« Damit stieß er sein Weinglas verschwörerisch gegen meines, doch er hätte mir den Inhalt ebenso gut ins Gesicht schütten können.
»Genau.« Ich senkte den Kopf, um meine Enttäuschung zu verbergen. Solche Worte hörte ich nicht zum ersten Mal, aber wenn er sie sagte, war es wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. »Ich verstehe.«
»Gut.« James schwenkte seinen Wein ein paarmal herum, bevor er zum Trinken ansetzte. »Zu jung«, lautete sein Urteil, als er das Glas wieder absetzte. »Zu wenig ausgewogen. Was für eine elende Verschwendung!«
James und ich waren quasi einen Steinwurf voneinander entfernt, jedoch in zwei völlig unterschiedlichen Welten aufgewachsen. Alles, was wir Normalsterbliche von der Familie Moselane sahen, waren teure Autos mit getönten Scheiben, die durch unser ruhiges Städtchen brausten und nur wenige Sekunden anhielten, während das automatische Tor zu ihrer endlos langen Hausauffahrt aufschwang. Und durch das Brombeergestrüpp rund um ihr privates Paradies erhaschten wir hin und wieder vielleicht noch einen Blick auf unerreichbare Menschen, die Krocket oder Rasentennis spielten und deren Lachen durch die Luft zu uns hinüberwehte wie leere Bonbonhüllen.
Obwohl alle im Ort die Namen und das Alter der Kinder von Lord und Lady Moselane kannten, waren sie mindestens ebenso weit von uns entfernt wie Romanfiguren. Da sie auf Internate gingen – natürlich die besten des Landes –, waren der junge Master James und seine Schwestern während des Schuljahrs nie zugegen, und die Ferienzeiten verbrachten sie offenbar ausnahmslos mit Schulfreunden in abgelegenen schottischen Burgen.
Auch wenn ich kaum mehr von ihm kannte als das Rund goldener Haare in der ersten Kirchbank beim jährlichen Weihnachtsgottesdienst, lebte Lord Moselanes Sohn und Erbe dennoch ein volles Leben in meinen Tagträumen. Auf sonntäglichen Waldspaziergängen mit meinen Eltern – und eine Zeitlang auch mit meiner Großmutter – lief ich meist als Erste voran in der Hoffnung, James Moselane auf dem Pferderücken zu entdecken, das imaginäre edle Cape hinter sich her flatternd … auch wenn ich genau wusste, dass er gerade in Eton war, oder später in Oxford, und niemand sonst zugegen als ich und meine wilden Phantasien.
Das heißt, so ganz allein in meiner Phantasiewelt war ich nicht, denn solange ich mich erinnern kann, sehnte meine Mutter sich danach, die Moselanes, die ja immerhin unsere Nachbarn waren, näher kennenzulernen. Ihrer Ansicht nach hätte die Tatsache, dass mein Vater Rektor der örtlichen Schule war, uns ein so hohes Ansehen bei Lord und Lady Moselane verschaffen müssen, dass sie uns selbst von der Anhöhe ihres Anwesens aus hätten wahrnehmen müssen. Nachdem sie jedoch jahrelang vergeblich auf eine Einladung – auf edlem Papier mit Wappen im Prägedruck – zum Abendessen gewartet hatte, war sie letztlich gezwungen gewesen hinzunehmen, dass ihre Lord- und Ladyschaft nach anderem sozialen Kodex lebten als sie.
Ich habe nie verstanden, warum meiner Mutter als waschechter Amerikanerin dieses herrschaftliche Leben so viel bedeutete – selbst nach all den herben Enttäuschungen noch. So viele Jahre Freiwilligendienst bei Miladys Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Hoffnung, wahrgenommen zu werden! So viele Jahre fein säuberliches Stutzen der sechs Meter langen Ligusterhecke, die den entlegensten Winkel ihrer Parkanlage von unserem kleinen Gemüsegärtchen trennte! Alles umsonst!
Als dann endlich die Zeit kam, da ich das Haus verließ und mein Studium in Oxford begann, war ich sicher, meine Mutter und ich seien längst von diesem törichten Unsinn geheilt, so dass ich über ein Jahr brauchte, bis ich verstand, warum sie mich etwa alle drei Wochen besuchen kam und darauf bestand, so oft wie möglich das wunderbare Oxford zu erforschen.
Am Anfang besichtigten wir jedes einzelne College der Stadt und amüsierten uns tatsächlich prächtig. Meine Mutter konnte nicht genug von den gotischen Höfen und Kreuzgängen bekommen, die so anders waren als alles, das sie aus ihrer Heimat kannte. Wann immer sie dachte, ich würde nicht hinsehen, bückte sie sich und sammelte ein kleines Andenken in ihre Handtasche – einen Stein, einen auf einer Treppe verlorenen Bleistift, einen Thymianzweig aus einem Kräutergarten –, und es war mir fast peinlich zu erkennen, dass ich nach so vielen Jahren immer noch so wenig von ihr wusste.
Nach der College-Erkundungstour gingen wir zu Konzerten und anderen Veranstaltungen einschließlich vereinzelter Sportereignisse. Meine Mutter entwickelte ein unnatürliches Interesse für Kricket, dann Rugby, dann Tennis … Im Nachhinein hätte ich natürlich erkennen müssen, dass ihre scheinbar spontane Begeisterung zu einer heimlichen Kampagne gehörte, die immer nur einem Ziel gefolgt war.
James.
Aus irgendeinem Grund war mir nie aufgefallen, wie systematisch wir uns durch die Stadt bewegt hatten und mit welcher Bestimmtheit meine Mutter im Vorfeld ihre Routen geplant und sie dann ungeachtet jedes Wetters verfolgt hatte … jedenfalls nicht bis zu dem Tag, an dem sie mich plötzlich am Arm packte und mit der Stimme eines Kreuzritters, der endlich den Heiligen Gral erspähte, ausrief: »Da ist er ja!«
Und tatsächlich: Da war er. Einen Becher Kaffee auf einem Stapel Bücher balancierend, trat er aus Blackwell’s an der Broad Street. Ohne meine Mutter hätte ich ihn nie erkannt, aber ich hatte ja auch nicht die letzten zehn Jahre damit verbracht, mittels Fernglas und Boulevardzeitschriften das Heranreifen unseres Zielobjektes eingehend zu verfolgen. Für mich war James Moselane immer noch ein pubertärer Prinz in einem verwunschenen Wald, während die Person, die da aus der Buchhandlung trat, ein perfekt proportionierter Erwachsener war – groß und athletisch und absolut unvorbereitet auf den Hinterhalt, in den er gerade geriet.
»Was für ein Zufall!« Meine Mutter überquerte die Broad Street und schnitt ihm den Weg ab, noch ehe er sie kommen sah. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie in Oxford sind. Diana kennen Sie wahrscheinlich gar nicht mehr …«
Erst jetzt fiel meiner Mutter auf, dass ich nicht mehr neben ihr stand, und sie drehte sich um und schnitt eine Grimasse, die alles verriet. Ich zählte mich eigentlich nicht zu den Menschen, die kein Rückgrat besitzen, aber vor lauter Entsetzen, dass es genau diese Situation war, der wir seit etlicher Zeit entgegenliefen, wäre ich am liebsten auf der Stelle weggerannt.
Auch wenn James ihr vielsagender Gesichtsausdruck verborgen blieb, so bemerkte er doch sicher ihr frenetisches Winken und meine verstörte Reaktion. Nur ein ungewöhnlich begriffsstutziger Mensch hätte die Situation nicht binnen einer Sekunde durchschaut, aber man musste James zugutehalten, dass er uns ausgesprochen freundlich begrüßte. »Und wie gefällt Ihnen Oxford?«, erkundigte er sich bei mir, den Kaffee immer noch auf den Büchern balancierend. »Entschuldigung, Ihr Name war …?«
»Diana Morgan«, antwortete meine Mutter. »Wie bei Lady Diana. Hier, ich schreibe es Ihnen auf …« Sie griff in ihre Handtasche und fischte ungeachtet meiner beschämten Stupser einen Zettel hervor. »Und ihr College, natürlich …«
»Mommy!« Es bedurfte all meiner Durchsetzungskraft, sie davon abzuhalten, auch noch meine Telefonnummer zu notieren, und sie wurde ausgesprochen böse, dass ich sie wegzog, bevor wir wegen ihres schamlosen Vorstoßes vollends in Ungnade fallen konnten.
Dass wir danach von James Moselane nichts mehr sahen und hörten, überraschte mich nicht, und ohne Katherine Kent hätte ich ihn wahrscheinlich auch nie wiedergesehen. Im folgenden Jahr lud sie mich kurz vor Weihnachten zu einem Empfang im Ashmolean Museum ein, der, wie sich herausstellte, zu Ehren einer vor kurzem erfolgten Stiftung antiker Artefakte aus der Sammlung Moselane abgehalten wurde.
»Komm mit!«, orderte sie, zog mich von einer wunderschönen Statue der ägyptischen Göttin Isis fort und bahnte uns einen Weg durch die vornehme Menge. »Ich möchte dich jemandem vorstellen. Die Moselanes könnten mal sehr nützlich sein.« Als eine Frau mit wenig Geduld hatte Katherine die Kunst perfektioniert, mitten in ein Gespräch zu rauschen und ihr erwähltes Opfer geschickt zu isolieren. »James! Das ist Diana. Außergewöhnlich begabt. Sie möchte wissen, wer deine Isis gereinigt hat.«
Nachdem er sich fast an seinem Champagner verschluckt hätte, drehte sich James um und sah mit Anzug und Krawatte so aufreizend gut aus, dass meine einstigen Phantasien im Handumdrehen wieder angaloppiert kamen.
»Ich habe sie nur bewundert«, beeilte ich mich zu sagen. »Wer auch immer sie gefunden und nach England gebracht hat, muss sich wissentlich dem Fluch des Pharaos ausgesetzt haben …«
»Mein Vorfahr. Der erste Lord Moselane.« Erstaunlicherweise sah James so aus, als hätte er unser letztes Zusammentreffen vollkommen vergessen. Tatsächlich schien sein Lächeln anzudeuten, dass ich genau die Frau war, die er an diesem Abend zu treffen gehofft hatte. »Verstarb mit zweiundneunzig friedlich im Schlaf. Zumindest glauben wir das.« Er schüttelte mir die Hand und hatte es nicht eilig, sie wieder loszulassen. »Sehr erfreut.«
»Eigentlich …«, widerstrebend entzog ich ihm meine Hand, »… kennen wir uns bereits. Wir haben uns letztes Jahr getroffen … vor Blackwell’s …« Noch bevor die Worte meinen Mund verlassen hatten, wand ich mich innerlich vor Scham über meine tückische Ehrlichkeit. Danach dauerte es nur ein paar Sekunden, bis James die Erkenntnis dämmerte, und ich gestehe, es war kein schöner Anblick.
»Ach ja«, meinte er bedächtig. »Richtig …«
Doch das Wort, das ich in seinen haselnussbraunen Augen las, war das genaue Gegenteil.
Tatsächlich begann er in den nächsten Monaten, in denen wir uns – immer auf Initiative von Katherine Kent – zum Kaffee trafen, unser Gespräch stets mit der Frage: »Wie geht es Ihrer Mutter?« und rief mir damit jedes Mal aufs Neue ins Gedächtnis, warum aus dem Kaffeetrinken nie ein Essen werden würde. Gut, er war aufmerksam und warf mir gelegentlich einen Blick zu, der kribbelnde Hoffnung aufkeimen ließ, doch im Großen und Ganzen behandelte er mich mit unbeirrter Ritterlichkeit, als wäre ich eine edle Jungfer, zu deren Schutz er sich verpflichtet hatte.
Tja, vielleicht war meine Mutter an allem schuld. Vielleicht lag es aber auch daran, dass James mit einem – mit den Worten meines Vaters – »Silberlöffel im Allerwertesten« geboren worden war. Das blaue Blut musste ja rein gehalten werden und so weiter. In diesem Fall konnte ich mich anstrengen, wie ich wollte – es würde Lord Moselanes Sohn nie in den Sinn kommen, dass wir zur selben Spezies gehörten.
Ich wurde aus meinen abschweifenden Gedanken abrupt in die Realität des College-Abendessens zurückgeholt, als eine Hand vor meinem Gesicht erschien und den Teller mit der noch unberührten Vorspeise abräumte. Neben mir saß James mit gesenktem Kopf wie ins Gebet vertieft, während er unter der gestärkten Serviette sein Handy kontrollierte. Verstohlen griff ich in meine Handtasche, zog Mr Ludwigs Foto hervor und zeigte es ihm. »Was hältst du davon?«
James lehnte sich zu mir und musterte es. »Wie alt ungefähr?«
»Etwa zehn Tage«, witzelte ich, »den abgewetzten Ecken nach zu urteilen. Was die Inschrift betrifft … Dazu kann ich ebenso wenig sagen wie du.«
James kniff die Augen zusammen. Anscheinend war er interessiert. »Von wem hast du das?«
»Von einem mysteriösen Mann«, erwiderte ich mit dramatischer Stimme, »der behauptete, dieses Foto sei der Beweis, dass die Amazonen tatsächlich existierten.«
»Was ist das?« Katherine Kent lehnte sich vor, schnappte mir das Foto aus der Hand und studierte es im Licht einer Kerze. »Wo wurde das aufgenommen?«
»Keine Ahnung.« Erfreut über das Interesse der beiden schilderte ich kurz die Höhepunkte meiner bizarren Begegnung am Nachmittag. Als ich jedoch Mr Ludwigs Behauptung zu einem noch nicht entzifferten Alphabet der Amazonen zitierte, lehnte sich James zurück und stöhnte entnervt auf.
»Das könnte überall sein …« Mit einem irritierten Stirnrunzeln gab Katherine mir das Foto zurück. »Wie ärgerlich! Wenn wir nur den Namen dieser Stiftung wüssten …«
Ich hatte das Gefühl, unter ihrem prüfenden Blick zusammenzuschrumpfen. Offenbar tadelte sie mich dafür, dass ich aus Mr Ludwig nicht mehr Informationen herausgequetscht hatte, und sie hatte recht. »Ich glaube, sie haben ein Büro in Amsterdam«, sagte ich. »Denn da sollte ich mit ihm hinfliegen.«
»Aber das spielt ja nun auch keine Rolle mehr, oder?«, warf James ein. »Denn natürlich wirst du nicht …«
»Tatsächlich«, konterte ich, da ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn ein wenig zu reizen, »war ich sehr versucht, darauf einzugehen. Man bekommt nicht jeden Tag von einem Fremden auf der Straße fünftausend Dollar angeboten …«
»Genau.« James sah mich strafend an. »Von einem Fremden auf der Straße! Und damit macht er dich …«
Ich lächelte, geschmeichelt, dass er das alles so ernst nahm. »Neugierig.«
James schüttelte den Kopf und hätte sicher noch einen weiteren herablassenden Kommentar abgegeben, hätte Katherine nicht – in Ausübung ihres Privilegs als Genie – die Hand gehoben und uns zum Schweigen gebracht. »Und er sagte, er werde dich am Flughafen treffen?«
Überrascht über die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme, räusperte ich mich. »Ich denke, ja.«
James konnte nicht länger an sich halten. »Du wirst Morg doch sicher nicht ermutigen«, ereiferte er sich und knüllte seine Serviette zusammen, »mit diesem … Mr Ludwig davonzufliegen? Der kann Gott weiß was mit ihr vorhaben …«
Katherine lehnte sich abrupt zurück. »Natürlich nicht! Sei nicht albern. Ich versuche nur herauszufinden, was das Ganze soll … wer diese Leute sind.«
Bedacht darauf, wieder zu unserem lockeren Ton zurückzukehren, lachte ich und sagte: »Ach, das ist doch nicht weiter rätselhaft. Meine faulen Studenten hoffen auf ein freies Wochenende …«
James sah mich streng an. »Ich kann nichts Lustiges daran erkennen. Du bist das Opfer irgendeines dummen Streichs geworden … oder Schlimmeres. Sieh zu, dass deine Tür heute Nacht gut verschlossen ist.«
Wer einen wahren Freund sieht, sieht gewissermaßen das Abbild seiner selbst.
Cicero, Über die Freundschaft
Es regnete immer noch, als James mich über den College-Hof zu meiner Unterkunft begleitete und dabei achtsam die dunklen Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster mied. Er hatte mich noch nie nach Hause gebracht, und zumindest für diese angenehme Entwicklung konnte ich Mr Ludwig dankbar sein.
»Hör mal, Morg«, begann James, nachdem er den Arm gehoben hatte, um mich während der Suche nach meinem Schlüssel vor dem Regen zu schützen, »ich denke, du solltest das College ein paar Tage lang nicht verlassen. Zumindest nicht allein. Man kann nie wissen …«
Entgeistert sah ich ihn an. Das konnte er unmöglich ernst meinen. »Sei nicht albern.«
»Wenn du ausgehen willst«, fuhr er fort, während ihm der Regen aus dem Haar in das feingeschnittene Gesicht tropfte, »dann ruf mich an, und ich begleite dich.«
Nicht nur seine Worte, auch der tiefe Klang seiner Stimme lösten ein feines Kribbeln in mir aus und nährten meine schlummernden Hoffnungen. Begierig nach mehr, sah ich ihm in die Augen … doch der Regen und die Dunkelheit ließen keine Vertrautheit zu. Nach einem unangenehmen Moment der Stille gelang mir ein steifes: »Das ist sehr nett von dir«, worauf James mit gewohnt lockerer Stimme erwiderte: »Unsinn. Wir müssen doch auf dich aufpassen, oder?«
Damit schob er, munter pfeifend, die Hände in die Taschen, drehte sich um und ging, während ich mich endlich in meine Wohnung zurückziehen konnte – besser gesagt: in das riesige, geschmackvoll eingerichtete Büro-Apartment von Professor Larkin, der passenderweise für ein Jahr nach Yale eingeladen worden war. Ich war nicht die einzige Person gewesen, die sich für die Zeit seiner Abwesenheit auf die Dozentenstelle beworben hatte, anscheinend aber die einzige Frau, und diese Spezies Mensch befand sich in der Fakultät schon lange in der Minderzahl. Zumindest war dies Katherine Kents Argument für meine Einstellung gewesen.
Ich bekam kein volles Gehalt, aber durch die Übernahme von Professor Larkins Büro hatte ich mein eigenes klammes Apartment untervermieten und ins College umziehen können. Der einzige Nachteil der Dozentenstelle war die Riesenmenge an Arbeit. Meine Tage waren so sehr mit Vorlesungen gefüllt, dass mir kaum Zeit für meine eigene Forschung blieb. Und ohne eine Reihe neuer, erkenntnisreicher Publikationen würde ich am Ende des Vertretungsjahres sicher kein Stipendium ergattern und somit wieder in meine Souterrainwohnung in einer der verkehrsreichsten Straßen Oxfords zurückkehren, Bewerbungen schreiben und Mäuse von herumliegenden Brotkrumen verscheuchen müssen.
Während ich den Wasserkessel für meinen Gutenachttee füllte, ließ ich die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren, und landete schließlich, welch Überraschung!, bei Mr Ludwig. Binnen weniger Minuten hatte dieser merkwürdige Mann ein Füllhorn an verwirrenden Versuchungen dargeboten: akademische Ehren, Abenteuer und genug Geld, um mir ein halbes Jahr Freiheit zu erkaufen, das ich meiner Forschung widmen könnte. Vielleicht könnte ich sogar eine Reise nach Istanbul unternehmen, um Grigor Reznik persönlich zu überreden, mir die Historia Amazonum zu zeigen – das einzige Originaldokument über die Amazonen, das ich noch nicht gelesen hatte.
Als Gegenleistung hatte Mr Ludwig jedoch eine Woche meiner kostbaren Zeit eingefordert, und selbst wenn ich so waghalsig wäre, sein Angebot in Erwägung zu ziehen, gab es keine Möglichkeit, eine solche Abwesenheit nur einen Monat nach Antritt meiner Stelle offiziell zu rechtfertigen. Hätte er mir irgendein förmliches Dokument mit Stempel und Unterschrift zeigen können, in dem genau stand, was diese ominöse Stiftung von mir wollte und wie vorteilhaft es sich in meinem Lebenslauf machen würde … Aber so, wie es nun mal aussah, war die ganze Sache viel zu vage und riskant. Sowohl Katherine Kent als auch James hatten mir beim Essen deutlich zu verstehen gegeben, dass man vollkommen verrückt sein musste, um einfach so ins Ungewisse zu fliegen.
Hätte Mr Ludwig nur nicht das magische Wort gesagt!
Amazonen.
Offensichtlich wusste er von meiner Besessenheit, sonst hätte er mich überhaupt nicht angesprochen. Was aber sollte ich von seiner Einschätzung halten, ich würde alles nur Erdenkliche tun, um ihre Existenz beweisen zu können? Das konnte er unmöglich wissen.
Oder?
Den meisten Wissenschaftlern zufolge haben Amazonen nirgendwo anders gelebt als in der griechischen Mythologie, und die, die etwas anderes behaupteten, waren bestenfalls heillose Romantiker. O ja, es war durchaus vorstellbar, dass die antike Welt auch von weiblichen Kriegerinnen bewohnt gewesen war, aber Mythen über Amazonen, die die Stadt Athen einnahmen oder im Trojanischen Krieg mitkämpften, waren zweifellos Hirngespinste von Märchenerzählern, die ihre Zuhörer mit phantastischen Geschichten faszinieren wollten.
Die Amazonen der klassischen Literatur, so erklärte ich es meinen Studenten immer, müssten als Vorläufer von Vampiren und Zombies betrachtet werden – reine Phantasiegestalten mit grausamen und unnatürlichen Gewohnheiten, was die Ausbildung ihrer Töchter in Kriegskunst betraf oder die einmal im Jahr stattfindende Paarung mit zufällig ausgewählten Männern. Dennoch besaßen diese wilden Frauen – zumindest in den Augen altertümlicher Vasenmaler und Bildhauer – ausreichend attraktive Attribute, um geheime Leidenschaften zu wecken.
Ich war immer sehr vorsichtig, meine eigenen diesbezüglichen Gefühle zu offenbaren. Sich für die Geschichte der Amazonen zu interessieren, war schlimm genug – sich jedoch dahingehend zu outen, dass man an die Existenz von Amazonen glaubte, käme einer akademischen Selbstvernichtung gleich.
Sobald mein Tee fertig war, setzte ich mich hin und studierte Mr Ludwigs Foto mit der Lupe. Ich war überzeugt, dass ich die Inschrift an der Wand umgehend als eines der geläufigen, altertümlichen Schriftsysteme identifizieren könnte, doch als das nicht gelang, gestattete ich mir einen Anflug von Aufregung. Und nach einigen weiteren Minuten, die ich mit zunehmender Verwirrung über das Bild gebeugt dasaß, lief mir bei der Vorstellung der sich eröffnenden Möglichkeiten ein Schauer über den Rücken.
Was mich am meisten faszinierte, war die Allgemeingültigkeit der Symbole, die es unmöglich machte, sie irgendeinem speziellen Ort oder einer speziellen Zeit zuzuordnen. Sie hätten als Teil eines ausgefeilten Schwindels kurz vor Aufnahme des Fotos auf die mit Rissen bedeckte Wand gemalt worden sein können … oder aber einige Tausend Jahre zuvor. Zudem … Je länger ich sie betrachtete, umso mehr bekam ich das unheimliche Gefühl, dass sie mir in irgendeiner Weise vertraut waren. Es war, als regte sich in einem entlegenen Winkel meines Unterbewusstseins ein schlafendes Ungeheuer. Hatte ich diese Symbole schon einmal gesehen? Falls ja, so musste ich mir frustriert eingestehen, dass mir jeglicher Kontext entfallen war.
Wie es der Zufall wollte, arbeitete meine Jugendfreundin Rebecca seit drei Jahren an einer Ausgrabungsstätte in Kreta, und ich war ziemlich sicher, dass sie genauestens darüber informiert war, welche Organisation wo herumbuddelte und wonach. Wenn irgendjemand im Mittelmeerraum auf diese Art von Inschrift gestoßen war und sie mit den Amazonen in Verbindung brachte, wäre Dr. Rebecca M. Wharton die Erste, die davon erführe.
»Tut mir leid, deine mitternächtliche Orgie zu stören«, sagte ich, als sie endlich an ihr Handy ging. Wir hatten seit über einem Monat nicht mehr telefoniert, und erst bei ihrem freudigen Prusten am anderen Ende merkte ich, wie sehr ich sie vermisst hatte. Es war ein Lachen, das ich überall erkannt hätte. Was da nach schwerem Whiskey-Kater klang, hatte in Wirklichkeit die eher prosaische Ursache, dass sie ihre neugierige Nase den ganzen Tag in staubige Erdlöcher steckte.
»Gerade habe ich an dich gedacht!«, rief sie aus. »Ich liege hier umringt von einer Gruppe Griechen, die mich mit Weintrauben füttern und mit Olivenöl einreiben …«
Bei der Vorstellung musste ich lachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Rebecca sich mit irgendetwas anderem näher befasste als mit antiken Tonscherben, lag traurigerweise bei null. Da spielte sie mit ihrer kessen Kappe und abgeschnittenen Jeans die Rebellin, kroch auf Knien zwischen einem Haufen männlicher Archäologen hindurch und hatte nur Augen für die Vergangenheit. Und obwohl sie eine große Klappe hatte, wusste ich, dass unter ihren frechen Sommersprossen immer noch die Pastorentochter steckte. »Ist das der Grund, weshalb du mich nicht angerufen und mir die große Neuigkeit erzählt hast?«
Es raschelte kurz, da Rebecca das Handy vermutlich zwischen Ohr und Schulter klemmte. »Was für eine große Neuigkeit?«
»Sag du’s mir. Wer gräbt in deinem Garten Amazonen aus?«
Sie stieß einen ihrer ohrenbetäubenden Dschungelvogelschreie aus. »Was?«
»Sieh dir das hier mal eben an …« Ich lehnte mich vor, um das Foto auf meinem Computerbildschirm noch einmal zu studieren. »Ich habe dir gerade ein Foto gemailt …«
Während wir darauf warteten, dass die Mail Rebeccas Laptop erreichte, gab ich ihr einen kurzen Abriss der Situation, einschließlich James Moselanes Verdacht, ich sei das Opfer eines Schwindels und könne sogar in Gefahr schweben. »Natürlich werde ich nicht fliegen«, erklärte ich, »aber ich würde zu gern wissen, wo das Foto aufgenommen wurde. Die Inschrift scheint auf einer größeren Wand zu stehen, und der Text ist in senkrechten Spalten angeordnet. Was die Schriftsymbole selbst betrifft …«, ich lehnte mich noch näher an den Bildschirm und drehte meine Schreibtischlampe zur optimalen Ausleuchtung herum, »… habe ich ein ganz komisches Gefühl. Aber ich kann beim besten Willen nicht …«
Ein plötzliches malmendes Geräusch ließ darauf schließen, dass Rebecca sich eine Handvoll Nüsse in den Mund geschoben hatte – ein sicheres Zeichen, dass sie neugierig geworden war. »Und was soll ich dabei tun?«, wollte sie wissen. »Ich garantiere dir, dass dieses Foto nicht von dieser Insel stammt. Wenn auf Kreta jemand eine solche Wand gefunden hätte, wüsste ich davon, das kannst du mir glauben.«
»Ich sage dir, was du tun kannst«, erwiderte ich. »Sieh dir die Inschrift gut an und verrate mir, wo ich diese Symbole schon einmal gesehen habe.«
Ich wusste, es war ein Schuss ins Blaue, aber ich musste es versuchen. Rebecca hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, das Wesentliche zu erkennen. Sie war diejenige, die das heimliche Schokoladenlager meines Vaters in seiner alten Werkzeugkiste in der Garage gefunden hatte, als wir noch Kinder waren. Und selbst damals hatte sie trotz ihrer Naschkatzenneigung nicht vorgeschlagen, dass wir uns eine Schokolade teilten; der bloße Triumph der Entdeckung – und die Tatsache, dass sie mir etwas über meinen Vater verraten konnte, das ich nicht wusste – war für sie aufregend genug gewesen.
»Ich gebe dir eine Minute …«, sagte ich.
»Wie wäre es«, konterte Rebecca, »wenn du mir ein paar Tage gibst, damit ich mich mal umhören kann? Ich könnte das Foto Mr Telemachos zeigen …«
»Warte!«, unterbrach ich sie. »Zeig das Foto bitte niemandem!«
»Warum nicht?«
Ich zögerte, weil ich selbst merkte, wie irrational meine Bitte war. »Weil mir irgendetwas an dieser Inschrift vertraut vorkommt … aber auf unheimliche Weise. Es ist, als könnte ich sie in blauer Tinte vor mir sehen …«
Die Erkenntnis traf uns beide gleichzeitig.
»Das Notizbuch deiner Großmutter!«, rief Rebecca aus und schnappte hörbar nach Luft. »Das du ihr zu Weihnachten geschenkt hast …«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Nein, das ist unmöglich. Verrückt.«
»Warum?« Rebecca war zu aufgeregt, um rücksichtsvoll mit meiner emotionalen Achillesferse umzugehen. »Sie hat immer gesagt, sie werde dir irgendwann Instruktionen zukommen lassen, oder? Und dass du sie bekommen würdest, wenn du am wenigsten damit rechnest. Tja, vielleicht ist es das jetzt. Grannys große Vorladung. Wer weiß …?« Rebeccas Stimme klang laut und trotzig, weil ihr vermutlich klarwurde, wie ungeheuerlich ihre Vermutung war. »Vielleicht ist sie ja in Amsterdam und wartet da auf dich.«
Am flirrenden Horizont erschienen zwei Figuren.
Es war die gleißende Zeit des Tages, in der Himmel und Erde in silbrigem Dunst zusammenstießen. Allmählich jedoch, während sie über die Salzebene wanderten, wurde erkennbar, dass es sich bei den verschwommenen Figuren um zwei Frauen handelte – die eine ausgewachsen, die andere noch nicht.
Myrina und Lilli waren viele Tage unterwegs gewesen, nur zu zweit. Das Ziel ihrer Reise war deutlich zu erkennen, denn von ihren Schultern hingen allerlei Waffen sowie Beute an Lederriemen. Als sie sich dem Dorf näherten, beschleunigten sie ihre Schritte. »Wie stolz Mama sein wird!«, rief Lilli. »Ich hoffe, du erzählst ihr, wie ich das Kaninchen gefangen habe.«
»Ich werde keine Einzelheit auslassen«, versprach Myrina und wuschelte ihrer kleinen Schwester durch das verfilzte Haar, »außer vielleicht den Teil, wo du dir beinahe den Hals gebrochen hättest.«
»O ja …« Lilli zog die Schultern hoch und verfiel in ihren komischen Schildkrötengang, wie sie es immer machte, wenn sie sich schämte. »Das erwähnst du besser nicht, sonst darf ich dich nie wieder begleiten. Und das …«, sie sah mit hoffnungsvollem Lächeln zu Myrina auf, »… wäre doch schade, oder?«
Myrina nickte entschlossen. »Sehr schade! Aus dir kann mal eine gute Jägerin werden. Und außerdem …«, sie musste kichern, »… bist du ein unerschöpflicher Quell der Erheiterung.«
Lilli zog einen Schmollmund, doch Myrina wusste, dass sie insgeheim stolz war. Für ihre zwölf Jahre war sie noch recht klein und deshalb umso begieriger darauf, sich beim Jagdausflug zu bewähren. Ihre Ausdauer hatte Myrina überrascht und beeindruckt. Ganz gleich, ob sie hungrig oder müde gewesen war – Lilli hatte weder eine Aufgabe verweigert noch eine Träne vergossen. Zumindest nicht, wenn Myrina hingesehen hatte.
Myrina, sechs Jahre älter als Lilli und ebenso fähig und erfahren wie jeder junge Mann ihres Alters, hatte es als ihre Pflicht betrachtet, die Schwester in die Kunst des Jagens einzuweisen. Dabei war sie zunächst auf heftigen Widerstand der Mutter gestoßen, denn die betrachtete Lilli immer noch als ihr Baby, das sie jeden Abend in den Schlaf singen wollte.
Doch als sie nun auf dem Heimweg ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein in Lillis Gang sah, konnte Myrina es kaum erwarten, der Mutter alles zu präsentieren: die fette Beute, die vielen Jagdberichte und dass die jüngste Tochter gesund und munter aus der Wildnis zurückkehrte, das blutige Mal der Jägerin deutlich auf der Stirn.
»Meinst du, sie werden alles auf einmal braten?«, unterbrach Lilli ihre Gedanken. »Das wäre ein richtiges Festessen. Allerdings …«, sie blickte auf eine Anzahl kleiner Fische, die an einer wollenen Schnur von ihrem Gürtel hingen, »… ist manche Beute ziemlich klein und kaum erwähnenswert.«
»Nach meiner Erfahrung«, meinte Myrina, »sind es gerade die kleinen Sachen, die am besten schmecken.«
Sie blieb stehen. Die Schwestern hatten die Wegkrümmung hinter der Weide erreicht, und das Dorf Tamash lag direkt vor ihnen. An diesem Punkt kamen zur Begrüßung immer die Hunde angelaufen und bellten, da sie wussten, dass bald Fleischreste und Markknochen für sie abfallen würden.
Doch heute waren keine Hunde zu sehen. Und als Myrina genauer hinhörte, konnte sie auch keine der üblichen Geräusche aus dem Dorf vernehmen, nur das heisere Schreien von Vögeln und das eindringliche Summen von Tausenden Honigbienen auf einer Blumenwiese. Die einzigen Lebenszeichen waren ein paar dunkle Rauchsäulen, die von irgendwo zwischen den Hütten in das unendliche Blau des Himmels aufstiegen.
»Was ist los?« Lilli riss die Augen auf. »Was hörst du?«
»Ich bin nicht sicher.« Myrina spürte, wie sich ihr vor gespannter Erwartung die Haare sträubten. »Bleib du doch erst einmal hier …« Sie fasste Lilli an den Schultern, damit sie stillstand.
»Warum? Was ist los?« Lillis Stimme klang schrill, und als Myrina weiterging, folgte das Mädchen sofort. »Sag es mir doch, bitte!«
Endlich entdeckte Myrina einen der Hunde. Es war der gefleckte Welpe, der bei Stürmen immer zu ihr kam und neben ihren Füßen schlief – der Welpe, den sie einmal gesund gepflegt hatte und der sie manchmal wie aus menschlichen Augen anstarrte.
Ein Blick auf den Hund, der in unterwürfig geduckter Haltung nervös das Maul aufsperrte, und Myrina wusste Bescheid. »Nicht anfassen!«, rief sie, als Lilli mit ausgestreckten Armen vorauslief.
Aber es war zu spät – ihre Schwester hatte sich schon vor das Tier gekniet und es in die Arme geschlossen. »Lilli!« Myrina zog das Mädchen mit einem Ruck wieder nach oben. »Hast du mich nicht gehört? Nichts anfassen!«
Sie sah, wie dem Kind allmählich die Erkenntnis dämmerte.
»Bitte«, sagte Myrina und senkte ihre Stimme so weit, dass sie zitterte. »Sei brav und bleib hier, während ich …«, sie warf einen beunruhigten Blick auf die stillen Häuser vor ihnen, »… mich vergewissere, dass alles in Ordnung ist.«
Beide Hände fest um ihren Speer geklammert, betrat Myrina das Dorf und suchte nach Anzeichen von Gewalt. Bestimmt war Tamash von einem feindlichen Stamm oder wilden Tieren angegriffen worden, und sie machte sich auf schreckliche Bilder gefasst, doch was dann kam, war ganz und gar überraschend.
»Du!« Eine heisere, hasserfüllte Stimme drang aus dem Innern einer Hütte, und kurz darauf trat eine gebeugte Frau heraus, ihr Körper schweißüberströmt. »Daran ist nur deine Mutter schuld!« Die Frau spuckte blutigen Speichel auf den Boden. »Deine Mutter, die Hexe!«
»Nena, beste Nena …« Myrina wich ein paar Schritte zurück. »Was ist geschehen?«
Die Frau spuckte erneut aus. »Hast du mich nicht gehört? Deine Mutter hat uns alle verflucht. Sie hat eine Krankheit herbeigewünscht, die jeden töten soll, der ihr unzüchtiges Leben nicht billigt.«
Verstört ging Myrina weiter und sah überall Krankheit und Qual. Zitternd vor Angst und Fieber drängten sich Männer, Frauen und Kinder im Schatten zusammen, andere knieten vor glimmenden Glutresten und rieben sich mit Asche ein. Und dort, wo die Hütte ihrer Mutter gestanden hatte, war nichts als ein Haufen verkohlter Steine, zwischen denen ein paar vertraute Dinge lagen.
Myrina konnte kaum fassen, was sie da sah, und kniete sich hin, um einen schmalen, schwarzen Ring aus der Asche zu ziehen. Es war der bronzene Armreif ihrer Mutter, von dem sie immer gesagt hatte, sie werde ihn bis an ihr Lebensende tragen.
»Es tut mir ja so leid, Liebes«, hörte Myrina nun eine schwache Stimme, und als sie sich umdrehte, sah sie die alte Nachbarin ihrer Mutter auf einen Stock gestützt. Um ihren Mund waren offene Wunden zu sehen. »Du gehst besser fort. Sie suchen nach einem Schuldigen. Ich habe versucht, vernünftig mit ihnen zu reden, aber auf Vernunft hört jetzt niemand mehr.«
Myrina presste eine Hand auf den Mund, wandte sich ab und verließ das Dorf. Sie versuchte, die Worte zu ignorieren, die ihr nachgerufen wurden. »Hure!«, riefen die Männer – nicht, weil sie bei ihnen gelegen hatte, sondern weil sie es nicht getan hatte. »Hexe!«, riefen die Frauen und vergaßen dabei, dass es Myrinas Mutter gewesen war, die sie nachts besucht, ihre Hände gehalten und ihre Kinder zur Welt gebracht hatte … und dass es Myrina gewesen war, die ihren Babys Spielzeug aus Tierknochen geschnitzt hatte.
Endlich war sie wieder bei Lilli angekommen, die steif vor Angst und Anspannung auf einem Felsen am Wegrand saß. »Warum durfte ich nicht mitkommen?« Sie verschränkte die Arme und wiegte sich vor und zurück. »Du warst lange fort.«
Myrina stieß ihren Speer in den Boden und setzte sich neben ihre Schwester. »Erinnerst du dich noch, was Mutter gesagt hat, als wir aufbrachen? Dass du mir immer vertrauen musst, egal, was passiert?«
Lilli sah auf und verzog voll böser Vorahnung das Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse. »Sie sind alle tot, oder?«, flüsterte sie. »So wie die Menschen in meinem Traum.« Als Myrina nicht antwortete, begann Lilli zu schluchzen. »Ich will Mama sehen. Bitte!«
Myrina zog ihre Schwester an sich und drückte sie ganz fest. »Oh, Lilli! Da ist nichts mehr zu sehen.«
Es ist ein schrecklich Ding, oh Herr,
ein altes Übel wieder zu erwecken, das da schlafend lag.
Sophokles, Ödipus auf Kolonos
Mein Vater holte mich am Bahnhof von Moreton-in-Marsh ab. Trotz der frühen Uhrzeit sah er überraschend gut aus. Ich hatte einen mürrischen zerzausten Alten erwartet und war fast gerührt, ihn mit einer beinahe schicken Cordhose anstatt in der Schlafanzughose zu sehen, die er zu Hause bisweilen den ganzen Tag lang trug. Es war nur eine Frage der Zeit, so fürchtete ich schon, dass er sich in der Pyjamahose bis zum Postkasten am Gartentor vorwagte oder gar eine kurze Fahrt im Auto unternahm.
»Ich will ja nicht neugierig sein …« Mein Vater hielt es nicht für nötig, den Satz zu beenden. Es war seine Art zu sagen: »Warum, um alles in der Welt, musst du morgens um sieben Uhr aus Oxford flüchten?«
»Na ja …« Ich starrte aus dem Fenster und unterdrückte den kindischen Wunsch, mit dem wahren Grund für meinen Besuch herauszuplatzen. »Ich dachte, ich habe euch schon lang keine Unannehmlichkeiten mehr gemacht und wollte euch einfach mal überfallen.«
Meine Eltern wohnten in einem Haus aus ockergelben Steinen, das ein entfernter Vorfahr gebaut hatte … der nicht viel größer als einen Meter fünfzig gewesen sein konnte, wenn man von den Türknäufen in Kniehöhe ausging. Ihm musste das Gebäude wie ein großzügig angelegtes Herrenhaus erschienen sein – auf mich, die ich für mein Alter immer schon übermäßig groß gewesen war, wirkte es klein und beengt. Als Kind hatte ich mir oft vorgestellt, ich sei eine Riesin, die von zwei Trollen in einem Erdhügel im Wald gefangen gehalten wurde.
Doch nachdem ich ausgezogen war, bekamen die Ärgernisse der Kindheit anscheinend einen neuen Glanz, denn ich merkte, dass ich mit jedem Besuch wieder ein wenig unkritischer gegenüber den Unzulänglichkeiten des Hauses wurde … was sogar so weit ging, dass ich anfing, seine kuschelige Enge zu genießen.
Wir betraten das Haus wie immer durch die Garage und nutzten den kleinen Vorraum, um uns die schmutzigen Schuhe auszuziehen. Voll mit Jacken, Mänteln, trocknenden Blumen und Hunderten von Haselnüssen, die in Nylonstrümpfen an Haken von der Decke hingen, war dies bestimmt der unordentlichste Raum im ganzen Haus. Trotzdem trödelte ich immer gern darin herum, denn er verströmte einen vertrauten und beruhigenden Geruch nach Wachsjacken und Kamille und auch Jahre später noch nach den Äpfeln, die wir einmal oben in der Dörranlage vergessen hatten.
Sobald wir Hausschuhe an den Füßen hatten, ging mein Vater in die Küche und von dort aus ins Esszimmer. Etwas verwirrt über seine Route, folgte ich nur zögernd und beobachtete dann, wie er sich mit steifen Schritten dem großen Frontfenster im Wohnzimmer näherte.
Draußen im Garten stand eine neue Futterstation, die mit Sicherheit für die gefiederten Freunde meines Vaters gedacht gewesen war. Doch auf der Plattform saß ein schwarzes Eichhörnchen und machte sich genüsslich über die für die Vögel ausgestreuten Samen und Körner her.
»Das Vieh schon wieder!« Mein Vater blieb nicht einmal stehen, um sich zu entschuldigen, sondern stürmte in Hausschuhen aus der Terrassentür, um den rauen Sitten der Natur Einhalt zu gebieten. Wie er so mit seinem auf links gedrehten Strickpullunder durch den Garten stapfte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass dieser Mann, Vincent Morgan, bis vor kurzem noch Rektor der örtlichen Schule gewesen war. In dieser Funktion hatte mein Vater vielen kleinen Jungen und Mädchen Angst eingeflößt, so dass er in der ganzen Gegend als »Über-Morgan« bekannt war. Wann immer ich als Kind das Haus verließ, musste ich damit rechnen, dass mich eine Bande Jungen mit dem Schlachtruf »Lieber Heute als Morgan / Morgan, Morgan, nur nicht heute!« durch den Ort jagte, bis der Metzger in seiner blutverschmierten Schürze herauskam und sie verscheuchte.
Erst mit seiner Pensionierung verlagerte mein Vater seine Interessen in den Garten. Da er zu den Menschen gehörte, die sich mit Veränderungen schwertaten, strotzten seine Geschichten über dieses ererbte kleine Stück Land nur so vor Nostalgie und Wehmut. Die Äpfel waren nie mehr so knackig wie in seiner Jugend und die Himbeersträucher nicht so üppig mit Früchten bestückt wie damals, als er als kleiner Junge Eimer um Eimer gepflückt und zu Mrs Winterbottom in die Küche getragen hatte.
Seine romantischen Erinnerungen waren immer sorgsam rezensiert, um störende Details zu verschweigen. Unterschlagen wurden der arbeitssüchtige Vater und die lang abwesende, kranke Mutter. Unterschlagen wurde die Tatsache, dass die professionelle Haushälterin Mrs Winterbottom eine strenge Gestalt in Gummihandschuhen gewesen war, deren Effizienz und Reinlichkeit keinen Raum für Zärtlichkeiten zuließ. Übrig blieb nur das Bild eines kleinen Jungen in seinem Garten, umrahmt vom jahreszeitlich gefärbten Laub und mit feinem Goldganz überstäubt.
Ich ging kurz in den Keller und sah, wie erwartet, eine Gruppe von Frauen auf Trimmrädern vor einem Trainingsvideo strampeln. »Hallo, Mommy!«, rief ich. »Und hallo, die Damen!«
»Hallo, Schätzchen!« Meine Mutter trug das gelbe Trikot, das ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und ein Haarband um die silbergraue Bobfrisur. Sie war eine der wenigen Frauen, die ich kannte, die keine Angst vor dem Schwitzen hatten. Früher hatte das nicht selten zu peinlichen Situationen geführt, aber heute gehörte es zu den Dingen, die ich am meisten an ihr bewunderte. »Noch zehn Minuten!«
Als ich wieder nach oben kam, machte mein Vater sich immer noch an der Futterstation zu schaffen, und ich spürte ein plötzliches Kribbeln im Magen. Zehn Minuten. Genau so viel, wie ich brauchte.
Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein staubiges Kabuff mit den üblichen Merkmalen der viktorianischen gehobenen Mittelschicht. Die Wände waren über und über mit durchhängenden Bücherregalen bedeckt, und hie und da steckten zwischen den Bänden besondere Schätze: auf Nadeln gespießte Käfer in Holzkästchen, präparierte Würmer und Schlangen in Laborflaschen und ausgestopfte Vögel mit glänzenden Glasaugen, die von den obersten Regalen hinunterstarrten wie Raubvögel von einer Felsklippe. Solange ich mich erinnern konnte, hatte ich den Geruch in diesem Raum als gefährlich verlockend empfunden; es war ein Gemisch aus Geschichte, Wissen und verbotenem Herumstöbern.
Zwar war ich jetzt älter, aber nicht minder nervös, so dass ich versehentlich einen Becher mit Stiften vom Schreibtisch riss und einige verschreckte Sekunden lang das Schlittern und Klappern von Kugelschreibern, Linealen und Büroklammern verfolgte. Schuldbewusst sammelte ich alles wieder zusammen und stellte den Becher zurück auf die monatlichen Rechnungen, wo er hingehörte.
Auf einmal stand mein Vater in der Tür.
»He, hallo!«, rief er und zog die buschigen Brauen zusammen. »Soll ich mich geschmeichelt fühlen, dass du meine Korrespondenz für so beachtenswert hältst?«
»Tut mir furchtbar leid«, murmelte ich. »Ich habe nur nach meiner Geburtsurkunde gesucht …«
Er entspannte sich sichtbar. »Oh. Lass mich mal sehen …« Mein Vater sank in seinen Bürostuhl, öffnete und schloss ein paar Schubladen, bis er schließlich fand, was er suchte. »Voilà!« Er hielt mir einen Ordner mit meinem Namen entgegen. »Hier sind alle deine Papiere. Ich habe ein bisschen aufgeräumt.« Und endlich lächelte er wieder. »Ich dachte, ich erspare dir die Arbeit.«
Ich starrte ihn an und versuchte, sein Lächeln zu ergründen. »Du hast doch nicht … irgendetwas weggeworfen, oder?«
Er blinzelte ein paarmal irritiert, als wunderte er sich über mein plötzliches Interesse an seinen Projekten. »Nichts Wichtiges, glaube ich. Das meiste habe ich in eine Kiste gepackt … alte Dokumente und solche Sachen. Vielleicht taugen sie nur noch zum Verbrennen, aber … das überlasse ich ganz dir.«
Die Tür zum Dachboden quietschte, und so war es schon immer fast unmöglich gewesen, aus einem Besuch dort oben ein Geheimnis zu machen.
Als Kinder hatten Rebecca und ich eine kleine Kiste mit Andenken in einer Ecke dieses düsteren Raumes verstaut, und so oft wir uns trauten, schlichen wir nach oben, um sie zu begutachten. Da war ein Ministück Seife aus einem Pariser Hotel, eine getrocknete Rose aus einem Hochzeitsbouquet, ein Golfball vom Anwesen der Moselanes … und einige andere Schätze, die nicht in falsche Hände geraten durften.
»Was macht ihr zwei da eigentlich immer auf dem Dachboden?«, hatte meine Mutter eines Tages beim Mittagessen gefragt, worauf Rebecca prompt ihre Limonade über den Küchentisch verschüttete.
»Nichts«, hatte ich mit erzwungener Unschuld erwidert.