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Das Geheimnis um die größte Liebesgeschichte der Welt: Romeo und Julia. Ein altes Buch lockt die junge Amerikanerin Julia nach Italien: es ist die Urfassung des Romeo-und-Julia-Stoffes und es handelt von den verfeindeten Familien Tolomei und Salimbeni in Siena. Völlig überrascht stößt Julia auch auf die Warnung ihrer verstorbenen Mutter: bis heute liege ein Fluch auf den Familien – und damit auch auf ihr. Denn ihr wahrer Name ist Giulietta Tolomei. Auf der Suche nach ihrem Erbe spürt Julia, dass sie beobachtet und verfolgt wird. Während Siena dem Palio entgegenfiebert, gerät sie in höchste Gefahr. Wird der Fluch der Vergangenheit auch ihr zum Schicksal?
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Seitenzahl: 924
Veröffentlichungsjahr: 2010
Anne Fortier
Roman
Roman
Vor der einzigartigen Kulisse Sienas gerät eine junge Frau in den Strudel eines Geheimnisses, das tief in die Vergangenheit führt – das Geheimnis um die größte Liebesgeschichte der Welt: Romeo und Julia.
Ein altes Buch lockt die junge Amerikanerin Julia nach Italien: es ist die Urfassung des Romeo-und-Julia-Stoffes und es handelt von den verfeindeten Familien Tolomei und Salimbeni in Siena. Völlig überrascht stößt Julia auch auf die Warnung ihrer verstorbenen Mutter: bis heute liege ein Fluch auf den Familien – und damit auch auf ihr. Denn ihr wahrer Name ist Giulietta Tolomei. Auf der Suche nach ihrem Erbe spürt Julia, dass sie beobachtet und verfolgt wird. Während Siena dem Palio entgegenfiebert, gerät sie in höchste Gefahr. Wird der Fluch der Vergangenheit auch ihr zum Schicksal?
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Anne Fortier wuchs in Italien und Dänemark auf, wo sie über Ideengeschichte promovierte. Mit ihrem Mann, den sie in Oxford kennenlernte, ging sie nach Amerika. Sie war Co-Produzentin von Dokumentarfilmen und lehrte Filmstudien an verschiedenen Universitäten. Sie lebt in den USA. Seit der Kindheit von Shakespeares Heldin fasziniert, forschte sie für ihren Roman in Sienas Archiven und Museen.
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Für meine geliebte Mutter
Birgit Malling Eriksen,
deren Großzügigkeit und herkulische Forschungsarbeit dieses Buch möglich machten
Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen:
Ich will dann strafen, oder Gnad’ erteilen;
Denn niemals gab es ein so hartes Los
Als Juliens und ihres Romeos.
Shakespeare
Angeblich war ich tot.
Mein Herz blieb stehen, und ich atmete nicht mehr – in den Augen der Welt war ich wirklich tot. Einige sagen, ich sei drei Minuten weg gewesen, andere sprechen von vier. Mir persönlich kommt es allmählich so vor, als wäre das mit dem Totsein weitgehend Ansichtssache.
Als Julia hätte ich es wahrscheinlich kommen sehen müssen. Aber ich wollte unbedingt daran glauben, dass es dieses Mal nicht wieder auf die alte bedauerliche Tragödie hinauslaufen würde. Diesmal würden wir, Romeo und ich, für immer zusammen sein, und unsere Liebe würde nie wieder durch finstere Jahrhunderte des Bannes und des Todes unterbrochen.
Doch der Barde lässt sich nicht narren. Deswegen starb ich pflichtbewusst, als mein Text zu Ende war, und fiel zurück in den Brunnen der Schöpfung.
O willkommner Stift! Dies werde deine Seite.
Tinte da, nun lass mich schreiben.
O wehe, weh mir! Was für Blut befleckt
Die Steine hier an dieses Grabmals Schwelle?
Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich anfangen sollte. Man könnte behaupten, dass meine Geschichte bereits vor über sechshundert Jahren mit einem Straßenraub in der mittelalterlichen Toskana begann – oder erst viel später, mit einem Tanz und einem Kuss im Castello Salimbeni, als meine Eltern sich das erste Mal begegneten. All das jedoch erfuhr ich nur durch ein Ereignis, das mein Leben über Nacht veränderte und mich zwang, nach Italien zu reisen und mich auf die Suche nach der Vergangenheit zu begeben. Besagtes Ereignis war der Tod meiner Großtante Rose.
Umberto brauchte drei Tage, um mich zu finden. Angesichts meiner Begabung in der Kunst des Verschwindens überrascht es mich, dass er es überhaupt schaffte. Wobei Umberto seit jeher die unheimliche Fähigkeit besitzt, meine Gedanken zu lesen und meine Schritte vorherzusagen. Außerdem gibt es in Virginia ja nur eine begrenzte Anzahl von Shakespeare-Sommercamps.
Wie lange er dort an der Rückseite des Raumes stand und der Aufführung zusah, weiß ich nicht. Ich war wie immer hinter der Bühne und zu sehr mit den Kindern beschäftigt – voller Sorge, ob sie ihren Text noch konnten und mit ihren Requisiten zurechtkamen –, so dass ich nichts anderes um mich herum wahrnahm, bis der Vorhang fiel. Nach unserer Generalprobe am Nachmittag hatte jemand das Giftfläschchen verlegt, so dass Romeo nun mangels besserer Alternativen mit Tic-Tacs Selbstmord begehen musste.
»Aber von denen bekomme ich Sodbrennen!«, beschwerte sich der Junge mit der ganzen anklagenden Angst eines Vierzehnjährigen.
»Großartig!«, konterte ich und widerstand dem mütterlichen Drang, die Samtkappe auf seinem Kopf zurechtzurücken. »Dann kannst du dich besser in deine Rolle hineinversetzen.«
Erst, als hinterher das Licht wieder anging und die Kinder mich auf die Bühne zerrten, um mich dort mit Dankbarkeit zu überschütten, bemerkte ich die vertraute Gestalt, die hinten in der Nähe des Ausgangs stand und mich über das applaudierende Publikum hinweg betrachtete. Mit seinem dunklen Anzug und der Krawatte wirkte Umberto so ernst und stattlich, dass er aus der Menge hervorstach wie ein einzelner Halm der Zivilisation aus einem urzeitlichen Sumpf. Das war schon immer so gewesen. Seit ich mich erinnern konnte, hatte er niemals auch nur ein einziges Kleidungsstück getragen, das als leger zu bezeichnen war. Khakishorts und Golfhemden galten bei Umberto als die Bekleidung von Männern, die keinerlei Tugenden mehr besaßen – nicht einmal Schamgefühl.
Als der Ansturm dankbarer Eltern nach einer Weile abebbte und ich endlich die Bühne verlassen konnte, wurde ich noch kurz vom Programmdirektor aufgehalten, der mich an den Schultern packte und herzlich schüttelte. Er kannte mich zu gut, um eine Umarmung zu wagen. »Gut gemacht, Julia«, rief er laut, »Sie haben wirklich ein Händchen für die jungen Leute! Ich darf doch nächsten Sommer wieder mit Ihnen rechnen?«
»Auf jeden Fall«, log ich im Weitergehen. »Ich werde zur Stelle sein.«
Als ich endlich auf Umberto zutrat, suchte ich vergeblich nach dem kleinen Funken Glück, der für gewöhnlich in seinen Augenwinkeln stand, wenn er mich nach langer Zeit wiedersah. Diesmal aber konnte ich nicht einmal die Spur eines Lächelns entdecken. Plötzlich begriff ich, warum er gekommen war. Während ich wortlos in seine Umarmung sank, wünschte ich, es stünde in meiner Macht, die Realität wie eine Sanduhr auf den Kopf zu stellen. Ach, wäre das Leben doch keine endliche Angelegenheit, sondern stattdessen ein ewiger Kreislauf, in den man immer wieder durch ein kleines Loch im Universum zurückkehren könnte.
»Weine nicht, Principessa«, flüsterte er in mein Haar hinein, »das hätte sie nicht gewollt. Wir können nicht alle ewig leben. Sie war zweiundachtzig.«
»Ich weiß, aber …« Ich trat einen Schritt zurück und wischte mir die Augen. »War Janice da?«
Wie immer, wenn der Name meiner Zwillingsschwester fiel, verengten sich Umbertos Augen. »Was glaubst du denn?« Erst jetzt aus der Nähe sah ich, dass er angeschlagen und deprimiert wirkte, als hätte er sich die letzten paar Abende in den Schlaf getrunken. Doch vielleicht war das eine ganz normale Reaktion. Was sollte ohne Tante Rose aus Umberto werden? Seit ich denken konnte, waren die beiden einander in einer Notgemeinschaft aus Moneten und Muskeln verbunden gewesen – sie hatte die alternde belle gespielt, er den geduldigen Butler –, und trotz ihrer Differenzen hatte keiner von beiden je daran gedacht, ein Leben ohne den anderen zu wagen.
Der Lincoln parkte diskret drüben neben der Lagerfeuerstelle, und kein Mensch bekam mit, wie Umberto meinen alten Rucksack in den Kofferraum legte, ehe er mir mit maßvoller Feierlichkeit die hintere Tür aufhielt.
»Ich möchte vorne sitzen. Bitte.«
Unter missbilligendem Kopfschütteln öffnete er mir nun die Beifahrertür. »Ich wusste, dass das alles irgendwann zu Ende gehen würde.«
Dabei hatte es niemals an Tante Rose gelegen, dass ihr Verhältnis so förmlich blieb. Ja, Umberto war ihr Angestellter, aber sie behandelte ihn stets wie ein Familienmitglied. Was von ihm jedoch nie erwidert wurde. Jedes Mal, wenn Tante Rose vorschlug, Umberto solle sich doch zu uns anderen an den Tisch setzen, bedachte er sie bloß mit einem erstaunten, aber nachsichtigen Blick, als würde er sich immer wieder von neuem darüber wundern, wieso sie ihn ständig dazu aufforderte und seine Einstellung zu diesem Thema einfach nicht begriff. Er nahm alle seine Mahlzeiten in der Küche ein. Das war seit jeher so gewesen und würde auch so bleiben. Nicht einmal der Herrgott – der von Tante Rose mit wachsender Verzweiflung beschworen wurde – konnte ihn dazu bringen, sich zu uns zu setzen, auch wenn es sich um Festtage handelte.
Tante Rose entschuldigte Umbertos Eigenheit immer als typisch europäisch und blendete dann geschickt zu einem Vortrag über Tyrannei, Freiheit und Unabhängigkeit über, der unweigerlich darin gipfelte, dass sie mit der Gabel auf uns deutete und fauchte: »Und genau aus diesem Grund werden wir in den Ferien nicht nach Europa fliegen. Vor allem nicht nach Italien. Basta!« Ich persönlich war ziemlich sicher, dass Umberto allein schon deswegen lieber in der Küche speiste, weil er seine eigene Gesellschaft dem, was wir zu bieten hatten, bei weitem vorzog. Während er gemütlich in der Küche saß und seine Opernmusik, seinen Wein und sein perfekt herangereiftes Stück Parmesan genoss, zankten wir – Tante Rose, ich und Janice – im zugigen Speisezimmer frierend vor uns hin. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich ebenfalls den ganzen Tag in der Küche verbracht.
Während wir nun durch das mondhelle Shenandoah Valley fuhren, berichtete mir Umberto von Tante Roses letzten Stunden. Sie war ganz friedlich im Schlaf gestorben, nachdem sie sich einen Abend lang all ihre Lieblingslieder von Dean Martin angehört hatte – eine knisternde Platte nach der anderen. Nachdem der letzte Akkord des letzten Stücks verklungen war, hatte sie sich erhoben und die Verandatür zum Garten geöffnet, vielleicht, weil sie noch einmal den Duft des Geißblatts in sich aufsaugen wollte. Wie Umberto mir erzählte, stand sie dort eine Weile mit geschlossenen Augen, wobei die langen Spitzenvorhänge um ihren dürren Körper flatterten, ohne dabei das geringste Geräusch zu machen – als wäre sie bereits ein Geist.
»Habe ich das Richtige getan?«, fragte sie ihn damals sehr leise.
»Natürlich haben Sie das«, lautete seine diplomatische Antwort.
Erst gegen Mitternacht bogen wir in Tante Roses Zufahrt ein. Umberto hatte mich bereits vorgewarnt, dass Janice am Nachmittag mit einem Taschenrechner und einer Flasche Champagner aus Florida eingetroffen war. Was jedoch nicht erklärte, warum direkt vor dem Eingang ein zweiter Sportwagen parkte.
»Ich hoffe wirklich«, sagte ich, während ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum hievte, ehe Umberto mir zuvorkommen konnte, »dass das nicht der Bestatter ist.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, verzog ich wegen meiner schnodderigen Ausdrucksweise das Gesicht. Eigentlich war es überhaupt nicht meine Art, so daherzureden. Das passierte nur, wenn ich in Hörweite meiner Schwester kam.
Umberto, der nur einen raschen Seitenblick für den mysteriösen Wagen übrig hatte, zog seine Jacke auf eine Art zurecht, wie man es wohl mit einer kugelsicheren Weste tat, ehe man sich ins Kampfgetümmel stürzte. »Ich fürchte, es gibt viele Arten, mit dem Tod umzugehen.«
Sobald wir Tante Roses Haus betreten hatten, begriff ich, was er meinte. All die großen Porträts in der Diele waren abgenommen und standen nun mit dem Rücken zur Wand wie Verbrecher vor einem Erschießungskommando. Die große venezianische Vase, die immer auf dem runden Tisch unter dem Lüster gethront hatte, war bereits verschwunden.
»Hallo?«, rief ich laut, während in mir eine Welle der Wut hochstieg, wie ich sie seit meinem letzten Besuch nicht mehr empfunden hatte. »Noch jemand am Leben?«
In dem stillen Haus hallte meine Stimme ein paar Sekunden lang nach, aber nachdem das Echo verklungen war, hörte ich oben auf dem Gang schnelle Schritte. Trotz dieses kurzen Anfalls von Hektik, den das schlechte Gewissen bei Janice auslöste, ließ sie sich ihren üblichen, wie in Zeitlupe inszenierten Auftritt auf der breiten Treppe keineswegs nehmen. Nach einer kurzen Pause für die Weltpresse warf sie ihr langes Haar mit träger Selbstzufriedenheit nach hinten und bedachte mich mit einem hochnäsigen Lächeln, ehe sie ihren Abstieg begann. »Und siehe da«, bemerkte sie mit honigsüßer, aber zugleich eiskalter Stimme, »unsere Virgitarierin ist gelandet.« Erst dann registrierte ich den männlichen Beigeschmack der Woche, der ihr dicht auf den Fersen folgte und dabei so aufgelöst und schwelläugig wirkte, wie man eben aussieht, wenn man eine Weile mit meiner Schwester allein war.
»Ja, auch wenn es dich enttäuscht«, antwortete ich, während ich meinen Rucksack geräuschvoll zu Boden fallen ließ. »Kann ich dir helfen, das Haus von sämtlichen Wertsachen zu befreien, oder machst du das lieber allein?«
Janices Lachen klang wie ein kleines Windspiel auf der nachbarlichen Veranda, das dort nur hängt, um einen zu ärgern. »Das ist Archie«, informierte sie mich auf ihre geschäftsmäßig-lockere Art, »er wird uns für diesen ganzen Schrott zwanzig Riesen geben.«
Ich blickte den beiden voller Abscheu entgegen. »Wie großzügig von ihm. Offensichtlich hat er eine Vorliebe für Müll.«
Janice warf mir einen eisigen Blick zu, riss sich dann aber am Riemen. Sie wusste sehr gut, dass mir nicht das Geringste an ihrer guten Meinung lag und ihre Wut mich nur amüsierte.
Ich bin vier Minuten vor ihr zur Welt gekommen. Egal, was sie tat oder sagte, ich würde immer vier Minuten älter sein. Obwohl Janice sich selbst als den Turbohasen und mich als mühsam vorankrabbelnden Igel sah, wussten wir beide, dass sie um mich herum so viele großspurige Haken schlagen konnte, wie sie wollte, und dennoch nie den winzigen Abstand zwischen uns aufholen konnte.
»Tja«, meinte Archie mit Blick auf die Tür, »ich bin dann mal weg. War nett, Sie kennenzulernen, Julia – Sie heißen doch Julia, nicht wahr? Janice hat mir alles über Sie erzählt …« Er lachte nervös. »Also, lasst euch nicht unterkriegen! Macht Frieden, nicht Liebe, wie es so schön heißt.«
Janice winkte Archie nach, bis er die Tür hinter sich zufallen ließ. Sobald er jedoch außer Hörweite war, verwandelte sich ihr Engelsgesicht wie bei einem Halloween-Hologramm in eine teuflische Fratze. »Schau mich nicht so an!«, fauchte sie. »Ich versuche nur, ein bisschen Geld für uns herauszuschlagen. Was man von dir ja nicht behaupten kann, oder?«
»Ich habe auch nicht deine Art von … Ausgaben.« Ich nickte zu ihren neuesten Errungenschaften hinüber, die sich unter dem engen Kleid rund und deutlich abzeichneten. »Sag mal, Janice, wie schaffen sie es eigentlich, dieses ganze Zeug in dich hineinzustopfen? Durch den Nabel?«
»Sag mal, Julia«, äffte Janice mich nach, »wie fühlt es sich eigentlich an, nie etwas in sich reingestopft zu bekommen? Überhaupt nie!«
»Entschuldigen Sie, meine Damen«, unterbrach uns Umberto und trat mit höflicher Miene zwischen uns, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte, »aber ich schlage vor, wir verlegen diesen spannenden Wortwechsel in die Bibliothek.«
Bis wir Janice einholten, hatte sie sich bereits über Tante Roses Lieblingssessel drapiert und einen Gin Tonic auf dem Kissen abgestellt, das ich in meinem letzten Jahr an der Highschool mit einem Fuchsjagdmotiv bestickt hatte, während meine Schwester auf der Jagd nach zweibeiniger Beute war.
»Was ist?« Sie blickte uns mit kaum verhohlener Abneigung entgegen. »Glaubt ihr nicht, dass sie mir die Hälfte ihrer alkoholischen Getränke hinterlassen hat?«
Es war typisch Janice, einen Streit vom Zaun zu brechen, obwohl gerade jemand gestorben war. Ich wandte ihr den Rücken zu und ging zur Terrassentür hinüber. Draußen standen Tante Roses geliebte Terrakottatöpfe aufgereiht wie ein Spalier von Trauernden. Die Blüten hingen tief herab. Ein ungewohnter Anblick. Sonst hatte Umberto den Garten immer perfekt im Griff, aber vielleicht war ihm nun, da es seine Arbeitgeberin und dankbare Zuhörerin nicht mehr gab, auch die Freude an seiner Arbeit abhanden gekommen.
»Es überrascht mich«, sagte Janice, während sie den Drink in ihrem Glas herumwirbeln ließ, »dass du noch da bist, Birdie. An deiner Stelle wäre ich längst in Vegas. Mit dem Silber.«
Umberto gab ihr keine Antwort. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, direkt mit Janice zu sprechen. Stattdessen sah er mich an. »Die Beerdigung ist morgen.«
»Ich kann nicht fassen«, meinte Janice, die ein Bein über die Armlehne baumeln ließ, »dass du das alles organisiert hast, ohne uns zu fragen.«
»Sie wollte es so.«
»Sonst noch was, das wir wissen sollten?« Janice befreite sich aus der Umarmung des Sessels und strich ihr Kleid glatt. »Ich nehme an, wir bekommen trotzdem alle unseren Anteil? Sie hat sich doch wohl nicht in irgendeine schräge Stiftung für verwaiste Haustiere verliebt, oder so was in der Art?«
»Jetzt halt mal die Luft an«, sagte ich in scharfem Ton. Für ein, zwei Sekunden sah es tatsächlich so aus, als hätte ich Janice damit in ihre Schranken verwiesen. Dann schüttelte sie meine Worte ab, wie sie es immer tat, und griff ein weiteres Mal nach der Ginflasche.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Ungeschickte spielte und dann erstaunt die perfekt gezupften Augenbrauen hochzog, um anzudeuten, dass sie keineswegs vorgehabt hatte, sich so viel einzuschenken. Während die Sonne am Horizont sank, würde Janice bald in einen Liegestuhl sinken und es anderen überlassen, die großen Fragen des Lebens zu beantworten, solange sie ihr nur ihre Drinks brachten.
Soweit ich mich erinnern konnte, war sie schon immer so gewesen: unersättlich. Als wir noch Kinder waren, reagierte Tante Rose stets mit einem erfreuten Lachen und dem Ausruf: »Würde man dieses Mädchen in ein Gefängnis aus Lebkuchen sperren, könnte sie sich problemlos einen Weg in die Freiheit fressen!« Als wäre Janices Gier ein Grund, stolz auf sie zu sein. Allerdings stand Tante Rose nun mal an der Spitze der Nahrungskette und hatte – im Gegensatz zu mir – nichts zu befürchten. Seit ich denken konnte, hatte Janice es stets geschafft, meine geheimen Bonbonvorräte aufzuspüren, egal, wie gut ich sie versteckte. Der Ostersonntagmorgen war in unserer Familie grundsätzlich eine traurige, grausame und vor allem kurze Angelegenheit, denn er endete unweigerlich damit, dass Umberto Janice ausschalt, weil sie meinen Anteil der Schokoeier gestohlen hatte, woraufhin Janice – der noch die Schokolade vom Mund tropfte – unter ihrem Bett hervorfauchte, er sei nicht ihr Daddy und habe ihr gar nichts zu sagen.
Das Frustrierende war, dass man es ihr nicht ansah. Ihre Haut gab ihre Geheimnisse nicht preis, sie wirkte so glatt wie der seidenmatte Zuckerguss auf einer Hochzeitstorte, und ihre Gesichtszüge waren so zart geformt wie kleine Marzipanfrüchte und -blumen, fast als hätte dort ein meisterlicher Konditor Hand angelegt. Weder Gin und Kaffee noch Scham oder Reue hatten diese schimmernde Fassade knacken könnten. Es war, als sprudelte in ihrem Inneren eine niemals versiegende Lebensquelle – als stünde sie jeden Morgen frisch verjüngt auf, erquickt vom Brunnen des ewigen Lebens: keinen Tag älter, kein Gramm schwerer, und noch immer erfüllt von einem Heißhunger auf die Welt.
Leider waren wir keine eineiigen Zwillinge. Auf dem Schulhof bekam ich mal mit, wie jemand mich als Bambi auf Stelzen bezeichnete. Obwohl Umberto darüber lachte und mir erklärte, das sei ein Kompliment, fühlte es sich nicht so an. Selbst als ich meine linkischste Zeit hinter mir hatte, blieb mir bewusst, dass ich neben Janice immer noch schlaksig und blutarm aussah. Egal, wohin wir gingen oder was wir taten, verglichen mit ihrer gesunden Farbe und ihrer überschwenglichen Art wirkte ich stets blass und verschlossen.
Jedes Mal, wenn wir gemeinsam einen Raum betraten, richteten sich die Scheinwerfer sofort auf sie, und obwohl ich direkt neben ihr stand, war ich nur ein weiteres Mitglied ihres Publikums. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an meine Rolle, beziehungsweise an die Tatsache, dass ich keine spielte. Ich musste mir nie Gedanken darüber machen, wie ich einen Satz zu Ende führen wollte, denn das übernahm unweigerlich Janice für mich. Wenn es doch einmal vorkam, dass mich jemand nach meinen Hoffnungen und Träumen fragte – meist war es irgendeine Nachbarin von Tante Rose, die sich beim Tee höflich danach erkundigte –, eilte mir Janice sofort zu Hilfe, indem sie mich zum Piano zerrte und dort den Versuch unternahm, etwas vorzuspielen, während ich ihr die Seiten umblättern durfte. Selbst jetzt, mit fünfundzwanzig, geriet ich bei Gesprächen mit Fremden noch immer ins Stocken und wand mich dann verlegen, in der verzweifelten Hoffnung, jemand möge mich unterbrechen, ehe ich für meinen Satz ein Verb finden musste.
Wir begruben Tante Rose bei strömendem Regen. Der Friedhof wirkte fast so schmutziggrau, wie ich mich innerlich fühlte. Während ich an ihrem Grab stand, vermischten sich die schweren Regentropfen, die aus meinem Haar herabfielen, mit den Tränen auf meinen Wangen. Die Papiertaschentücher, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, waren in meinen Taschen längst zu Brei geworden.
Ich hatte zwar die ganze Nacht geweint, aber nichts bereitete mich auf das Gefühl von Endgültigkeit vor, das mich überfiel, als der Sarg windschief in die Erde hinuntergelassen wurde. Solch ein großer Sarg für Tante Roses spindeldürren Körper … Nun bereute ich plötzlich, dass ich nicht darum gebeten hatte, ihre Leiche sehen zu dürfen, auch wenn sie selbst darauf keinen Wert gelegt hätte. Oder vielleicht doch? Womöglich beobachtete sie uns gerade von irgendeinem fernen Ort und hätte uns gerne wissen lassen, dass sie wohlbehalten angekommen war. Was für eine tröstliche Idee, und zugleich eine willkommene Ablenkung von der Realität. Ich wünschte, ich könnte daran glauben.
Die einzige Person, die am Ende der Beerdigung nicht aussah wie eine getaufte Maus, war Janice. Sie trug Plastikstiefel mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen und einen schwarzen Hut, der alles andere als Trauer signalisierte. Im Gegensatz zu ihr trug ich das, was Umberto irgendwann mal als mein »Attila, die Nonne«-Outfit bezeichnet hatte. Wenn die Botschaft von Janices Stiefeln und Ausschnitt »Alle her zu mir!« lautete, dann schrien meine klobigen Schuhe und mein zugeknöpftes Kleid definitiv: »Bleib mir bloß vom Leib!«
Eine halbe Handvoll Leute tauchten am Grab auf, aber nur Mr. Gallagher, unser Familienanwalt, blieb hinterher da, um mit uns zu reden. Weder Janice noch ich hatten ihn bisher persönlich kennengelernt, allerdings hatte Tante Rose so oft und so liebevoll von ihm gesprochen, dass der Mann selbst nur eine Enttäuschung darstellen konnte.
»Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie Pazifistin?«, wandte er sich an mich, während wir gemeinsam den Friedhof verließen.
»Jules genießt es, sich in den Kampf zu stürzen«, antwortete Janice, die munter zwischen uns dahinmarschierte und dabei die Tatsache ignorierte, dass von ihrer Hutkrempe Wasser auf uns beide herabtröpfelte, »und die Leute mit irgendwelchem Zeug zu bewerfen. Haben Sie gehört, was sie in Kopenhagen mit der kleinen Meerjungfrau …«
»Das reicht«, fiel ich ihr ins Wort und versuchte gleichzeitig, an meinem Ärmel einen trockenen Fleck zu finden, mit dem ich mir ein letztes Mal die Tränen aus den Augen wischen konnte.
»Ach, sei doch nicht so bescheiden! Du warst auf der Titelseite!«
»Und Ihr Geschäft läuft recht gut, wie ich höre?«, wandte sich Mr. Gallagher mit einem zaghaften Lächeln an Janice. »Es ist sicher eine große Herausforderung, alle glücklich zu machen?«
»Glücklich? Iieh!« Janice wäre beinahe in eine Pfütze getreten. »Glück stellt für meine Branche die schlimmste Bedrohung dar. Es dreht sich alles nur um Träume. Frustrationen. Phantastereien, die niemals Realität werden. Männer, die es nicht gibt. Frauen, die man niemals haben kann. Nur damit lässt sich Geld machen, Rendezvous für Rendezvous für Rendezvous –«
Janice sprach weiter, aber ich hörte ihr nicht mehr zu. Es war eine große Ironie des Schicksals, dass meine Schwester als Heiratsvermittlerin arbeitete, denn sie war so ziemlich der unromantischste Mensch, den ich kannte. Ungeachtet ihres Drangs, mit jedem zu flirten, waren Männer in ihren Augen kaum mehr als laute Elektrowerkzeuge, die man einsteckte, wenn man sie brauchte, und wieder aussteckte, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten.
Seltsamerweise wollte Janice schon als Kind geradezu obsessiv alles paarweise anordnen: zwei Teddybären, zwei Kissen, zwei Haarbürsten … Selbst wenn wir uns gestritten hatten, setzte sie abends unsere beiden Puppen nebeneinander ins Regal, manchmal sogar Arm in Arm. So gesehen war es vielleicht gar nicht verwunderlich, dass sie sich dazu entschlossen hatte, daraus einen Beruf zu machen. Wenn es darum ging, Leute zu Paaren zu sortieren, war sie ein richtiger Noah, aber im Gegensatz zu dem Alten aus der Bibel wusste sie längst nicht mehr, warum sie es tat.
Im Nachhinein war schwer zu sagen, ab wann sich die Dinge verändert hatten. Irgendwann während unserer Highschool-Zeit hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Traum zum Platzen zu bringen, den ich in Sachen Liebe je entwickelte. Während sie ständig den Freund wechselte und mit keinem länger zusammen war, als eine billige Strumpfhose hielt, bereitete es ihr ein besonderes Vergnügen, mich völlig zu verschrecken, indem sie alles und jeden so verächtlich und eklig beschrieb, dass ich mich fragte, wieso Frauen überhaupt etwas mit Männern zu tun haben wollten.
»Also«, verkündete sie am Abend unseres Abschlussballs, während sie mir rosarote Lockenwickler ins Haar drehte, »das ist deine letzte Chance.«
Ich starrte sie im Spiegel an. Obwohl mir ihr Ultimatum Rätsel aufgab, konnte ich nicht nachfragen, wie sie das meinte, weil mich eine ihrer mintgrünen Schlammmasken, die auf meinem Gesicht zu einer Kruste angetrocknet war, am Sprechen hinderte.
»Du weißt schon …«, fügte sie mit einer ungeduldigen Grimasse hinzu, »deine letzte Chance, dich endlich entjungfern zu lassen. Darum geht es doch beim Abschlussball. Warum glaubst du, dass die Jungs sich so fein machen? Weil sie tanzen wollen? Von wegen!« Sie warf mir im Spiegel einen Blick zu, um zu sehen, wie ihr Werk voranschritt. »Du weißt ja, was sie über dich sagen werden, wenn du es beim Abschlussball nicht machst. Dann bist du als prüdes Mauerblümchen abgestempelt. Niemand steht auf prüde Mauerblümchen.«
Am nächsten Morgen klagte ich über Magenschmerzen, und je näher der Ball rückte, um so schlimmer wurden meine Beschwerden. Am Ende war Tante Rose gezwungen, die Nachbarn anzurufen und ihnen zu erklären, dass ihr Sohn sich besser eine andere Tanzpartnerin für den Abend suchte. Janice wurde in der Zwischenzeit von einem Athleten namens Troy abgeholt und entschwand in der Rauchwolke seiner quietschenden Reifen.
Nachdem Tante Rose sich den ganzen Nachmittag mein Ächzen und Stöhnen hatte anhören müssen, drängte sie immer mehr darauf, mit mir ins Krankenhaus zu fahren – nur für den Fall, dass es sich um eine Blinddarmentzündung handelte. Umberto aber beruhigte sie und erklärte, ich hätte kein Fieber, und er sei sicher, dass es sich um nichts Ernstes handle. Als er später an diesem Abend noch einmal neben mein Bett trat und auf die Bettdecke herabblickte, unter der ich vorsichtig herauslugte, begriff ich, dass er mich längst durchschaut hatte und die Show, die ich gerade abzog, auf eine seltsame Art sogar gut fand. Wir wussten beide, dass an dem Nachbarsjungen an sich nichts auszusetzen war, er aber einfach nicht der Vorstellung entsprach, die ich mir von meinem zukünftigen Liebhaber machte. Und wenn ich schon nicht bekommen konnte, was ich wollte, ließ ich den Ball lieber sausen.
»Dick«, sagte Janice nun, während sie Mr. Gallagher mit einem seidenweichen Lächeln beglückte, »warum hören wir nicht auf, um den heißen Brei herumzureden? Wie viel?«
Ich versuchte gar nicht erst mich einzumischen. Schließlich würde sich Janice, sobald sie ihr Geld hatte, in die ewigen Jagdgründe der protzigen Möchtegernreichen absetzen, und ich brauchte ihren Anblick nie wieder zu ertragen.
»Nun ja«, antwortete Mr. Gallagher verlegen, während er auf dem Parkplatz direkt neben Umberto und dem Lincoln stehen blieb, »bedauerlicherweise steckt fast das gesamte Vermögen in Haus und Grundstück.«
»Hören Sie«, meinte Janice, »wir wissen doch alle, dass es bis auf den letzten Cent genau fifty-fifty geteilt wird, also sparen wir uns dieses Gerede. Sollen wir eine weiße Linie mitten durch das Haus ziehen? Meinetwegen, das können wir gerne machen. Oder …« Sie zuckte mit den Achseln, als wäre es ihr völlig egal, »wir verkaufen einfach die ganze Hütte und teilen das Geld. Wie viel?«
»In der Praxis sieht es so aus, dass Mrs. Jacobs letztendlich …« – Mr. Gallagher bedachte mich mit einem bedauernden Blick – »ihre Meinung geändert und beschlossen hat, alles Miss Janice zu hinterlassen.«
»Was?« Ich sah erst Janice, dann Mr. Gallagher und dann Umberto an, fand jedoch keinerlei Beistand.
»Du heilige Scheiße!« Janice grinste plötzlich über das ganze Gesicht. »Dann hatte die alte Dame also doch Sinn für Humor!«
»Selbstverständlich«, fuhr Mr. Gallagher mit hochgezogenen Augenbrauen fort, »ist eine gewisse Summe für Mister – für Umberto reserviert, und es ist auch die Rede von bestimmten gerahmten Fotografien, die Ihre Großtante gerne Miss Julia vermachen wollte.«
»Kein Problem«, entgegnete Janice, »ich habe heute meinen großzügigen Tag.«
»Moment mal …« Ich trat einen Schritt zurück, weil ich die Neuigkeiten erst mal verdauen musste, »das ergibt doch keinen Sinn.«
So lange ich denken konnte, hatte Tante Rose alles in ihrer Macht Stehende getan, um uns genau gleich zu behandeln. Lieber Himmel, ich hatte sie sogar dabei ertappt, wie sie die Pecannüsse in unserem Frühstücksmüsli zählte, um sicherzugehen, dass auch ja keine mehr bekam als die andere. Von dem Haus hatte sie stets so geredet, als würde es uns – eines Tages – gemeinsam gehören. »Ihr Mädels«, sagte sie immer, »müsst wirklich lernen, miteinander auszukommen. Ich werde schließlich nicht ewig leben. Wenn ich nicht mehr da bin, werdet ihr euch dieses Haus teilen, und den Garten auch.«
»Ich verstehe Ihre Enttäuschung …«, sagte Mr. Gallagher zu mir.
»Enttäuschung?« Am liebsten hätte ich ihn am Kragen gepackt, schob aber stattdessen die Hände in die Taschen, so tief ich konnte. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihnen das abkaufe. Ich möchte das Testament sehen.« Als ich ihm direkt in die Augen schaute, merkte ich, wie er sich unter meinem Blick wand. »Hinter meinem Rücken ist doch irgendetwas im Gange …«
»Du warst schon immer eine schlechte Verliererin«, bemerkte Janice, die meine Wut mit einem genüsslichen Lächeln quittierte, »und genau das ist gerade mal wieder im Gange.«
»Hier, bitte …« Mit zitternden Händen ließ Mr. Gallagher seinen Aktenkoffer aufschnappen und reichte mir ein Dokument. »Das ist Ihre Kopie des Testaments. Ich fürchte, da gibt es nicht viel zu beanstanden.«
Umberto fand mich zusammengekauert unter der Gartenlaube, die er mal für uns gebaut hatte, als Tante Rose mit Lungenentzündung das Bett hüten musste. Er ließ sich neben mir auf dem modrigen Boden nieder, ohne mein kindisches Verschwinden zu kommentieren. Stattdessen reichte er mir ein makellos gebügeltes Taschentuch und sah mir still dabei zu, wie ich mir die Nase putzte.
»Es geht mir nicht um das Geld«, brachte ich zu meiner Entschuldigung vor. »Hast du ihr höhnisches Grinsen gesehen? Hast du gehört, was sie gesagt hat? Tante Rose ist ihr völlig egal. Das war schon immer so. Wie ungerecht das ist!«
»Wer hat behauptet, das Leben sei gerecht?« Umberto zog die Augenbrauen hoch. »Ich bestimmt nicht.«
»Ich weiß! Ich verstehe nur nicht … Aber das ist mein Problem. Ich dachte immer, es wäre ihr ernst damit, uns beide gleich zu behandeln. Ich habe mir Geld geliehen …« Ich schlug die Hände vors Gesicht, um seinen Blick nicht sehen zu müssen. »Nein, sag es nicht!«
»Bist du fertig?«
Ich stöhnte. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie fertig ich mich fühle.«
»Gut.« Er reichte mir einen braunen Umschlag. »Weil sie nämlich wollte, das ich dir das hier gebe. Großes Geheimnis. Gallagher weiß nichts davon, und Janice auch nicht. Es ist nur für dich.«
Sofort war ich misstrauisch. Es sah Tante Rose überhaupt nicht ähnlich, mir hinter Janices Rücken etwas zukommen zu lassen. Andererseits war es auch völlig untypisch für sie, dass sie mich in ihrem Testament nicht berücksichtigt hatte. Offensichtlich hatte ich die Tante meiner Mutter doch nicht so gut gekannt, wie ich glaubte, und mich selbst lernte ich auch erst jetzt so richtig kennen. Wie konnte ich nur hier sitzen – ausgerechnet an diesem ganz speziellen Tag – und wegen Geld weinen. Obwohl Tante Rose bereits Ende fünfzig war, als sie uns damals adoptierte, war sie immer wie eine Mutter zu uns gewesen. Ich sollte mich schämen, darüber hinaus noch etwas von ihr zu erwarten.
Als ich den Umschlag schließlich öffnete, fand ich darin drei Dinge: einen Brief, einen Pass und einen Schlüssel.
»Das ist ja mein Pass!«, rief ich aus, »wie hat sie …?« Ich sah mir die Seite mit dem Bild genauer an. Es war definitiv ein Foto von mir, und auch mein Geburtsdatum, aber der Name stimmte nicht. »Giulietta? Giulietta Tolomei?«
»So heißt du in Wirklichkeit. Deine Tante hat deinen Namen ändern lassen, als sie dich damals aus Italien herbrachte. Den von Janice auch.«
Ich starrte ihn verblüfft an. »Aber warum denn? … Wie lange weißt du das schon?«
Er senkte den Blick. »Lies doch einfach den Brief.«
Ich faltete die zwei Blätter auseinander. »Hast du das geschrieben?«
»Sie hat es mir diktiert.« Umberto lächelte traurig. »Sie wollte sichergehen, dass du es lesen kannst.«
In dem Brief stand Folgendes:
Liebste Julia,
Umberto hat den Auftrag, Dir diesen Brief nach meiner Beerdigung zu geben. Das heißt dann wohl, dass ich tot bin. Nun ja, ich weiß, dass Du immer noch wütend auf mich bist, weil ich nie mit Euch nach Italien gefahren bin, aber glaub mir, es war zu Eurem eigenen Besten. Wie hätte ich mir je verzeihen können, wenn Euch Mädchen etwas passiert wäre? Inzwischen aber bist Du älter, und in Siena gibt es etwas, das Dir Deine Mutter hinterlassen hat. Dir allein. Ich weiß nicht, warum, aber so war Diane nun mal, Gott hab sie selig. Sie ist dort auf etwas gestoßen, und vermutlich befindet es sich immer noch dort. Nach dem zu urteilen, was sie darüber erzählt hat, ist es viel wertvoller als alles, was ich je besessen habe. Deswegen habe ich beschlossen, auf diese Weise vorzugehen und Janice das Haus zu überlassen. Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten all das vermeiden und Italien einfach vergessen, doch allmählich komme ich zu dem Schluss, dass es nicht richtig von mir wäre, es Dir zu verschweigen.
Wie auch immer, Du musst diesen Schlüssel nehmen und die Bank im Palazzo Tolomei aufsuchen. In Siena. Ich glaube, er gehört zu einem Schließfach. Deine Mutter hatte ihn in ihrer Handtasche, als sie starb. Sie hatte in Siena einen Finanzberater, einen Mann namens Francesco Maconi. Mach ihn ausfindig und sag ihm, dass Du Diane Tolomeis Tochter bist. Ach ja, da ist noch etwas. Ich habe eure Namen ändern lassen. Dein richtiger Name lautet Giulietta Tolomei. Aber wir sind hier in Amerika. Ich dachte mir, Julia Jacobs wäre praktischer, doch wie sich herausgestellt hat, kann auch das keiner richtig schreiben. Was ist bloß aus der Welt geworden? Nein, ich darf mich nicht beschweren, ich hatte ein gutes Leben. Dank Euch. Ach ja, noch etwas: Umberto wird Dir einen Pass mit Deinem richtigen Namen besorgen. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas anstellt, aber das macht nichts, wir überlassen es einfach ihm.
Ich möchte diesen Brief nicht als Abschied verstanden wissen. So Gott will, sehen wir uns wieder. Trotzdem wollte ich dafür sorgen, dass Du bekommst, was Dir rechtmäßig zusteht. Pass dort drüben bloß gut auf Dich auf. Denk daran, was Deiner Mutter passiert ist. Italien ist manchmal ein sehr seltsames Land. Deine Urgroßmutter wurde dort geboren, aber sie wollte nie mehr zurück! Verrate niemandem, was ich Dir geschrieben habe. Und versuche mehr zu lächeln. Du hast ein so schönes Lächeln, wenn Du Dich mal dazu durchringst.
Alles Liebe und Gottes Segen,
Deine Tante
Es dauerte eine Weile, bis ich mich von dem Brief erholt hatte. Beim Lesen konnte ich fast hören, wie Tante Rose ihn diktierte. Sie klang im Tod noch genauso herrlich zerstreut, wie sie es zu Lebzeiten gewesen war. Als Umbertos Taschentuch schließlich seinen Dienst getan hatte, wollte er es nicht zurück. Stattdessen forderte er mich auf, es mit nach Italien zu nehmen, damit ich etwas hatte, das mich an ihn erinnerte, wenn ich meinen großen Schatz fand.
»Jetzt hör aber auf!« Ich schneuzte mich ein letztes Mal. »Wir wissen doch beide, dass es keinen Schatz gibt!«
Er griff nach dem Schlüssel. »Bist du denn gar nicht neugierig? Deine Tante war überzeugt davon, dass deine Mutter etwas von ungeheurem Wert entdeckt hatte.«
»Warum hat sie mir dann nicht schon eher davon erzählt? Warum hat sie gewartet, bis sie …« Ratlos hob ich die Arme. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
Umberto kniff die Augen zusammen. »Sie wollte es dir ja erzählen, aber du warst nie da.«
Ich rieb mir das Gesicht, hauptsächlich, um seinem vorwurfsvollen Blick auszuweichen. »Selbst wenn sie recht hatte, kann ich unmöglich nach Italien zurück. Man würde mich dort sofort einsperren. Du weißt doch, dass sie zu mir gesagt haben …«
Genau genommen hatten sie – die italienische Polizei – weitaus mehr zu mir gesagt, als ich Umberto je erzählt hatte, aber er kannte immerhin die Grundzüge der Geschichte. Er wusste, dass ich in Rom einmal bei einer Antikriegsdemonstration verhaftet worden war und eine sehr unangenehme Nacht in einem römischen Gefängnis verbracht hatte, ehe man mich im Morgengrauen aus dem Land warf und aufforderte, nie wieder zurückzukommen. Er wusste auch, dass das Ganze nicht meine Schuld gewesen war. Mit achtzehn hatte ich lediglich den dringenden Wunsch verspürt, nach Italien zu reisen und das Land zu sehen, in dem ich geboren war.
Als ich damals an meinem College vor dem schwarzen Brett stand und wehmütig die bunten Plakate betrachtete, mit denen für Studienreisen und teure Sprachkurse in Florenz geworben wurde, war ich auf ein kleines Poster gestoßen, auf dem der Krieg im Irak und alle daran teilhabenden Länder scharf verurteilt wurden. Wie ich aufgeregt feststellte, gehörte auch Italien zu diesen Ländern. Der untere Teil des Plakats bestand aus einer Liste mit Daten und Flugzielen. Jeder, der sich für die Sache interessierte, war eingeladen mitzumachen. Eine Woche in Rom – inklusive Flug – würde mich nicht mehr als vierhundert Dollar kosten, was genau dem Betrag entsprach, den ich noch auf meinem Konto hatte. In meiner Naivität ahnte ich nicht, dass der niedrige Preis nur dadurch zustande kam, dass wir mit ziemlicher Sicherheit nicht die ganze Woche bleiben würden und die Kosten für den Rückflug und die letzte Übernachtung – falls alles nach Plan lief – von den italienischen Behörden übernommen werden würden, beziehungsweise vom italienischen Steuerzahler.
Ohne ganz begriffen zu haben, worin Sinn und Zweck der Reise eigentlich bestanden, schlich ich ein paarmal um das Plakat herum, ehe ich schließlich unterschrieb. Als ich mich nachts im Bett herumwarf und grübelte, wusste ich plötzlich, dass ich die falsche Entscheidung getroffen hatte und sie möglichst schnell rückgängig machen musste. Am nächsten Morgen erzählte ich Janice davon. Sie verdrehte bloß die Augen und sagte: »Hier ruht Jules, die zwar kein tolles Leben hatte, aber einmal fast nach Italien gereist wäre.«
Offenbar musste ich da einfach durch.
Als vor dem italienischen Parlament die ersten Steine flogen – geschleudert von zwei meiner Mitreisenden, Sam und Greg –, wäre ich am liebsten wieder zu Hause gewesen und hätte mir ein Kissen über den Kopf gezogen. Aber ich steckte wie alle anderen in der Menge fest, und nachdem die römische Polizei genug hatte von unseren Steinen und Molotow-Cocktails, wurden wir alle mit Tränengas getauft.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir durch den Kopf schoss: Ich könnte jetzt sterben. Während ich auf dem Asphalt lag und die Welt – Beine, Arme, Erbrochenes – nur noch durch einen Nebel aus Schmerz und Fassungslosigkeit wahrnahm, vergaß ich vollkommen, wer ich war und wo ich hinwollte. Vielleicht war es in früheren Jahrhunderten auch den Märtyrern so ergangen, jedenfalls entdeckte ich einen anderen Ort – einen Ort, der weder Leben noch Tod war. Dann aber kehrten sowohl der Schmerz als auch die Panik zurück, und nach einem kurzen Moment fühlte es sich definitiv nicht mehr wie ein religiöses Erlebnis an.
Noch Monate später fragte ich mich, ob ich mich von den Ereignissen in Rom je ganz erholt hatte. Sooft ich mich zwang, darüber nachzudenken, quälte mich dieses nagende Gefühl, dass bei der Frage, wer ich war, irgendwo eine entscheidende Gedächtnislücke klaffte – etwas war auf dem italienischen Asphalt verschüttgegangen und nie wieder zum Vorschein gekommen.
»Stimmt.« Umberto schlug den Pass auf und betrachtete mein Foto. »Zu Julia Jacobs haben sie gesagt, dass sie nicht mehr zurück nach Italien darf. Aber was ist mit Giulietta Tolomei?«
Das musste ich erst mal verdauen: Ausgerechnet mein Umberto, der noch immer mit mir schimpfte, weil ich mich wie ein Blumenkind kleidete, drängte mich nun, gegen das Gesetz zu verstoßen. »Willst du damit sagen …?«
»Warum glaubst du, habe ich dieses Ding hier machen lassen? Es war der letzte Wunsch deiner Tante, dass du nach Italien fliegst. Brich mir nicht das Herz, Principessa.«
Der aufrichtige Ausdruck in seinen Augen ließ mich erneut mit den Tränen kämpfen. »Und was ist mit dir?«, fragte ich schroff. »Warum kommst du nicht mit? Wir könnten den Schatz gemeinsam suchen. Und wenn wir ihn nicht finden, zum Teufel damit. Dann werden wir eben Piraten und machen gemeinsam die Meere unsicher …«
Umberto streckte die Hand aus und berührte mich ganz sanft an der Wange, als wüsste er, dass ich, wenn ich erst einmal weg war, niemals zurückkommen würde. Und sollten wir uns doch irgendwann wiedersehen, dann bestimmt nicht mehr so wie hier, wo wir gemeinsam in einem Kinderversteck hockten und der Welt draußen den Rücken zukehrten. »Es gibt ein paar Dinge«, sagte er leise, »die eine Prinzessin alleine tun muss. Erinnerst du dich an das, was ich dir gesagt habe … dass du eines Tages dein Königreich finden wirst?«
»Das war doch nur eine Geschichte. Das Leben ist nicht so.«
»Alles, was wir sagen, ist eine Geschichte. Aber nichts davon ist nur eine Geschichte.«
Da ich noch immer nicht bereit war, ihn gehen zu lassen, schlang ich fest die Arme um ihn. »Und du? Du willst doch wohl nicht hierbleiben, oder?«
Umberto blickte zu den tröpfelnden Brettern hinauf. »Ich glaube, Janice hat recht. Für den alten Birdie wird es Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Ich sollte mit dem Silber nach Vegas durchbrennen. Bei meinem Glück dürfte ich damit gerade mal eine Woche auskommen. Vergiss also nicht mich anzurufen, wenn du deinen Schatz gefunden hast.«
Ich legte den Kopf an seine Schulter. »Du wirst der Erste sein, der es erfährt.«
Zieh nur gleich vom Leder:
Da kommen zwei aus dem Hause der Montagues
Seit ich denken konnte, hatte Tante Rose alles in ihrer Macht Stehende getan, um Janice und mich von einer Italienreise abzuhalten. »Wie oft muss ich euch noch sagen«, schnaubte sie immer, »dass das kein Ort für brave Mädchen ist?«
Später, als sie begriff, dass sie ihre Taktik ändern musste, schüttelte sie nur noch den Kopf, wenn jemand das Thema anschnitt, und fasste sich ans Herz, als würde allein schon der Gedanke daran sie dem Tode nahe bringen. »Glaubt mir«, sagte sie dann jedes Mal mit matter Stimme, »Italien ist eine einzige große Enttäuschung, und die italienischen Männer sind Schweine!«
Mich hatten ihre unerklärlichen Vorurteile gegenüber dem Land, in dem ich geboren war, immer geärgert, doch nach meiner Erfahrung in Rom gelangte ich mehr oder weniger zu derselben Meinung: Italien war eine Enttäuschung, und im Vergleich mit den Italienern – zumindest den uniformierten Exemplaren – kam die Gattung Schwein ziemlich gut weg.
Auf ähnliche Weise fertigte Tante Rose uns jedes Mal, wenn wir sie nach unseren Eltern fragten, mit derselben alten Geschichte ab. »Wie oft muss ich euch noch sagen«, stöhnte sie dann frustriert, weil wir sie mal wieder störten, während sie den Krimskrams auf dem Kaminsims zurechtrückte oder angetan mit ihren kleinen Baumwollhandschuhen, die ihre Haut vor Druckerschwärze bewahrten, die Zeitung las, »dass eure Eltern bei einem Autounfall in der Toskana ums Leben gekommen sind, als ihr beide drei Jahre alt wart?« Zum Glück für Janice und mich – so ging die Geschichte weiter – waren Tante Rose und der arme Onkel Jim, Gott hab ihn selig, in der Lage gewesen, uns sofort nach der Tragödie zu adoptieren. Zusätzlich hatten wir auch noch das Glück, dass sie beide niemals eigene Kinder bekommen konnten. Wir sollten dankbar sein, dass wir nicht in einem italienischen Waisenhaus voller Flöhe gelandet waren und jeden Tag Spaghetti essen mussten. »Seht euch doch mal an!«, beschwor sie uns. Immerhin durften wir als verzogene Gören auf einem schönen Anwesen in Virginia leben. Da war es doch wohl das Mindeste, dass wir im Gegenzug aufhörten, unsere Tante Rose mit Fragen zu quälen, auf die sie keine Antworten hatte. Und vielleicht war eine von uns so lieb, ihr jetzt, da ihre Gelenke wegen unserer Fragerei mal wieder heftig schmerzten, einen weiteren Minz-Cocktail zu machen?
Während ich nun in dem Flugzeug nach Europa saß, auf den nächtlichen Atlantik hinunterstarrte und mich an vergangene Auseinandersetzungen erinnerte, wurde mir schlagartig bewusst, dass mir alles an Tante Rose fehlte, nicht nur ihre guten Eigenschaften. Wie gerne hätte ich noch einmal eine Stunde mit ihr verbracht, selbst wenn sie die ganze Stunde lang gezetert hätte. Jetzt, da sie nicht mehr lebte, konnte ich kaum noch nachvollziehen, wie sie mich je hatte auf die Palme bringen können, und ich dachte traurig daran, wie viele kostbare Stunden ich mit verbohrtem Schweigen vergeudet hatte, während ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen hatte.
Wehmütig wischte ich mir eine Träne von der Wange und sagte mir, dass solch reuevolle Gedanken Zeitverschwendung waren. Ja, ich hätte ihr öfter schreiben sollen, und ja, ich hätte sie öfter anrufen und ihr sagen sollen, dass ich sie lieb hatte, aber dafür war es nun zu spät. Die Sünden der Vergangenheit ließen sich nicht mehr sühnen.
Zusätzlich zu meinem Kummer plagte mich noch etwas anderes. Düstere Vorahnungen? Nicht notwendigerweise. Düstere Vorahnungen haben mit der Angst zu tun, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Mein Problem war eher, nicht zu wissen, ob überhaupt etwas passieren würde. Es war durchaus denkbar, dass die ganze Reise in einer einzigen Enttäuschung enden würde. Gleichzeitig aber wusste ich, dass es nur eine einzige Person gab, die ich für die Klemme verantwortlich machen konnte, in der ich nun steckte: mich selbst.
Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass ich eines Tages die Hälfte von Tante Roses Vermögen erben würde, und hatte daher gar nicht erst versucht, mir selbst eines zu erarbeiten. Während andere Mädchen mit sorgfältig manikürten Händen die rutschige Karriereleiter hinaufgekletterten, suchte ich mir nur Jobs, die mir Spaß machten – wie zum Beispiel als Betreuerin in Shakespeare-Sommerlagern –, weil ich genau wusste, dass früher oder später Tante Roses Erbe meine wachsenden Kreditkartenschulden ausgleichen würde. So kam es, dass ich nun ziemlich mies dastand, abgesehen von einem ominösen Erbe in einem weit entfernten Land – die Hinterlassenschaft einer Mutter, an die ich mich kaum erinnern konnte.
Nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte, war ich nirgendwo richtig sesshaft geworden, sondern hatte bei diversen Freunden aus der Antikriegsbewegung auf der Couch geschlafen, bis ich mal wieder einen Shakespeare-Job ergatterte. Aus irgendeinem Grund waren die Stücke des Barden das Einzige, was sich je in meinem Kopf festsetzte – und sooft ich es auch las, bekam ich einfach nie genug von Romeo und Julia.
Hin und wieder unterrichtete ich Erwachsene, viel lieber aber Kinder und Jugendliche, vielleicht, weil ich mir ziemlich sicher war, dass sie mich mochten. Man merkte das schon allein daran, dass sie immer von den Erwachsenen sprachen, als gehörte ich nicht zu dieser Spezies. Es machte mich glücklich, dass sie mich als eine der ihren akzeptieren, auch wenn ich durchaus begriff, dass das im Grunde kein Kompliment war. Es bedeutete nur, dass sie mich im Verdacht hatten, nie richtig erwachsen geworden zu sein, und dass ich sogar noch mit meinen fünfundzwanzig Jahren wie eine linkische Jugendliche rüberkam, die sich abmühte, die in ihrer Seele tosende Poesie zum Ausdruck zu bringen oder, noch öfter, zu verschweigen.
Es erwies sich als wenig hilfreich für meine Karriere, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie meine Zukunft aussehen sollte. Wenn mich jemand fragte, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, wusste ich nie, was ich antworten sollte. Sooft ich versuchte, mir mich selbst in fünf Jahren vorzustellen, sah ich nur eine große, schwarze Leere. In düsteren Momenten interpretierte ich diese bedrohliche Dunkelheit als Zeichen dafür, dass ich jung sterben würde und mir meine Zukunft nur deswegen nicht vorstellen konnte, weil ich keine hatte. Meine Mutter war jung gestorben, ebenso meine Großmutter – Tante Roses jüngere Schwester. Aus irgendeinem Grund meinte es das Schicksal nicht gut mit uns, so dass ich jedes Mal, wenn ich in Betracht zog, mich längerfristig festzulegen, sei es nun beruflich oder wegen meiner Wohnung, in letzter Sekunde einen Rückzieher machte, weil mich der Gedanke verfolgte, dass es mir sowieso nicht vergönnt sein würde, ein derartiges Projekt zu Ende zu bringen.
Jedes Mal, wenn ich an Weihnachten oder im Sommer nach Hause zurückkam, bat Tante Rose mich unauffällig, doch lieber bei ihr zu bleiben, als weiterhin so ziellos vor mich hin zu leben. »Du weißt ja, Julia«, sagte sie dann, während sie abgestorbene Blätter von einer Zimmerpflanze zupfte oder einen Engel nach dem anderen an den Weihnachtsbaum hängte, »dass es dir jederzeit offen steht, für eine Weile hier zu bleiben. Dann könntest du in Ruhe darüber nachdenken, was du mit deinem Leben anfangen möchtest.«
Doch auch wenn ich manchmal versucht war, ihr Angebot anzunehmen, wusste ich gleichzeitig, dass es nicht ging. Janice stand dort draußen auf eigenen Füßen, verdiente Geld mit ihrer Partnervermittlung und hatte sich eine schöne Wohnung mit Blick auf einen künstlichen See gemietet. Wäre ich wieder zu Hause eingezogen, hätte ich damit automatisch anerkannt, dass sie gewonnen hatte.
Nun sah die Situation natürlich völlig anders aus. Zurück in Tante Roses Haus zu ziehen, stand für mich nicht mehr zur Debatte. Die Welt, die mir vertraut war, gehörte jetzt Janice, und mir blieb nur der Inhalt eines braunen Umschlags. Während ich in dem Flugzeug saß, ein weiteres Mal Tante Roses Brief las und aus einem Plastikbecher Wein trank, wurde mir plötzlich bewusst, wie abgrundtief einsam ich mich fühlte, seit sie nicht mehr da war und ich auf der Welt nur noch Umberto hatte.
Schon als junges Mädchen war es mir schwergefallen, Freundschaften zu schließen. Janice dagegen hätte wahrscheinlich Probleme gehabt, alle ihre Busenfreundinnen in einen Doppeldeckerbus hineinzupferchen. Jedes Mal, wenn sie abends mit ihrer kichernden Meute loszog, schlich Tante Rose eine Weile nervös um mich herum, angeblich auf der Suche nach ihrer Lupe oder dem Stift, den sie am liebsten für ihre Kreuzworträtsel verwendete. Irgendwann ließ sie sich dann neben mir auf dem Sofa nieder und tat, als interessiere sie sich für das Buch, das ich gerade las. Aber das nahm ich ihr nie ab.
»Du weißt ja, Julia«, begann sie, während sie ein paar Staubkörner von meiner Schlafanzughose zupfte, »dass ich mich gut allein beschäftigen kann. Wenn du mit deinen Freundinnen ausgehen möchtest …«
Ihr Vorschlag hing jedes Mal eine Weile in der Luft, bis ich mir schließlich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte. Die Wahrheit war, dass ich gar nicht aus Mitleid mit Tante Rose zu Hause blieb, sondern weil mir nichts am Ausgehen lag. Sooft ich mich von jemandem in eine Bar schleppen ließ, wurde ich am Ende immer von allerlei schrägen Typen und Hohlköpfen belagert, die alle zu glauben schienen, dass wir Teil einer Märchenaufführung waren, bei der ich mich – noch ehe der Abend vorüber war – für einen von ihnen entscheiden musste.
Der Gedanke an Tante Rose, die so oft neben mir gesessen und mich auf ihre liebevolle Art ermuntert hatte, mir ein eigenes Leben aufzubauen, versetzte mir einen weiteren Stich ins Herz. Während ich bedrückt in die Dunkelheit hinausstarrte, ertappte ich mich dabei, wie ich mich fragte, ob diese ganze Reise vielleicht als eine Art Bestrafung gedacht war, weil ich sie so schlecht behandelt hatte. Vielleicht würde Gott das Flugzeug zum Abstürzen bringen, um mir eine Lektion zu erteilen. Oder er ließ zu, dass ich es bis nach Siena schaffte, um mich dann herausfinden zu lassen, dass jemand anderer mir den Familienschatz vor der Nase weggeschnappt hatte.
Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker wurde mein Verdacht, dass Tante Rose zu Lebzeiten nie darüber gesprochen hatte, weil das Ganze Blödsinn war. Vielleicht hatte sie am Schluss einfach den Verstand verloren, so dass sich der angebliche Schatz genauso gut als reines Wunschdenken entpuppen konnte. Und selbst wenn wider Erwarten tatsächlich etwas von Wert in Siena zurückgeblieben war, nachdem wir vor gut zwanzig Jahren das Land verlassen hatten, wie standen dann die Chancen, dass es sich noch dort befand? Wenn ich so die Bevölkerungsdichte in Europa und den Einfallsreichtum der Menschheit im Allgemeinen betrachtete, wäre es doch sehr überraschend, im Zentrum des Labyrinths noch ein Stück vom Käse zu finden, wenn – oder falls – ich irgendwann bis dorthin vordrang.
Während des langen, schlaflosen Flugs baute mich nur ein einziger Gedanke auf: dass ich mich mit jedem Minidrink, den mir das lächelnde Bordpersonal reichte, ein Stück weiter von Janice entfernte. Bestimmt tanzte sie gerade in dem Haus herum, das nun ganz allein ihr gehörte, und lachte über mein Unglück. Sie hatte keine Ahnung, dass ich nach Italien reiste, keine Ahnung, dass unsere arme alte Tante Rose mich auf Schatzsuche geschickt hatte. Wenigstens darüber konnte ich froh sein. Denn falls bei meiner Reise nichts Brauchbares herauskam, zog ich es definitiv vor, dass sie nicht zur Stelle war, um über mich zu triumphieren.
Bei unserer Landung in Frankfurt hieß uns fast so etwas wie Sonnenschein willkommen, so dass ich in Flip-Flops von Bord schlurfte. Meine Augen waren vom vielen Weinen geschwollen, und in meinem Hals steckte noch ein Stück Apfelstrudel. Der Anschlussflug nach Florenz ging erst in zwei Stunden. Sobald ich am entsprechenden Gate angekommen war, streckte ich mich auf drei Stühlen aus, schob mir meine Makramee-Handtasche unter den Kopf und schloss die Augen. Falls jemand mit dem restlichen Gepäck abhaute, war mir das egal. Ich fühlte mich viel zu müde, um mir deswegen Gedanken zu machen.
Irgendwo zwischen Schlafen und Wachen spürte ich plötzlich, wie eine Hand über meinen Arm strich.
»Ahi, ahi …«, sagte eine Stimme, die nach einer Mischung aus Kaffee und Rauch klang, »mi scusi!«
Als ich die Augen aufschlug, sah ich, dass neben mir eine Frau saß und hektisch Brösel von meinem Ärmel wischte. Während meines Nickerchens hatte sich der Raum um mich herum gefüllt. Die Leute starrten mich an wie eine Obdachlose – mit einer Mischung aus Verachtung und Mitgefühl.
»Keine Sorge«, sagte ich, während ich mich aufsetzte, »ich bin sowieso völlig am Ende.«
»Hier!« Sie bot mir die Hälfte ihres Croissants an, vielleicht als eine Art Wiedergutmachung. »Bestimmt haben Sie Hunger.«
Sie klang derart freundlich, dass ich sie überrascht anstarrte. »Danke.«
Die Frau als elegant zu bezeichnen, wäre eine grobe Untertreibung gewesen. Alles an ihr war perfekt aufeinander abgestimmt, nicht nur die Farbe ihres Lippenstifts und ihres Nagellacks, sondern auch die goldenen Käfer auf ihren Schuhen, ihrer Handtasche und dem kleinen Hut, der keck auf ihrem perfekt frisierten Haar saß. Ihr amüsiertes Lächeln bestätigte meinen Verdacht, dass sie jeden Grund hatte, zufrieden mit sich zu sein. Wahrscheinlich war sie steinreich oder zumindest mit einem steinreichen Mann verheiratet. Jedenfalls sah sie aus, als hätte sie keine andere Sorge auf der Welt, als ihre erfahrene Seele mit einem sorgsam konservierten Körper zu tarnen.
»Sie sind unterwegs nach Florenz?«, fragte sie mich mit starkem Akzent, der aber ausgesprochen bezaubernd klang. »Um sich die sogenannten Kunstwerke anzusehen?«
»Genau genommen will ich nach Siena«, antwortete ich mit vollem Mund. »Ich bin dort geboren, aber seitdem nicht mehr dort gewesen.«
»Wie wundervoll!«, rief sie aus. »Aber auch seltsam! Warum waren Sie denn so lange nicht mehr da?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Heraus damit! Sie müssen mir alles genau erzählen.« Als sie mein Zögern bemerkte, streckte sie mir die Hand hin. »Bitte entschuldigen Sie. Ich bin sehr neugierig. Mein Name ist Eva Maria Salimbeni.«
»Julia – Giulietta Tolomei.«
Sie fiel fast vom Stuhl. »Tolomei? Sie heißen Tolomei? Ich fasse es nicht! Das ist doch unmöglich! Moment mal … wo sitzen Sie? Ich meine, im Flugzeug? Lassen Sie mal sehen …« Sie warf einen Blick auf meine Bordkarte und nahm sie mir dann einfach aus der Hand. »Moment! Warten Sie hier!«
Ich sah ihr nach, wie sie an den Schalter trat, und fragte mich, ob das wohl ein ganz normaler Tag im Leben von Eva Maria Salimbeni war. Vermutlich versuchte sie gerade, einen anderen Platz für mich zu organisieren, damit wir während des Fluges nebeneinandersitzen konnten. Dem Lächeln nach zu urteilen, mit dem sie zurückkehrte, war sie erfolgreich gewesen. »E voilà!« Sie reichte mir eine neue Bordkarte. Nachdem ich einen Blick darauf geworfen hatte, konnte ich ein erfreutes Kichern nur knapp unterdrücken. Damit wir unser Gespräch fortsetzen konnten, musste ich natürlich in die erste Klasse umziehen.
Als wir erst einmal in der Luft waren, brauchte Eva Maria nicht lange, um mir meine Geschichte zu entlocken. Die einzigen Punkte, die ich ausließ, waren meine doppelte Identität und der angebliche Schatz meiner Mutter.
»Dann wollen Sie also nach Siena, um … um sich den Palio anzusehen?«, meinte sie schließlich mit schief gelegtem Kopf.
»Den was?«
Meine Frage ließ sie vor Überraschung nach Luft schnappen. »Den Palio! Das Pferderennen. Siena ist berühmt für das Palio-Pferderennen. Hat Ihnen denn der Hausdiener Ihrer Tante – dieser kluge Alberto – nie davon erzählt?«
»Umberto«, korrigierte ich sie. »Doch, ich glaube schon. Mir war allerdings nicht klar, dass es immer noch stattfindet. Als er davon sprach, hörte sich das nach einem mittelalterlichen Spektakel an, mit Rittern in schimmernder Rüstung und solchem Zeug.«
»Die Geschichte des Palio«, antwortete Eva Maria mit einem zustimmenden Nicken, »reicht zurück bis in die …« – sie musste erst nach dem richtigen Wort suchen – »… die Dunkelheit des Mittelalters. Heutzutage findet das Rennen auf der Piazza del Campo vor dem Rathaus statt, und die Reiter sind professionelle Jockeys. Man nimmt jedoch an, dass es sich ursprünglich um Edelleute handelte, die auf ihren Schlachtrössern die ganze Strecke von ihren Ländereien bis in die Stadt ritten und sich auf dem Platz vor der Kathedrale von Siena versammelten.«
»Das klingt ja hochdramatisch«, stellte ich fest. Ich war immer noch verblüfft über ihre freundliche Art, aber vielleicht betrachtete sie es als ihre Pflicht, Fremde über Siena aufzuklären.
»Oh!« Eva Maria verdrehte die Augen. »Es handelt sich dabei um das größte Drama unseres Lebens. Monatelang können die Leute von Siena über nichts anderes reden als über Pferde und Rivalen und Verträge mit dem einen oder anderen Jockey.« Sie schüttelte begeistert den Kopf. »Wir nennen es eine dolce pazzia … einen süßen Wahnsinn. Wenn man ihn erst einmal spürt, will man nie wieder weg.«
»Umberto hat immer gesagt, Siena lasse sich nicht erklären«, antwortete ich. Plötzlich wünschte ich, er wäre auch da und könnte dieser faszinierenden Frau zuhören. »Man müsse dort sein und die Trommeln hören, um es verstehen zu können.«
Eva Maria lächelte so huldvoll wie eine Königin, die gerade ein Kompliment entgegennahm. »Er hat recht. Man muss es fühlen …« – sie berührte mich mit einer Hand an der Brust – »und zwar da drin.« Bei jeder anderen Person wäre mir diese Geste höchst unangebracht erschienen, aber Eva Maria war die Sorte Frau, die sich so etwas leisten konnte.
Während die Stewardess uns Champagner nachschenkte, erzählte mir meine neue Freundin mehr über Siena. »Damit Sie nicht in Schwierigkeiten geraten«, meinte sie augenzwinkernd. »Touristen geraten immer in Schwierigkeiten«, fuhr sie fort. »Sie begreifen nicht, dass Siena nicht einfach Siena ist, sondern aus siebzehn unterschiedlichen Vierteln – oder contrade – besteht, die alle ihr eigenes Gebiet, ihre eigene Gerichtsbarkeit und ihr eigenes Wappen haben.« Eva Maria stieß verschwörerisch mit mir an. »Wenn man nicht weiß, wo man ist, braucht man sich nur die kleinen Porzellanschilder an den Hausecken anzusehen. Sie verraten einem, in welcher Contrade man sich gerade befindet. Ihre Familie, die Tolomeis, gehören zur Contrade der Eule, und Ihre Verbündeten sind der Adler und das Stachelschwein und … die anderen habe ich vergessen. Für die Leute von Siena dreht sich das Leben um diese Contrade, diese Stadtteile. Sie sind deine Freunde, deine Gemeinschaft, deine Verbündeten, aber auch deine Rivalen. Jeden Tag des Jahres.«
»Meine Contrade ist also die Eule«, wiederholte ich amüsiert, weil Umberto mich hin und wieder eine missmutige Eule genannt hatte, wenn ich schlechter Laune war. »Und wie heißt Ihre Contrade?«
Zum ersten Mal seit Beginn unseres langen Gesprächs wandte Eva Maria den Kopf ab. Meine Frage hatte sie aus dem Konzept gebracht. »Ich habe keine Contrade«, antwortete sie schließlich verächtlich. »Meine Familie wurde schon vor vielen Jahrhunderten aus Siena verbannt.«
Lange bevor wir in Florenz landeten, beharrte Eva Maria darauf, mich nach Siena zu fahren. Es liege direkt an der Strecke in das Orcia-Tal, wo sie zu Hause sei, erklärte sie mir, so dass ihr das keinerlei Umstände bereite. Ich antwortete, dass es mir nichts ausmache, den Bus zu nehmen, aber sie hielt offensichtlich nicht viel von öffentlichen Verkehrsmitteln. »Dio santo!«, rief sie, weil ich mich weiterhin weigerte, ihr Angebot anzunehmen, »warum wollen Sie denn unbedingt auf einen Bus warten, der nie kommt, wenn Sie genauso gut mich begleiten und dabei höchst bequem im neuen Wagen meines Patensohnes mitfahren können?« Als sie merkte, dass sie mich fast so weit hatte, lächelte sie charmant und beugte sich zu mir herüber, um das letzte, entscheidende Argument vorzubringen: »Giulietta, ich wäre so enttäuscht, wenn wir unser nettes Gespräch nicht noch ein bisschen länger fortsetzen könnten.«