Die Geheimnisse älterer Damen - Cristina Sánchez-Andrade - E-Book

Die Geheimnisse älterer Damen E-Book

Cristina Sánchez-Andrade

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Beschreibung

»Es wird Zeit, dass wir verschwinden.« Mit diesen Worten beginnt die letzte Reise der Witwe Olvido Fandiño und ihres Dienstmädchens Bruna. In einem klapprigen VW-Käfer-Cabrio und mit einem großen ominösen Gegenstand, den die beiden Achtzigjährigen hinten ins Auto wuchten, machen sie sich auf den Weg – Doña Olvido am Steuer, die stolze Besitzerin des ersten Führerscheins, der in Santiago de Compostela jemals an eine Frau vergeben wurde; die stets mäkelnde Bruna auf dem Beifahrersitz, in ihrem alten Brautkleid, das nie zum Einsatz kam, weil ihr Verlobter nicht zur Hochzeit erschien. Die beiden Frauen, die ihr ganzes Leben zusammen verbracht haben und trotz ihrer ständigen Streitereien unzertrennlich sind, verbindet ein dunkles Geheimnis. Es hat nicht nur mit Olvidos verstorbenen Ehemann und dessen äußerst exzentrischer Familie zu tun – zu der ein Schaufensterpuppen sammelnder Bruder und eine Mutter mit einem Putztick zählte –, sondern auch mit den geheimen Liebschaften Brunas, die als junge Frau ins Haus der Familie Fandiño kam. Auf ihrer Reise über Galiciens Landstraßen reihen sich kuriose Ereignisse und düstere Erinnerungen aneinander. Denn der Weg dieser beiden mysteriösen Damen ist mit Leichen gepflastert – Kollateralschäden des Lebens, wenn man so will – und endet schließlich an einem Bergsee, in dessen stillen Wassern der Grund für alles ruht …

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Impressum ePUB

www.thiele-verlag.com

Übersetzung aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

Die Übersetzung dieses Buches wurde mit freundlicher Unterstützung von Acción Cultural Española, AC/E realisiert.

 

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 by Cristina Sánchez-Andrade

vermittelt durch Pontas Literary & Film Agency

© 2017 by Editorial Anagramma, S.A., Barcelona

Die Originalausgabe erschien bei Editorial Anagramma, S.A., Barcelona

Titel der spanischen Originalausgabe: Alguin bajo los párpados

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe:

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien

Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim am Rhein

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Textbeginn

DANKSAGUNG

Wenn man keine Angst mehr vor dem Sterben hat,

beginnt die Angst, nicht zu sterben.

Gerald Brenan

Eines Morgens im November betrat Bruna im Nachthemd mit schlurfenden Schritten, zerzaustem Haar und starrem Blick das Schlafzimmer ihrer Herrin. Obwohl das Haus riesig war, schlief Doña Olvido Fandiño in einer kleinen, kaum zu belüftenden Kammer mit nackten Wänden, eisernem Bettgestell, Kruzifix und einem Nachttisch mit einem Fach für den Nachttopf. In dem Zimmer herrschte ein ganz eigener Geruch – eine Mischung aus dem öligen Duft von Magnolien, Gesichtspuder, Medizin und alter ­Wäsche. Das betagte Dienstmädchen schaltete die Nachttischlampe ein und legte sich, ohne ein Wort neben ihre Herrin ins Bett, zog die Decke bis unters Kinn und löschte dann wieder das Licht. So lagen die beiden alten Frauen stumm nebeneinander und staunten den Mond an, dessen schimmernder Glanz durchs Fenster fiel und lange Schatten warf.

Das Zusammenspiel von Licht und Schatten ließen die eine Hälfte von Brunas rundlicher Gestalt dunkel und hart wie Pappelholz erscheinen, während die dem Fenster zugewandte Seite leuchtete wie von einem Heiligenschein umgeben. Doña Olvido wollte gerade wieder die Augen schließen, als sie plötzlich noch einmal aufschreckte, den Arm ihres Dienstmädchens packte und sagte:

»Meine Füße sind nass und kalt, Bruna. Ich bin schon zu lange auf dem Grund des Sees gelaufen. Es wird Zeit zu gehen.«

Sie sprach ganz ruhig, doch ihre Hand hielt den Arm des Dienstmädchens umklammert, und in ihrer Stimme schwang der seltsam drängende Ton eines Vorgefühls. Sie lebten nun seit beinahe sechzig Jahren zusammen. Die eine konnte kaum sehen, war verschrumpelt wie eine alte Kartoffel und ihre Vorstellung von der Zukunft war wie die eines Huhns; die andere hatte Gedächtnislücken, nur noch eine Niere und ihre Knie knarrten wie rostige Türangeln. Dennoch lebten sie allein.

Sie teilten das Essen miteinander, das Fernsehprogramm, gute und schlechte Nachrichten, die Schmerzen in der Blase, ihre Marotten und ihre Erinnerungen. Sogar den Geruch von Trostlosigkeit, der das ganze Haus durchzog. Doña Olvido wusste, dass die falschen weißen Zähne ihres Dienstmädchens an einigen Stellen abgebrochen waren wie die Fliesen im Bad. Und das Dienst­mädchen kannte jede Falte der mittlerweile riesengroßen Ohren ihrer Herrin, die immer noch weiter zu wachsen schienen und ­deren Ohrläppchen mit der Zeit mehr und mehr erschlafften.

Bruna befreite sich von der eisernen Klaue ihrer Herrin und sah sie aus glasigen Augen traurig an.

»Heute?«, fragte sie. »Aber ich habe die Bohnen eingeweicht …«

Sie hatten schon oft darüber gesprochen, über diegroße Reise, wie sie es nannten, doch immer ganz allgemein, so wie man über den Flug der Zugvögel redete oder die Pilgerfahrt der Jungfrau Egeria ins Heilige Land.

Außerdem schien nie der richtige Moment zu kommen. Entweder hatte ein Termin beim Arzt dagegen gesprochen oder die letzte Folge einer spannenden Telenovela, die sie gerade im Fernsehen sahen, oder eben die für das Mittagessen eingeweichten Bohnen. Und schließlich hatten sie jede Menge Zeit, all die Zeit, die ihnen noch blieb, ja. Aber was, wenn eine von ihnen unterdessen starb?

Das war ihre größte Sorge: der Tod, der sie gleichzeitig erschreckte und faszinierte.

Bruna setzte einen Fuß auf den Boden, dann den anderen, rieb sich mit den Händen energisch durchs Gesicht und stand auf. Sie ging zur Tür, wobei sie die Haarnadeln in ihrem zerzausten Dutt feststeckte, als ihre Herrin, die sich bereits einen Schal über das hochgerutschte Nachthemd gewickelt hatte und in Wollstrümpfen und mit wirrem Haar, den Abdruck des Kissens noch auf ihrer Wange, auf dem Bett saß, erneut das Wort ergriff.

»Sag der Milchfrau, dass wir heute nichts brauchen«, meinte sie.

Bruna zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Sie hatte ihr Gebiss noch nicht im Mund. Man hätte ihr Alter schwer schätzen können: Ein paar Jahre jünger als Doña Olvido vielleicht, doch ihr Gesicht wirkte, als wäre die Zeit irgendwann stehen geblieben. Ihr drahtiges graues Haar ließ die dunkle Farbe von einst noch erahnen, und ihr immer noch glattes Gesicht hatte irgendwann die Konsistenz von altem Leder angenommen.

»Geh eine Reisetasche holen, eine kleine«, fuhr Doña Olvido fort. »Und sieh nach, ob du eine gebügelte Bluse für mich findest. Und du, zieh den Kittel aus und dein Sonntagskleid an. Und kämm dich mal«, fügte sie nachdrücklich hinzu, wobei sie mit dem Finger ärgerlich in Brunas Richtung stach. »Hier muss alles sauber und ordentlich sein, damit die Leute uns nicht für Schmutzfinken halten. Hast du den Philodendron gegossen?«

Das Dienstmädchen legte die Hand auf die Türklinke.

»So gegen elf machen wir uns auf den Weg«, meinte ihre Herrin.

Bruna wandte sich um. Ihre Augen leuchteten kurz auf, bevor sie wieder dunkel wie trübes Tümpelwasser wurden. »Aber ich habe die Bohnen …«, begann sie. »Ach was!«, sagte sie dann und verließ die Schlafkammer.

 

Und genau so begann es. Die große Reise. An einem windstillen grauen Morgen, an dem nicht einmal ein Vogel zu sehen war.

 

»Bruna, kommst du jetzt?! Du bist nun schon seit drei Stunden da drin zugange«, rief Doña Olvido. »Was machst du denn so lange? Bist du fertig?«

Aus der Küche war das Klappern von Kesseln zu hören. Die Geräusche von Tiegeln und Töpfen. Von Wasser, das aus dem Hahn lief. Öl, das in der Pfanne zischte. Unverständliches Murren und Brummen. Bruna murmelte ununterbrochen vor sich hin, wobei ihre Lippen von gegenwärtigen und vergangenen Dingen ­sprachen. In der Küche hatte sie sich stets geborgen gefühlt; sie mochte die warmen Dämpfe, das saftige Fleisch oder die ­feuchten Innereien der Fische. Die Küche war ihr Universum, und um sechs Uhr morgens kochte bereits das Wasser für den Tintenfisch, wurden die Zwiebeln in der Pfanne mit frischem Öl angebraten. Hier verbrachte sie den größten Teil des Tages. Ganz allein für sich sprach sie leise vor sich hin, schnitt die harte Rinde vom Brot ab, lutschte Feigen oder knabberte geröstete Kastanien.

Jetzt erschien sie mit einem Messer, einem Stößel und einem riesigen Kessel im Arm und brummte:

»Ich hab uns Empanadas mit Schnetzelfleisch gemacht, zum Mitnehmen.«

Den Kessel hatte sie mit einem Paket Kaffee, Milch, Schinken, ein paar Empanadas, einer Dose Sardinen, Tetilla-Käse, Würsten, Brot, einem Glas Diät-Erdbeermarmelade und einer Handvoll bereits weicher Bohnen gefüllt. Sie stellte ihn auf den Tisch in der Eingangshalle und ging, um noch mehr Dinge zu holen. Emsig wie eine Ameise, eilte sie hin und her, während sie unablässig mit sich selbst redete, trug Kisten mit Fotos, Kerzen, ein Grammophon, eine mit Intarsien versehene Truhe, einen Besen und allen möglichen Krempel heran und stapelte alles neben dem Kessel auf.

Wie ein kleines Mädchen schleppte sie all das heran, was sie mitnehmen wollte. Hin und wieder legte sie den Kopf in den ­Nacken und blickte ins Leere. So verharrte sie nachdenklich wie eine Maus, die, von einem Geräusch aufgeschreckt, mit nervös ­bebenden Nasenflügeln innehält, bevor sie die Suche fortsetzt.

Doña Olvido trat näher und warf einen mitleidigen Blick auf das Sammelsurium. Dann ging sie ein wenig in die Knie, bis sie sich auf gleicher Höhe wie ihr Dienstmädchen befand, und wies mit dem Kinn auf den Reißverschluss ihres Rocks, der sich in dem halb hochgeschobenen Nachthemd verklemmt hatte. Bruna tastete nach dem Reißverschluss und zog daran, bis er sich löste. Doña Olvido knackten die Knie, doch nach mehreren Versuchen war der Reißverschluss endlich zu.

»Du weißt ganz genau, dass wir all das nicht mitnehmen werden.« Sie blickte auf den Kessel und das andere Zeug. »Hast du der Milchfrau Bescheid gesagt?«, fragte sie, während sie sich mit einem leisen Stöhnen streckte. »Und was, um Himmels willen, willst du mit dem Messer?«

»Na, was wohl?«

»Also – was?«

»Ihnen unterwegs die Augen ausstechen!«

Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber sprachen, was sie mitnehmen würden. Sie hatten es all die Jahre über getan, von dem Moment an, seit sie den Plan gefasst hatten, und sie waren nie übereingekommen, vor allem, weil Bruna nur unnütze Dinge einfielen.

»Verstehst du denn nicht?«, meinte Doña Olvido. »Wozu brauchst du einen Koffer voller Fotos? Oder Conchitas uraltes kaputtes Grammophon, zumal du niemals Musik hörst? Warum willst du einen Berg an Wurstbroten mitnehmen, die niemand essen wird? Oder willst du ein Wurstbrot essen? Ich jedenfalls nicht!«

Viele Nachmittage über hatten sie sich gezankt, wobei es vordergründig darum gegangen war, was sie mit auf diegroße Reise nehmen würden, doch der wahre Grund war ein anderer: Diese Zankereien weckten den alten egoistischen Argwohn in ihren Seelen, und beide nutzten die Gelegenheit, um sich für irgendein genauso eingebildetes wie dämliches Unrecht zu rächen.

»Und wenn Sie plötzlich Hunger kriegen?«, gab Bruna jetzt postwendend zurück. »Erinnern Sie sich nicht, wie furchtbar es ist, Hunger zu leiden?«

»Ich habe niemals Hunger gelitten, Bruna. Du schon. Und das ist der Unterschied. Der Unterschied zwischen dir und mir.«

»Ach was«, beschwerte sich Bruna.

»Was heißt hier ›ach was‹?«, fragte Doña Olvido.

»Einfach nur ›ach was‹. Ich habe einfach nur ›ach was‹ gesagt.«

»Was wir dagegen unbedingt mitnehmen sollten, ist …«, fuhr Doña Olvido fort, und das war der Moment, in dem Bruna – nur damit die Señora nicht erwähnte, was sie unbedingt mitnehmen mussten –, mit ihrer Litanei begann, wie schön es doch gewesen war, als sie noch in ihrem eigenen Haus gelebt hatte, das ganz neu gewesen war und ein Bad und eine Toilette hatte, damals, als sie mit dem Scherenschleifer verheiratet war. Dem Scherenschleifer, der …

»Hör auf mit dem verdammten Scherenschleifer!«, schnitt Doña Olvido ihr das Wort ab.

Der Scherenschleifer hatte nur, um sie zu heiraten, seine Arbeit aufgegeben. Warum hatte sie ihn nur so bald schon wieder verlassen? In gewisser Weise war sie noch immer verliebt in ihn. Sie hatte ihn geliebt, aber nun war er tot. Tot und begraben mit all seinen Messern und Scheren, begrüßte er jeden neuen Tag in dem neuen Hemd mit der roten Borte, die Bruna selbst für ihn gestickt hatte.

»Tot über das Leben und das Ende hinaus«, wie Bruna immer sagte.

Endlich ging sie und machte sich daran, den Boden zu fegen, die Teller zu spülen und in den Schrank einzuräumen. Zehn Minuten später kam sie mit trippelnden Schritten zurück und fragte sanft, ob die Señora vielleicht einen Kaffee oder einen Tee wolle; keine von beiden erinnerte sich noch daran, worüber sie gestritten hatten.

Doña Olvido trat in ihr Schlafzimmer, um sich zu kämmen, und Bruna folgte ihr, hob die Kleidungsstücke auf, die auf dem Boden verstreut lagen, und leerte den Nachttopf. Während Doña Olvido sich ihre Frisur richtete, nutzte sie die Gelegenheit, um das Bett zu machen – wobei sie sich zwischendurch kurz hinsetzen musste, um zu verschnaufen.

»Sag mal …«, meinte Doña Olvido, während sie, die Haarnadeln zwischen den Lippen, ihr Haar aufsteckte.

»Was?«, entgegnete Bruna, während sie nach der Fußsalbe griff.

»Ich weiß nicht, warum du dir noch die Mühe machst, das Bett herzurichten …«

Doña Olvido setzte sich und hob ächzend ein Bein an. Bruna nahm es und legte es auf den Nachttisch. Sie zog den Strumpf aus und begutachtete den Fuß ihrer Herrin, dessen Haut so rissig war wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Dann öffnete sie die Salbendose, strich etwas davon auf die Ferse und begann, die Salbe einzumassieren, während sie selbst auf Knien vor der Señora hockte.

»Du weiß ja, was wir mitnehmen müssen …« Doña Olvido verstummte, als ob ihr plötzlich etwas eingefallen wäre oder als ob es ein geheimes Einverständnis gäbe, dass sie an dieser Stelle schweigen müsse.

Auch das Dienstmädchen hielt in der Bewegung inne, und mit Panik im Blick sahen sie sich stumm an. Brunas Brustkorb hob und senkte sich. Ein ersticktes Keuchen, das wie das Schnaufen einer Lokomotive klang, war das Einzige, was in diesem Moment zu hören war. Doña Olvido Fandiño konnte den Hauch regelrecht spüren, der wie ihre eigene Angst durchs Zimmer waberte. Bruna musste sich hinsetzen. Auf dem Boden kauernd, senkte sie den Kopf und hielt sich den Arm vor die Augen.

»Das ist der Zucker«, sagte sie nach einer Weile.

»Hast du etwa noch von dem Milchreis gegessen, den du gestern gemacht hast?«, fragte die Señora, deren Bein noch immer ausgestreckt auf dem Nachttisch lag, wobei sie heftig mit den Zehen wackelte.

»Ich hab keinen Milchreis gegessen.«

»Mantecadas oder sonst ein süßes Gebäck?«

Bruna nahm den Arm von den Augen.

»Nicht eine. Ich schwör’s bei meiner Mutter.«

»Deine Bauchspeicheldrüse ist wie ein trockener Schwamm. Keine Ahnung, warum du mit den Spritzen aufgehört hast, die der Arzt dir verordnet hat …«

Doña Olvido hob den Strumpf vom Boden auf und fächelte ihrem Dienstmädchen damit Luft zu, in dessen Gesicht allmählich wieder die Farbe zurückkehrte. Bruna tastete nach der Salbe und begann erneut die Hornhaut ihrer Herrin zu massieren. Doña Olvido nutzte die Gelegenheit.

»Es ist an der Zeit, das Ding herauszunehmen. Du weißt schon …«, insistierte sie.

»Ich weiß gar nichts.«

»Unten im Schrank, neben der Kleidung …«

Bruna hielt erneut inne.

»Unten im Schrank ist keine Kleidung, Señora …« Sie fuhr mit ihrer Massage fort.

»Doch … Die Sachen, die nur selten benutzt werden. Hast du das vergessen?«

Bruna drückte einen der Zehen, hob den Kopf und blickte starr geradeaus. Dann sagte sie:

»Es ist ungerecht, dass Sie das von mir verlangen, Señora. Sie wissen ganz genau, was beim letzten Mal passiert ist, als wir das alte Ding herausnehmen wollten …«

»Du tust mir weh. Wir hatten das bereits besprochen, Bruna. Wir waren uns einig, dass wir es mitnehmen.« Doña Olvido seufzte. »Was sollten wir auch sonst machen? Du bist die ganze Nacht durch meine Träume gewandelt, Bruna. Auch du hast nasse, kalte Füße, das weiß ich.«

Bruna blickte weiterhin ins Leere, dann zuckte sie mit den Schultern, zog einen Flunsch wie ein kleines Mädchen und gab dem Fuß ihrer Herrin einen kleinen Klaps. Sie zog Doña Olvido die Strümpfe wieder an, murmelte etwas vor sich hin, das wie »Sie erinnert sich offenbar an gar nichts mehr« klang, und stand auf. Sie verschwand im Flur, der zur Treppe führte – eine kleine Gestalt, die aussah wie ein Spatz, gleichzeitig entschieden und resigniert voranschritt und dabei ihre Litanei von Klagen murmelte. Kurz drauf hörte Doña Olvido, wie Bruna hinkend die Treppe ­hinabstieg.

»Sei vorsichtig!«, rief sie. »Das Ding ist tückisch.«

Sie seufzte erleichtert. Stand auf. Nahm ihre Tasche, zog ihren Bisampelzmantel an und verließ das Zimmer.

Nun war sie bereit, die Reise anzutreten. Sie würden auf­brechen, sobald Bruna das Ding heraufgebracht hatte.

Denn das war das Einzige, was sie wirklich mitnehmen mussten.

Alles andere konnten sie sich sparen.

Doña Olvido ging mit erhobenem Kopf langsam durch den Flur und stieg die Treppe hinunter. Unruhigen Schrittes betrat sie den Salon und sah sich ein letztes Mal darin um. Der Salon war ein imposanter Raum mit Facettenwänden aus geschliffenem Holz, Mahagonimöbeln mit Intarsien aus Perlmutt, einem Kristalllüster, einem Tisch mit langer Tischdecke und Kohlebecken darunter und knarrendem Eichenparkett. Ein Raum mehr in dem Haus mit der weißen Fassade und der Galerie, das ihr Schwiegervater, den sie nie kennengelernt hatte, vor hundert Jahren hatte bauen lassen, zu jener Zeit, als Santiago de Compostela noch eine Stadt mit Außenbezirken, verschiedenen Vierteln, Glockenturm und vielen Dörfern gewesen war, mit Straßen und Plätzen, die noch nicht asphaltiert waren. An der Seite ihrer sturen, hinkenden, mit Decken beladenen Maultiere hatten die Vorfahren aus Gondollín, die in La Rioja mit Stoffen handelten, irgendwann beschlossen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Glück in Santiago zu versuchen. Nach und nach war es ihnen, dank ihres natürlichen Gespürs für gute Geschäfte, gelungen, die erste Kleiderfabrik der Stadt aufzubauen. Und einige Jahre später hatten ihre Einkünfte es ihnen erlaubt, Lagerhäuser im ganzen Land zu errichten.

An der holzgetäfelten Wand hingen jede Menge Bilder: Doña Olvidos Mann, lächelnd, ihre Schwägerin und ihr Schwager, ihre Schwiegermutter.

Der kleine Cristino, in Samt und Spitze gekleidet, eine Puppe in der Hand, vor einer Landschaftstapete im Fotostudio, eine Spielzeugkarre schiebend.

Conchita, ganz in Weiß, am Tag ihrer Erstkommunion.

Sie selbst am Tag ihrer Hochzeit noch mit eindringlichem, ein wenig verträumtem Blick.

Es war die einzige Fotografie, auf der sie selbst zu sehen war.

Noch einmal ihre Schwägerin und der Schwager. Ihre Schwiegermutter, in Schwarz gekleidet.

Ihre Tochter.

Etwas von all diesen Menschen war für immer in den dunklen Winkeln des Hauses zurückgeblieben, in den von Mäusen angenagten Dachbalken, dem knarrenden Holzboden und dem kalten Metall der Türklinken. Noch immer, nach all den Jahren, hörte Doña Olvido in dem Trippeln der Mäuse auf dem Speicher das unterdrückte Lachen ihrer Schwiegermutter und in den im Wind leise klappernden Fensterläden die Opern-Arien, die ihre Schwägerin auf dem Grammophon hatte abspielen lassen. Die Gegenwart all dieser Menschen durchzog das Haus wie ein Flüstern; Erinnerungen, die in der Stille anwuchsen und wie die Holzwürmer alles durchbohrten und von innen her aushöhlten.

Vor einem der Fotos, auf dem die Familie und Bruna beim mittäglichen Mahl zu sehen waren, blieb sie gedankenverloren stehen. Für eine Weile verharrte sie stumm, wie versteinert, bis die Glockenschläge der Kathedrale von Santiago de Compostela zu ihr herüberwehten.

Da erst richtete sie ihren Blick zum Fenster.

Der Tag war grau und wolkenverhangen. In der Ferne hörte man das Geschrei der Möwen.

Immer wieder ihr wildes Lachen, Krah.

Kra-haah! Kra-ha-haah!

Es war seltsam, sie hier zu hören, so weit weg vom Meer, doch in letzter Zeit schienen sie überall zu sein, überflogen die Praza de Quintana und die Toten, die, weiß wie Schnee, unter ihr ruhten, den Turm der Kathedrale, die steinernen Brunnen, aus denen sie tranken; weiße Vögel, die kreischend am Himmel kreisten und sich wie Ratten auf den Abfall der Straßen stürzten, auf Reste von Garnelen und Orangenschalen und Brotkrumen; Vögel der Angst, Möwen im Parque da Alameda, die sich in den Haaren der kleinen Mädchen verfingen und wie Raben krächzten.

Das Kind iiiiist in meinen Augen, schienen sie zu sagen, und Doña Olvido erschauderte ein wenig, während sie draußen auf Bruna wartete.

Die beiden alten Frauen hatten oft über die aufsässigen Möwen gesprochen; Doña Olvido beharrte darauf, dass sie von all dem Schmutz angezogen wurden, diesem ganzen Müll, und dass es früher niemals Möwen in Santiago gegeben habe, und Bruna meinte daraufhin, dass diese Vögel entsetzliche Schreihälse ­seien und dass sie ihre Schreie morgens, wenn sie noch im Bett lag, manchmal für das Weinen von Kindern hielt.

Das Geschrei der Möwen störe sie im Schlaf, beschwerte sie sich.

Und dann erzählte sie, dass die Möwen in ihrem Dorf, als sie noch ein kleines Mädchen war, gejagt wurden; man machte ihnen mit Steinen den Garaus, um sie dann, in Gemüse gegart, zu verzehren.

 

Bruna ließ immer noch auf sich warten, und Doña Olvido wurde allmählich unruhig. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, Bruna allein die verteufelte Treppe hinunterzuschicken, um das Ding zu holen – mit einem Blutzucker von vierhundertzweiunddreißig. Der Arzt hatte Bruna eine Diät verordnet, an die sie sich jedoch nicht hielt. Und sich selbst Spritzen geben wollte sie auch nicht. Was sie dagegen liebte, waren Diät-Marmeladen und Bonbons ohne Zucker, das schon.

Was, wenn sie tot umfiele?

Vor kurzem erst hatte Bruna ihr einen fürchterlichen ­Schrecken eingejagt. Wie jeden Tag nach dem Essen hatten sich die beiden alten Damen gemeinsam die Nachrichten angesehen (»Guten Abend«, sagte der Moderator; »Guten Abend«, antworteten beide im Duett), die eine vom Sofa aus, die andere, auf einem Stuhl sitzend, die Arme vor der Brust verschränkt. Nach den Nachrichten kam die Telenovela, und das war der Höhepunkt des Tages; auch wenn sie kaum etwas verstanden, verfolgten sie aufmerksam die Handlung, was jedes Mal in einem anschließenden Streit darüber endete, wer von den Darstellern recht hatte und wer nicht. Bis Bruna schließlich nach der Fernbedienung griff, sich mit steifen Knien erhob, das Gerät auf den Fernseher richtete und den Sender wechselte.

Sie sahen sich auch gern Starsky & Hutch an, Drei Engel für Charlie, Curro Jiménez – der andalusische Rebell, die Zeichentrickserien auf dem Zweiten, Alexander Prächtig, der singende Hund, Tom und Jerry, Wile E. Coyote … vor allem Road Runner und Wile E. Coyote, den »dummen Vogel«, wie Bruna ihn nannte. Besonders diese Serie heizte die Gemüter der beiden alten Damen an. »Er hat Hunger«, verteidigte das Dienstmädchen den Kojoten, er muss den Vogel fressen.« »Der hat doch keinen Hunger!«, gab Doña Olvido zurück.

Um die Diskussion zu beenden, schickte Doña Olvido Bruna dann los, um irgendeine Besorgung zu machen: »Geh, und kauf ein Päckchen Zucker.« »Hol ein paar Steckrübenstängel für morgen.« Oder: »Geh Brot holen.« Und das Dienstmädchen zog sich den Mantel an und verließ aufgekratzt das Haus. Doch an jenem Tag, dem mit dem Schrecken, war sie länger als gewöhnlich weggeblieben, und Doña Olvido begann, sich Sorgen zu machen. Schließlich hatte sie vom Balkon geschaut und gesehen, wie eine Gruppe Leute eilig die Straße heraufkam und einen scheinbar leblosen Körper mit sich schleppte. So schnell sie konnte, war sie die Treppe hinuntergestürzt und hatte die Tür aufgerissen. Da war ihr Dienstmädchen wieder: Das Gesicht runzlig wie eine trockene Feige, hing sie mit steifen Beinen zu einer Seite, eine Hand baumelte lose herab, die andere hielt das Brot umklammert, mit verdrehten Augen und hochgerutschtem Rock, sodass die mit Krampfadern überzogenen Schenkel zu sehen waren.

Als Doña Olvido Bruna so sah, war ihr mit einem Schlag klar geworden, dass mit deren Krankheit nicht zu spaßen war. War sie etwa tot? »Bringt sie rauf! Bringt sie rauf, um Gottes willen!«

In dieser Situation war Doña Olvido zum ersten Mal äußerst unangenehm bewusst geworden, dass Brunas Tage gezählt waren und dass niemand in diesem Haus das Dienstmädchen jemals gut behandelt hatte. Im Laufe der Jahre waren sie von ihren Diensten abhängig geworden und hatten ihr immer schwerere Aufgaben zugemutet, sie härter arbeiten lassen, als ihrem Alter angemessen gewesen wäre. Auch sie selbst hatte nie ein nettes Wort zu ihr gesagt, ihr niemals ein Geschenk gemacht oder sich bei ihr für ihren unermüdlichen Eifer bedankt; sie hatte lediglich auf sie herabgesehen, mit ihr geschimpft und ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihr überlegen war. Unterdessen war Bruna immer schweigsamer geworden, mürrisch, und ihr Rücken immer krummer.

Sie war immer kleiner geworden.

Woher kam wohl diese absurde Neigung, das, was ihr das Kostbarste war, derart gering zu schätzen? Als sie Bruna dann so halbtot vor sich gesehen hatte, hätte sie ihr gern gesagt, dass sie der wichtigste Mensch in ihrem Leben war und dass sie beide ganz allein, ohne irgendeine fremde Hilfe, in ihrem Alter und mit ihren ganzen Erinnerungen und Illusionen, mit dem übersäuerten Magen der einen und den trüben Augen der anderen, am Ende ihren Weg finden würden.

Doch sie hatte nichts davon gesagt.

Sie hatten Bruna die Treppe hinaufgetragen, als diese plötzlich die Augen öffnete. Allerdings sprach sie nicht; ihre Nase lief, und ihrer Kehle entrang sich ein ersticktes Glucksen. Oben angelangt, wies Doña Olvido die Leute an, sie aufs Bett zu legen. Brunas Mund stand offen, und ohne ihr Gebiss zitterte ihre hervorstehende Unterlippe im Rhythmus ihres Atems.

Zwei oder drei Frauen begannen, sie zu entkleiden, und verpassten ihr gleich mehrere Ohrfeigen, damit sie wieder zu sich kam. Weg mit dem Hemd, weg mit dem Unterrock. Auch Doña Olvido ließ die Gelegenheit zur Ohrfeige nicht ungenutzt verstreichen. Als schließlich die erste Kleidungsschicht entfernt war, wichen alle mit einem erschreckten »Ohhh« zurück und hielten sich die Nasen zu, denn Brunas Körper entströmte der süßliche Geruch von getrocknetem Thunfisch. Zwischen der Kleidung hatten sich jede Menge Essensreste angesammelt: ein verschimmeltes Stück Chorizo, Hack von Zwiebeln und Thunfisch, ein Stückchen Ei. Außerdem war es nicht möglich, ihr die Hand zu öffnen, um den Laib Brot, den sie noch immer umklammert hielt, daraus zu lösen. Bruna starrte an die Decke und bewegte mit glückseligem Gesichtsausdruck die Lippen. So verblieb sie den Rest des Tages über: halb nackt, auf dem Bett liegend, das Brot im Arm wie ein Kind.

Ein nasses, totes Kind.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, erinnerte sie sich nur noch daran, dass sie in einen Tümpel gefallen war und jemand versucht hatte, ihr das Brot zu stehlen. Der Arzt kam, um nach ihr zu sehen, und das Erste, was er sagte, war, dass sie ein wenig dickleibig sei und auf ihr Gewicht achten müsse, woraufhin Bruna entgegnete, dass sich in ihrem Körper lediglich Flüssigkeit angesammelt habe.

»Klar hat die sich angesammelt«, kommentierte die Señora mit lauter Stimme, »vor allem Béchamel- und Tomatensauce.«

Während der Untersuchung starrte Bruna ununterbrochen auf das Stethoskop, das Blutdruckmessgerät und die Spritzen, die der Arzt in seiner Tasche hatte. Hin und wieder hob sie den Kopf und sagte:

»Kommen Sie nur ja nicht auf den Gedanken, mich zu operieren!«

Oder:

»Ich werde keinen Rollator benutzen!«

Oder

»Jetzt reicht’s, ich werde mir keinen einzigen Tropfen Blut mehr abnehmen lassen!«

»Sei doch still!«, sagte Doña Olvido. »Siehst du nicht, dass du den Doktor bei der Arbeit störst?«

»Seien Sie still!«, entgegnete das Dienstmädchen frech. »Ich weiß genau, was mir fehlt.«

»Das, was du meinst, dass dir fehlt, ist genau das, was dir nicht fehlt.«

Als der Arzt fertig war, wollte er wissen, womit sie sich täglich beschäftige. Er drehte sich um und sah auch Doña Olvido an. Dann fragte er, was Bruna im Haus tue.

»Arbeiten«, antwortete Doña Olivo mit schrägem Blick, »was sonst …?«

»Arbeiten?«, meinte der Arzt daraufhin. »Diese Frau hat weder das richtige Alter noch die Gesundheit, um zu arbeiten. Gibt es niemanden, der sich um sie kümmert? Einen jüngeren Familienangehörigen …?«

Daraufhin stützte sich Bruna mit den Ellbogen auf und begutachtete den Arzt mit ihren halb blinden, kindlich blickenden Augen, um ihm dann zu erklären, dass sie durchaus eine sehr liebe Nichte habe, Carmucha, die sie bereits mehrfach aufgefordert hatte, dieses Haus zu verlassen und zu ihr zu ziehen, und die im Krankheitsfall sogar ausreichend Bettwäsche und ungetragene Nachthemden für sie habe.

Bereits in der Tür hatte der Arzt Doña Olvido schließlich erklärt, dass Bruna, wenn sie nicht bald etwas tue und ihr Leben nicht radikal ändere (genau dieses Wort hatte er benutzt, radikal), in wenigen Monaten sterben würde.

Als die Señora anschließend wieder in Brunas Zimmer trat, war diese äußerst nervös und wollte wissen, was der Arzt noch gesagt habe.

»Dass du noch hundert Jahre leben wirst«, antwortete ihre Herrin daraufhin.

All dies kam Doña Olvido nun wieder in den Sinn, und während sie sich ausmalte, was ihrem Dienstmädchen allein im Dunkeln dort unten widerfahren könnte, erschauderte sie. Sie streckte den Kopf in die Öffnung über der Treppe. Von unten waren wuchtige Schläge und Lärm von herunterfallenden Dingen zu hören. Dann das Seufzen und Fluchen einer weiblichen Stimme.

Immerhin lebte sie noch.

Dann trat Stille ein.

Eine endlose Stille.

 

Die Stufen knarrten (sie kam hoch, Gott sei Dank, und Brunas Füße waren die Treppe so sehr gewohnt, dass es egal war, ob sie etwas sehen konnte oder nicht), und heftiges Stoffrascheln war zu hören, bevor es erneut still wurde.

Dann tauchte Bruna auf der Treppe auf, keuchend vor Anstrengung, und strich sich die Falten des Kleides glatt – jenes weißen, staubigen Kleides, das sie dort unten in einer Kiste aufbewahrte: ihr Brautkleid. Sie hatte sich die Lippen geschminkt, trug eine Sonnenbrille und Hausschuhe.

Doña Olvido verzog das Gesicht zu einem Grinsen, sagte jedoch nichts. Ihr Dienstmädchen kleidete sich das ganze Jahr über mit demselben Wust an Röcken. Über die Unterwäsche – wenn sie denn welche anhatte – zog sie einen Überrock, den manche als Unterrock bezeichneten, obwohl es im Grunde keiner war. Darüber trug sie noch einen Rock, auf den sie, zumindest solange es kalt war, niemals verzichtete, der sich aufblähte, wenn der Wind wehte, und am Körper anlag, wenn dies nicht der Fall war.

Nun hatte sie schokoladenbraune Hausschuhe an den Füßen und sich in Nylonstrümpfe gequetscht, die am Bündchen so eng waren, dass sie ihr die Waden abschnürten. Ihr Dienstmädchen plötzlich in ihrem alten Brautkleid vor sich zu sehen, das mittlerweile zu lang war und eher gelblich als weiß, wenn man es genau nahm, war mal etwas Neues. Wann hatte sie Bruna zuletzt so gesehen?

Ihr kam das andere Mal in den Sinn – das einzige Mal, dass sie ihr Dienstmädchen in diesem Aufzug gesehen hatte, vor … Na, das musste mehr als fünfzig Jahre her sein, als sich in dem langen Rock trockene Blätter und Zweige verfangen hatten und sie von bunten Schmetterlingen umflattert wurde. An jenem Tag hatte der Wind ihren Schleier aufgeweht, sie war glücklich gewesen, wie die Frauen, die am Morgen schon Champagner trinken, und hatte ausgerufen: »Wo ist mein Scherenschleifer, ich bin bereit!« Diese Worte hatten sich in Doña Olvidos Gedächtnis eingebrannt. In jenem Moment war Bruna eine junge Frau voller Hoffnung gewesen. Damals hatte noch keine von ihnen das dunkle Reich der Schrecken betreten.

»Könntest du mir den Gefallen tun und dich ein wenig beeilen?«

Mit ein paar Schritten war Bruna oben bei ihrer Herrin angelangt. Die musterte sie misstrauisch und wollte wissen, ob sie irgendeine Süßigkeit in den Falten ihres Unterrocks oder im Gummiband der Unterhose versteckt habe, was das Dienstmädchen mit einem sehr ernsten »Natürlich nicht!« beantwortete.

Was sie allerdings sehr wohl dabeihatte, war ein großer, in eine Decke gehüllter und mit einer Schnur umwickelter Gegenstand. Als Bruna im Keller gewesen war, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, das Ding dort unten zu lassen, doch war sie sich sicher gewesen, dass es sinnlos gewesen wäre, weil die Señora sie dann garantiert gezwungen hätte, erneut hinunterzugehen. Nie zuvor hatte sie sie gebeten, das Ding noch einmal hervorzuholen, und es wäre ungerecht von ihr gewesen, es zu tun, denn sie wusste sehr gut, dass Bruna das einzige Mal, an dem sie sie dazu gezwungen hatte, Ärger mit der Alten aus dem vierten Stock bekommen hatte, der Großmutter der Familie Abráldez.

Schwankend schleppte Bruna das ominöse Ding mit sich, wuchtete es auf den Tisch (»Sie werden wohl nicht annehmen, dass mir danach ist, das verdammte Ding überhaupt noch mal zu sehen«, beschwerte sie sich) und schüttelte die Hände aus. Eine Staubwolke erhob sich im Zimmer.

Doña Olvido trat andächtig näher. Eine Weile starrte sie fasziniert – beide waren fasziniert – und ohne ein Wort auf die ausladenden Formen, die sich unter der Decke abzeichneten.

»Eine Schere!«, befahl sie schließlich, ohne den Blick abzu­wenden.

Dann wartete sie, bis Bruna mit der Schere kam.

Mit zitternden Fingern zerschnitt die Señora eigenhändig die Schnur, doch dann war sie nicht in der Lage fortzufahren. Stumm starrte sie auf den riesigen Ballen, der vor ihr lag. Ihre Kehle war ganz trocken.

Das Dienstmädchen beugte sich über die Schnur. Entfernte sie mit beiden Händen, doch in dem Moment, als sie die Decke wegziehen wollte, spürte sie erneut die eiserne Klaue der Señora an ihrem Unterarm.

»Warte!«

Bruna gehorchte.

Zog die Hände zurück.

Während Doña Olvido noch nachdachte, hatte Bruna sich umgedreht und sich das Gebiss herausgenommen, was sie immer tat, wenn sie nervös wurde oder nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Dazu schob sie zwei Finger unter den Gaumen und zog es mit einem Ruck heraus, um es dann mit düsterem Blick in ihrer Hand zu betrachten wie ein gerade aus dem Meer gefischtes Krustentier.

Die Señora starrte noch immer unschlüssig auf das riesige Ding.

Dann griff sie nach der Decke und zog sie entschieden her­unter.

Ein düsterer Geruch erfüllte das Zimmer, als ob die ganze Stadt begonnen hätte, ihren Schmutz durch die Ritzen zu pusten. Der strenge Geruch von Kampfer und alten, im Schrank aufbewahrten Mänteln.

Zunächst war außer der dichten Staubwolke nichts zu sehen.

Der beißende Staub brannte in ihrer Kehle.

Dann, nach und nach, zeichneten sich im Gegenlicht die schlanken weiblichen Formen jenes stummen, schweigenden, entfesselten Gegenstands ab.

Da war er.

Bruna begann, sich um sich selbst zu drehen. Ihr heiserer, langsamer Atem hörte sich an wie das Schnaufen eines Bären. Nach einem räuspernden Husten blickten die beiden alten Frauen sich an.

»Sieht irgendwie … kleiner aus«, meinte Doña Olvido schließlich leicht enttäuscht.

»Hmm!«

»Aber das macht nichts.«

»Überhaupt nichts.«

Die Möwen kreischten, Bruna schob sich das Gebiss wieder in den Mund, und mit der Bummelei war es vorbei. Sie setzten sich in Bewegung, denn wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollten, würde es ein langer Tag werden. Bruna bestand darauf, wenigstens den Kessel mit den Lebensmitteln mitzunehmen (»Und wenn wir plötzlich Hunger kriegen?«), doch Doña Olvido blieb hart (»Wir ziehen doch nicht in den Krieg!«). Dafür musste sie zulassen, dass Bruna die schwarze Lacktasche einpackte, und – warum auch nicht – den Holzhammer mit den Metallzähnen, den sie benutzte, um Tintenfisch weich zu klopfen.

Von Spinnweben und Staub befreit, wickelten sie das Ding wieder in die Decke. Dann hoben sie es zu zweit an, jeder auf einer Seite, da es ziemlich schwer war. Mit knackenden, knirschenden Knochen schleppten sie es zur Tür hinaus, ohne diese hinter sich zu schließen (»Mach die Tür zu, Bruna!« »Wozu?« »Stimmt, du hast völlig recht …«), und dann langsam die Außentreppe hinunter, über die wenige Tage zuvor Bruna halb tot hinaufgetragen worden war, die eine das Ding von der unteren Stufe stemmend, die andere eine Stufe darüber.

Dabei verfing sich Bruna immer wieder im Saum des Braut­kleides.

Als sie den obersten Treppenabsatz bewältigt hatten, hielt Doña Olvido abrupt inne und betrachtete in stummer Bewunderung ihre Last. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus, nicht in der Lage, weiterzugehen.

Noch einmal dachte sie in bisher nie empfundener Heftigkeit an die Reise, die vor ihnen lag, an die Stadt, das Haus und alles, was sie zurücklassen würden. Und erneut wurde sie von jener – weiten, fernen, trägen – Angst erfasst. Blubbernd stieg sie von der Magengegend aus nach oben, und ihre Augen glänzten. Ihr Kinn begann zu zittern.

»Ach, Bruniña … Ich habe kalte Füße.«

»Bruniña, Bruniña …«, spottete das Dienstmädchen.

»Na ja, ich kann denken, verfüge über eine gewisse Intelligenz. Ich bin nicht dumm wie ein Huhn, so wie du. Das ist der Unterschied zwischen dir und mir. Der Unterschied zwischen einer Frau und einem Huhn.«

Bruna verzog erneut das Gesicht und schmollte wie ein kleines Mädchen. Dann zuckte sie mit den Schultern, wobei das zu eng gewordene Kleid ein paar Zentimeter nach oben rutschte und eine angebissene Mantecada aus den Röcken fiel und die Treppe hinunterrollte. Bruna blieb wie erstarrt auf der Stufe stehen.

»Meine Güte! Und das in deinem Alter …«, tadelte die Señora. »Was hast du noch in diesem Brautkleid versteckt?«

Bruna lächelte. In ihrem Aufzug wirkte sie wie ein unschuldiges Mädchen auf dem Weg zum Traualtar. Aber welcher Altar soll das sein?, fragte sich Doña Olvido, was denkt sie denn, wohin wir fahren? Bruna hob das Kleid an, wobei nacheinander ihre Filzpantoffeln, die auf die Fußknöchel heruntergerollten Strümpfe und die weißen Waden sichtbar wurden. »Nichts«, sagte sie, während im gleichen Moment ein Zuckerkringel zu Boden fiel.

Doña Olvido seufzte und hob das voluminöse Bündel an.

»Fass lieber mit an und lass uns zusehen, dass wir das Ding runterbekommen!«, befahl sie.

 

Auf der Straße ließ ein dichter Nebel die Umrisse der Häuser verschwimmen. Die gläubigen Frauen schlurften wie immer zu zweit in Richtung Kirche, und auf der Praza de Abastos wurden die ersten Marktwaren von den Lieferwagen abgeladen.

Jenseits der vom Nebel verhüllten Häuser waren die spitzen Türme der Kathedrale zu sehen. Dahinter zeichneten sich weitere Wohnhäuser und Klöster ab, bis hin zu den mit Kohl und anderem Gemüse bestellten Feldern. Während sie ihre Last langsam zu dem kleinen Platz schleppten, auf dem das Auto stand, wandte Doña Olvido den Kopf in sämtliche Richtungen, um all dies sehnsüchtig in sich aufzunehmen.

Sie kannte jede Kirche, jede Gasse, jeden Winkel, und die Stadt zu verlassen, in der sie aufgewachsen war und so lange Zeit über gelebt hatte, war das, was sie in diesem Moment am meisten schmerzte. Es gab nur noch wenige Menschen hier, die sich an die Zeiten erinnerten, in denen das Wasser aus öffentlichen Brunnen geholt wurde, als auf der Praza da Quintana Schafe weideten und die Frauen mit ihren Kleiderbündeln zu den öffentlichen Waschplätzen gingen.

So war sie einmal geschickt worden, eine ihrer Tanten zu holen, die am Fuß der Sarela-Brücke im Viertel Santa Isabel Wäsche wusch, direkt gegenüber der Lederfabrik, in der später Limonade hergestellt wurde. Auf der anderen Seite des Flusses befand sich die Mühle, zu der man über eine aus zwei Baumstämmen gebaute Holzbrücke gelangte. Dieser Canal del Molino, der auch zur Bewässerung der nahe gelegenen Felder genutzt wurde, mündete in den Regato do Corvo. Und dorthin brachten die Tanten in großen Körben, die auf dem Kopf getragen wurden, die Bettwäsche und rieben sie kniend auf dem Waschbrett, während sie mit den anderen Frauen plauderten und lachten. Aber war sie an jenem Tag wirklich ihre Tante holen gegangen?

Manchmal überkamen sie die Stimmen, das Echo der Vergangenheit, die Bilder, die Erinnerungen, wenn es auch immer etwas gab, was sie verschwimmen ließ. Denn bevor sie in die Stadt gezogen war, hatte sie auf dem Land gelebt. Eine Wiese führte zu einer Lichtung, auf der ein paar Eichen und Kastanien standen. In der Ferne waren der blaue Himmel, der Brunnen, das kleine Haus und die rote Schaukel zu sehen. Daran erinnerte sie sich und wunderte sich immer noch über die Unruhe, die an jenem Sommertag in ihrem Haus herrschte. Das Ende war aus ihrem Gedächtnis gelöscht, nur das vage Bild ihres Vaters, der sie weinend auf die Stirn küsste, war ihr geblieben. Sie war noch keine fünf Jahre alt gewesen. Möglicherweise war ihr jener Tag in Erinnerung geblieben, weil am nächsten Tag ihre Mutter tot war.

Das kleine Mädchen war daraufhin bei ihren Tanten väterlicherseits aufgewachsen, mit einer Schuld beladen, die Olvido niemals verstand. Als sie acht Jahre alt war, beobachtete sie, im Speiseschrank in der Küche versteckt, wie eine ihrer Tanten der anderen die Kleider vom Leib riss, bis sie nackt und bloß vor ihr stand, und dann deren Brüste mit Mehl bestäubte, die weich und schwer nach unten hingen. Dabei machten ihr die erstickten Schreie und der raue Atem der einen genauso wenig Angst wie ihre weißen birnenförmigen Körper und die aufgerichteten Brustwarzen oder das dichte Haar zwischen ihren Beinen. Nicht einmal das Gelächter, die umherfliegenden Früchte und das fröhliche Nachlaufspiel der beiden Frauen machten ihr Angst – oder die Linsen und die weiche Butter, die sie mit vollen Händen durch die Küche warfen. Was ihr dagegen Angst machte, war der Geruch, dieser süßliche Geruch nach ungewaschenem Geschlecht, der sich an sie zu heften schien, ihr nach draußen folgte und sie tagelang begleitete. Der Geruch, den sie als die Strafe für den Tod ihrer Mutter ansah.

Niemals hatte sie irgendjemandem von dieser Szene erzählt; nie hatte sie auch nur den Wunsch danach verspürt. Ein paar Tage lang hatte sie noch in einer Mischung aus Trauer und Unbehagen daran gedacht, bis die Erinnerung irgendwann verblasste und von Tausenden anderen Eindrücken überlagert wurde, die sich Jahr für Jahr in ihrem Bewusstsein ansammelten. Und nun, während sie neben ihrem Dienstmädchen an ihrem VW Käfer stand und die Reise zu jenem Ort antreten wollte, flammte diese Szene ohne jede Vorankündigung – wie es bei Erinnerungen so üblich ist – in aller Deutlichkeit in ihrem Gedächtnis auf.

Nicht lange nach jenem denkwürdigen Nachmittag hatten die Tanten sie nach Placeres in eine Schule für junge Mädchen geschickt, wo sie Lesen, Schreiben, Rechnen, Sticken, Französisch und die Kunst der Verstellung gelernt hatte.

An einem Tag im Herbst war sie, nachdem sie Berge an totem Laub durchquert hatte, dort angekommen, wobei ihr der Weg wie eine Art Reise ins Vergessen erschienen war. Sie hatte sich einsam gefühlt, immer allein, sogar, wenn sie begleitet wurde. Autos, Busse. Der Wald. Menschliche Körper, die ihrem Ziel entgegenstrebten, hatten sie durch dornigen Stechginster gezogen, und das Gestrüpp hatte ihr Gesicht zerkratzt, bis sie die Arme ausstreckte, um es von sich fernzuhalten. Seit sie in der Schule angekommen war, hatte sie nur daran gedacht, sie wieder zu verlassen. Mit einem Mann, der sie von dort wegholen würde, da die Nonnen ihr erklärt hatten, dass es nur zwei ehrbare Wege gebe und die Ehe sei einer davon.

»Jetzt machen Sie doch endlich die Tür auf, das Ding ist schwer wie Blei!«

Brunas Stimme, die über den Platz hallte, riss Doña Olvido aus ihren Gedanken.

»Du hast vollkommen recht«, entgegnete sie. Ungeschickt trat sie an den Wagen heran, um aufzuschließen. Dabei spürte sie die Blicke der Nachbarn, die sie von ihren Balkonen aus stumm beobachteten, genau wie damals, als das mit der Großmutter der Familie Abráldez passiert war.

Während Doña Olvido mit dem Schloss kämpfte, kam der Eisenwarenhändler aus der Rúa da Caldeirería vorbei, der stehen blieb, um ihnen zuzusehen: zwei alten Weibern, von denen eine ein Brautkleid, eine Sonnenbrille und Pantoffeln trug und ein eigenartiges voluminöses Bündel festhielt, während die andere, unter deren Mantel das Nachthemd hervorlugte, versuchte, ins Auto zu steigen.

Er unterdrückte ein Lachen, wagte jedoch nicht zu fragen, wohin sie wollten.

»Wie geht’s denn so?«, fragte er schließlich.

Doch er erhielt keine Antwort. Die beiden Alten dachten nach, bis die eine die andere ansah und ihr zuflüsterte:

»Was meint er mit ›so‹?«

»Gesundheitlich sehr gut«, antwortete Doña Olvido, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, wobei sie Bruna, die direkt hinter ihr stand, ein Zeichen machte, das Bündel auf den Boden zu legen. »Wenn wir erst alt sind, werden wir es genauer wissen.«

Sie bedeckte das Bündel, das nun an der Wand lehnte, mit ihrem Pelzmantel und fing an zu lachen.

Die Laternen, die den Platz umstanden, tauchten das Pflaster in schwaches Licht, und der Mann beugte sich vor, um unter den Mantel zu schauen. Eine Kirchenglocke durchbrach die Stille und rief zum Gottesdienst.

»Und Ihrem Ehemann? Wie geht es dem armen Kerl? Ich habe ihn ja ewig nicht mehr gesehen! Ich glaube …« Er beugte sich noch ein Stück weiter nach vorn, »… das letzte Mal vor dem Krieg … Und seitdem sind Jahre vergangen!« Er zählte mit den Fingern. »Na ja … Vierzig Jahre werden es schon sein …«

Inzwischen hockte Doña Olvido mit angezogenen Beinen auf dem Boden, sodass das Nachthemd auf ihre Fußknöchel fiel, während der Mantel sie wie ein Teppich umgab.

»Tja. Das Leben vergeht eben wie im Flug, oder ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«, sagte sie nur.

»Und Ihrer Schwägerin und Ihrem Schwager? Wie hieß noch mal der sonderbare Kerl mit den Puppen?« Der Eisenwarenhändler richtete sich wieder auf. Mit verschwörerischer Stimme fuhr er fort: »Ich gebe nicht viel auf das Geschwätz der anderen, wie Sie wissen … Aber es gibt Leute, die tatsächlich behaupten, dass Ihr Mann Republikaner war.«

»Jesus!«, sagte Doña Olvido.

»Es ist natürlich völlig klar …«, redete er weiter, wobei er unaufhörlich auf das starrte, was sich die beiden alten Frauen zu verstecken bemühten, »… Invalide und im Rollstuhl … da steht Ihrem Mann nicht der Sinn danach, das Haus zu verlassen. Und Ihre Kinder sind auch nie zu sehen. Die haben sicher ihre Verpflichtungen … Wie viele Kinder haben Sie noch mal?«

»Oh … zehn … oder zwölf«, sagte Doña Olvido und schaute zu ihrem Dienstmädchen hoch. »Wie viele habe ich, Bruna?«

»Zehn«, bestätigte diese.

»Zehn! Was für ein Verdienst, zehn Kinder auf die Welt zu bringen! Meine Frau hat nur vier bekommen und ist seitdem ein Wrack.« Er zuckte die Achseln und lachte.

Doña Olvido hob belehrend den Zeigefinger.

»In den ersten neun Jahren meiner Ehe habe ich acht Kinder auf die Welt gebracht. Zu dieser Zeit kannten mich alle nur mit dickem Bauch … Mein Mann wusste schon nicht mehr, was er mit mir machen sollte.«

Der Eisenwarenhändler lachte erneut, diesmal jedoch eher gezwungen. Er beugte sich vor und starrte neugierig auf das von dem Mantel verdeckte Bündel.

»Und das?«, wagte er zu fragen.

»Nichts«, antwortete Doña Olvido mit Unschuldsmiene.

»Nichts«, wiederholte das Dienstmädchen.

Der Eisenwarenhändler richtete sich auf und sah sie verwundert an.

»Wohin geht denn die Reise?«, fragte er nun mit leichtem Unbehagen im Gesicht.

Die zwei Alten schwiegen. Ein Schatten flatterte über ihnen, und eine der beiden blickte auf.

»Weit weg«, sagte sie.

»Sehr weit weg«, präzisierte die andere.

Wieder war jenes typische Kraah-haaa-krah, Kraah-haaa-krah zu hören und dann ein dumpfer Flügelschlag direkt über ihren Köpfen. Nun blickten alle drei nach oben, doch bevor einer von ihnen irgendwie reagieren konnte, stieß eine der Möwen zu ihnen herunter und hackte mit dem Schnabel nach dem Eisenwarenhändler, der sich an den Hals fuhr und instinktiv wegduckte. Dann stieg der Vogel wieder auf und ließ sich auf dem Fenstersims eines Hauses nieder.

Das Kind ist da … schien das Kreischen zu sagen, das von den Wänden der Kirche San Paio widerhallte und in die Ritzen des bemoosten Pflasters drang.

Mit immer noch schmerzverzerrtem Gesicht warf der Eisenwarenhändler einen letzten Blick auf das zugedeckte Bündel und dann auf die beiden alten Frauen. Als sei ihm plötzlich ein anderer, äußerst düsterer Gedanke gekommen, verschwand die schmerz­liche Grimasse gleich darauf.

Grußlos wankte er die Straße hoch, wobei er sich, die eine Hand immer noch am Hals, mit der anderen an der Wand abstützte.

 

Ein paar schwarze Wolken zogen Richtung Westen. Doña Olvido dachte, dass es bald regnen würde und dass Regen eigentlich etwas Dummes war: Wasser. Wasser, das vom Himmel fiel – diese willkürlichen, zusammenhanglosen Gedanken kamen ihr ganz plötzlich. Sie öffnete den Kofferraum und hob das Bündel an, um es hineinzulegen. Als sie es anfasste, fühlte es sich warm an, und sie meinte sogar, aus dem Inneren heraus einen leichten Herzschlag wahrzunehmen. Sie kämpfte eine Weile mit dem großen Ding, doch es gelang ihr nicht, es in den Kofferraum zu wuchten.

»Das war schon immer so sperrig«, meinte Bruna, die aus ein paar Schritten Entfernung zusah.

Daraufhin beschlossen sie, das Bündel auf der Rückbank zu platzieren. Anschließend setzte sich Doña Olvido ans Steuer. Noch immer keuchend von der Anstrengung, sagte sie aus tiefstem Herzen:

»Ach, Bruniña … Was tun wir uns hier eigentlich an?«

Denn nun kam die nächste Herausforderung: das Auto. Auch wenn Doña Olvido schon lange Auto fuhr, war es doch einige Zeit her (Monate? Oder Jahre? Manchmal verging die Zeit in ihrem Kopf in konzentrischen Kreisen), dass sie den Wagen zuletzt bewegt hatte. Sie hätte ihren Führerschein schon längst erneuern lassen müssen, hatte es jedoch nicht getan, da sie dazu ein aktuelles Foto gebraucht hätte, über das sie nicht verfügte. Zumindest war das die Ausrede, die sie jedes Mal vorbrachte, wenn sie danach gefragt wurde.

Sie hatte den Führerschein in sehr jungen Jahren gemacht, mit der Erlaubnis ihres Vaters, was zu jener Zeit Bedingung war. »Als erste Frau, die in Santiago die Fahrerlaubnis erhielt«, lobte sie sich selbst, wenn sie mit einem Verkehrspolizisten sprach, und seit jener Zeit war stets sie es gewesen, die zuerst ihren Vater, dann ihre Schwägerin, ihren Schwager, ihre Schwiegermutter und ihren Ehemann, der nur äußerst ungern Auto fuhr, überallhin chauffiert hatte.