Die kleine Pension in Lobster Bay - Annie Robertson - E-Book + Hörbuch
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Die kleine Pension in Lobster Bay E-Book und Hörbuch

Annie Robertson

4,8

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Beschreibung

Als Emma sieht, dass die alte Pension im schottischen Lobster Bay zum Verkauf steht, weiß sie, dass sie den perfekten Zufluchtsort am Meer gefunden hat, den sie braucht, um sich von einem kürzlichen Trauma zu erholen. Doch kaum hält Emma die Schlüssel in der Hand, droht ihr Traum von einer erfolgreichen Pension bereits zu zerplatzen ... Emma hat einen Monat Zeit, um das Haus fertig zu stellen, bevor ihre Gäste eintreffen – eine Aufgabe, die durch die Entdeckung erschwert wird, dass sie versehentlich einen riesigen, unmöglich zu bändigenden Hund mit erworben hat. Und dann ist da noch der abweisende Nachbar Aidan, den Emma notgedrungen um Hilfe bittet. Während Emma und Aidan zusammenarbeiten, kommen sie sich näher – doch dann muss Aidan abreisen und Emma allein weitermachen. Im Laufe des Sommers sieht Emma sich mit unvorhergesehenen Problemen konfrontiert und schließt neue Freundschaften – und so ganz nebenbei muss sie auch noch irgendwie ihr Geschäft über Wasser halten. Ins idyllische Lobster Bay verliebt sie sich im Handumdrehen, aber hat sie sich am Ende auch in Aidan verliebt? --- "Dieses Buch ist so mitreißend und herzerwärmend, dass ich mir wünschte, ich könnte selbst in Emmas Pension einchecken!" - Sue Moorcroft "Eine wunderbare, bezaubernde Geschichte über Freundschaft, Familie, Liebe und Neuanfänge" - Leser-Rezension "Eine tolle Lektüre, die ich wirklich genossen habe" - Leser-Rezension

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Seitenzahl: 386

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Zeit:8 Std. 55 min

Sprecher:Kirsten Evers
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Angelinepf

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

So schöne Hörstunden, konnte zwischendurch kaum aufhören.. gerne mehr davon..
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Die kleine Pension in Lobster Bay

Die kleine Pension in Lobster Bay

© Annie Robertson 2021

© Deutsch: Jentas A/S 2023

Titel: Die kleine Pension in Lobster Bay

Originaltitel: The Guesthouse at Lobster Bay

Übersetzung: Kirsten Henrieke Evers, © Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2048-3

First published in Great Britain by Welbech.Published by agreement with The schoolhouse Partnership and Blake Friedmann Literary, TV and Film Agency Ltd.

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Dies ist für meinen kleinen Jungen,der sein Zuhause und seine Spielsachen mit mir geteilt hat.

Prolog

„Frohe Weihnachten“, sagte Emma und winkte ihren Kollegen, die noch an ihren Schreibtischen saßen und vor den Feiertagen s chnell die letzten Aufgaben erledigten, zum Abschied zu.

„Frohe Weihnachten“, murmelten einige zurück, aber niemand wendete den Blick vom Bildschirm ab.

Emma sprang die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, froh, endlich das Büro verlassen zu können, und stieß die Tür auf. Die kalte Luft des späten Nachmittags strömte ihr in die Lungen, und sie sog sie gierig auf, wickelte sich den Schal fest um den Hals und steckte sich die AirPods in die Ohren, um ihre Schwester anzurufen.

„Moment“, lautete Janes Begrüßung.

„Okay“, antwortete Emma und ging die Carnaby Street entlang, wobei sie die bunten Weihnachtslichter bewunderte, die über ihr hingen und denen es stets gelang, sie nach einem langen Arbeitstag zum Lächeln zu bringen. Über die Kopfhörer hörte sie, wie Jane den Kindern sagte, sie sollten doch bitte aufhören, auf dem Küchentisch zu malen, das Lego aufräumen, sich auf ihre vier Buchstaben setzen und fernsehen, damit sie in Ruhe mit Tante Emma reden und das Abendessen zubereiten könne.

„Was gibt‘s?“, fragte Jane abrupt, noch immer ganz im mütterlich-kommandierenden Tonfall.

„Hast du eine Idee, was ich Chris zu Weihnachten schenken soll?“, fragte Emma ihre Schwester, die auf diesem Gebiet eine absolute Expertin war, denn sie fand immer die perfekte Kleinigkeit, egal, für wen sie bestimmt war.

„Emma, es ist vier Uhr nachmittags – an Heiligabend! Warum in aller Welt hast du noch kein Geschenk?“

„Es war einfach wahnsinnig viel los auf der Arbeit“, antwortete sie, was zwar nicht gelogen war, aber auch nicht ganz der Wahrheit entsprach; sie hatte Chris kein Geschenk gekauft, weil ihr einfach nichts einfiel. Nicht gerade ideal, wenn man bedachte, dass sie seit sechs Jahren ein Paar waren.

„Du steckst viel zu viel Energie in diese Firma für das, was sie dir zahlen“, sagte Jane, und aus ihrem Mund war das die größte Bezeugung schwesterlicher Fürsorge, die Emma sich erhoffen konnte.

„Da magst du vielleicht recht haben“, sagte Emma, die selbst schon ähnliche Gedanken gehabt hatte, aber einfach nicht wusste, wie sie daran etwas ändern sollte. Sie war seit zehn Jahren in dem Unternehmen beschäftigt und hatte sich von der allgemeinen Hilfskraft über die Designassistentin zur Innenarchitektin und schließlich zur Designberaterin hochgearbeitet, was im Grunde genommen unverhältnismäßig viel mehr Verantwortung und Arbeitsstunden für die zugegeben sehr geringe Gehaltserhöhung bedeutete.

„Da gibt es kein ‚vielleicht‘, Emma. Neues Jahr, neuer Job. Du musst dich endlich darum kümmern.“

„Das werde ich auch“, sagte Emma, die sich ziemlich sicher war, dass sie genau das nicht tun würde, denn welche Alternative hatte sie schon? Derselbe Job in einer anderen Beratungsfirma ergab wenig Sinn, obwohl es sicher schön wäre, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die einen wertschätzten, und mit einer Chefin, die kein totaler Stinkstiefel war. Und sich selbstständig zu machen war auch keine Option, jedenfalls nicht, solange sie noch immer in dem Schuhkarton von Wohnung lebte, die sie sich seit fünf Jahren mit Chris teilte. Ihrer Meinung nach war es schlichtweg sinnvoller, in der Firma zu bleiben, auch wenn es sich manchmal so anfühlte, als würde sie in einem Beerdigungsinstitut arbeiten. „Und? Was soll ich Chris nun schenken?“

„Budget?“

„Etwa hundert.“

„Zur Auswahl stehen: Musik, Filme, Bücher, Körperpflege, Essen, Kleidung, Gadgets oder Erlebnisgutscheine“, zählte Jane auf, ohne lange zu überlegen.

„Er hat so viel Musik, wie er hören kann; er hat alles gesehen, was er sehen will; seine Körperpflege besteht aus Duschgel und Rasierschaum; wir haben eigentlich keinen Platz für zusätzliche Sachen, und der Typ für Offroad-Abenteuer, Paintball oder Fallschirmspringen ist er auch nicht gerade“, erwiderte Emma. Manchmal wünschte sie sich, Chris wäre genau so ein Typ – oder dass er zumindest etwas mehr Elan an den Tag legen würde. Nicht zu viel, gerade genug, um den Funken zwischen ihnen wieder zu entfachen und um zu beweisen, dass doch noch etwas Testosteron in ihm steckte, nachdem er täglich acht Stunden an seinem Schreibtisch im Planungsbüro der Stadtverwaltung verbrachte.

„Dann also ein Buch, etwas Leckeres zu naschen und einen schönen Winterpulli.“

„Ist das nicht ein bisschen zu langweilig?“ Den Gedanken, dass ‚langweilig‘ ihre Beziehung leider genau auf den Punkt brachte, verdrängte Emma gekonnt. Aber es war tatsächlich eine gefühlte Ewigkeit her, dass sie etwas zusammen unternommen hatten, das Spaß gemacht hatte. Früher waren sie zu Konzerten, Theaterstücken und Stand-up-Shows gegangen, aber jetzt schien ihr einziger ‚Spaß‘ darin zu bestehen, eine Pizza vorm Fernseher zu teilen und früh ins Bett zu gehen, und nicht aus dem Grund, aus dem sie in den Anfangstagen ihrer Beziehung früh ins Bett gegangen waren. Das war natürlich nicht ausschließlich Chris‘ Schuld. Emma war sich durchaus bewusst, dass auch sie an der Situation etwas ändern könnte; sie hasste es, den Mut nicht aufzubringen, ihn einfach ziehen zu lassen.

„Du könntest auch einen Penisring mit einbauen, um das Ganze ein bisschen aufzupeppen“, sagte Jane, als hätte sie Emmas Gedanken gelesen.

„Wir werden unsere Geschenke bei seiner Mutter auspacken“, sagte Emma, als ob dies das Einzige wäre, was sie von einem solchen Geschenk abhielte.

„Mom, was ist ein Penisring?“ hörte Emma Lily fragen.

Emma lachte, während Jane ihrer fünfjährigen Tochter erklärte, dass sie sie missverstanden hätte; sie habe von dem Gebiss gesprochen, das Onkel Chris bald brauchen würde, denn das passiere unweigerlich, wenn man zu viele Süßigkeiten esse.

„Ich schwöre, denen entgeht nichts“, flüsterte Jane, nachdem Lily mit einer Schüssel Chips als Ablenkung zum Fernseher zurückgeschickt worden war, damit sie keine unbequemen Fragen mehr stellen konnte.

Emma lachte und war froh über die willkommene Unterbrechung, die von ihrem langweiligen Liebesleben und dem traurigen Zustand ihrer Beziehung abgelenkt hatte. „Danke für die Vorschläge“, sagte sie, als sie am Eingang des Liberty-Einkaufszentrums angekommen war. „Ich komme jetzt besser in die Puschen, bevor alles zumacht. Fröhliche Weihnachten! Wir sehen uns im neuen Jahr.“

„Frohe Weihnachten, Em. Ich wünsch dir was.“

Die Straßen waren deutlich ruhiger geworden, als Emma das Kaufhaus mit einer Tüte voll netter, aber uninspirierter Geschenke für Chris verließ. Als sie die Regent Street entlang schlenderte, nahm sie das Treiben der Last-Minute-Einkäufer und die entspannte Weihnachtsstimmung der Büroangestellten auf, die mit Pralinenschachteln in den Taschen und Weihnachtssternen unter dem Arm nach Hause gingen. Über den Köpfen funkelten vergnügte Lichter, und aus den Geschäften drang Weihnachtsmusik, die bei Emma weihnachtlich-warme Gefühle weckte. Damit dies möglichst lange anhalten würde, traf Emma die ungewöhnlich spontane Entscheidung, nicht an ihrer üblichen Bushaltestelle zu warten, sondern sich etwas Wärmendes zu trinken zu besorgen und ein Stück des Weges nach Hause zu laufen.

Nachdem sie sich eine heiße Schokolade gekauft hatte, schlenderte Emma weiter die Regent Street hinunter und sah ihrem vorbeirumpelnden Bus hinterher, froh über die Entscheidung, sich für den Heimweg Zeit zu lassen. Sie blieb stehen, um die Schaufensterauslage von Hamleys zu bewundern, wobei sie ihr eigenes Spiegelbild erblickte. Die Weihnachtsmannmütze, die sie den ganzen Tag im Büro getragen hatte, saß keck auf ihrem dunklen, gewellten Haarschopf, und ihr hellgrüner Schal ragte wie der eines lustigen Schneemanns aus ihrem Mantel heraus. Sie musste über sich selbst lachen und spazierte weiter Richtung Süden, schlürfte die warme Pfefferminzschokolade und lächelte einem Pärchen zu, das Arm in Arm vor einem Juweliergeschäft stand und sich die roten Nasen am Schaufenster plattdrückte. Sie versuchte, die weihnachtlichen Düfte zu identifizieren, die aus dem Seifenladen strömten – Zimt, Ingwer, Orange, Cranberry? –, als ein blendend weißer Blitz und ein ohrenbetäubender Knall sie von den Füßen rissen, wobei ihr die heiße Schokolade und die Geschenktüte aus den Händen flogen.

Zunächst weigerte sich Emma, die Augen zu öffnen. Das Kreischen der Sirenen, die Schreie, die die Weihnachtslieder abgelöst hatten, und der Rauch, der die verführerischen Düfte des Seifenladens übertönte, erfüllten ihre Sinne und brannten in Nase und Lungen. Und als sie endlich blinzelnd die Augen öffnete, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Es war ein einziges Durcheinander: Überall lag Glas. Die Menschen waren mit Blut und Staub bedeckt. Die fröhlich funkelnden Lichter waren erloschen, sowohl in den Geschäften als auch über ihren Köpfen. Körper lagen verstreut auf den Pflastersteinen herum, und nicht weit von ihr entfernt lag ein abgetrennter Unterschenkel neben einem zerfetzten Weihnachtsgeschenk.

„Hilfe!“, hörte sie jemanden schreien, ein markerschütternder Schrei, der Emma zum Handeln zwang.

In einiger Entfernung begegnete sie dem Blick einer Frau, die etwas älter zu sein schien als sie selbst, die Augen voller Angst, die Haut blass. Ohne nachzudenken, rappelte sich Emma auf und stolperte zu ihr, riss sich den Schal vom Hals und band ihn so fest wie möglich über dem Knie der Frau zusammen, um die Blutung zu stoppen, da wo eigentlich der Rest des Beins sein sollte. Aber so sehr sich Emma auch bemühte, das Blut floss in dicken Strömen weiter und bildete einen kleinen Bach, der über den Bürgersteig hinweg in den Rinnstein lief.

„Ich hole Hilfe“, sagte Emma und starrte in die Augen der Frau, die sich dunkel von der Blässe ihrer Haut abhoben.

Doch noch während Emma darauf wartete, zum Notdienst durchzukommen, sah sie, wie die Atmung der Frau immer flacher wurde, bis sich ihr Brustkorb schließlich kaum noch bewegte. Als endlich jemand den Hörer abnahm und ihr mitteilte, dass Hilfe unterwegs sei, konnte Emma keine Regung mehr erkennen.

„Halten Sie durch, es kommt gleich Hilfe“, sagte sie und versuchte, so beruhigend wie möglich zu klingen, während sie die Hand der Frau in ihre nahm und ihr sanft das Haar zurückstrich, das ihr über die Augen gefallen war. „Sie sind schon auf dem Weg.“

Sie suchte in den Augen der Frau nach einem Lichtschimmer, einem Zeichen von Hoffnung, und musste unwillkürlich den Atem anhalten, als die Frau ein letztes Mal ausatmete.

„Nein ...“, sagte Emma und legte ihre Wange an den leicht geöffneten Mund der Frau, aber da war nichts zu spüren, kein noch so schwacher Atemhauch, und Emma wusste aus dem Erste-Hilfe-Kurs, den sie Jahre zuvor besucht hatte, dass die Frau zu viel Blut verloren hatte, als dass eine Herzdruckmassage ihr geholfen hätte.

Sie schloss der Dame die Augen, strich ihr das Haar hinter die Ohren und wollte gerade ihren Mantel zuknöpfen, um sie vor der Kälte zu schützen, als ihr auffiel, dass sie ein goldenes Namenkettchen trug, auf dem Dawn stand.

„Schlaf gut, Dawn“, sagte sie und griff noch einmal nach der Hand, die bereits an Wärme verlor. Ein unerträgliches Gefühl der Taubheit erfüllte Emmas Körper, als wäre sie gar nicht wirklich da.

Emma hatte keine Ahnung, wie lange sie schon neben Dawns Körper hockte, aber als sie aufblickte, wurde ihr klar, wie surreal die ganze Situation war. Überall flüchteten Menschen in Panik und Angst, Verwundete taumelten mit verwirrten Gesichtern vorbei. Es war unmöglich auszumachen, wie viele Rettungsfahrzeuge eingetroffen waren, deren Blaulicht das elegante Weihnachtsglitzern inzwischen vollends ersetzte. Überall herrschte Chaos, Bewegung und Lärm, und trotzdem wirkte es für Emma, als wäre die Welt erstarrt und alles gruselig still.

In diesem Moment vibrierte in Dawns Tasche ein Handy. Emma griff danach und sah auf dem Bildschirm vor dem Hintergrund zweier süßer, lächelnder Kinder eine Nachricht aufleuchten. Sie lautete: Mum, es ist fast Zeit für den Weihnachtsmann!!! Beeil dich und komm schnell nach Hause! Hab dich lieb. Vermisse dich. xxx

„Scheiße“, murmelte sie und starrte in die beiden engelsgleichen, strahlenden Gesichter, wobei ihre Erstarrung in Wut umschlug.

Alles, was danach geschah, würde ihr hinterher nur verschwommen in Erinnerung bleiben, nur das eine oder andere Detail stach klar und deutlich aus der Masse hervor: ein Polizist, der, sobald er Dawns Telefon in die Hand nahm, wusste, wie schrecklich der ihm bevorstehende Anruf sein würde; ein Laken, das über Dawn gelegt wurde; der Feuerwehrmann, der Emma fragte, ob sie verletzt sei; Telefone, die unablässig klingelten, und das Knistern der Rettungsdecke aus Goldfolie, die ihr irgendjemand um die Schultern gelegt hatte.

Sie saß auf dem Bürgersteig neben Dawns leblosem Körper und starrte mit leerem Blick auf die unfassbare Szene vor ihr, als würde sie einen Horrorfilm sehen. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte, hätte sie sich nicht bewegen können; der Schock hatte sie vollkommen erstarren lassen.

Irgendwann klingelte Emmas eigenes Telefon. Sie schaute nicht drauf und ging auch nicht ran – sie war nicht in der Lage zu sprechen, und selbst wenn, was sollte sie schon sagen? Wie sollte sie die richtigen Worte finden, um das alles hier jemandem zu erklären?

Schließlich nahm sie jemand am Arm, zog sie auf die Beine und wies sie an, einer Schar von Leuten zu folgen, die ebenfalls alle in knisterndes Gold gehüllt waren.

„Ich muss bei Dawn bleiben“, stammelte sie.

„Bei wem?“, fragte die Stimme.

„Dawn“, wiederholte sie, doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass Dawns Körper entfernt worden war und nur ein dunkler Blutfleck darauf hindeutete, was sich dort abgespielt hatte.

In diesem Moment merkte Emma, dass ihr trotz der Decke eiskalt war und sie unkontrollierbar zitterte.

„Wenn Sie den anderen folgen, wird sich jemand um Sie kümmern“, sagte die Stimme.

Emma tat, wie ihr geheißen, und bahnte sich ihren Weg durch Schutt und Geröll in Richtung Piccadilly Circus, aber anstatt wie die anderen in den Bus zu steigen, der als behelfsmäßiger Unterstand diente, ging sie einfach weiter, den Haymarket hinunter, ohne weiter darüber nachzudenken. Kurz vorm Trafalgar Square erblickte Emma erneut ihr Spiegelbild in einem Schaufenster, was sie zum Innehalten brachte. Sie trug noch immer ihre Weihnachtsmannmütze, aber ihre Haut war weiß wie Schnee, und die Goldfolie der Rettungsdecke verlieh ihr das Aussehen eines überdimensionierten Weihnachtsknallers.

„Schweine“, sagte sie, als ihr endgültig bewusst wurde, dass für viele, unter ihnen Dawns Töchter, die Unschuld von Weihnachten gerade für immer zerstört worden war.

Kapitel 1

„Tante Emma, warum guckst du so komisch?“

„Hm?“, antwortete Emma und erwachte aus ihrer Trance. Ihre fünfjährige Nichte Lily drängte sich auf ihren Schoß, in der einen Hand eine Barbiepuppe, in der anderen einen Spielzeugkamm.

„Du starrst schon seit einer halben Ewigkeit auf den Computer, Liebes“, sagte Emmas Mutter Liz.

„Habe ich das?“ Emma schüttelte die Benommenheit ab und fand sich in dem geschäftigen Treiben in Janes Küche wieder: Ihre Mutter, eine gerüschte Schürze um die rundliche Taille gewickelt, bereitete an der Kochinsel Sandwiches zu; Jane hängte Wäsche auf den Wäscheständer, und Emmas siebenjähriger Neffe Jake wälzte sich mit dem neuesten Familienmitglied, Welpe Bear, vor der offenen Terrassentür.

„Ach … es ist bloß ein Haus. Gähn“, sagte Lily, die einen Blick auf den Bildschirm erhascht hatte und jetzt den Laptop wegschob, um Platz für ihre Puppe auf dem Küchentisch zu machen. Dabei bemerkte Emma, dass Lilys silbrig-blondes Haar dem ihrer Puppe nicht unähnlich war.

„Du schaust dir doch nicht schon wieder diese Pension in Schottland an, oder?“, fragte Jane, der es nicht gelang, den Anflug von Verachtung in ihrer Stimme zu verbergen. Jane konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum irgendjemand irgendwo anders als in Hertfordshire leben wollte, auch wenn das bedeutete, in einem winzigen Kasten von Haus zu wohnen, das zudem noch ein kleines Vermögen gekostet hatte. Und warum in aller Welt jemand eine Pension betreiben wollte, war ihr erst recht schleierhaft.

„Ich kann mir nicht helfen, sie hat einfach etwas an sich“, antwortete Emma, setzte Lily neben sich auf die Bank und klickte durch die Fotos des beeindruckenden Sandstein-Stadthauses in Lobster Bay mit seinen hohen Decken, den großzügigen Räumen und dem atemberaubenden Meerblick. Seit ein paar Monaten, seit Silvester genau genommen, sah sie sich das Anwesen nun schon regelmäßig immer wieder an und versuchte, sich vorzustellen, wie sie ihren Traum von einer eigenen Pension und der Zugehörigkeit zu einer schottischen Dorfgemeinschaft verwirklichen würde, aber bis jetzt hatte sie sich nicht getraut, einen Besichtigungstermin zu vereinbaren. Im Gegensatz zu ihrer Schwester fand Emma die Vorstellung, auf einer windgepeitschten schottischen Halbinsel zu leben, viel reizvoller als in unmittelbarer Nähe von London – sie zog es vor, Sand in den Schuhen zu haben statt Beton darunter.

„Das einzig Gute an dem Haus ist der Preis“, sagte Jane, straffte ihren blonden Zopf und zog ihre Röhrenjeans hoch. Emma fragte sich oft, ob sie wirklich leibliche Schwestern waren, denn die Gegensätze zwischen ihnen könnten größer nicht sein. Jane hatte die langgliedrigen, schlanken, glatthaarig-blonden Gene von ihrem Vater geerbt, Emma die kleinen, kurvigen, lockig-brünetten ihrer Mutter. Und die Unterschiede beschränkten sich nicht nur aufs Äußere: Jane war schon immer kontaktfreudig und impulsiv gewesen – ganz im Gegensatz zu Emma, die eher vorsichtig und alles andere als spontan war.

„Es ist wirklich unverschämt billig“, murmelte Emma, die immer noch versuchte herauszufinden, was der Grund dafür sein könnte; hatte sie etwas übersehen? Auf den Fotos konnte sie nichts finden, was ihr Sorgen machte, und schon gar nichts, was nicht mit einem neuen Anstrich zu beheben wäre, und das könnte sie durchaus selbst tun. Für den Preis, den die Maklerin verlangte, hätte Emma sich in der Gegend, in der ihre Schwester lebte, kaum eine Zweizimmerwohnung leisten können, geschweige denn eine Doppelhaushälfte mit sieben Zimmern. Soweit sie es beurteilen konnte, war dies ein absolutes Schnäppchen.

„Es würde Jahre dauern, das wieder herzurichten. Willst du das wirklich?“

Emma wusste, dass dies genau das war, was sie sich von ganzem Herzen wünschte, aber sie wusste auch, dass ihre Schwester das niemals verstehen würde. Jane war immer zufrieden damit gewesen, in anonymen Wohnsiedlungen in seelenlosen Neubauten zu leben, in denen die Leute höchstens wussten, was für ein Auto die Nachbarn fahren. Aber Emma hatte sich immer nach Gemeinschaft gesehnt, nach einem Haus, das einladend und voller Seele war, das sie mit Familie, Freunden und Nachbarn teilen konnte, und seit sie denken konnte, träumte sie davon, eine Pension zu betreiben. Als ihre Freundinnen noch davon träumten, Popstars und Schauspielerinnen zu werden, blätterte Emma in Hochglanzmagazinen mit Bildern von schön eingerichteten Hotelschlafzimmern und plüschigen Bademänteln. In den letzten zehn Jahren hatte sie ihren Traum zugegebenermaßen ein wenig aus den Augen verloren, aber das hatte sich nach den Ereignissen an Heiligabend schlagartig geändert.

Innerhalb einer Woche hatte Emma ihren Job gekündigt, sich von Chris getrennt, war wieder bei ihrer Mutter eingezogen und hatte ihre Traum-Pension gefunden – der Neuanfang, nach dem sie sich sehnte. Sie hatte ihrer Mutter und ihrer Schwester nichts von dem erzählt, was sie erlebt hatte, denn sie wusste, dass sie es niemals verstehen würden, aber sie war sich sicher, dass sie wussten, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Schließlich war es höchst untypisch für Emma, so impulsiv zu handeln. Und jetzt wollte sie auch noch eine Pension in Schottland kaufen!

Alles, was für Emma jetzt noch zählte, war, eine Gemeinschaft zu finden, der sie sich zugehörig fühlte, und ein Zuhause, das sie mit anderen teilen konnte. Und dieses Haus hatte etwas an sich, das sie ansprach, und zwar laut und deutlich – etwas, das ihr sagte, dass dies das Haus, das Geschäft und die Gemeinschaft sein könnten, nach der sie sich so sehnte, und dass sich all die harte Arbeit, die nötig war, um es perfekt zu machen, lohnen würde. Wenn sie nur den Mut aufbringen könnte, es zu kaufen und ihren Traum zu verwirklichen.

„So lange würde sie auch nicht brauchen“, sagte Liz, stellte den Teller mit den Sandwiches auf den Tisch und scheuchte ihre Enkel zum Händewaschen an die Spüle. „Mit deiner Erfahrung als Innenarchitektin würdest du das Haus sicher im Handumdrehen auf Vordermann bringen.“

Emma schürzte die Lippen und dachte darüber nach, wie viel Arbeit zu tun war. Die Schlafzimmer mussten gestrichen werden und das Esszimmer auch, aber das würde nicht so lange dauern – sie könnte alle paar Tage ein Zimmer schaffen, wenn sie sich anstrengen würde. Vielleicht ein paar Wochen Arbeit am Anfang, höchstens einen Monat. Je mehr sie darüber nachdachte, desto realistischer erschien es ihr.

„Ich habe deine Faszination für Gasthäuser noch nie verstanden“, sagte Jane, während sie sich rittlings auf die Küchenbank setzte, um das Mittagessen einzunehmen. „Du bist völlig verrückt, dass du sowas überhaupt in Betracht ziehst.“

„Also ich finde die Idee super“, sagte Emma, die eigentlich vorgehabt hatte, an der Universität Gastgewerbe zu studieren und nach ihrem Abschluss einige Jahre lang ein kleines Hotel zu leiten, um sich die nötige Erfahrung anzueignen, aber während ihres letzten Schuljahres war ihr Vater plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben, und da Jane bereits studierte, hatte ihre Mutter Emmas Unterstützung gebraucht. Letztendlich war es einfacher gewesen, einen Abendkurs in Innenarchitektur am örtlichen College zu belegen, als an die Uni zu gehen, aber jetzt, mehr als zehn Jahre später, gab es endlich die Möglichkeit, genau das zu tun, was sie sich immer gewünscht hatte. „Ich finde, es macht Spaß, wenn Leute aus aller Welt zu einem kommen und man nie genau weiß, wen der Wind hereinweht.“ Emma war schon immer ein kleiner Stubenhocker gewesen. Anders als viele ihrer Altersgenossen hatte sie sich nie für Rucksackreisen begeistern können. Sie zog die Vorstellung vor, dass die Welt zu ihr kam.

„Genau“, sagte Jane trocken. „Wie zum Beispiel besoffene Hochzeitsgäste, die dir die Badezimmer vollkotzen, kleine Kinder, die die Matratzen bepinkeln, oder kleine Hunde, die auf die Teppiche kacken.“

„Da kennst du dich ja bestens mit aus“, murmelte Emma und deutete auf Bear, der sich mit gekrümmtem Rücken und angestrengt zitternden Hinterbeinchen in eine Ecke hockte, um sich auf Janes blitzsauberen Kalksteinfliesen zu erleichtern.

Blitzschnell war Jane auf den Beinen, hob ihn auf, trug ihn mit vor sich ausgestreckten Armen in ihren winzigen Garten und schob die Tür hinter sich zu.

„Eins ist schonmal sicher“, sagte Emma und schaute ihrer Schwester zu, wie sie sich energisch die Hände wusch. „Wenn ich dieses Haus kaufe, wird es eine hundefreie Pension.“

„Warum magst du keine Hunde, Tante Emma?“, fragte Jake, den Mund voller Eiersalat, die Ellbogen auf dem Tisch.

Emma rümpfte die Nase. „Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag, ich mag nur ihren Geruch nicht, ihre Haare überall, ihr ewiges Gesabber.“ Sie riss die Augen auf und sah Jake eindringlich an. „Und was ich am allerwenigsten mag, ist ihre Kackhaufen aufzusammeln!“

„Das kann ich dir nicht verübeln“, sagte Jane, während Jake sich kaputtlachte, und betrachtete das kleine Paket auf dem Rasen, an dem Bear nun eifrig schnupperte. „Aber mal im Ernst: Beunruhigt dich der Gedanke nicht ein wenig, ein so großes Haus ganz allein zu führen, wenn lauter Fremde ein- und ausgehen?“

„Ich schätze, dass die vorherige Besitzerin es genauso gemacht hat“, sagte Emma und scrollte noch einmal durch die Fotos. Aufgrund der vielen Gardinen, Spitzentischdecken und Chintz-Vorhänge vermutete Emma, dass das Haus von einer älteren Dame verkauft wurde; auf den Bildern war so gut wie nichts Männliches zu sehen.

„Es war wahrscheinlich ein Paar“, sagte Jane wissend. „Du weißt schon, einer macht das Handwerkliche und einer die Hausarbeit. Kannst du das wirklich alles allein schaffen? Du hast vielleicht ein Gespür für Design, aber Hausarbeit und Heimwerken? Ernsthaft? Ich bin mir nicht sicher, Em. Und vergiss das Frühstück nicht; du bist nie wirklich über die Pfannkuchen und Rühreier hinausgekommen, die du mal für Mama und Papa gemacht hast, als du klein warst – und selbst da hast du Salz in die Pfannkuchen und Zucker in die Eier getan!“

„Und?“, fragte Emma trotzig und fühlte sich in die Defensive gedrängt, fast so, als wäre sie wieder vierzehn und Jane mache sich über einen Jungen lustig, den sie gernhatte, und würden jeden erdenklichen Grund aufzählen, warum Emma nie und nimmer die Richtige für ihn sein konnte. Ein Teil von ihr wollte das Haus kaufen, nur um Jane eines Besseren zu belehren. „Es gibt Möglichkeiten, diese Dinge zu umgehen – eine Haushälterin zum Beispiel, ein Handwerker.“

„Das kostet aber alles Geld.“

„Und ich könnte ein kontinentales Frühstück anbieten“, fuhr Emma fort, die sich von ihrer Schwester die Begeisterung nicht verderben lassen wollte. „Oder Bacon Butties und Rührei. Ich bin mir sicher, dass selbst ich das schaffen würde.“

„Auch wenn du in den letzten sechs Monaten nicht ein einziges Mal früh aufgestanden bist? Denn das ist es, was es braucht. Wenn man jemanden hat, mit dem man sich die Arbeit teilen kann, ist das alles ja schön und gut, aber für eine Person allein klingt das auf Dauer ganz schön hart.“

Emma biss etwas fester als nötig in ihr Thunfischsandwich. Die Wahrheit war, dass sie durchaus wusste, dass ihre Schwester recht hatte – sie war nicht gerade die beste Köchin der Welt, ein ausgeprägter Morgenmensch war sie auch nicht, und dass sie allein war, konnte sie nicht leugnen. Die erste Entscheidung, die sie nach Heiligabend getroffen hatte, war, mit Chris Schluss zu machen. Für Chris kam das aus heiterem Himmel. Er sagte, es sei eine Kurzschlussreaktion auf das traumatische Erlebnis, aber Emma war sich sicher; noch nie war ihr eine Entscheidung so leichtgefallen. Seit über einem Jahr –seit der Hochzeit von Chris‘ Bruder – hatte sie bereits darüber nachgedacht, die Beziehung zu beenden, aber immer gehofft, dass sich die Dinge doch noch bessern würden. Dann, am ersten Weihnachtstag, beschloss sie schließlich, ihn zu verlassen. Sie verließ die gemeinsame Wohnung noch am selben Tag, überzeugt davon, dass ihre Entscheidung die richtige war, aber auch nervös darüber, wie ihre Zukunft allein wohl aussehen würde; Chris war Emma über die Jahre hinweg ein guter Freund gewesen, auch wenn er nie ihre große Liebe gewesen war.

„Ich sage nicht, dass du es nicht tun sollst“, fuhr Jane fort. „Ich sage nur, dass du realistisch sein solltest, was so ein Projekt alles an Arbeit mit sich bringt.“

„Es wäre eine Menge Arbeit“, sagte Liz und schaute über Emmas Schulter auf die Fotos. „Aber das ist etwas, von dem Emma schon seit ihrer Jugend spricht. Solange sie es aus den richtigen Gründen tut und nicht, um vor etwas davonzulaufen, wird sie Erfolg haben, da bin ich mir sicher.“

„Ich laufe vor gar nichts weg“, sagte Emma, überrascht von der Bemerkung ihrer Mutter.

„Nicht einmal vor Chris?“, fragte Jane und wechselte einen vielsagenden Blick mit Liz.

„Nein!“, erwiderte Emma gereizt. Sie konnte sich durchaus denken, dass ihre Mutter und ihre Schwester bereits hinter ihrem Rücken über sie gesprochen hatten.

„Ist ja schon gut, kein Grund, mir gleich den Kopf abzureißen, du weißt sehr wohl, dass ich bloß will, dass du glücklich bist. Aber du kannst nicht leugnen, dass du dazu neigst, deine Probleme in Schubladen zu stecken und dann den Schlüssel wegzuwerfen.“

„Tu ich nicht!“

„Wie auch immer, Em“, sagte Jane und verdrehte die Augen. „Sieh nur zu, dass es die richtige Entscheidung ist und keine voreilige, das ist alles, was ich sage.“

„Ja, ja“, sagte Emma verletzt.

„Immerhin schlagen wir damit zwei Fliegen mit einer Klappe – du hättest direkt ein Einkommen und ein Haus“, sagte Jane in einem etwas freundlicheren Tonfall, da sie zu spüren schien, dass sie Emma vor den Kopf gestoßen hatte. „Schließlich kannst du nicht für immer und ewig bei Mum auf der Couch schlafen.“

Emma wusste, dass ihre Schwester recht hatte. Ihre Mutter hatte ein eigenes Leben und einen neuen Partner, Gary, und natürlich war es nicht einfach, eine normale Beziehung zu führen, während die erwachsene Tochter auf dem Sofa schnarchte. Es war an der Zeit, dass Emma aufhörte, ihrem Traum nachzuhängen, und stattdessen anfing, ihn zu leben, um ihrer Schwester – und sich selbst – zu beweisen, dass sie es schaffen konnte. Und das Haus hatte definitiv etwas an sich, das sie ansprach, etwas Einladendes.

„Weißt du, was dein Vater immer gesagt hat?“, fragte Liz aus heiterem Himmel.

„Was?“, fragte Emma, die die alten Geschichten über ihren verstorbenen Vater, dem sie so nahegestanden hatte, immer wieder gern hörte.

„Manchmal muss man einfach springen und sehen, wo man landet.“

Als Emma die Worte ihres Vaters hörte, spürte sie eine plötzliche Welle der Spontaneität durch ihren Körper strömen, und fühlte, wie die beinahe schicksalhafte Überzeugung, dass die kleine Pension in Lobster Bay für sie bestimmt war, von ihr Besitz ergriff. Sie beschloss, sich gleich nach dem Mittagessen mit dem Makler in Verbindung zu setzen und einen Besichtigungstermin zu vereinbaren.

„Das ist im Prinzip ja auch völlig in Ordnung“, sagte Jane, völlig ahnungslos über den Entschluss ihrer Schwester, „solange sie sich am Ende nicht ohne Schwimmweste in der Nordsee wiederfindet.“

Heiligabend

„Emma?“

Emma hörte Chris nach ihr rufen, noch bevor sie den Schlüssel aus dem Schloss gezogen hatte. Seine Stimme klang panisch.

„Mein Gott“, sagte er, als er vor ihr im Flur stand. Sein kleiner Mund öffnete sich, seine sanften Augen musterten sie von oben bis unten. Emma bemerkte, dass sein normalerweise ordentlich frisiertes, blondes Haar zerzaust war und sein Kragen offenstand.

Hinter ihm, im Flurspiegel, sah Emma, was er sah. Sie war über und über bedeckt von Staub, Blut befleckte ihre Kleidung und verschmierte ihr Gesicht, und ihre Hände waren zerkratzt und aufgeschürft.

„Ich habe versucht, dich anzurufen“, sagte er, während er ihr aus der Jacke half, und strich ihr die Haare aus der Stirn. Eine kurze Erinnerung daran, wie sie vor nicht allzu langer Zeit dasselbe für Dawn getan hatte, blitzte in ihrem Kopf auf.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche.

21:05 Uhr: 173 verpasste Anrufe. Emma blinzelte verwirrt. Warum in aller Welt hatte sie das Klingeln nicht gehört?

„Bist du verletzt? Was ist passiert?“, fragte Chris und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzte. Sie umklammerte die aschfarbene Armlehne und starrte auf Chris’ halbwegs eingepackten Geschenke. „Es ist überall in den Nachrichten. Ein Selbstmordattentäter. Es gibt Tote. Jede Menge Verwundete. Was ist passiert? Ich habe immer wieder versucht anzurufen.“

„Das hast du schon gesagt“, sagte Emma. Ihre Stimme klang sanft und wie aus weiter Ferne, als gehöre sie jemand anderem.

„Emma?“

Chris starrte erwartungsvoll auf sie herab. Emma blickte ausdruckslos zu ihm auf.

Sie wollte ihm alles erklären, aber selbst wenn sie die richtigen Worte fände, was hätte es schon für einen Sinn? Sie könnte ihm alles erzählen, und er würde sie trotzdem nicht verstehen.

So muss es sein, wenn man vom Mond zurückkommt, dachte sie.

Sie stand auf, den Blick in die Ferne gerichtet. „Ich glaube, ich habe keine Lust auf Weihnachten bei deiner Mutter. Sagst du ihr Bescheid?“

„Natürlich“, sagte er und reichte ihr eine Hand, die er aber zurückzog, als sie zusammenzuckte und zurückwich.

„Ich brauche eine Dusche. Geh ins Bett. Es war ein langer Tag“, sagte sie und versuchte, ihre Reaktion mit einem halben Lächeln zu überspielen.

„Aber Emma ...“, sagte er und seine Augen standen voller Tränen. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass er weinen konnte, sie aber nicht.

„Wir reden morgen früh“, sagte sie und legte ihm sanft eine Hand auf den Arm, obwohl sie eigentlich schon wusste, dass sie das nicht tun würden.

Kapitel 2

Emma zog die Handbremse ihres in die Jahre gekommenen Volvo-Kombis bis zum Anschlag an und hoffte inständig, dass sie noch sicher genug war, um zu verhindern, dass das Auto – und mit ihm sie selbst – den steilen Abhang hinunter in den kleinen Hafen von Lobster Bay rollen würde, der vor ihr lag.

„Wahnsinn“, flüsterte sie, als das Auto laut knarrend zum Stillstand kam und sie sich endlich entspannen und die Aussicht genießen konnte. Es war ein langer Weg gewesen, den sie über zwei Tage verteilt zurückgelegt hatte, aber jeder der mehr als siebenhundert Kilometer, selbst der Teil im strömenden Regen, wurde durch die Aussicht, die sich ihr jetzt bot, wieder wettgemacht.

Emma lehnte sich zurück, ließ die frühsommerlich-warme Sonne auf sich wirken und beobachtete das fröhliche Glitzern des Meeres, auf dessen Oberfläche zwei Eiderenten gemütlich vor sich hin dümpelten. Es schien gänzlich unmöglich, dass dies nun ihr Zuhause sein sollte, dass sie schon bald jeden verwitterten Stein in der Hafenmauer, die Ziegeldächer der alten Fischerkaten und die Gezeiten des Meeres, das den kleinen halbmondförmigen Strand umspülte, kennen würde.

Sie griff hinter sich, um in ihren Sachen nach ihrer geliebten alten Kamera zu kramen. Sie hielt sie sich vors Auge und konzentrierte sich auf einen etwa gleichaltrigen, gutaussehenden Mann mit kurz geschnittenen blonden Haaren, der im Hafen an einem Boot arbeitete. Sobald Emma ihn ins Visier nahm, schien er spüren, dass er beobachtet wurde. Er drehte sich um, blickte auf, und durch den Sucher sah Emma, wie sein unrasiertes Gesicht direkt in die Kamera starrte.

„Tut mir leid“, sagte sie, obwohl sie natürlich wusste, dass er sie nicht hören konnte, und nahm die Kamera herunter. Sie zuckte mit den Schultern und versuchte sich an einem fröhlichen, wenn auch etwas verlegenen Winken, was nicht erwidert wurde. Stattdessen wandte er ihr seinen breiten Rücken zu und setzte seine Arbeit fort.

„Ups“, sagte Emma und legte ihre Kamera zurück in die Tasche auf dem Rücksitz des Wagens, in der ihr bisheriges Leben fein säuberlich in Taschen verpackt lag. Jane fand es erschreckend, dass Emma für ihre einunddreißig Jahre so wenig materielles Gut vorzuweisen hatte, aber Emma trug ihren Mangel an Besitztümern wie ein Ehrenabzeichen. Als Innenarchitektin war es nicht leicht, wenig zu besitzen, denn bei jedem Auftrag gab es die ausrangierten Möbel der Kunden abzustauben, und zumeist solche, die weder sonderlich alt noch abgenutzt waren. Emma hätte inzwischen ein ganzes Lagerhaus voller ausrangierter Gegenstände haben können, aber seit sie das College verlassen hatte, lebte sie nach der Regel: „Besitze etwas nur, wenn es schön und funktionell ist“. Die Tatsache, dass so wenige Dinge diese Kriterien erfüllten, erstaunte sie immer wieder aufs Neue, und außerdem hatte sie ohnehin nie genug Platz für Unnötiges gehabt.

Emma kramte in ihrer kleinen Reisetasche auf dem Beifahrersitz nach ihrem Lipgloss. Die Tasche weckte Erinnerungen an den ersten Ort, an dem sie nach ihrem College-Abschluss und ihrem Auszug von zu Hause mit einundzwanzig Jahren gewohnt hatte. Emma war nach London gegangen und mit einer alten Schulfreundin in eine möblierte Wohnung gezogen. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, wie sie die Reisetasche auf ihr neues Bett gestellt und begonnen hatte, auszupacken. Dieser Vorgang hatte etwas an sich gehabt, was Emma zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl gegeben hatte, richtig erwachsen zu sein und endlich ihr eigenes Leben zu leben. Vier Jahre später hatte Emma dieselbe Reisetasche gepackt und war mit Chris in eine winzige Einzimmerwohnung gezogen, in der kaum mehr als das Nötigste Platz fand, und vieles davon hatte sie nun zurückgelassen, als sie die Beziehung beendet hatte.

Und jetzt war sie hier, mit der gleichen Reisetasche an ihrer Seite, und blickte auf den idyllischen Hafen hinaus. Emma konnte kaum glauben, dass die vergangenen zehn Jahre zum selben Leben gehörten. Sie beobachtete zwei Touristen mit Anoraks im Partnerlook, die mit einem Eis in der Hand über den Strand schlenderten, und einen Mann mit Stirnband, der mit seinem Surfbrett, auf dem sein kleiner Hund hockte, aufs Wasser hinauspaddelte. Sie kniff sich in den Arm. London fühlte sich von hier aus an wie eine andere Welt – als ob das letzte Jahrzehnt und die Ereignisse des Weihnachtsabends jemand anderem passiert wären. Es hätte Emma überhaupt nicht überrascht, wenn sie plötzlich aufgewacht wäre und festgestellt hätte, dass alles nur ein sehr detaillierter und lebensnaher, wenn auch etwas grausamer Traum gewesen war.

Emma machte es sich wieder in ihrem Sitz bequem und sah zu, wie der Mann mit dem Boot seine Arbeit beendete, in einen Lieferwagen stieg, auf dem in großen Lettern A Wilson: Bootsbauer stand, und die steile, kurvenreiche Straße hinauffuhr, bis er außer Sichtweite war. Sie dachte gerade daran, sich ein wenig die Beine zu vertreten und sich ein Eis zu gönnen, als ihr Telefon klingelte.

„Hallo“, antwortete sie.

„Emma, ich bin‘s, Pamela.“ Emmas Herz machte einen nervösen Sprung beim Klang der gebildeten Edinburgher Stimme ihrer Anwältin. „Das Geld ist bei der Verkäuferin eingegangen. Herzlichen Glückwunsch, die Pension in Lobster Bay gehört jetzt offiziell Ihnen.“

„Danke“, sagte Emma und vollführte einen kleinen Sitztanz, wobei ihr Erleichterung und Aufregung gefühlt aus allen Poren sprudelten.

„Wie vereinbart sind die Schlüssel in dem Keramik-Igel unter der Hecke hinterlegt.“

„Perfekt!“, erwiderte Emma lachend und war nicht im Geringsten überrascht, dass die Vorbesitzerin Hilda einen Zierigel als Geheimversteck hatte. Aus den Fotos war bereits ersichtlich gewesen, dass Hilda eine besondere Vorliebe für Nippes hatte, und das galt offensichtlich auch für den Garten.

„Na dann, viel Glück!“

Emma bedankte sich bei Pamela für ihre harte Arbeit und legte auf, ungläubig darüber, dass das Haus jetzt ihr gehörte, und noch viel ungläubiger darüber, dass sie die Spontaneität besaß, ein Haus zu kaufen, das sie bis jetzt nur online gesehen hatte.

Während sie die schmale Straße vom Hafen zum Dorfzentrum hinauffuhr, dachte sie an die letzten Monate zurück und daran, wie sie, die vernünftige alte Emma Jenkins, dazu gekommen war, ein Haus zu kaufen, das sie noch nie persönlich besucht hatte.

***

„Ich rufe wegen der Pension in Lobster Bay an“, hatte Emma zögernd zu der Immobilienmaklerin gesagt, als diese ans Telefon gegangen war. Sie vermutete, dass alle anderen, die sich nach dem Haus erkundigten, älter waren als sie, wahrscheinlich hauptsächlich Leute, die ein Projekt für den Ruhestand suchten. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass man sie eventuell nicht ernst nehmen könnte: Gasthäuser, so hatte sie gedacht, seien schließlich traditionell eher die Domäne von Rentnern, nicht von Designerinnen, die bereits in den Häusern russischer Oligarchen, Popstars und kleiner Königshäuser gearbeitet hatten. Aber trotz aller Bedenken, wie ihre Anfrage wohl aufgenommen werden würde, hatte Emma angerufen und sich selbst damit Mut gemacht, dass sie für ihre Kunden schon an ähnlichen Projekten gearbeitet hatte. Sie wusste, dass sie das Haus in eine atemberaubende Oase der Ruhe für Menschen verwandeln konnte, die auf der Suche nach einem Rückzugsort waren, und nicht nur in ein durchschnittliches Bed & Breakfast an der Küste, das jeder Rentner betreiben könnte.

„O ja“, antwortete die fröhliche Immobilienmaklerin mit ihrem weichen schottischen Akzent. Zu Emmas Erleichterung klang sie viel aufgeschlossener, als sie es sich vorgestellt hatte; ihrer Erfahrung nach neigten Immobilienmakler dazu, zurückhaltend und unfreundlich zu sein. „Das ist ein echter Knaller. Soll ich Sie für eine Besichtigung anmelden?“

„Das wäre toll, aber ich bin in Südengland und weiß nicht, wann ich hochkommen kann – vielleicht in ein paar Wochen?“ sagte Emma mit dem Hintergedanken, dass sie vielleicht einen günstigeren Zugpreis bekommen würde, wenn sie bis dahin warten würde.

„Ich würde nicht dazu raten, so lange zu warten, meine Liebe, es gibt auf einmal sehr viel Interesse, jetzt, wo der Frühling beginnt. Für das Haus gibt es bereits vier Interessensbekundungen und morgen noch eine zweite Besichtigung. Der Abschlusstermin ist für Freitag angesetzt.“

Emma spürte, wie ihr das Herz in die Hose rutschte und gleichzeitig eine stählerne Härte in ihr aufstieg. Das Wissen, dass sie Konkurrenz hatte, ließ sie das Haus nur noch mehr begehren.

„Wenn ich Sie wäre, würde ich einfach ein Angebot machen – Sie können nicht verlieren.“

„Ich habe noch keine Hypothek organisiert“, sagte Emma, wobei ihre vernünftige Ader gegen ihre neu entdeckte Spontaneität ankämpfte. Sie wusste, dass sie trotz ihrer Arbeitslosigkeit mit dem voraussichtlichen Einkommen durch die Pension und dem kleinen Geldbetrag, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, in der Lage sein würde, eine Hypothek aufzunehmen – aber nur, wenn die Zeit ihr nicht im Weg stehen würde, und das schien plötzlich durchaus möglich.

„Ach, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Solange die Verkäuferin Ihre Position kennt, ist es in Ordnung. Wir haben ein paar Bargeldkäufer, die Interesse bekundet haben, aber man weiß ja nie, und manchmal kann eine persönliche Notiz an den Eigentümer über Ihre Absichten für das Haus ein kleineres, weniger sicheres Angebot sogar verlockender erscheinen lassen.“

Emma spürte, wie ihre Laune wieder stieg, und ehe sie sich‘s versah, hatte die Maklerin Doreen ihr die Kontaktdaten von Pamela Brydon, der Anwältin der Verkäuferin, gegeben. Eine halbe Stunde später hatte Emma einen Crash-Kurs in schottischem Immobilienrecht absolviert und eine E-Mail an Pamela verfasst, um ein Angebot abzugeben, zusammen mit einer eingescannten Kopie eines handgeschriebenen Briefes an die derzeitigen Eigentümer, den sie später abschicken würde.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Ihnen persönlich schreibe. Ich wollte Sie wissen lassen, wie sehr ich mich in Ihr wunderschönes Haus verliebt habe und dass ich aufrichtig glaube, dass ich dazu bestimmt bin, seine neue Besitzerin zu werden, obwohl ich es noch nicht persönlich besichtigen konnte. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verrückt, denn so etwas Impulsives habe ich noch nie getan. Sie können jeden fragen, der mich kennt, er wird Ihnen sagen, dass ich von Natur aus sehr vernünftig bin und selten etwas spontan tue. Aber Ihr Haus hat mich in seinen Bann gezogen, und ich würde gerne dort leben und mich darum kümmern, solange ich dazu in der Lage bin – so wie Sie es auch getan haben.

Mir ist klar, dass ich nicht in der stärksten Position bin. Ich kann nicht viel mehr als den Angebotspreis bieten und habe noch keine Hypothek aufgenommen, aber ich versichere Ihnen, sollten Sie mein Angebot annehmen, wäre Ihr Haus in den allerbesten Händen.

Mit freundlichen Grüßen,

Emma Jenkins

Es waren ein paar nervenaufreibende Tage, aber weniger als eine Woche später erhielt Emma einen Anruf von Pamela, die ihr mitteilte, dass ihr Angebot angenommen worden war. Ihre Mutter und Jane fielen fast in Ohnmacht, als sie es ihnen erzählte, aber trotz ihrer Bedenken, dass Emma so weit wegziehen würde, und das ganz allein, war Emma weiterhin fest überzeugt. Die einzige Bedingung für den Verkauf war, dass Emma innerhalb von zwei Wochen eine Hypothek aufnehmen musste, was ihr mit Ach und Krach gelungen war. Und nun war sie hier, noch einmal vier Wochen später, das Geld war überwiesen, der Verkauf abgeschlossen.

Wer hätte gedacht, welche Folgen ein einziges Telefonat haben kann, dachte Emma, als sie das schmiedeeiserne Eingangstor des Grundstücks öffnete und einen Blick nach rechts warf, um unter der Ligusterhecke nach dem Zierigel zu suchen, den sie in der hintersten Ecke fand. Sie hockte sich hin und hob den Deckel des Igels an, um drei Schlüssel an einem Schlüsselbund zum Vorschein zu bringen, an dem ein Schlüsselanhänger mit dem Bildnis eines alternden Hundes baumelte.

„Das wird das Erste sein, was wegkommt“, sagte sie und sah sich das Bild des sabbernden Hundes an, bevor sie den Deckel wieder aufsetzte.

Emma entriegelte das untere Schloss, hielt inne und atmete einmal tief durch, als sie den Sicherheitsriegel anhob. Die schwere Holztür brauchte einen kräftigen Stoß mit der Schulter und traf direkt auf einen Stapel alter Briefe und Zeitschriften, der auf dem viktorianisch gefliesten Boden des Windfangs lag. Unbeeindruckt vom Knarren der alten Tür steckte Emma den Schlüssel ins Schloss der inneren Glastür – wobei sie nicht umhinkam, das schöne antike Glas, das mit winzigen Vögeln und Efeu verziert war, zu bewundern – und öffnete sie.

Sie keuchte, als ihr das Ausmaß dessen, was sie übernommen hatte, bewusst wurde. Der Raum, den sie betrat, war riesig; mit Decken, die selbst der längste Staubwedel nur schwer erreichen würde. Die mit Holzspänen verkleideten Wände waren in einem pfirsichfarbenen Ton gestrichen, den Emma trotz ihrer Ausbildung nur schwer zuordnen konnte.

„Was ist das für ein Geruch?“ Aus einer romantischen Vorstellung heraus hatte Emma den Duft von gebratenem Speck und Lavendelpolitur erwartet, höchstens einen leichten Modergeruch, der alten Häusern eben so anhing, aber dieser Geruch war nichts dergleichen. Es war eher eine Mischung aus nassem Hund, alten Weetabix und Schwefel.

Sie zog sich den Ärmel ihres Pullis über die Hand, hielt ihn sich vor die Nase und griff nach einem Zettel mit ihrem Namen, der an einem alten Bonbonglas auf der braunen Holzanrichte lehnte.

Liebe Miss Jenkins,

Ich vertraue darauf, dass Sie das Haus in bester Ordnung vorfinden werden. Sollten Sie einen Rat benötigen, wenden Sie sich bitte an Rhona. Ihre Nummer befindet sich in der obersten Schublade des Schreibtisches.

Am wichtigsten ist, dass Wilbur zweimal am Tag gefüttert wird.

Mit freundlichen Grüßen,

Hilda Wyatt (ehem. Eigentümerin)

„Wer ist Wilbur?“, fragte Emma und legte die knapp gehaltene Nachricht zurück auf die Anrichte. Sie hatte nicht die Absicht, eine streunende Katze aus der Nachbarschaft zu füttern, falls die mit Wilbur gemeint war. Katzen waren für Emma fast genauso rätselhafte Geschöpfe wie Hunde. „Und wer in aller Welt ist Rhona?“

Zuversichtlich, dass sie früher oder später Antworten auf diese Fragen erhalten würde, stieg Emma die breite, geschwungene Treppe hinauf. Es brauchte nicht viel, um sich den gemusterten weinroten Teppich und die entsetzliche rot-pfirsichfarben gestreifte Tapete wegzudenken, die sich, versehen mit einer verschnörkelten Bordüre, am unteren Teil der Wände entlangwand. Als Emma die Kurve in der Treppe umrundete, stellte sie sich vor, wie sich Hilda Wyatt dreißig Jahre zuvor für diese Einrichtung entschieden hatte, in dem Glauben, einen zeitlos-eleganten Klassiker zu wählen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie dreißig Jahre später der Inbegriff des Veralteten sein würde.

Emma wollte unbedingt das ganze Haus erkunden und stieg die erste und zweite Treppe bis ganz nach oben hinauf. Als sie den geräumigen, mit Spinnweben verhangenen Treppenabsatz erreichte, spürte sie von den vielen Stufen ihre Oberschenkel kribbeln. Sie ging direkt in das größte Zimmer am Ende des Flurs und stellte sich vor die beiden großen Flügelfenster, von denen aus man freie Aussicht aufs Meer hatte.

Trotz der abblätternden Farbe und des morschen Holzes der Fensterrahmen, das zerbröckelte, als sie mit dem Finger darüber fuhr, blickte Emma hinaus und war von der Schönheit der Aussicht überwältigt. Das Meer glänzte silbern, und am Horizont erspähte sie eine Insel, die in Form und Farbe an einen Pottwal erinnerte. Darüber schnellten im frischen Wind die Wolken vorbei, große baumwollene Wattebäusche, weiß und hellgrau, durchbrochen von blauen Fragmenten. Eine schönere Aussicht als diese hätte Emma sich selbst in ihren wildesten Träumen nur schwer ausmalen können.

„Mein Zuhause.“ Ihr Herzschlag verlangsamte sich, und eine Gelassenheit breitete sich in ihr aus, die ihr sagte, dass alles klappen würde, trotz der riesigen Menge an Arbeit, die noch zu erledigen war und die auf den Fotos der Maklerin nicht ersichtlich gewesen war.

Emma schaute sich um und begutachtete die Einrichtung des Zimmers nach ihrem Mantra „ist es schön und funktionell?“. Schließlich beschloss sie, lediglich das prächtige Himmelbett zu behalten, das derzeit mit hässlichen Chintz-Vorhängen verkleidet war, und vielleicht zwei antike Polstersessel, die am Fenster standen. Der Rest – eine Fülle von wenig eleganten Möbeln aus dunklem Holz, die mit altmodisch besticktem Stoff und Spitze verkleidet waren – konnte weg.

Gerade als sie das kleinere Schlafzimmer im Dachgeschoss des Hauses betrat, dessen Badezimmer mit pfirsichfarbener Sitzgarnitur, Blümchentapete und gestricktem Klopapierbezug ausgestattet war, klingelte Emmas Handy.

„Wie geht’s dir, Liebes?“, fragte Liz.