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Er ist ihr Seelenverwandter. Und sie seine größte Gefahr. Lenora ist spurlos aus Dunkelfelsen verschwunden und lässt Kilian mit einem Berg an Schuldgefühlen und Verzweiflung zurück. Wird sie ihm jemals verzeihen, was geschehen ist? Auf der Suche nach seiner Seelenverwandten gerät Kilian zwischen die Fronten eines uralten Konflikts. Das lässt ihn alles in Frage stellen, was er über die Seelenführer zu wissen glaubt. Und über Lenora. Denn ihre Seele scheint in all der Dunkelheit weit mehr Geheimnisse zu bergen, als Kilian jemals für möglich gehalten hat. Geheimnisse, die das Schicksal der Seelenführer für immer verändern könnten. Der zweite Band der Deine Seele Trilogie und die Fortsetzung zu Die Dunkelheit deiner Seele. Triggerwarnung im Buch enthalten.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Triggerwarnung
Mögliche Trigger
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Noch nicht genug von Kilian?
Glossar
Nachricht der Autorin
Über die Autorin
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Impressum
Für alle verlorenen Seelen.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
dieses Buch enthält Szenen, die möglicherweise negative Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks triggern könnten. Eine Auflistung findet ihr auf der nächsten Seite. Achtung, diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Berücksichtigt das bitte bei eurer Entscheidung, ob ihr dieses Buch lesen möchtet oder nicht. Ich habe vollstes Verständnis dafür und wünsche mir für alle meine Leserinnen und Leser ein positives Leseerlebnis.
Eure Kate
Tod und das Sterben, seelische und körperliche Gewalt (Blut, Folter, Misshandlung), Krieg und Massaker, Entführungen und Gefangenschaft sowie psychische Probleme.
Lenoras tränenüberströmtes Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Es löst sich langsam im strahlenden Glanz jener magischen Strömung auf, die das Diesseits mit dem Jenseits verbindet. Gleißendes Licht umhüllt mich, als ich zwischen den Sphären wandle. Sophies Seele protestiert dabei in meinem Inneren, kämpft gegen mich an. Sie klammert sich an ihr Leben, obwohl es längst vergangen ist, ausgelöscht durch den Tumor, den sie Lenora verschwiegen hat. Ein unangenehmes Ziehen breitet sich in meinem Brustkorb aus, als sie wieder und wieder versucht, mir zu entkommen. Das vertraute Kribbeln des Übergangs setzt ein, überzieht meinen ganzen Körper und vertreibt schließlich das helle Licht um mich herum. Als ich die Augen öffne, ist das Zimmer im Seniorenheim verschwunden, und mit ihm Lenora. Stattdessen befinde ich mich an einem Flussufer, grobe Kiesel und Felsbrocken zu meinen Füßen. Ich atme tief durch, sauge die vertraute, reine Luft ein, die sich von der auf der Erde so sehr unterscheidet. Hier liegt pure Magie und Leben in jedem Atemzug, während sich auf der Erde nur ein winziger Hauch davon wahrnehmen lässt. Wenn überhaupt. Und es ist still hier, so unglaublich still. Kein Vogel singt, kein Wind weht heulend über das steinige Ufer hinweg. Einzig das sanfte Rauschen des Lebensflusses zu meiner Rechten ist zu hören. Über ihn wird Sophies Seele bald schon in ein neues Leben gelangen. Ich schließe seufzend die Augen und versuche, mich zu sammeln, mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen. Die ersten Sekunden im Jenseits sind jedes Mal aufs Neue unheimlich. Es dauert allerdings nicht lang, da hat mich das tiefe Gefühl von Frieden und Ruhe umfasst, das so typisch für diesen Ort ist. Sophies Seele kämpft noch immer gegen mich an, diesmal erfolgreich, kaum dass ich meinen Widerstand aufgegeben habe. Sie bahnt sich einen Weg aus meinem Inneren hervor, drückt sich meinen Hals hinauf, bis ich das Gefühl habe, weder schlucken noch atmen zu können. Obwohl ich schon so viele Seelen nach deren Tod begleitet habe, überwältigt mich der Schmerz jedes Mal aufs Neue. Ich beuge mich nach vorn, stütze meine Hände auf den Knien ab. Einen qualvollen Moment lang glaube ich, ersticken zu müssen. Als mir schwarz vor Augen wird und mich der Schwindel von den Füßen zu reißen droht, finde ich Halt an einem großen Steinbrocken. Schwer stütze ich mich auf seine raue Oberfläche auf. Ruhig, Ciaran! Wehre dich nicht dagegen, dann geht es schneller vorbei, höre ich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Eine flüchtige Erinnerung an meine erste Reise ins Jenseits als vollwertiger Seelenführer. Trotz des Drucks auf meiner Kehle, versuche ich, Gabriels Anweisungen von damals zu folgen. Ein Ruck geht plötzlich durch meinen Körper. Kaum dass Sophies Seele mein Innerstes verlassen hat, lässt dieses beklemmende Gefühl schnell wieder nach. Als ich blinzelnd die Augen öffne und mich umdrehe, schwebt sie vor mir, gleißend hell wie das Licht, das uns auf unserem Weg hierher umgeben hat. Nur langsam ebbt das Strahlen ab und nimmt einen pfirsichfarbenen Schimmer an. »Kilian? Wo … wo sind wir?«, fragt Sophies Seele mit glockenreiner Stimme und macht einige Schritte auf den Wald jenseits des Flussufers zu. »Erinnerst du dich, was geschehen ist?«, frage ich sie, spreche aber doch nicht aus, was ich eigentlich wissen will. Ob sie sich an den Grund erinnert, weshalb wir hier sind. An ihren Tod. »Was? Nein … Was machen wir hier? Und wo ist Lenora?« Verwundert blickt sich Sophies Seele im Jenseits um, tritt an das Ufer des Flusses zurück, der diese Sphäre mit den Landen der Lebenden verbindet, jenem Ort, an dem wir Lenora zurücklassen mussten. Hin und wieder kann man bunt leuchtende Schlieren darin erkennen. Es sind andere Seelen, die ins Leben zurückkehren. Sobald sich mein Schützling an den Gedanken gewöhnt hat, nicht länger Sophie zu sein, wird er ihnen folgen. Statt ihr zu antworten, lasse ich Sophies Seele Zeit, sich zu orientieren. Die Erinnerungen werden von ganz allein zurückkehren. Oft dauert es nur paar Minuten, bis sich eine Seele an ihren letzten Besuch im Jenseits erinnert. Ein Blick auf den rauschenden Fluss oder den Wald hinter dessen steinigem Ufer reicht oft schon aus. Oder ihr Seelenname, der wirklich und wahrhaftig einzigartig ist. »Lenora ist nicht hier, Taisla. Wir sind in Eomis, dem Land der Seelen«, sage ich schließlich, als ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushalte, das Rauschen des Flusses plötzlich zu laut wird. Sophies leuchtende Seele fährt zu mir herum. Während ihre ganze Gestalt verschwommen ist, wie ein schimmernder Schatten, trägt sie noch immer das faltige Gesicht von Lenoras Großmutter. Wütend schallt mir der Klang ihrer Seele entgegen, nicht mehr leise und zurückhaltend, wie gerade eben noch, sondern aufgebracht und wirr. »Taisla? Land der Seelen? Kilian, was redest du denn?« Vor Verwunderung verzieht sie ihr Gesicht. Diese Reaktion ist vollkommen normal, schließlich erinnern sich die meisten Seelen im ersten Augenblick nicht an ihre früheren Leben oder an ihren ursprünglichen Namen. »Taisla ist dein Seelenname, der Name, den du in deinem ersten Leben von deinen Eltern erhalten hast«, erkläre ich Sophie ruhig und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. Gabriel hat mir etwas ganz Ähnliches erzählt, als er mich in die Geheimnisse von Leben und Tod eingeweiht hat. »Kannst du dich daran erinnern?«, frage ich vorsichtig, denn ich weiß, dass das nicht immer leicht ist. Ich kann es auch nicht, will es vielleicht gar nicht. Zu viel ist seitdem passiert und meine Aufgabe als Seelenführer erfordert seit Jahrzehnten meine gesamte Aufmerksamkeit. »Ich … ich weiß nicht …«, stammelt Taisla und schüttelt nachdenklich den Kopf. Ihre Seele beginnt plötzlich zu flackern. Erste Schatten zeigen sich auf ihrer Haut aus purem Licht. Die Erinnerungen kehren zurück. Sie drängen sich aus dem Inneren ihrer Seele nach außen, und mit ihnen all die Verletzungen und dunklen Momente, die sie in ihren vorherigen Leben durchgemacht hat. Es müssen einige gewesen sein, aber weit weniger als bei Lenora. »Was ist das? Kilian, was passiert mit mir?«, fragt Taisla erschrocken und fährt mit ihren leuchtenden Fingern über ihren durchscheinenden Seelenkörper. »Wo … Wo kommen all diese Erinnerungen her?« »Aus deinen früheren Leben. Und bald werden neue hinzukommen, da bin ich mir sicher, Taisla«, entgegne ich und streiche ihr vorsichtig über ihre bebenden Schultern. »So viel Tod … So viel Schmerz«, wispert sie und fährt über die dunklen Stellen, die sich mal tief, mal oberflächlich auf ihrem Seelenkörper abgelagert haben. »Keine Sorge, die meisten wird der Fluss fortwaschen, wenn du die Reise in dein nächstes Leben antrittst«, versuche ich sie zu beruhigen. Dass manche dieser Wunden jedoch zu tief sitzen und sie Leben für Leben weiter begleiten könnten, verschweige ich ihr lieber. Ich will sie nicht noch mehr verschrecken. Außerdem sind diese Momente, die uns wirklich geprägt haben, besonders und persönlich. So sehr ich Lenoras Großmutter auch in mein Herz geschlossen habe, bezweifle ich, dass sie sie mit mir teilen wollen würde. »Mein nächstes Leben … Was soll das heißen? Bring mich sofort zurück nach Dunkelfelsen, Kilian. Ich will das hier nicht! Ich will diese Erinnerungen nicht …«, protestiert Taisla, doch mischt sich Zweifel in ihre Stimme. »Wir können nicht zurück, und ich glaube, das weißt du auch.« Ich zwinge mich zu einem aufmunternden Lächeln, auch wenn es mir widerstrebt, hier zu stehen. Mit der Seele, die in ihrem letzten Leben Lenoras Großmutter gewesen ist. Die eine Person, die dafür gesorgt hat, dass wir doch noch zueinander finden. Was wäre nur ohne sie aus uns geworden? »Ich … ich verstehe das nicht …«, haucht sie und lässt sich traurig auf einen der Steine um uns herum sinken. Mit ihren Fingern aus Licht und Schatten fährt sie über dessen Risse und raue Kanten. Es sind weit mehr, als auf ihrer leuchtenden Seele zu sehen sind. Ich dagegen bleibe, wo ich bin. In solchen Momenten muss man einfach abwarten, bis die Seele all das hier begreift. Sich damit abfindet, dass das letzte Leben nun abgeschlossen ist und ein neues bereits auf sie wartet. In der Regel geht es recht schnell, es sei denn, die Seele klammert sich wirklich sehr an ihr altes Leben. »Kilian, ich muss zu Lenora. Es ist wirklich schön hier, aber wir können nicht bleiben. Bring mich zurück«, fordert Sophies Seele in ihrem gewohnt resoluten Ton. Sie scheint ein solcher Härtefall zu sein und macht es mir so noch schwerer, diese Situation zu verarbeiten. Viel Zeit habe ich zwar nicht mit Lenoras Großmutter verbracht, aber ich werde sie vermissen. Tue es jetzt schon, auch wenn uns der Abschied noch bevorsteht. Wütend balle ich die Hände zu Fäusten und atme tief durch. Noch nie hat mich der Besuch im Jenseits so viel Kraft gekostet, mir alles abverlangt, um vor Taisla zu verbergen, wie sehr mich ihr Tod berührt. Warum bin ausgerechnet ich in Sophies Nähe gewesen, als sie gestorben ist? Alles wäre so viel einfacher, hätte ein anderer Seelenführer die Aufgabe übernommen, ihre Seele hierher zu bringen. Elvira oder Gabriel vielleicht. Konzentriere dich, Kilian. Darüber kannst du auch noch nachdenken, wenn es vorbei ist, mahne ich mich streng und schlucke meinen Ärger herunter. Ein bisschen muss ich noch stark sein. Für Taisla. Für das Wohl ihrer Seele. Um ihr den Übergang zu erleichtern. Es ist schon schmerzlich genug, ein Leben samt all dieser geliebten Menschen hinter sich zu lassen. Da muss ich es ihr nicht noch schwerer machen. »Wir können nicht zurück. Du bist gestorben. Du bist nicht länger Sophie.« Jedes einzelne Wort brennt wie Feuer in meinem Herzen, schmeckt bitter auf meiner Zunge. »Es tut mir so leid … Ich …« Fest presse ich die Lippen aufeinander und kämpfe gegen die Traurigkeit an, die diese unmögliche Situation in mir heraufbeschwört. Genau deshalb halte ich mich von den Lebenden fern. Um nicht verletzt zu werden. Um nicht diesen schrecklichen Schmerz spüren zu müssen, sobald es für sie Zeit ist, ein altes Leben zu beenden und ein neues zu beginnen. Weit fort von mir. Warum musste ich diese eine Regel brechen, als ich Lenora über den Weg gelaufen bin? »Kilian, was …?« Sophies Seele schwebt auf mich zu, nur um mitten in der Bewegung innezuhalten. Ihr zartrosa Seelenlicht blendet mich, sodass ich mich abwenden muss und meinen Blick stattdessen auf den Fluss richte. Auf ihre Zukunft. »Du bist nicht länger Sophie, Taisla«, wiederhole ich und hoffe, dass ihr diese Tatsache langsam bewusst wird. Sie muss einfach begreifen, dass ihr letztes Leben vorbei ist, aber ein weiteres bereits auf sie wartet. Der Tod ist nie das Ende, wie so viele Sterbliche auf der Erde und all den anderen Planeten glauben. Er ist die Tür zu etwas Neuem, zu neuen Abenteuern, aber auch Gefahren. »Und wer bin ich dann?« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Taisla neben mich schwebt und nun ebenfalls auf den Fluss hinausblickt. Nebel wabert über das klare Wasser, sodass man das andere Ufer nicht sehen kann. Noch nie habe ich einen Blick darauf erhaschen können. Was wohl dahinter liegt? Als ich Gabriel danach gefragt habe, hat er mir nur eine sehr unbefriedigende Antwort gegeben: Dieses Wissen brauchen wir Seelenführer nicht. Unser einziger Zweck, unsere Pflicht ist es, die Seelen Verstorbener unbeschadet hierher zu bringen, damit sie ein neues Leben beginnen können. Nicht mehr und nicht weniger. Ich seufze leise und wende mich ihr zu. »Du bist eine Seele, Taisla, und deine Aufgabe im Lande der Lebenden ist noch nicht beendet. Es wird Zeit, dass du zurückkehrst.« »Zu Lenora?« Hoffnungsvoll hebt sie den Kopf. Es tut mir im Herzen weh, sie enttäuschen zu müssen. Ich wünschte, die beiden könnten wieder aufeinandertreffen, oder besser noch: dass alles beim Alten bleibt. Dass Lenoras Seele heilt, anstatt an Sophies Tod zu zerbrechen. Aber es ist unfair, Taisla falsche Hoffnungen zu machen, auch wenn sie sich in ihrem neuen Leben vermutlich gar nicht mehr an mich erinnern wird. Oder an Lenora. Zögerlich zucke ich mit den Schultern. »Es ist nie gewiss, wohin es dich im nächsten Leben verschlagen wird. Manche Seelen verbringen noch einige Leben miteinander, andere ziehen weiter. Nur das Schicksal allein weiß, wo wir landen, sobald wir in die Fluten springen«, wiederhole ich die Worte, die man mir vor so vielen Jahrtausenden nach meinem ersten Tod gesagt hat. Es sind genau die Worte, die die Abenteuerlust in mir geweckt haben. »Das ist nicht das Ende, Taisla, sondern erst der Anfang.« »Natürlich ist das das Ende, Kilian! Wenn ich jetzt gehe, werde ich sie nie wiedersehen«, sagt Taisla leise. Der Schmerz in ihrer Stimme bohrt sich in meine Seele, hinterlässt dort ganz gewiss einen dunklen Fleck. Einer, der sich ausbreiten wird, sobald ich zu Lenora zurückkehre und die Trauer in ihren blaugrauen Augen sehe. Ihre Verzweiflung spüre, als wäre es meine eigene. »Eure Pfade könnten sich wieder kreuzen, in einem anderen Leben«, sage ich beinahe automatisch. Wie viele meiner vorherigen Schützlinge hängt Taisla an einer anderen Seele aus ihrem letzten Leben. Und wie immer scheinen diese Worte sie zu verärgern. Taislas Seelenlicht wird schwächer, ist plötzlich von dunklen Schlieren durchzogen. »In welchem denn? Wird sie überhaupt ein weiteres Leben haben?« Abrupt drehe ich mich zu Taisla um, beobachte sie ganz genau. Weiß sie, wie es um Lenoras Seele bestellt ist? »Ja, Kilian, ich weiß es. Ich … Ich kann sie jetzt mit anderen Augen sehen. Es ist schwer zu erklären, aber ich sehe Lenoras Seele in meinen Erinnerungen. Dunkel und zerbrochen. Hoffnungslos. Verloren …« Ich schlucke schwer und wende mich von ihr ab. Taisla das sagen zu hören, schwächt das letzte bisschen Hoffnung, das ich noch für Lenora übrig habe. Die ganze Zeit über habe ich es nicht wahrhaben wollen. Wenn nun sogar eine Seele wie Taisla sieht, was für mich seit unserer ersten Begegnung offensichtlich ist, wie kann ich mich dann noch gegen diese Tatsache wehren? »Kilian?« Taisla beobachtet mich, scheint auf eine Antwort zu warten, aber ich will es einfach nicht laut aussprechen. Das kann ich nicht verkraften. »Kilian, es tut mir so leid!« Taisla steht plötzlich neben mir, hat mir ihre strahlende Hand auf die Schulter gelegt. Magie pulsiert durch ihren Körper und lässt eine Gänsehaut auf meinen Armen entstehen. Taislas Zauberkraft ist gering, aber dennoch ein Wunder. Es ist mehr als Lenora noch zur Verfügung steht. So viel mehr. »Mir auch, Taisla«, bringe ich schließlich hervor, woraufhin ihr Griff fester wird. »Mir tut es auch leid.« Für einen Moment fühlt es sich wieder so an, als versuche eine Seele, meinem Inneren zu entkommen. Ich kann weder atmen noch schlucken. Meine Kehle zieht sich zusammen, bis ich keine Kraft mehr habe, um aufrecht zu stehen. Taisla stützt mich, bringt mich zu einem der großen Steine und hilft mir auf, als ich über meine eigenen Füße stolpere. Meine Selbstbeherrschung ist dahin, ausgelöscht von meiner Sorge um Lenora. »Was soll ich nur tun, wenn sie …?«, wispere ich und kann den Satz doch nicht beenden. Ich kann es einfach nicht aussprechen. Seit ich Lenora kenne, fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Als wäre ich mehr. Als wäre ich untrennbar mit ihr verbunden, wo doch im Moment so vieles zwischen uns liegt. Welten, ganze Sphären und Sophies Tod. Er wird Lenoras Seele endgültig zerstören. »Du wirst einen Weg finden. Ihr werdet einen Weg finden, Kilian. Zusammen. Da bin ich mir sicher. Eure Liebe strahlt heller als die dunkelsten Schatten des Universums. Auch das kann ich jetzt sehen, habe es immer schon gespürt«, sagt Taisla irgendwann und streicht mir aufmunternd über den Rücken. Jede ihrer Berührungen ist wie ein kleiner Stromschlag, der mich zusammenzucken lässt. Taisla scheint es jedoch nicht zu bemerken. Die Melodie ihrer Seele ist plötzlich so viel ruhiger. So viel entspannter. »Das gibt mir Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist …« Seufzend lässt sie ihren Blick über den Fluss schweifen, folgt den bunten Schlieren darin, die sich zu einem neuen Leben aufmachen. Dieser Anblick weckt früher oder später immer die Sehnsucht in den Seelen. Die Sehnsucht nach mehr, nach einem neuen Abenteuer in den Landen der Lebenden. Eine Sehnsucht, die irgendwann so stark sein wird, dass nichts mehr sie aufhalten kann. Auch nicht die Sorge um Lenora. Und doch wünschte ich, Taisla würde noch bleiben. Zum ersten Mal, seit meine Seele existiert, hasse ich Eomis und die Reinheit seiner Luft. Ich hasse den Fluss, der Leben von Tod trennt, und den Nebel, der mir die Sicht auf das andere Ufer nimmt. Ich hasse es, Teil dieses endlosen Kreislaufs zu sein und doch nichts gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen zu können. »Wie du schon gesagt hast, ist das nicht das Ende.« Taisla steht auf. Nun ist sie es, die mich aufmunternd anlächelt. Mit ihrer leuchtenden Seelenhand streicht sie mir durchs Haar, versucht meine eigene Seele mit ihrer Berührung zu beruhigen. »Das ist erst der Anfang, Kilian. Der Anfang von etwas ganz Wunderbarem.« Ihr Lächeln wird breiter, als sie sich rückwärts auf den Fluss zu bewegt. »Ich weiß nun, was ich tun muss. Und wir werden uns wiedersehen. In diesem neuen Leben oder einem danach. Mit Lenora an deiner Seite.« Die Zuversicht in Taislas Stimme überrascht mich. Sie muss sich wieder an alles erinnern. Nur dann sind die Seelen wirklich im Reinen mit sich und ihrem Schicksal. Nur dann kommen sie über ihr letztes Leben hinweg und machen sich bereit für ein neues. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte Taisla zurückgehalten, doch meine Pflichten als Seelenführer verbieten es mir. Ich darf keine Seele stoppen, die sich entschließt ins Leben zurückzukehren. Und trotzdem würde ich es so gerne tun. Was würde ich dafür geben, um Taisla zurück zu Lenora zu bringen, zurück zu Sophies leblosem Körper, nur um zu verhindern, dass Lenoras Seele noch mehr leidet, noch mehr zerbricht! »Geh zurück zu ihr, Kilian. Sie braucht dich jetzt mehr denn je.« Das Flehen in Taislas Stimme zeigt, wie sehr sie noch immer an Lenora hängt. »Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen, aber ich weiß, dass ich das hinter mir lassen muss. Dass ich meine Bestimmung nicht ignorieren darf, so wie …« Taisla bricht abrupt ab und weicht zurück. Ihr Seelenkörper leuchtet vor Schreck über das, was sie beinahe ausgesprochen hätte, heller auf. Und leider hat sie recht. Irgendetwas scheint Lenora daran zu hindern, ihrem Schicksal zu folgen, den Auftrag zu erfüllen, den ihre Seele einst von den Ewigen erhalten hat. Nur wer über viele Leben hinweg keine Ruhe in Eomis gefunden hat, kann sich selbst so zugrunde richten. Eine Seele ist erst frei, wenn sie ihre Aufgabe abgeschlossen hat, flüstert Gabriels Stimme in meinem Kopf. Und genau deswegen halte ich Taisla nicht zurück, auch wenn es mich beinahe zerreißt, sie gehen zu lassen. Mehr noch als alle Seelen vor ihr. Wie immer, wenn sich ihm eine Seele nähert, steigt die Strömung des Flusses, als könnte er sie so schneller zurück ins Leben ziehen. »Ich kann das nicht alleine, Taisla«, sage ich. Ich kann Lenora nicht alleine heilen, nicht, nachdem ich derjenige war, der ihr Sophie genommen hat. »Wie gut, dass du nicht alleine bist, Kilian. Wir sind überall«, ruft mir Taisla mit einem Lachen über das Dröhnen des Flusses zu. Das Wasser geht ihr schon fast bis zu den Knien. Das Licht ihrer Seele löst sich darin auf, je weiter sie in den Fluss hineintritt. Es treibt mit der Strömung davon und reißt Taisla schließlich mit sich. »Die Hoffnung siegt immer«, ruft sie mir zu, ehe auch sie in die Strömung gesogen wird und wie all die anderen Seelen zurück ins nächste Leben treibt. Ich blicke ihr hinterher, bis das gleißende Licht ihrer Seele im rauschenden Fluss verschwindet. Eigentlich hätte ich schon längst ins Diesseits zurückkehren müssen, schließlich habe ich meinen Auftrag erfüllt. Taisla hat ihr altes Leben hinter sich gelassen und die Reise in ein neues angetreten. Vielleicht nimmt sie in diesem Moment ihren ersten Atemzug, öffnet zum ersten Mal ihre Augen. Aber ich kann noch nicht zurück. Ich kann nicht mitansehen, wie Sophies Tod Lenora zugrunde richtet. Wie soll ich ihr je wieder in die Augen blicken, wenn ich ihr das letzte bisschen Familie genommen habe, das ihr noch geblieben ist?
Lange Zeit verweile ich in Eomis, sitze auf dem rauen Felsen, ohne zu wissen, was ich nun tun soll. Wie ich mit all der Trauer in meinem Herzen in die Lande der Lebenden zurückkehren soll. Als ich mich schließlich entscheide, zu gehen, treibt mich der Lebensfluss direkt zurück in Sophies Zimmer. Zurück ins Seniorenheim. Trotz meiner vielen Besuche in Eomis habe ich noch immer kein richtiges Gefühl dafür entwickelt, wie viel Zeit im Lande der Lebenden vergeht. Was sich für mich bloß wie eine halbe Stunde angefühlt hat, muss für Lenora weit länger gewesen sein, für alle Lebenden hier. Sophie ist längst fort, nicht nur ihre Seele, sondern auch ihr Körper. Und Lenora mit ihr. Sie hat das Seniorenheim verlassen, hat es vermutlich nicht länger ausgehalten so allein in dem dunklen Raum, der plötzlich trist und leblos wirkt. Nicht einmal die bunten Bilder, die Sophie überall aufgehängt hat, können daran etwas ändern. Sie ist diejenige gewesen, die ihnen Leben eingehaucht hat. Über einem der Stühle hängt meine Jacke. Ich nehme sie an mich, spüre die rauen Fasern des Wollmantels in meinen Händen, die kalten Metallknöpfe zwischen meinen Fingern. Langsam kehre ich auch gedanklich in die Wirklichkeit zurück, zurück ins Leben. Jedes Mal brauche ich einige Minuten, um mich nach der Stille des Jenseits wieder an die Geräusche des Diesseits zu gewöhnen. An all die Seelen, die über diesen Planeten wandeln, während ich in Eomis ganz allein gewesen bin. Weil es bereits so spät in der Nacht ist, ist auch hier im Seniorenheim Ruhe eingekehrt, und trotzdem kann ich sie hören: die Musik der Seelen, die mich nie ganz loslässt. Jede Seele klingt anders, genauso wie keine denselben Namen trägt. Aber da ist noch etwas anderes, ein leichtes Vibrieren, das von irgendwo innerhalb meiner Manteltasche ausgeht. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was es ist. Mein Handy. Sie ist im Bestattungsinstitut, steht auf dem Display. Eine Nachricht von Gabriel. Mehr nicht. Nur eine knappe Information, ganz genauso wie ich es von ihm gewohnt bin. Ohne zu zögern, verlasse ich Sophies Zimmer. Mit unsicheren Schritten taumele ich den Gang entlang, die Treppe hinunter, bis ich das Foyer erreiche.
»Wo ist sie?«, rufe ich Minuten später in die Dunkelheit des Bestattungsinstituts hinein. Ich spüre die Anwesenheit meiner Familie, höre das vertraute Singen ihrer Seelen, doch erhalte ich keine Antwort. Ein Zimmer nach dem anderen betrete ich. Die Aussegnungshalle, die Vorbereitungsräume, das Wartezimmer und schließlich Gabriels Arbeitszimmer. Dort sitzen sie mit finsterer Miene. Alle. Alle bis auf eine. »Wo ist sie?«, wiederhole ich und sehe einem nach dem anderen ins Gesicht. Clara hat Tränen in ihren dunklen Augen und sieht auf den Boden, Felix hat sein aufmunterndes Lächeln aufgesetzt, sogar Elvira weiß nicht recht, was sie sagen soll. Nachdenklich fährt sie sich durch die blonden Locken und doch fehlen ihr die richtigen Worte. Panik breitet sich in mir aus und rauscht wie Eiswasser durch meine Adern. Mein Herz rast in meiner Brust, viel schneller, als es sollte. »Wo ist sie, verdammt?« Gabriel steht langsam auf, bevor ich meiner Verzweiflung Luft machen kann. Er hat die Hände hoch erhoben, wie um mir zu signalisieren, dass ich mich beruhigen soll. Als ob ich das nicht wüsste!, denke ich wütend. Ich spüre schließlich, was in ihnen vorgeht. Meist bloß sehr vage, aber es ist wie ein sechster Sinn, den ich seit meiner Wandlung zum Seelenführer entwickelt habe. Die Melodie ihrer Seelen klingt besorgt. »Ich kann mich jetzt nicht beruhigen, wenn ich keine Ahnung habe, wo sie ist.« Noch immer sagen sie kein Wort. Gabriel umrundet seinen breiten Schreibtisch aus massivem Eichenholz und lehnt sich leise seufzend dagegen. Er sieht plötzlich erschöpft aus, voller Sorge. Der Klang seiner Seele wird einen Moment lang tiefer, melancholischer, und das ist nie ein gutes Zeichen. »Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Verständlicherweise. Sophie war schließlich ihre letzte lebende Verwandte, von ihrem Vater mal abgesehen«, sagt Gabriel schließlich, die Stimme so ruhig, dass mir kalte Schauder den Rücken hinablaufen. »Was? Wo ist sie? Wieso ist keiner von euch bei ihr? Ihr könnt sie doch nicht einfach alleine lassen!«, bricht es aus mir hervor, so laut, dass Clara erschrocken zusammenzuckt. Und ich mit ihr. Meine Verzweiflung und Angst um Lenora, aber auch die Trauer um Sophie gewinnen langsam die Überhand. Sie verändern bereits jetzt meine Seele, nähren die Dunkelheit in ihr. Wütend wende ich mich ab, will mich auf den Weg zu Lenora machen, doch schon im nächsten Moment wird mir schwarz vor Augen. Am Rand bekomme ich mit, wie ich gegen irgendetwas stoße, ein Beistelltisch vielleicht, und Dinge neben mir auf den Boden fallen. Ihr Klappern hämmert durch meinen Kopf wie Donnergrollen während eines Sommergewitters. Hände legen sich um meine Schultern, ziehen mich von meinem Hindernis fort und streichen mir beruhigend über den Rücken. »Du brauchst erstmal eine Verschnaufpause, Junge. Du bist viel zu lange dort gewesen«, sagt Gabriel besorgt. Er führt mich zu einem der Stühle, auf denen sonst die Hinterbliebenen sitzen, leise schluchzend oder zumindest mit traurigen Mienen. Und genauso fühle ich mich jetzt. Sophies Tod lastet schwer auf mir, doch ist das kein Vergleich zu dem, was Lenora durchmachen muss. »Ich kann nicht. Sie braucht mich jetzt«, protestiere ich, auch wenn mir meine Familie widersprechen wird. Ich spüre ihren Widerstand. Als ich die Augen schließlich öffne, fällt mein Blick auf ein weißes Taschentuch, das mir Gabriel an die Nase hält. An manchen Stellen hat es sich rot gefärbt. Erst da merke ich, dass ich Nasenbluten habe. Das ist das erste Mal, dass mich ein Besuch in Eomis derartig mitgenommen hat. Völlig verstört nehme ich das Taschentuch entgegen, starre auf die dunklen Flecken darauf. Auf das tiefe Rot, das sich in das weiße Gewebe frisst, so wie sich die Angst in mein Herz geschlichen hat. »Kilian, du musst dich ausruhen. Wenn sie dich so sieht, bringt sie das nur noch mehr aus der Fassung«, sagt Elvira und steht nun ebenfalls auf. »Leg dich hin, Bruder. Clara und ich können zu ihr und aufpassen, dass sie keine Dummheiten begeht«, verspricht Felix und streicht sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Sein dunkles Haar ist noch wirrer als sonst und mir entgeht auch nicht dieser seltsame Unterton in seiner Stimme. Felix muss spüren, dass ich mir große Sorgen um sie mache. Doch kennt er auch den Grund? Weiß er, wie viel mir Lenora wirklich bedeutet? Nein, flüstert eine Stimme in meinem Inneren. Er würde es nicht verstehen, würde erst recht verhindern wollen, dass ich mehr Zeit mit Lenora verbringe, aus Angst um meine eigene Seele. Aus Angst, dass Lenoras endgültige Zerstörung auch meine herbeiführen könnte. Schwindel befällt mich und sorgt dafür, dass sich Gabriels Arbeitszimmer vor mir zu drehen beginnt. Mit einem Kopfschütteln versuche ich, dagegen anzukämpfen. »Macht euch um mich keine Gedanken. Bis ich bei ihr bin, geht's mir wieder gut«, sage ich, auch wenn das eine glatte Lüge ist. Erst jetzt werde ich mir der Strapazen bewusst, die ein solcher Besuch im Jenseits mit sich bringt. Ich hätte nicht so lange bleiben dürfen, schießt es mir durch den Kopf. Ich hätte nach dem Abschied von Taisla zurückkehren sollen, wie nach jedem anderen Mal auch. Die Konsequenzen sind nun deutlich spürbar. Jeder Knochen tut mir plötzlich weh; mein ganzer Körper brennt, als stünde ich in Flammen. Aus Gabriels Erzählungen weiß ich, dass das manchmal vorkommt, wenn man zu lange im Land der Seelen bleibt. Bisher bin ich davon jedoch verschont worden, hatte hin und wieder Kopfweh oder war erschöpft. Aber nie hat es sich so furchtbar angefühlt wie heute. Nicht einmal damals, als man mich das erste Mal ins Feld geschickt hat, um Seelen vor der Dunkelheit zu retten … Aber das hier, Sophies Tod, war nicht wie jedes andere Mal. Es war persönlicher. Schmerzhafter, seelisch wie körperlich. Und dieser Schmerz, diese Traurigkeit wird mich noch lange begleiten, mich vielleicht nie ganz loslassen. Eine Welle der Frustration entlädt sich in mir, lässt mich die Hände zu Fäusten ballen. Eigentlich müsste ich jetzt bei Lenora sein, mich um sie kümmern, aber ich kann mir kaum selbst helfen, kann nicht einmal vom Stuhl aufstehen. »Kilian, sei vernünftig. Du musst jetzt an Lenora denken«, mahnt Gabriel und stellt sich neben mich. Besorgt reibt er sich über den dunklen Bartschatten auf seinen Wangen. Mit den Sorgenfalten auf der Stirn wirkt er viel älter, als er in diesem Leben eigentlich ist. Ich stoße ein lautes Seufzen aus. Das tue ich doch schon! Seit meiner Rückkehr aus Eomis, eigentlich schon seit ich ihr zum ersten Mal im Wald von Dunkelfelsen begegnet bin, geht mir Lenora nicht mehr aus dem Kopf. Sie ist immer in meinen Gedanken, überall, egal, ob ich wach bin oder schlafe, als wäre sie längst ein Teil von mir und ich ein Teil von ihr. Und genau das macht mir Angst. »Wir gehen jetzt. Es wird ihr nichts passieren. Versprochen«, sagt Clara und kommt auf mich zu. Aufmunternd drückt sie meinen Arm, ehe sie gemeinsam mit Felix Gabriels Arbeitszimmer verlässt. Ich weiß, dass sie es ernst meint und alles versuchen wird, um Lenora zu beschützen. »Nur ein paar Stunden, dann fahre ich zu ihr …«, flüstere ich mit schwacher Stimme und sinke tiefer auf dem Stuhl zusammen. Ich kämpfe nicht länger gegen die bleierne Müdigkeit an, die all meine Gedanken auslöscht, selbst die an Lenora. Sie breitet sich in mir aus, bis ich mich in völliger Dunkelheit und Ruhe wiederfinde.
Auf lange Stille folgt ein einzelner Ton, kaum mehr als ein leises Brummen weit von mir entfernt. Es kommt näher, wird lauter, bis es schließlich zu einem ganzen Orchester an Stimmen und Geräuschen anschwillt. Etwas in meinem Inneren ruft nach mir, rüttelt mich wach und zerrt mich aus meinem traumlosen Schlaf hervor. Ein Gesicht taucht vor meinen Augen auf, vertreibt die Finsternis, die meine Gedanken ausgefüllt hat. Blaugraue Augen wie der Himmel kurz vor einem Sturm und langes dunkelbraunes Haar. Ein zaghaftes Lächeln auf den vollen Lippen. Lenora. Abrupt reiße ich die Augen auf und blinzele gegen die Helligkeit an. Statt auf dem Stuhl, auf dem ich kurz nach meiner Ankunft im Diesseits zusammengesunken bin, finde ich mich auf dem muffigen Zweisitzer wieder mitten in Gabriels Arbeitszimmer. Das blutige Taschentuch habe ich in meiner Faust zerknüllt. Musik liegt in der Luft, ganz zart und doch deutlich zu hören. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, wo sie herkommt. Es sind die Seelen, die sich aufmachen, einen weiteren Tag beginnen, ohne je auch zu ahnen, was sie am Ende dieses Lebens erwartet. Draußen vor dem Fenster wird es langsam hell. Der Morgen nach Sophies Tod ist angebrochen. Ich atme tief durch und bereite mich darauf vor, Lenora gegenüberzutreten. Mit aller Kraft stütze ich mich auf die Armlehne des Sofas und stemme mich hoch. Es fühlt sich merkwürdig an, zu stehen. Als hätte ich Wochen in einem Bett verbracht, ohne mich viel zu bewegen. Zur Tür zu laufen, ist eine Tortur, als wären mir sämtliche Gliedmaßen eingeschlafen. Aber ich muss es tun. Ich muss hier weg, will nicht länger an den Tod und die Trauer erinnert werden, die so deutlich in Gabriels Arbeitszimmer zu spüren sind. Mein Weg hinaus auf den Friedhof führt mich durch die hell erleuchtete Aussegnungshalle, in der ein dunkler Sarg aufgebahrt ist. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, während meine Augen zu brennen beginnen. Normalerweise störe ich mich nicht am Anblick der Toten, weil ich weiß, dass ihre Seelen längst wieder unter den Lebenden wandeln. Dass es nie das Ende ist. Aber Sophies Tod geht mir näher, als ich gedacht hätte. Statt sofort das Bestattungsinstitut zu verlassen, trete ich neben den Sarg, um ihr ein letztes Mal Respekt zu erweisen. In dem schwarzen Kleid umgeben vom weißen Stoff, mit dem der Sarg ausgeschlagen ist, sieht Sophies lebloser Körper so blass aus, so viel älter als ich sie in Erinnerung habe. »Bei mir ist sie sicher«, flüstere ich ihr zu, ehe ich das Bestattungsinstitut hinter mir lasse. Ich weiß, Taisla kann mich nicht mehr hören, nicht hier zumindest. Trotzdem gibt mir dieses Versprechen das Gefühl, besser mit ihrem Tod abschließen zu können. Und es ist die Wahrheit: Ich werde alles tun, um ihre Enkelin vor weiterem Leid zu beschützen. Alles.
»Guten Morgen, Junge. Geht es dir besser?«, begrüßt mich Gabriel, als ich über die ausgetretenen Friedhofswege auf das Tor zusteuere. Er ist wie immer im Anzug unterwegs, kümmert sich um einige der Gräber, die schon lange keiner mehr besucht hat. Er versucht erst gar nicht, mich mit einem aufgesetzten Lächeln zu beruhigen wie Felix gestern. Gabriel weiß genau, wie es um Lenoras Seele bestellt ist. Er hat selbst miterlebt, wie andere an solchen Dingen zerbrochen sind. Nachdem er Lenora kennengelernt und gesehen hat, wie zerstört ihre Seele ist, hat er mir stundenlange Vorträge darüber gehalten. »Sie wird sich davon erholen, solange du bei ihr bist«, fügt er wenig überzeugend hinzu. »Ich hoffe es …«, murmele ich, auch wenn ich fürchte, dass es dafür schon zu spät ist. Ohne ein weiteres Wort mache ich mich auf den Weg zum Wohnheim unter den Weiden. Ich habe lang genug gebraucht, um mich von meiner Reise ins Land der Seelen zu erholen. Die Leere in mir, die ich immer dann verspüre, wenn Lenora von mir getrennt ist, wird mit jeder Sekunde unerträglicher. Sie schmerzt schlimmer noch als jede Verletzung, die ich mir in all meinen Leben zugezogen habe. Und das waren einige, manche davon tödlich, schließlich habe ich einen Großteil meiner Existenz als Krieger verbracht. Oder als Assassine. Ich bin für so viel Tod verantwortlich, dass es nur gerecht ist, den Rest meiner Existenz mit den Pflichten eines Seelenführers zu verbringen. Immer dazu verdammt, den anderen Seelen beim Leben und Sterben zuzusehen, aber nie richtig daran teilhaben zu können. Lenora war mein Lichtblick, ist es noch. Mit ihr an meiner Seite vergesse ich, wer ich einst gewesen bin und was ich getan habe. Bei ihr kann ich ich selbst sein, ohne dafür verurteilt zu werden. Genau deswegen beeile ich mich so sehr, endlich zu ihr zu kommen. Ich will es festhalten, dieses Gefühl. Ohne meine Seelenverwandte weiß ich nicht länger, wer ich bin.
Noch bevor ich das Studentenwohnheim erreiche, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Lenoras Trauer schlägt mir wie eine dunkle Wolke von der Auffahrt entgegen. Sie raubt mir für eine Sekunde den Atem und nährt mein schlechtes Gewissen. Aber da ist noch etwas Anderes … Etwas Fremdes, das mir doch so vertraut ist. Ein anderer Seelenführer. Nicht Clara oder Felix, auch nicht Elvira. Ich halte inne, schließe für einen Moment die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Keine der Seelen hier wird demnächst diese Welt verlassen. Also warum ist der fremde Seelenführer dann hier, noch dazu unweit von Lenoras Fenster entfernt? Während ich das Haus umrunde, gebe ich mir alle Mühe, kein Geräusch zu verursachen. Auf der feuchten Erde ist das ziemlich schwer. Immer wieder sinke ich in dem Schneematsch ein. Die schmatzenden Geräusche, die er unter meinen Schritten von sich gibt, drohen, mich an den fremden Seelenführer zu verraten. Wachsam folge ich dem leisen Summen seiner Seele, erkenne bald schon deren Schimmer, der für einfache Sterbliche unsichtbar ist. Außer für Lenora. Aus irgendeinem Grund kann sie uns sehen, selbst in unserer durchscheinenden Schattengestalt, mit der wir, vor den Augen der Menschen verborgen, durch das Diesseits streifen. Auch die Seelensplitter, Überreste zerstörter Seelen, nimmt Lenora wahr. Keiner von uns kann sich einen Reim darauf machen, nicht einmal Gabriel, der von uns allen am längsten Seelenführer ist. Es ist eine weitere der unzähligen Fragen, die mir seit meiner ersten Begegnung mit meiner Seelenverwandten auf dem Herzen liegen. Sie ist jedoch schnell vergessen, je näher ich dem fremden Seelenführer komme. Was will er von ihr? Misstrauen erwacht in mir, weckt ein mulmiges Gefühl in meinem Magen, als ich ihn in einem der Büsche vor Lenoras Fenster entdecke, unsichtbar für die Menschen dank seiner Schattengestalt. Vor mir kann er sich jedoch nicht verbergen. Was will er hier? Was will er von Lenora?, schießt es mir wieder und wieder durch den Kopf. Es ist ungewöhnlich, dass ein anderer Seelenführer zusätzlich zu meiner Familie in Dunkelfelsen ist. Die Lande der Lebenden sind in Gebiete aufgeteilt, über die eine Femrahan, eine Familie von Seelenführern wacht. Uns wurden Dunkelfelsen und die angrenzenden Dörfer zugewiesen. Weiter entfernt leben andere Gruppen unserer Art, über die ganze Erde verteilt, damit wir die Seelen Verstorbener so schnell wie möglich nach Eomis bringen können. Wandernde Seelenführer anzutreffen, ist meistens nur ein Vorbote von schlechten Neuigkeiten, von Gefahren und noch mehr Tod. Mehr verlorene Seelen als eine Femrahan allein bewältigen kann. Als ich das hohe Gebüsch vor Lenoras Fenster erreiche, entspanne ich mich, aber nur ein bisschen. Je näher ich diesem Seelenführer komme, umso besser kann ich seine Energien spüren. Ich erkenne ihn am Klang seiner Seele wieder, aber auch an seiner abgewetzten, dunklen Kleidung. »Manuel«, flüstere ich überrascht und weiche sicherheitshalber ein Stück zurück. Seelenführer sind zwar friedliebend, aber durchaus gefährlich, wenn man sie erschreckt. »Kilian«, erwidert Manuel, als er sich noch immer in seiner Schattengestalt zu mir umdreht. Er scheint nicht gerade erfreut zu sein, mich zu sehen. Mit vor der Brust verschränkten Armen wirft er mir einen abschätzigen Blick zu. Als wäre nicht er der Eindringling, sondern ich. »Was machst du hier?«, frage ich und erwidere seinen finsteren Blick. Dabei gebe ich mir alle Mühe, meine Unruhe vor ihm zu verbergen. Ist er gekommen, um …? Voller Sorge lasse ich meinen Geist schweifen, um mich zu vergewissern, dass ich mich irre. Die Trauer, die sich in Lenoras Zimmer angestaut hat, überwältigt mich dabei beinahe. Sie überdeckt alles andere, weswegen ich mich lieber wieder auf meine unmittelbare Umgebung fokussiere. Ich will mich darin nicht verlieren. »Ich habe gespürt, dass Sophies Seele fort ist. Ich wollte nur sichergehen, dass es Lenora gut geht«, sagt Manuel und sieht dabei zu ihrem Fenster hoch. Ich folge seinem Blick, doch scheint sie uns in ihrer Traurigkeit nicht zu bemerken. Die Vorhänge stehen zwar offen, aber Lenora ist nirgends zu sehen. »Du kennst sie doch kaum«, murmele ich und wende mich wieder Manuel zu, doch ist er längst fort, als hätte ich mir unsere Begegnung bloß eingebildet.
Auch wenn mich Manuels Anwesenheit und sein Verhalten zutiefst alarmieren, halte ich es nicht länger aus. Ich muss zu Lenora. Ich kann mich nicht länger mit solchen Dingen beschäftigen, ganz gleich wie verdächtig sie mir vorkommen mögen. Ich umrunde das große alte Haus, in dem schon so viele Seelen ihre Spuren hinterlassen haben. Selbst die Mauern haben einen ganz eigenen Klang, ein tiefes Summen aus den Echos Hunderter Seelen längst vergangener Tage. Es beruhigt mich und mein rasendes Herz ein bisschen nach dieser besorgniserregenden Begegnung mit Manuel. Noch bevor ich das Wohnheim tatsächlich betreten kann, löst sich eine Gestalt aus den Steinen neben dem Eingang. Eigentlich hätte ich sie sofort bemerken müssen. Ihre Energie ist überdeutlich, fast so wie Manuels vorhin, aber meine Angst um Lenora lenken mich einfach zu sehr ab. »Was ist passiert?«, flüstere ich, bevor Clara überhaupt etwas sagen kann. Sie steht in ihrer Schattengestalt vor mir. Alle Farbe ist von ihr gewichen, als wäre sie gerade aus einem alten Schwarz-Weiß-Film gesprungen. Ihr Körper ist durchscheinend wie ein Geist, unsichtbar für die Augen der Sterblichen. »Ich hab’ schon mehrmals versucht, dich zu erreichen«, entgegnet sie hastig, ohne auf meine Frage einzugehen. Der panische Unterton in ihrer Stimme ist das erste Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. »Was ist los, Clara?«, frage ich so laut, dass ein Passant auf dem Bürgersteig erschrocken zusammenzuckt und die Einfahrt hinaufguckt. Er sieht Clara natürlich nicht. Nicht in ihrer Schattengestalt, aber mich schon. Soll er doch denken, was er will! »Alicia hat sie gerade weggebracht«, presst Clara schließlich hervor, als sich der Spaziergänger kopfschüttelnd abwendet und weitergeht. Mit einer Hand fährt sich Clara durch das beinahe durchsichtige Haar, das in ihrer menschlichen Gestalt strohblond ist. »Felix ist ihnen gefolgt, hat sich aber noch nicht gemeldet.« Ich schlucke, weil ich genau das befürchtet habe. Dass Sophies Tod einen Keil zwischen Lenora und mich getrieben hat. Dass sie einfach so verschwindet, ohne mir Bescheid zu sagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass meine Seelenverwandte vor ihren Gefühlen davonläuft, ganz gleich wie fest sie sich vorgenommen hat, mit dieser Angewohnheit zu brechen. Dennoch trifft mich ihre Flucht hart. Kraftlos sinke ich auf den feuchtkalten Verandastufen ihres Wohnheims in mich zusammen. Meine Hände zittern unkontrolliert. Frustriert balle ich sie zu Fäusten und verberge sie vor Clara in den Taschen meines warmen Mantels. Doch auch das kann die Eiseskälte, die sich in meinem Herzen ausbreitet, nicht aufhalten. Was ist, wenn Lenora etwas passiert? Wenn sie an ihrer Trauer zerbricht? Das, was ich eben in ihrem Zimmer gespürt habe, war bloß ein Echo davon und doch so stark, dass ich mich zurückziehen musste, um davon nicht übermannt zu werden. Nicht auszudenken, wie es in Lenoras Innerem wirklich aussieht, wie grenzenlos ihr Schmerz nach Sophies Tod ist. »Warum habt ihr sie gehen lassen, Clara?«, stoße ich hervor, als mich meine Panik um Lenora wie eine tödliche Lawine überrollt. Noch nie habe ich mich so verzweifelt gefühlt, so verletzt und verloren. Als hätte man mir alles genommen, was mir lieb und teuer ist. Früher konnte ich die Geschichten, die andere meiner Art über ihre Seelenverwandten erzählt haben, nicht wirklich ernst nehmen. Ich habe es nie für möglich gehalten, einmal eine so enge Bindung zu einer anderen Seele aufzubauen. Mein erstes Treffen mit Lenora draußen im Wald hat mich jedoch eines Besseren belehrt. Das wird mir leider erst bewusst, nachdem ich sie verloren habe. »Als wir hier angekommen sind, waren sie schon weg«, flüstert Clara und lässt sich mit einem traurigen Seufzen auf der Stufe neben mir nieder. »Es tut mir leid …« Tröstend legt Clara mir ihren durchscheinenden Arm um die Schulter wie Taisla vorhin im Jenseits. Ich rutsche von ihr weg, bin noch immer zu aufgewühlt, um ihre Nähe zuzulassen. Mit zusammengepressten Lippen starre ich hinauf in den wolkenverhangenen Himmel, wie immer, wenn ich versuche, mit dem Schicksal zu kommunizieren. Mit jener höheren Macht, die unser aller Leben lenkt. Bisher eine sehr einseitige Konversation. Daran ändert sich auch an diesem Vormittag nichts. »Es wird alles gut werden, Kilian. Felix ist ihr gefolgt und wir wissen bestimmt bald, wo sie hinwill«, versucht Clara mich zu beruhigen. Ihre Stimme ist nicht länger voller Bedauern, sondern klingt weit zuversichtlicher. Sie will mich unbedingt davon überzeugen, doch haben ihre Worte genau den gegenteiligen Effekt. Sie machen mich noch unruhiger, lassen meine Angst um Lenora wachsen. »Darauf kann ich mich nicht verlassen …«, flüstere ich und stehe auf. Ich habe es schon einmal getan, mich auf Clara und Felix verlassen, anstatt selbst zu Lenora zu fahren. Und jetzt ist meine Seelenverwandte fort. Dieses Gefühl ist weit schlimmer, als die Leere, die ich vor meiner ersten Begegnung mit Lenora verspürt habe. Seit diesem Moment im Wald vor einigen Wochen, seit mich dieses merkwürdige Kribbeln erfasst und zu der umgestürzten Eiche geführt hat. Zu Lenora. Tief in meinem Innern wusste ich schon in diesem Moment, wer sie ist. Warum es mich dorthin gezogen hat. Und dennoch habe ich dagegen angekämpft, gegen diesen Sog, der zwischen unseren Seelen bestanden hat, gegen dieses berauschende Gefühl, das ich immer in ihrer Nähe verspüre. Ich habe alles getan, um sie von mir fernzuhalten, weil ich mich vor der Finsternis in ihrer Seele gefürchtet habe, vor den Ursachen für all diese Risse darauf. Dass man uns beide gezwungen hat, Zeit miteinander zu verbringen, halte ich noch immer für die Ironie des Schicksals. So schwer es mir am Anfang noch gefallen ist, so wütend ich damals auf Lenora war, weil ich dachte, sie wäre an all der Zerstörung schuld … So konnte ich mich doch nicht länger gegen diese Anziehungskraft wehren. Und je mehr ich über sie erfahren habe, umso sicherer war ich mir, dass Lenora und ich zusammengehören. Für immer. Deswegen muss ich die Dinge selbst in die Hand nehmen und sie finden, bevor ihr etwas passiert. Denn mit Manuel vor ihrem Fenster und der Trauer um Sophie schwebt ihre Seele in großer Gefahr. Das spüre ich tief in meinem Inneren genauso wie ihre Abwesenheit. Ohne auf Claras Reaktion zu warten, öffne ich die Tür zum Wohnhaus, um meine Suche nach Lenora zu beginnen.
Als ich in meiner Schattengestalt durch die Tür trete, spüre ich sofort, dass Lenoras Wohnung nicht ganz so leer ist, wie ich dachte. Gerade noch rechtzeitig materialisiere ich mich im Wohnzimmer, bevor jemand aus einem der anderen beiden Schlafzimmer kommt. Toni, Maras Freund. »Kilian …«, sagt er erschrocken und blickt mich aus großen Augen an. Kein Wunder, schließlich tauche ich hier einfach aus dem Nichts auf. Er beruhigt sich jedoch rasch wieder von seinem Schock und umrundet die Sitzecke, die das Zentrum des Wohnzimmers bildet. »Hast du Lenora gesehen? Ich … Ich muss dringend mit ihr sprechen«, sage ich zu Toni und blicke mich suchend im Wohnzimmer um. Toni schüttelt den Kopf und macht meine Hoffnungen mit seinen nächsten Worten zunichte: »Sie sind weg. Wohl ein verlängertes Mädelswochenende über die Weihnachtsfeiertage, aber Lenora hat mir das für dich gegeben.« Maras Freund hält mir einen Zettel hin und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht recht deuten kann. »Mara hat gesagt, dass du dir keine Sorgen machen brauchst. Sie und Alicia werden die ganze Zeit bei ihr sein.« Ich reiße ihm den Zettel aus der Hand, ohne meine schlechte Laune zu verbergen. Natürlich mache ich mir Sorgen um Lenora. Ich mache mir immer Sorgen um sie, aber jetzt, da sie von mir getrennt ist, nur noch mehr. Menschen tun allerlei gefährliche Dinge, um sich von ihrer Trauer abzulenken. Der Gedanke, Lenora deswegen zu verlieren, schnürt mir die Kehle zu. Er lässt mich ein ums andere Mal wünschen, früher zu ihr gefahren zu sein. Vielleicht hätte ich sie dann aufhalten können. Dafür ist es jetzt zu spät.
Mit Lenoras Brief in der Hand verlasse ich das Wohnheim. Ihren Sachen so nah zu sein, aber zu wissen, dass sie fort ist, ertrage ich einfach nicht. Draußen auf den Stufen in der eisigen Kälte des Winters lese ich wieder und wieder ihre Nachricht. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie Dunkelfelsen verlassen hat. Ohne mich. Ich brauche eine Auszeit von uns. Dahinter hat noch ein von dir gestanden, das sie aber wieder durchgestrichen hat. Nicht gut genug, um es unleserlich zu machen. Diese wenigen Worte fühlen sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Schlimmer noch: Als hielte jemand mein Herz in seinen Händen und würde von Minute zu Minute fester zudrücken. Langsam wachsen die Zweifel in mir. Sie sprießen aus dunklen Ecken und tiefen Abgründen meiner Seele hervor und winden sich um sie. Vielleicht ist es damals doch die richtige Entscheidung gewesen, Lenora aus dem Weg zu gehen, als mir klar geworden ist, wer sie ist. Wer sie für mich ist: meine Seelenverwandte. Aber ich habe mich gegen die Vernunft entschieden, für meine Gefühle. Ich bin schwach geworden und jetzt sitze ich hier in der Kälte auf den verwitterten Stufen vor dem Wohnheim unter den Weiden. Ohne Lenora. Ohne zu wissen, wohin sie gegangen ist oder ob sie mir jemals verzeihen wird. »Kilian?«, erklingt plötzlich Claras Stimme vom Kiesweg aus. Felix ist bei ihr und sieht alles andere als glücklich aus. Von Lenora oder ihren beiden Freundinnen keine Spur. »Hast du sie gefunden?«, frage ich Felix, auch wenn ich die Antwort eigentlich schon kenne. Ich brauche nicht zu ihm hochzuschauen, um zu wissen, dass er den Kopf schüttelt. »Alicia hat sie zum Bahnhof von Dunkelfelsen gefahren. Es war viel los so kurz vor Weihnachten. Ich habe sie in dem Durcheinander verloren. Mara und Alicia auch.« »Ihr hattet es versprochen«, flüstere ich und hebe endlich den Blick. Ich sehe Enttäuschung und Besorgnis in ihren Augen. Clara macht erneut Anstalten, mich in den Arm zu nehmen, doch auch dieses Mal weiche ich vor ihr zurück. »Du weißt, wie es ist, wenn zu viele Seelen auf einem Fleck sind. Es ist beinahe unmöglich sie zu orten«, setzt Felix zu seiner Verteidigung an, doch bringe ich ihn mit einem wütenden Schnauben zum Schweigen. Tief in meinem Inneren ist mir klar, dass ihn keine Schuld trifft, und doch bin ich in diesem Moment so aufgebracht, dass mir die Kontrolle über meine Magie entgleitet. Die Luft um mich herum wärmt sich merklich auf und verwandelt den Schneematsch zu meinen Füßen innerhalb von Sekunden in eine große Pfütze. »Kilian, das Wichtigste ist, dass du jetzt ruhig bleibst. Es wird ihr schon gut gehen. Vielleicht ist sie über die Feiertage zurück zu ihrer Familie gefahren«, sagt Clara und lässt sich neben mich auf die Bank fallen. Zu ihrer Familie? Welche Familie denn? Sophie ist fort, für immer. Und im Haus ihres Vaters hat sie sich nie wirklich willkommen gefühlt, was vor allem an dessen kaltherziger Ehefrau lag. Aber das ist nicht alles, was mich in diesem Moment so wütend macht. Ich dachte, ich wäre ihre Familie. Ich dachte, ich wäre ihr Zuhause. »Mach dir keine Sorgen um sie, Kilian. Sie kommt schon klar«, sagt Felix viel zu optimistisch. Mein Blick richtet sich auf ihn, durchdringt ihn regelrecht. Erneut durchströmt die Wut meine Adern und für einen Moment vergesse ich, dass die Sterblichen uns noch immer sehen können. Meine Magie knistert leise um mich herum. Funken steigen von meinen Fingern in die kalte Morgenluft auf und lassen Clara zurückzucken. »Sie kommt schon klar? Ist das dein Ernst?« Kopfschüttelnd wende ich den Blick ab und balle meine Hände zu Fäusten. Wie kann Felix nur so etwas sagen? »Sie hat gerade ihre Großmutter verloren und ich war derjenige, der ihre Seele weggebracht hat. Sie hat mich angefleht, Sophie leben zu lassen, und ich konnte nichts tun. Hast du eine Ahnung, wie verdammt schrecklich das gewesen ist?« Felix tritt mit finsterer Miene einige Schritte zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Trotzig streckt er das Kinn vor, sagt jedoch keinen Ton. Sein argwöhnischer Blick spricht dafür Bände. Er zeigt mehr als deutlich, dass ich zu weit gegangen bin. Und er hat recht, gestehe ich mir traurig ein. Wenn jemand die Schuld trifft, dann mich. Nicht Felix oder Clara. Und es gibt nur eine Lösung für dieses Problem … »Ich muss sie finden«, flüstere ich und bin plötzlich von einer Ruhe erfüllt, die selbst mich erstaunt. Die Wut und meine Verzweiflung über Lenoras Flucht aus Dunkelfelsen sind verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen bin ich erfüllt von einer Entschlossenheit, die ich noch nie während meiner gesamten Existenz gespürt habe. Nicht einmal auf den von Leid und Tod durchtränkten Schlachtfeldern, als ich um mein Leben gekämpft habe. Hier geht es um mehr, um so viel mehr als das. »Wo willst du denn jetzt hin, Kilian? Sie wird sich sicherlich bei dir melden. Du musst einfach nur ein bisschen warten …«, ruft mir Clara hinterher, als ich bereits auf der Straße stehe. Ein letztes Mal drehe ich mich zu den beiden um. »Das Einzige, was ich jetzt tun muss, ist Lenora zu finden«, entgegne ich und gehe.
Als ich auf die Einfahrt des alten Gutshofs abbiege, der sich schon seit zwei Jahrhunderten im Besitz der Seelenführer befindet, habe ich keine Ahnung, wie ich so schnell dorthin gekommen bin. Auf den Stufen hinauf zur Haustür kommt mir Elvira entgegen. Sorgenfalten durchfurchen ihr sommersprossiges Gesicht. »Kilian, meinst du nicht, dass das überstürzt ist? Lass Lenora doch erst mal zur Ruhe kommen«, ruft sie mir zu. In der Hand hält sie ihr Handy. Wahrscheinlich hat Clara sie gerade über mein Vorhaben informiert. »Sie wird aber nicht zur Ruhe kommen und sich am Ende noch in Gefahr bringen«, entgegne ich und schiebe mich an ihr vorbei. Niemand kann mich jetzt noch davon abbringen, nach Lenora zu suchen. Nicht einmal Elvira, auf die sonst jeder in meiner Familie hört. Sie ist zwar nicht meine Mutter, hat diesen Platz aber über die Jahrzehnte, die ich sie jetzt schon kenne, eingenommen. In meinem Zimmer ziehe ich eine alte Sporttasche aus dem Schrank und stopfe wahllos Klamotten hinein. Außerdem hole ich ein in Leder gebundenes Buch aus der Schublade meines Nachttischs hervor. Darin halte ich alle wichtigen Erinnerungen an die Seelen fest, die ich ins Jenseits gebracht habe. Es ist unsere Art, mit der Trauer und dem Tod abzuschließen, hat Gabriel mir erklärt, als er mir kurz nach meinem letzten menschlichen Tod ein neues Notizbuch überreicht hat, das erste von vielen. Ein Name fehlt noch: Sophie Hagen. »Kilian, wir brauchen dich hier«, sagt Elvira. Ihre goldbraunen Augen leuchten auf, als würde auch sie spüren, dass etwas im Gange ist. Ob sie Manuel schon begegnet ist? Wandernde Seelenführer sind nie ein gutes Zeichen, aber bei ihm scheint mehr dahinterzustecken. Warum sonst würde er meiner Seelenverwandten hinterherspionieren und dann einfach so verschwinden? »Ihr seid genug, um auch ein paar Tage ohne mich auszukommen. Lenora ist jetzt wichtiger«, sage ich tonlos, auch wenn es mich innerlich zerreißt. Über ein halbes Jahrhundert hinweg sind mir Elvira und Gabriel, später auch Felix und Clara wichtiger gewesen als alles andere. Sie waren meine Femrahan, meine Familie, haben mich geerdet, wenn das Leben um mich herum zu turbulent und zu laut geworden ist. Aber jetzt gibt es da noch jemanden, der mir Halt gibt, mehr noch als meine Familie es je könnte. Und ich bin im Begriff, sie zu verlieren. »Mir ist bewusst, dass du viel für sie empfindest, aber du darfst deine Aufgabe nicht vernachlässigen. Du weißt, dass es am Ende Konsequenzen geben wird«, erinnert mich Elvira und tritt ungefragt in mein Zimmer.