Die Geheimnisse der Blauen Zonen - Elfi Sinn - E-Book

Die Geheimnisse der Blauen Zonen E-Book

Elfi Sinn

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Beschreibung

Jessica und Andrea lieben Krimis heiß und innig, aber im Ruhestand fasziniert sie ein neues Thema: Die Geheimnissen der Blauen Zonen, in denen viele gesunde Hundertjährige leben. Aber wie behält man seine Jugendlichkeit und wie erreicht man ein hohes Alter ohne Krankheit? Um das zu erproben ziehen die beiden in ein geerbtes Haus in einer Kleinstadt, aber auch dort lauert das Verbrechen. Anfangs werden sie grundlos des Diebstahls verdächtigt, also nutzen sie ihr Krimi-Wissen, um die echten Diebe zu finden. Auch danach klären sie gemeinsam einen sonderbaren Einbruch, kümmern sich um entführte Hunde, gierige Investoren und gestohlene Identitäten. Dabei finden sie viele neue Freunde, erweitern ihre WG und kommen so auch den begehrten Geheimnissen der Blauen Zonen immer näher.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Wer ist wer?

Der Experte

Unter Verdacht

Ein unterschätztes Kunstwerk

Chaos in der „Villa Kunterbunt“

Lieblinge in Gefahr

Brandheiße Entdeckungen

Schmutz im „Blauen Schwein“

Wer ist wer?

Die Blaue-Zonen-WG:

Jessica Cramer, 63, hat einen großen Wunsch, sie möchte gesund 100 Jahre alt werden, dafür will sie mit einer Freundin gemeinsam ihre spezielle Blaue-Zone schaffen, sie backt leidenschaftlich gerne, liebt Stricken und Krimis

Andrea Kessler, 63, beste Freundin von Jessica, liebt Krimis über alles und berichtet über die WG auch bei Instagram.

Sylvie Warner, 65, kocht gerne und liebt Hühner und den Garten über alles und seit kurzem Haustierkrimis.

Lennart Fischer, 50, Bruder von Sylvie, pausiert wegen Long-Covid als Physiotherapeut, trainiert mit Dackel Buddy.

Fipps, 10, Computerspezialist, gehört zum Krimi-Team

Pippa, 6, seine Schwester.

Nicole und Lilly, geben Seminare zur Bewegung im Alltag, organisieren Line-Dance-Kurse.

Clemens, der Mann mit dem Zopf, Spezialist für Ernährung in der Blauen Zone, Vegetarier, aber nicht militant.

Der Experte

„Wie genau wird man gesund und munter hundert Jahre alt?“ Jessica Cramer sah nachdenklich aus dem Fenster, während sie wie immer versuchte, alles genau vorauszudenken. Es war vieles, was sie schon über den Weg zu diesem Ziel notiert hatte, aber daraus ergab sich noch keine logische Kette von Aktivitäten.

Sie runzelte nachdenklich die Stirn und strich sich gedankenverloren ihre braunen Haare nach hinten, die die Eigenart entwickelt hatten sich in alle Richtungen zu locken, aber nicht in die Frisur, die sie gerne gehabt hätte. Wahrscheinlich stimmte es, was ihre Freundin Andrea immer betonte, dass sich im Körper einer Frau alle sieben Jahre etwas grundlegend veränderte.

Und sie war im November 63 geworden und in Rente gegangen, aber das war doch nun wirklich kein Grund dafür, dass ihre Haare machten, was sie wollten! Sie schüttelte irritiert den Kopf und sah wieder hinaus.

Der Regen hatte nachgelassen, die Märzsonne schien schon mutiger und wärmer als in den vergangenen Wochen, so dass die Hecken an der Südseite des Hauses schon die ersten Knospen zeigten.

Es ist wahrscheinlich höchste Zeit, um auch mit dem Garten voranzukommen, überlegte sie. Sie hatten zwar gemeinsam bereits einen großzügigen Plan entworfen, aber bisher war der Boden lediglich umgegraben und dafür hatte ein junger Mann letzte Woche gesorgt.

Jessica öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Sie genoss fast erstaunt die warme Luft und die anderen vorsichtigen Anzeichen des Frühlings, die sie bisher kaum wahrgenommen hatte.

Denn in den vergangenen Wochen, seitdem dieser bewusste Brief ihr Leben völlig umkrempelte, hatten sie und Andrea wie im Fieber gearbeitet, Wände gemalert, Türen gestrichen, ein Bad komplett neu eingerichtet und endlos geputzt. So ein altes Haus brauchte wirklich sehr viel, bis es ihren Wünschen und Anforderungen entsprach, aber das machte ihr nichts aus. Sie war ein echter Fan von Fixer-Upper-Sendungen im Fernsehen. Daher störte es sie überhaupt nicht, sich die Hände schmutzig zu machen und tagelang auf Knien zu arbeiten, denn schließlich war das jetzt ihr Haus.

Sie lächelte zufrieden. Zum ersten Mal im Leben gehörte ihr ein Haus, etwas, womit sie nie gerechnet hätte. Eigentlich gab es zurzeit viel in ihrem Leben, womit sie nie gerechnet hatte, dachte sie etwas selbstironisch.

Das begann schon mit dem missglückten Einstieg in die Rente. Solange sie davon träumte in den Ruhestand zu gehen war sie überzeugt, dass die langersehnte Freiheit und das gründliche Ausschlafen sie restlos glücklich machen würden. Endlich keine nervigen Auseinandersetzungen mit Krankenkassen, keine sinnlose Bürokratie, keine Doppelschichten, sondern erholsame Ruhe, die Aussicht den begonnenen Pullover fertig zu stricken und ausreichend Zeit zum Lesen. Endlich könnte sie sich ausgiebig den geliebten Krimis widmen, die sich schon in ihrem Bücherregal stapelten. Sie mochte keine harten Storys, keine psychologischen Abartigkeiten und auch nicht eimerweise Blut, sondern bevorzugte weibliche Detektivinnen, die mit messerscharfer Intelligenz, viel Spürsinn und auch einem Hauch Humor ihre Fälle lösten. Ihr gefiel Paislee, die schottische Hobbydetektivin von Traci Hall, die genauso gerne strickte wie sie. Andrea, die auch leidenschaftlich Krimis las, mochte mehr die taffe Eve Dallas aus den Romanen von Nora Roberts, aber beide kamen immer wieder auf die Geschichten von Agatha Christie zurück, in denen die etwas abwesend wirkende, aber immer scharf beobachtende Miss Marple ganz gelassen ihre Fälle klärte.

Schon nach wenigen Wochen verging der Zauber der unbegrenzten Lesezeit und sie begann sich zu langweilen. Lesen war toll, aber den ganzen Tag? Und selbst als es ihr gelang das komplizierte Muster des Norwegerpullovers fehlerfrei hinzukriegen, machte sie das nicht zufriedener. Zu ihrer eigenen Überraschung begann sie sich in der endlosen Freizeit nutzlos zu fühlen, sie fing sogar an, ihre Arbeit zu vermissen, vor allem den Austausch mit den Kolleginnen oder den Freitagabend-Absacker mit Julian, dem netten Kollegen aus dem Sicherheitsbereich, der auch für Krimis schwärmte. Eine Familie mit der sie sich hätte beschäftigen können, gab es nicht. Ihre Eltern waren schon relativ jung gestorben und Kinder waren ihr in ihrer kurzen Ehe nicht vergönnt. Und das ständige Lesen brachte leider auch einige Nebenwirkungen, denn sie hatte immer wenn die Spannung stieg, fast automatisch zur Pralinenschachtel oder den kleinen Schokotäfelchen gegriffen.

An dem Morgen, als sie total überrascht bemerkte, dass sie 12 kg zugenommen hatte, war ihr sofort klar, dass sie jetzt handeln musste.

Am Nachmittag kam Andrea vorbei, die mit ihr gemeinsam in der Verwaltung einer Klinik für mikroinvasive Chirurgie gearbeitet hatte und auch zum gleichen Zeitpunkt in Rente gegangen war. Ihr erzählte sie natürlich empört davon, aber sobald das magische Wort

Zunehmen fiel, schoss die sofort in Jessicas Bad und auf die Waage. Der folgende markerschütternde Schrei bestätigte, dass sie ähnliche Sorgen hatte. „Wie kann das sein, in so kurzer Zeit? Ich esse nie wieder Pralinen!“

Jessica lächelte nur, denn das hatte sie schon oft gehört, aber Andrea meinte es ernst. „So können wir wirklich nicht weitermachen, jeder kann doch sehen wohin das führt, das ist ein Selbstmord mit Messer und Gabel! Ich habe sogar noch mehr zugenommen als du und meine Taille hat sich verflüchtigt. In meiner Zeitschrift steht, dass man mit einer Taille unter 85 Zentimetern viel gesünder wäre und länger lebt, gestern hat die Schneiderin gemessen und weißt du wie weit ich davon entfernt bin?“ Andrea lief hin und her, während sie Jessica immer noch fast anklagend anstarrte. „Ich will nicht tatenlos zusehen, wie wir dick und krank werden und dann auch noch früh sterben. Wir müssen etwas anderes mit unserem Leben anfangen und uns mehr bewegen, von mir aus auch selbst hinter den Gaunern herrennen wie im Krimi, so mehr als Motivation.“

Jessica schaute zweifelnd. „Motivieren müssen wir uns schon selbst, aber du hast recht. Wir brauchen ein richtiges Projekt, das uns ein Alter ohne Krankheit garantiert.“

Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das angehen könnten, aber so ein bedeutendes Vorhaben in ihrem reifen Alter zu planen, gefiel ihr. Also begann Jessica darüber nachzudenken und ertappte sich in der Folgezeit immer öfter dabei, dass sie bei diesem Thema hellhörig wurde und sich Notizen machte.

An einem der feucht fröhlichen Abende zum Thema Wein, Weib und Geheul diskutierten sie ihre bisherigen Erkenntnisse immer noch, obwohl es schon ziemlich spät war. Andrea schwenkte ihr Weinglas etwas zu schwungvoll, während sie feststellte: „Das Leben wäre viel schöner, wenn wir als 80-jährige geboren würden und dann langsam, ganz langsam die 18 erreichten. Das hat Mark Twain gesagt und ich finde, der Mann hat recht.“ Jessica nickte nur, während Andrea fortsetzte: „Wir wären auf jeden Fall viel klüger, viel erfahrener und wüssten, was wirklich wichtig ist. Damals mit 18 waren Männer das wichtigste Thema in meinem Leben, aber heute? Nein danke! Für eine neue Beziehung habe ich echt keinen Bedarf, besonders, wenn ich mich an die erinnere, die ich hinter mir gelassen habe. Und wenn ich an deinen Ex denke, wie der sich dir gegenüber benommen hat, so subtil, wie ein Schwein in Stöckelschuhen! Warum sind uns nie rechtzeitig solche Männer wie Julian begegnet? So einen im passenden Alter hätte ich vom Fleck weg, genommen und auch behalten.“ Dann erhob sie erneut ihr Glas sehr schwungvoll: „Trinken wir auf die Männer, die wir lieben und nicht auf die Penner, die wir kriegen oder hatten!“ Sie schüttelte sich so übertrieben, dass ihre goldblonden Locken um den Kopf schwangen und Jessica schon Mühe hatte, ihr mit den Augen zu folgen und setzte fort. „Der einzige Wunsch, den ich jetzt noch habe ist, gesund zu bleiben und das Alter unter uns Frauen so richtig zu genießen. Ich habe ja nichts gegen Männer, aber in unserem Alter sind wir eigentlich erfahren genug, Männer höchstens noch ambulant aufzunehmen, aber nie wieder stationär!“ Jessica kicherte, denn das konnte sie gut nachvollziehen. „Vor allem wenn sie in dieser schwierigen Phase sind, zwischen gepflegt aussehend oder gepflegt werden müssen.“

Jetzt gluckste Andrea, bemühte sich dann aber wieder um Konzentration. „Eigentlich hoffte ich immer darauf, dass die Medizin irgendwann so weit wäre, echte Verjüngungsmöglichkeiten anzubieten, so wie bei Eve Dallas. Dann würden wir beide etwas mühselig in diesen legendären Jungbrunnen steigen und auf der anderen Seite jung und fit heraustänzeln. Da es das noch nicht gibt, müssen wir eben selbst dafür sorgen. Die Frage ist nur wie?“ Jessica nickte zustimmend, aber etwas zu heftig, was den Raum ziemlich schwanken ließ. „Du hast recht, da muss uns eine Menge einfallen, wie wir in gutem Zustand die Hundert erreichen. Am liebsten würde ich supergesund, frisch und ansehnlich bleiben bis zu dem Zeitpunkt, wo ich wie der Häuptling der Apachen entscheide: Jetzt habe ich genug! Dann würde ich noch ein schönes Fest mit allen meinen Freunden feiern, mich von ihnen verabschieden und mit einem Lächeln einschlafen.“

„Genau, so sehe ich das auch und deshalb gehen wir das gemeinsam an. Wir nennen unser Projekt Longevity, das heißt Langlebigkeit, klingt aber in Englisch viel imposanter.“

Da Andrea auch schon etwas lallte, hatten sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen einstimmig entschieden, dass das ihr Zukunftsprojekt sein sollte, allerdings erst ab dem nächsten Tag, mit klarem Kopf und überwundenem Kater. Aber wie genau dieses Vorhaben umgesetzt werden sollte, wussten beide nicht.

Jessica grinste am nächsten Tag immer noch, als sie an den Jungbrunnen dachte und begann trotz leichter Kopfschmerzen über die ersten Schritte nachzudenken und einen Plan zu entwerfen. Mit gesunder Ernährung hatte sie sich schon öfter befasst, meist in der Absicht, etwas Hüftgold abzuwerfen, aber irgendwann war sie immer wieder bei den gleichen Sachen gelandet. Da müsste sie jetzt unbedingt konsequenter werden. Vielleicht sollte sie einfach weniger essen und auch auf Wein verzichten?

Andererseits behaupteten die Franzosen jedoch immer ihr hohes Lebensalter und ihre gute Laune kämen vom Rotwein. Also lieber etwas Wein und mäßige Portionen? Mehr Bewegung gehörte bestimmt dazu, sogar ihre Hausärztin hatte beim letzten Termin mit einem kritischen Blick auf die Blutwerte davon gesprochen. Jessica konnte sich durchaus vorstellen, jeden Tag einen Spaziergang zu machen, aber reichte das aus? Fragen über Fragen, aber keine endgültigen Antworten.

Die Fahrbibliothek, die ihren Stadtteil anfuhr seitdem die letzte Bibliothek schließen musste, war damals ihre Rettung gewesen.

Gorica, die hellblond gelockte Fahrerin, sprach nur wenig deutsch, aber sie verstand Jessicas Interesse sofort und versorgte sie auch in der Folgezeit mit allen wichtigen Büchern, die Methoden für ein gesundes Altern behandelten. Fasziniert las Jessica vor allem die, die sich mit dem Leben in den sogenannten Blauen Zonen beschäftigten.

„Dieser Begriff“, hatte sie Andrea stolz erklärt, „bezeichnet die fünf Regionen der Erde, in denen die Menschen überdurchschnittlich lange und gesund leben und wo es besonders viele Hundertjährige gibt.“

Genau so etwas wollte sie auch. Nur wie kriegten das diese Leute hin, sie hatten bestimmt irgendwelche Geheimnisse. Denn wenn es allgemein bekannt wäre, würde es doch jeder so machen, oder?

Könnte man dort hinfahren und sich das ansehen?

Nachdem sie die bekannten Orte in ihrem alten Atlas geprüft hatte, musste sie enttäuscht feststellen, dass diese Zonen alle sehr weit entfernt lagen, in Japan, in Costa Rica, in Kalifornien, aber auch in Sardinien und Griechenland. Immerhin noch Europa, aber für ihre Erwartungen eindeutig zu weit.

Als sie Andrea später etwas niedergeschlagen davon erzählte, sah die darin überhaupt kein Problem. „Wenn es hier keine Blaue Zone gibt, dann schaffen wir selbst eine!“

„Aber das geht doch nicht!“ Jessica hatte schon einiges über die äußeren Bedingungen gelesen. „Wir müssten entweder am Stadtrand oder auf dem Land leben, einen großen Garten haben, vieles selbst anbauen und zubereiten. Du weißt schon ohne Zusätze und Konservierungsmittel, richtig sauberes Wasser haben…“

„Und Eier von glücklichen Hühnern“, wurde sie von Andrea unterbrochen, die bereits voller Vorfreude grinste. „Das stelle ich mir echt cool vor, wir beide im Stall! Wir haben zwar keine Ahnung, aber ich wäre bereit zu lernen. Aber wie kommen wir an ein Haus?“

Von da an hatten sie die Immobilienanzeigen mit zunehmendem Interesse studiert, stellten aber sehr schnell fest, dass die Preise nicht im Geringsten zur Höhe ihrer Ersparnisse passten.

Als dann kurz vor Weihnachten dieser alles entscheidende Brief von einem Notar kam, glaubte Jessica im ersten Moment an kriminelle Betrüger. Dennoch war sie entsprechend neugierig zur Testamentseröffnung gefahren, immer noch überzeugt, dass das nur eine neue Art Enkeltrick sein könne.

„Aber es hatte alles seine Richtigkeit“, hatte sie Andrea anschließend freudestrahlend erklärt. „Meine Oma und ihr jüngerer Bruder waren offensichtlich sehr lange zerstritten, daher kannte ich nicht einmal seinen Namen. Er war ein Einzelgänger und da ich die Letzte dieser Familie bin, erbe ich sein Anwesen in einer kleinen Stadt, die Grünberg heißt und laut Karte nördlich von hier an einem See liegt. Mehr weiß ich noch nicht, aber ich hoffe, dass das Haus irgendwo am Rande steht. Und wenn es einigermaßen bewohnbar ist, könnten wir dort mit unserer Blauen Zone beginnen.“

Andrea hatte erfreut die Arme hochgerissen und gejubelt. „Lass uns so schnell wie möglich hinfahren und egal wie es aussieht, egal wie viel Arbeit es macht, das kriegen wir hin.“

Und dann standen sie völlig überrascht vor einem ziemlich großen Fachwerkhaus mit leuchtend blauen Balken.

„Es ist blau“, flüsterte Andrea überwältigt. „Das muss ein Zeichen sein. Hier sind wir zu 100-Prozent richtig!“

Natürlich war das Haus nicht das was sich Jessica gewünscht hätte, es war aber auch nicht die schlimme Bruchbude, die sie befürchtete, sondern einfach ein altes, aber großzügiges Haus, welches viel Zuwendung und frische Farbe benötigte und bestimmt einen großen Teil ihres Erbes und ihrer Ersparnisse verschlingen würde. Es stand tatsächlich am Rand der kleinen Ortschaft, etwas entfernt von den Nachbarhäusern und mit vielen Bäumen dazwischen. Als sie es neugierig umrundeten, sahen sie erfreut den großen Gemüse- und Obstgarten, der jetzt natürlich noch unter kümmerlichen Schneeresten verborgen war, aber sogar einen gemauerten Brunnen hatte. An der Rückseite des Hauses führte eine geschwungene Treppe nach oben, da sie aber keinen passenden Schlüssel fanden, verzichteten sie zunächst auf die Erforschung dieses Teils.

Im Inneren des Hauses roch es zwar ziemlich muffig, aber davon ließen sie sich nicht abschrecken. „Der Notar hat gesagt, Onkel Dietrich sei noch vor kurzem völlig gesund 96 Jahre alt geworden und habe hier allein ohne Hilfe gelebt. Dann hat das Herz doch versagt.“

„Schade, dass er uns seine Geheimrezepte nicht mehr verraten kann, ich würde auch gerne so alt werden.“ Andrea betrachtete und befühlte die Kücheneinrichtung mit Kennerblick und schätzte den Aufwand zum Putzen ab. „Die Küche ist noch ziemlich neu und wenn der Dreck weg ist auch wieder top. Offensichtlich hat er keine Hilfe gehabt oder nicht gerne geputzt.“

Auch die nächsten Räume versetzten beide in Staunen. „Wozu braucht ein alter Mann zwei Bäder im Erdgeschoss?“, wunderte sich Jessica. „Da müssen wir lediglich die Fliesen und die Becken erneuern, das spart eine Menge.“

Andrea war schon weitergeeilt. „Es gibt vier Zimmer im Erdgeschoss, von denen jeweils zwei durch ein Bad verbunden sind, den großen Wohnraum und eine Riesenküche, die man zum Garten hin öffnen könnte.“ Dann blieb sie stehen und strahlte ihre Freundin mit ihren großen graublauen Augen an. „Mit vier Schlafzimmern könnten wir noch zwei Frauen aufnehmen und eine richtige blaue WG einrichten.“

„Gute Idee! Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ Jessica blieb angesichts der neuen Möglichkeiten einen Moment stehen, dann kicherte sie: „Aber dann suchen wir uns jemanden, der Ahnung von glücklichen Hühnern hat, denn hier gibt es bestimmt auch einen Stall dafür.“

Am Ende der ersten Besichtigung wussten sie, dass es neben einem Hühnerstall, noch einige Vorratsräume, eine veraltete Heizanlage im Haus, aber sogar einige Photovoltaikplatten auf dem Dach gab.

Auch Grünberg war ein hübscheres Städtchen als erwartet, mit vielen alten, gepflegten Fachwerkhäusern und modernen Bauten einträchtig nebeneinander. Dazwischen gab es viele Bäume und Sträucher, einige kleinere Läden und Parks. Am See waren sie nur vorbeigefahren, dafür würden sie sich später Zeit nehmen

Und so hatte das große Abenteuer Blaue Zone begonnen. Sie hatten beide so schnell wie möglich ihre Wohnungen gekündigt, ihre Lieblingsmöbel und alle Krimis eingepackt und waren gleich Anfang Januar nach Grünberg gezogen. Seitdem hatten sie kaum eine freie Minute gehabt, sondern alles getan, um als erstes in dem geräumigen Erdgeschoss zwei der Schlafzimmer, den Wohnraum und ein Bad bewohnbar und angenehm zu machen, während der Heizungsbauer, der Klempner und zwei Elektriker die schwierigeren Aufgaben übernahmen. Dass sie beide durch die anstrengende Arbeit schon etwas an Gewicht verloren hatten, betrachteten sie als gutes Omen für die Zukunft.

Die restlichen Räume würden folgen, aber noch nicht das Obergeschoss, das eigenartig angelegt war. Vom Hausflur aus führte zwar eine schmale Treppe nach oben, nur erreichte man dort bloß einen kleinen abgeteilten Raum, in dem elegante Möbel standen, die Jessicas Onkel mit Sicherheit nicht genutzt hatte. Aber wer hatte dann an dem zierlichen Damenschreibtisch gesessen, die Konsoltische dekoriert oder sich in den mit blauem Samt bezogenen Sesseln niedergelassen?

„Den Schreibtisch könnte ich als Schneidetisch für meine Videoclips nutzen. Was willst du mit den anderen Sachen anfangen?“

Jessica hob die Schultern. „Das hat Zeit, aber für den großen Raum, den man nur von außen über die Treppe erreicht, hätte ich eine Idee. Wir könnten daraus einen Treffpunkt für alle machen, die sich für die Geheimnisse der Blauen Zonen interessieren.“

Bereits in der zweiten Woche hatte Andrea etwas übereifrig die Zugangstür und die Treppe in leuchtendem Königsblau gestrichen und ein Schild mit der Aufschrift Willkommen in der Blauen Zone angebracht.

Aber noch gab es ja nichts Konkretes, noch keine überzeugenden Erfahrungen und noch keine Geheimtipps, wie man dieses hochgesteckte Ziel erreichen könnte. Sicher, Jessica hatte viel gelesen und kannte die grundlegenden Erkenntnisse der Wissenschaftler, die die Ursache vor allem in gleichen kulturellen Gemeinsamkeiten sahen.

Dort legte man großen Wert auf eine überwiegend pflanzliche Ernährung, eine mäßige Kalorienzufuhr, trank wenig Alkohol und achtete auf moderate Bewegung bei der Gartenarbeit, beim Wandern oder Tanzen. Jessica gefiel vor allem, wie entscheidend der Zusammenhalt war, egal ob in Familien oder Gemeinschaften und dass sinnvollen Aufgaben erfüllt wurden. Das sah absolut nicht nach Langeweile oder Einsamkeit aus.

Aber wie sollten sie das umsetzen, damit es auch das gewünschte Ergebnis brachte? Sie schloss das Fenster und wollte gerade Andrea deswegen ansprechen, als diese aus dem anderen Raum rief:

„Du musst unbedingt mein Zimmer ansehen, ich brauche jemanden, der nicht von vorneherein der Meinung ist, dass es das coolste Schlafzimmer aller Zeiten ist.“

Jessica lächelte über den Eifer ihrer Freundin und betrat den Raum neben dem Bad, den Andrea im maritimes Stil mit hellblauen Wänden und weißen Möbeln eingerichtet, frisch geputzt und neu dekoriert hatte.

„Du weißt, dass ich an der See aufgewachsen bin und das ist meine Vorstellung vom Schlafen in der Blauen Zone. Glaubst du, dass sich hier auch ein Mann wohlfühlen würde?“

Jessica schüttelte irritiert den Kopf. Hatte Andrea eine neue Eroberung gemacht? Aber das hätte sie doch mitkriegen müssen, oder nicht? „Wer soll sich denn hier wohlfühlen?“

„Na, Kristof K. Konsit. Ich habe ihn bei Instagram gesehen und bin total begeistert von ihm. Ich halte ihn für den zurzeit maßgeblichsten Experten für Longevity. Er sagt, er habe umfangreiche Studien direkt in Japan gemacht. Also habe ich ihn eingeladen und er kommt tatsächlich! Mein Raum wäre dann ein tolles Gästezimmer für ihn und ich schlafe bei dir. Wer könnte uns denn überzeugender lehren, was für die Blaue Zone erforderlich ist, als ein Experte?“

„Und du glaubst er kommt hierher, einfach so? Wir können ihm doch gar kein Honorar zahlen.“

Andrea schien Jessicas Zweifel kaum zur Kenntnis zu nehmen und beharrte auf ihrer Meinung. „Ich habe angedeutet, er könne sich hier erholen oder ein Seminar für Interessierte durchführen. Auch da hat er zugestimmt und ich habe auch schon für uns bezahlt.“

„Und wo willst du es machen? Im Wohnzimmer geht das schlecht.“

„Stimmt“, feixte Andrea. „Aber komm mal mit.“ Sie fasste ihre Hand und zog die Freundin nach draußen, die blaue Treppe nach oben und öffnete triumphierend die Tür. „Tata! Sieht das nicht schon nach einem Seminarraum aus? Das habe ich letzte Woche heimlich gemacht. “

Jessica nickte überrascht. Natürlich sah sie, dass der erste helle Anstrich noch nicht alle alten Spuren überdeckte, aber das Ergebnis konnte sich trotzdem sehen lassen.

„Ich habe den Fußboden gestern abgezogen und gebeizt. Morgen kommt der Klempner und schließt das Waschbecken und die Toiletten an, dann müssen wir dort nur noch fliesen. Und der Experte kommt erst in einer Woche, also das schaffen wir. Ich bin ein wenig vorgeschossen, aber jetzt bist du doch einverstanden, oder?“

Jessica war noch nicht so ganz überzeugt, freute sich aber doch über den Einsatz der Freundin. Und hatte sie nicht erst vor kurzem gefragt, wie es weitergehen sollte? Jetzt bekam sie bestimmt alle Antworten und konzentrierte sich deshalb wieder auf die praktischen Fragen. „Was hältst du davon, wenn wir diagonal fliesen, das ist ein wenig anspruchsvoller, sieht aber toll aus.“

Andrea grinste nur und suchte gleich das Material zusammen.

Am Ende der Woche hatte auch Jessica das Gefühl, sie und das Haus seien gut gerüstet für den Experten, obwohl ein wenig Skepsis blieb, vor allem als sie im Internet kein Buch von Konsit fand oder irgendwelche Hinweise auf seine Studientätigkeit im Ausland.

Aber sie würde sich bei seiner Ankunft gerne positiv überraschen lassen. Und danach sah es zunächst auch aus.

Konsit war ein gut aussehender Mann mit sehenswerten graublauen Augen und einer gut trainierten Figur. Aber das schien er auch zu wissen, denn er nutzte seine Wirkung auf Frauen sehr geschickt aus. Während Andrea fast vor Begeisterung schäumte, hielt sich Jessica sehr zurück und konnte ihr Misstrauen immer noch nicht ablegen, vor allem als sie sah, wie er mit anderen umging.

Der Experte schien sich seines Rufes und dessen was ihm zustand sehr sicher. Er war mit einem riesigen Caravan angereist, lehnte die Unterkunft im Haus und auch ihr Essen kategorisch ab. Und obwohl ihm Andrea fast jeden Wunsch von den Augen ablas, schien er ihre Freundlichkeit nicht wahrzunehmen und behandelte sie eher von oben herab, wie eine Angestellte, die seinen Anweisungen zu folgen hatte. Jessica sah das mit Sorge, vor allem im Hinblick auf das morgige Seminar, hielt sich aber immer noch zurück.

Offensichtlich hatte eine Agentur die Organisation des Seminars übernommen, denn zu ihrer großen Überraschung erschienen am Morgen des nächsten Tages 12 Leute, die offensichtlich gut vorbereitet waren und denen es nichts ausmachte, die horrenden Seminargebühren zu bezahlen.

Obwohl ihr Misstrauen noch immer groß war, hörte sie Konsits Ausführungen genau zu und war wider Willen beeindruckt davon, wie überzeugend er sprach. Manche Hinweise leuchteten ihr sofort ein und blieben ihr besonders in Erinnerung.

„Die Japaner haben einen Spruch zu mäßigen Portionen“, dozierte

Konsit, „Hara hachi bu – Höre auf zu essen, wenn dein Magen zu 80% gefüllt ist.“