2,99 €
Nachdem ihre Eltern und ihr Bruder bei einem tragischen Unfall ums Leben kommen, steht Amelias Leben auf dem Kopf. Um zur Ruhe zu kommen flüchtet sie nach Schweden, in das kleine Sommerhäuschen der Familie. Als sie dort bei einem Spaziergang einen alten Anhänger vom Boden aufheben will, geschieht das Unglaubliche: Amelia reist mehr als 1000 Jahre in der Zeit zurück und landet mitten in einem einsamen, verschneiten Wald! Halb erfroren wird sie von einem Wikinger gefunden, der gerade sein Heer von einem Krieg zurück in die Heimat führt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum
Amelia fuhr ihren roten VW Golf mit 100 Stundenkilometern die schnurgrade Landstraße entlang. Seit sie in Trelleborg von der Fähre gefahren war, hatte sie keine einzige Pause eingelegt. Das war vor fünf Stunden gewesen. Energisch kurbelte sie ihr Fenster herunter, denn sie brauchte frische Luft. Zum Glück war das Ziel ihrer Reise, ein kleiner Ort namens Vareby, jetzt nicht mehr weit entfernt.
Gedankenverloren ließ sie den Blick über die rechts und links vorüberziehenden Wälder schweifen. Dabei fiel ihr auf, dass sie sich trotz der Müdigkeit zum ersten Mal seit langer Zeit wieder entspannt fühlte. Es tat gut, wieder in Schweden zu sein. Die kühle Waldluft, die so wunderbar nach Moos, Tannennadeln und frischen Gräsern roch, die glasklaren Seen und freundlichen Menschen. Das Leben hier war nahezu sorglos und irgendwie… lebenswerter. Sogar, wenn das Schicksal es gerade alles andere als gut mit einem meinte.
Amelia seufzte und warf gleichzeitig einen Blick auf die Landkarte, die sie neben sich auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte. Natürlich hatte sie auch einfach das GPS einschalten können, aber Amelia war in dieser Hinsicht manchmal altmodisch. Nur weil sie in einem digitalen Zeitalter lebten, hieß das noch lange nicht, dass sie von den modernen Technologien auch jeden Tag Gebrauch machen musste. Außerdem hatte sie momentan alle Zeit der Welt. Zeit zum Entspannen, zum Nachdenken und um sich zu verfahren.
Letzteres war jedoch nicht der Fall. Der Karte zur Folge war Vareby der nächste Ort. Mit seinen knapp 2000 Einwohnern konnte man den kleinen Ort als ruhig und idyllisch beschreiben. Ein typisch schwedischer Ferienort mit Kopfsteinpflaster, vielen kleinen Geschäften und einem alten Marktplatz, auf dem an jedem Sonntag die Bauern der Region ihre Waren anpriesen.
Das schönste an Vareby war jedoch der Wald, der den Ort umgab. Als Kind war Amelia fest davon überzeugt gewesen, dass es dort Wichtel und Feen gab. „Das Kind hat eine blühende Fantasie“, hatte ihr Vater immer gesagt und dabei stolz geschmunzelt. Amelie seufzte. Diese ‘blühende Fantasie’ hatte sie noch heute, auch wenn sie inzwischen nicht mehr an Wichtel und Feen glaubte. Dafür verdiente sie sich heute mit ihren kreativen Ideen den Lebensunterhalt. Erst vor kurzem hatte sie einen Vertrag mit Londons größter Publishing Firma unterschrieben, die ihren ersten Roman veröffentlichen wollte.
Als Amelia das Ortsschild erreichte, verlangsamte sie ihr Tempo. Nur wenig hatte sich über die Jahre hier verändert und das tat gut. Sie entdeckte den kleinen Tante-Emma-Laden, in dem sie und ihr Bruder sich im Sommerurlaub immer Eis gekauft hatten. Erdbeereis für sie und Schokoladeneis für Milo. Amelia lächelte. Sie war so dankbar für all die schönen Momente, die sie und ihre Familie hier geteilt hatte. Heute waren diese Erinnerungen alles was ihr geblieben war.
Schon bald tauchte links die gewohnte Abzweigung zum Ferienhaus auf, woraufhin sich eine freudige Unruhe in Amelia breitmachte. Nach mehr als vierundzwanzig Stunden auf Fähren und im Auto hatte sie es endlich geschafft und als sie ihr Auto wenig später neben dem kleinen, roten Häuschen mit den weißen Fensterläden parkte, hätte sie vor Glück beinahe geweint.
Sie war wieder da, und alles war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte: die Wiese mit den Sommerblumen, der See hinter dem Haus und die Kühe des Nachbarn in der Entfernung. Dazu der weite Himmel mit seinen sich rasch verändernden Wolkengebilden und der Lärm der Vögel in den Bäumen. Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Vor vier Jahren? Oder fünf?
Nachdenklich ging Amelia um das Haus herum zum Elektrokasten, wo seit jeher der Schlüssel aufbewahrt wurde. Ihre Eltern waren immer hierhergekommen, weil sie die Ruhe mochten. Amelia zog es heute aus genau dem gleichen Grund hierher. Allerdings war sie sich alles andere als sicher, ob es eine gute Idee war, hier wochenlang allein ihren Gedanken nachzuhängen.
Im Haus hatte sich ebenfalls nichts verändert. Es war klein, aber gemütlich. Amelia stellte den Blumentopf, den sie extra mitgebracht hatte, weil es ihre Mutter auch immer so getan hatte, auf den runden Esstisch am Fenster ab. Dann begann sie ihre Tasche auszupacken, hängte alles weg und baute im Badezimmer ihr Waschzeug auf. Als sie damit fertig war, wusste sie nicht so recht was sie anfangen sollte, also setzte sie Wasser für eine Tasse Tee auf. Damit setzte sie sich an den Tisch und schaute auf den in der Sonne glitzernden See hinaus.
Ihr Handy klingelte, aber Amelia ignorierte es. Der Anruf kam aus dem Verlag. Vermutlich wollten sie die letzten Änderungen ihres Manuskripts durchgehen. Noch vor einem Monat war es ihr größter Traum gewesen, endlich eine Publishing Firma zu finden. Heute konnte selbst die Aussicht endlich ihren Roman in den Händen zu halten sie nicht mehr begeistern.
Wie so oft seit dem tragischen Tag vor drei Wochen, als ihre Eltern und ihr Bruder bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, traten Amelia die Tränen in die Augen. Es war alles so furchtbar unerwartet gekommen. Ihre Eltern hatten Milo in Amerika besucht, wo er vor kurzem ein Studium in Kunstgeschichte begonnen hatte. Sie erinnerte sich, wie glücklich er gewesen war, als er den Brief mit der Zulassung im Briefkasten gefunden hatte. Zu dritt hatten ihre Eltern und Milo sich dann auf den Heimweg nach London gemacht, um als Familie Amelias zweiundzwanzigsten Geburtstag zu feiern, als das Flugzeug urplötzlich vom Radar verschwunden war. Erst ein paar Tage später hatte man das Wrack im Meer gefunden. Keiner der 149 Passagiere hatte den Absturz überlebt.
Mit dem Handrücken wischte Amelia sich die Tränen aus den Augen und atmete dann tief durch. Mit dem Tod ihrer Eltern und ihres geliebten Bruders hatte sie mit einem Schlag ihre gesamte Familie verloren. Alles, was ihr lieb und wichtig gewesen war. Der Schmerz dieses Verlusts war unerträglich und hatte sie zeitweilig sogar fast um den Verstand gebracht. Sie hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und brauchte einen Ort, an dem sie für eine Weile mit sich allein sein konnte.
Ihr Vater hatte das kleine Ferienhaus inmitten der schwedischen Natur kurz nach Amelias Geburt gekauft. Seitdem waren sie jedes Jahr hierhergekommen. Zum Entspannen und damit sie ohne Fernsehen, Internet oder andere Ablenkungen Zeit miteinander verbringen konnten. Milo und Amelia hatten ihre schönsten Ferien hier verbracht und verdankten diesem Ort ihre Liebe für Kunst und Bücher. Langsam ließ Amelia den Atem, den sie ganz unbewusst angehalten hatte, wieder entweichen.
„Amelia? Schätzchen, bist du das?"
Amelia zuckte erschrocken zusammen, aber schon im nächsten Moment wusste sie, zu wem die Stimme gehörte und beeilte sich die Tür zu öffnen. Eine rundliche, schon etwas ins Alter gekommene Frau stand auf der Schwelle und lächelte ihr freundlich entgegen. Greta, die Nachbarin, schien einen siebten Sinn dafür zu haben, wenn jemand aus ihrer Familie hier ankam.
„Dirne…”, seufze Greta. „Du musst nichts sagen. Ich habe gehört was passiert ist und es tut mir unendlich leid.“ Die alte Frau zog Amelia in eine enge herzliche Umarmung. „Es ist gut, dass du hier bist. Du wirst sehen, dieser Ort kann selbst die schlimmsten Wunden heilen."
Die mütterliche Umarmung einer Frau, die Amelia schon seit ihrer Kindheit kannte, tat gut.
„Danke, Greta, ich bin auch froh hier zu sein. In London hatte ich das Gefühl, als würde mir die Decke auf den Kopf fallen..."
Greta nickte verständnisvoll. Dann breitete sich erneut ein fröhliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Ich hoffe doch sehr, dass du dich heute Abend von uns zum Essen einladen lässt? Es gibt Köttbullar. Die mochtest du doch immer so gerne."
Obwohl sie erschöpft und todmüde war, musste Amelia ebenfalls Lächeln. Die Einladung klang verführerisch und ein bisschen Gesellschaft würde ihr sicher guttun. Außerdem waren Gretas Kӧttbullar die Besten in ganz Schweden. „Das würde ich sehr gerne“, nickte sie dankbar.
Es war gegen sechs Uhr abends, als Amelia das Haus verließ und sich auf den Weg zu ihren Nachbarn machte. Wenn man über die Felder und Wiesen lief, statt der Straße zu folgen, konnte man das Haus von Greta und Ole in weniger als zehn Minuten erreichen. Außerdem war es war ein schöner Spaziergang. Genau das Richtige, für einen warmen Sommerabend.
Amelia hatte den Trainingsanzug, den sie während der Reise getragen hatte, gegen ein bunt geblümtes Sommerkleid eingetauscht und ihr frisch gewaschenes, dunkelbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Als Kind war sie vom Aussehen her eher unauffällig gewesen. Dünn und ungelenk, mit übergroßen Augen und ungebändigtem Haar. Doch dann war sie in die Pubertät gekommen und hatte sie, mehr oder weniger über Nacht, in eine junge Frau verwandelt, die sich vor der Welt nicht verstecken musste. Statt der schlaksigen Figur ihrer Kindheit besaß sie heute schön geschwungene Hüften, muskulöse Beine und große, feste Brüste. Ihre helle, makellos reine Hautstand stand in interessantem Kontrast zu dem dunklen Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und ihre tiefgrünen Augen leuchteten wie Smaragde unter tiefschwarzen Wimpern.
Gemächlich schlenderte sie am Haus vorbei und dann durch den Garten, bis sie die hintere Grundstücksgrenze erreichte, wo die Felder begannen. Dort zog sie ihre Schuhe aus und folgte sie dem Wiesenweg entlang der Kornfelder. Sie genoss das Gefühl der weichen Gräser unter ihren Füßen und den leicht süßlichen Geruch des Korns.
Als sie nach wenigen Minuten die Grenze zum Nachbargrundstück erreichte, hielt Amelia kurz inne. Hier stand, solange sie denken konnte, ein großer, aufrechter Stein. Obwohl sie schon tausend Mal daran vorbeigelaufen war, hatte sie ihn noch nie aus der Nähe betrachtet.
Neugierig trat sie darauf zu und stellte dabei fest, dass der Stein sogar noch größer war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er überragte sie um gut einen halben Meter überragte und war damit um einiges größer als andere Gesteinsbrocken, die man hier vereinzelnd fand. Es wirkte fast, als hätte jemand ihn mit Absicht hier platziert. Amelia nahm sich vor Greta und Ole danach zu fragen. Die beiden lebten schon ihr ganzes Leben hier und würden sich wissen, was es damit auf sich hatte.
***
Das Abendessen verlief entspannt. Greta plauderte über die alten Zeiten und Ole, der nicht sehr gesprächig war, schmunzelte hier und da. Die Kinder der beiden hatten schon vor Jahren das Haus verlassen und waren zum Studieren nach Stockholm gezogen. Seitdem war es in dem alten Bauernhaus sehr ruhig geworden. Amelia konnte sich noch gut an Maja, Björk und Finn erinnern. Obwohl sie ein paar Jahre älter waren, hatten sie früher viel miteinander gespielt.
Die Köttbullar schmeckten wie immer wunderbar. Greta kochte nach den alten, schwedischen Rezepten ihrer Großmutter. Hausmannskost. Einfach, aber lecker. Amelia bemerkte erst beim Essen, wie hungrig sie war, und ließ sich sogar noch zu einer zweiten Portion überreden. Kein Wunder, sie hatte in den letzten Wochen ja auch kaum etwas zu sich genommen.
Nach dem Essen fiel Amelia wieder ein, dass sie die beiden nach dem großen Stein an der Grundstücksgrenze hatte fragen wollen. Zu ihrer Überraschung, schienen Oles Augen bei dieser Frage regelrecht aufzuleuchten.
„Hier, genau an diesem See, hat vor mehr als tausend Jahren eine Gruppe von Wikingern gesiedelt. Sogar ein großes Langhaus soll hier mal gestanden haben. Man sagt, ein reicher Wikinger-Kleinfürst hat sie bauen lassen, ein sogenannter Jarl. Bei dem Stein, den du auf dem Weg hierher gesehen hast, handelt es sich um einen Runenstein. Man vermutet, dass der Jarl selbst ihn in Auftrag gegeben haben soll, und wenn du genau hinsiehst, müsstest du sogar die eingeritzten Runen noch erkennen können."
Greta lächelte. „Ole weiß viel über die Geschichte dieser Region. Er hat bereits unser gesamtes Grundstück nach der alten Burgruine umgegraben, bis jetzt jedoch ohne Erfolg."
Ole warf seiner Frau einen zwinkernden Blick zu. „Mach du dich nur lustig, aber irgendwann werde ich die Dorfruinen finden und dann bin ich es, der triumphiert."
Greta seufzte. „Naja, solange du bei deiner Suche nicht auf die Idee kommst unser Haus abzureißen...”
Amelia musste lachen. Obwohl die beiden schon eine halbe Ewigkeit verheiratet waren, hatten sie es doch geschafft die Liebe und Zuneigung, die sie erstmals zueinander geführt hatten, über die Jahre aufrecht zu erhalten. Amelia bewunderte sie dafür.
„Was steht denn auf dem Stein geschrieben?", wollte sie wissen.
Ole runzelte die Stirn. „Man kann nicht mehr alle der Runen erkennen und die Sprache ist schwer zu verstehen, da der Text in Altnordisch geschrieben ist, aber meiner Meinung nach geht es um die Liebe. Es ist eine Art Liebesgedicht." Schmunzelnd zündete er sich eine Pfeife an. „Der Jarl war anscheinend sehr verliebt.“
Amelia legte fragend den Kopf schief. Sie war eigentlich immer davon ausgegangen, dass die Menschen früher hauptsächlich aus praktischen Gründen, wie dem Erwerb von Reichtümern, Land und Macht geheiratet hatten.
“Die Wikinger haben viele Runensteine in Schweden hinterlassen“, fuhr Ole fort. „Aber ich kenne nur diesen einen, der von der Liebe erzählt. Manche Dinge sind eben nach tausenden von Jahren immer noch aktuell. Die Liebe zwischen Mann und Frau gehört dazu.“
Amelia nickte, aber wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht viel über die Liebe. Im Kindergarten hatte sie einen Freund, mit dem sie jeden Tag gespielt hatte. Bis heute war das die innigste Beziehung mit einem Jungen, an die sie sich erinnern konnte. Nicht, dass es ihr an Verehrern fehlte. Vielmehr hatte sie sich einfach nie in einen von ihnen verliebt.
Als Amelia auf dem Weg nach Hause wieder an dem Stein vorbeikam, hielt sie zum zweiten Mal an diesem Tag dort inne. Sie überlegte, wie der Wikingerkönig wohl ausgesehen haben mochte, und was es mit dem Liebesgedicht auf sich hatte.
Vorsichtig strich sie das hohe Gras beiseite und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass man die alten Schriftzeichen tatsächlich noch erkennen konnte. Obwohl es bereits kurz nach 10 Uhr abends war, stand die Sonne noch hoch genug am Horizont, um Licht zu spenden. Amelia liebte den nordischen Sommer. Die langen Tage, den Geruch nach unberührter Natur und das milde Klima.
Sanft ließ sie ihre Finger durch die Furchen der über tausend Jahre alten Runenzeichen gleiten. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich zu dem Stein hingezogen. Wer wohl die Frau gewesen war, für die der Jarl den Runenstein errichtet hatte? Seine Ehefrau, oder vielleicht eine heimliche Geliebte? Seufzend zog Amelia die Hand zurück. Dabei fiel ihre Aufmerksamkeit auf einen kleinen Gegenstand, der zu ihren Füßen im Gras lag.
Erstaunt runzelte sie die Stirn. Dann bückte sie sich, um ihn aufzuheben. Es war ein Anhänger aus Metall, der die Form eines zweiseitigen Hammers hatte. Amelia vermutete, dass er sehr alt war, denn seine Ränder waren uneben und von den Elementen zerfurcht.
Noch während sie das seltsame Schmuckstück in den Händen hielt, kam wie aus dem Nichts ein gewaltiger Windstoß auf. Amelia griff erschrocken nach dem Runenstein, da sie fürchtete das Gleichgewicht zu verlieren. Besorgt sah sie sich um, konnte aber abgesehen von umherwirbelnden Blättern und sich im Wind beugenden Bäumen nichts Ungewöhnliches erkennen. Trotzdem sagte ihr ihre innere Stimme, dass irgendetwas hier nicht mit rechten Dingen zuging und sie sollte recht behalten.
Noch bevor Amelia einen klaren Gedanken fassen konnte, begann der Himmel sich zu verdunkeln, bis alles um sie herum in eine schwarze, unheimliche Finsternis getaucht war. Amelia erzitterte. Gleichzeitig begann ihr Herz zu rasen und ihr Hals fühlte sich an wie zugeschnürt. Sie wollte schreien, brachte aber kein Wort über die Lippen. Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht und ein ohrenbetäubendes Donnern ertönte, das kein Ende zu nehmen schien. Amelia hielt sich die Hände über die Ohren und sank auf die Knie.
876 AD - Mittelschweden - Winter
Schon seit Tagen herrschte in ganz Schweden eine bittere Kälte. Es schneite fast ununterbrochen und wenn dazu noch Wind aufkam, verkrochen sich selbst die Füchse in ihrem Bau.
Trotz des Wetters schlängelte sich eine kleine Gruppe von Wikingern durch den Wald, angeführt von ihrem Jarl, Agnar Andersson. Dicke Fellumhänge bedeckten die Männer, sodass man nur ihre Augen erkennen konnte.
Obwohl der Schnee den Pferden fast bis zum Bauch reichte, manövrierte Agnar seinen schwarzen Hengst Sleipnir scheinbar mühelos durch den Wald. Er und seine Männer befanden sich auf dem Weg nach Hause, nachdem sie monatelang an der Seite König Haralds im Norden von England gekämpft hatten. Zu jedermanns Erleichterung war das heimatliche Dorf jetzt nicht mehr allzu weit entfernt. Eine Erkenntnis, die neues Leben in die Truppe brachte. Die Männer freuten sich auf ihre Familien, eine ausgiebige Mahlzeit und ein warmes Heim. Energisch trieben sie ihre Pferde voran und schlugen dabei jede Vorsicht in den Wind.
Agnar war der Einzige, dem die unerwartete Bewegung gleich hinter einer Reihe von Bäumen zu ihrer Rechten nicht entgangen war. Obwohl seine Glieder vor Kälte starr gefroren waren, zog er blitzschnell das Schwert und wendete Sleipnir in die besagte Richtung. Das Pferd prustete empört, kam der Aufforderung aber gehorsam nach. Auch seine Männer zügelten ihre Pferde und richteten ihre gespannten Blicke auf sie. Agnar wusste, dass sie ihm mit ihrem Leben vertrauten. Diese Treue war jedoch nicht selbstverständlich. Er hatte sie sich hart erarbeiten müssen.
Konzentriert studierte Agnar die Reihe von Bäumen. Er vermutete, dass es sich bei der Bewegung, die er wahrgenommen hatte, nur um ein Tier handelte, das im Unterholz nach Nahrung suchte. Doch er war ein Krieger, und seine Erfahrung hatte ihn gelehrt lieber zu vorsichtig, als nicht vorsichtig genug zu sein. Leise trieb er Sleipnir vorwärts, aber was er kurz darauf im Schnee liegen sah, hätte er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten. Es war kein Tier, und auch kein Feind, der dort im Schnee lag, sondern ein menschlicher Körper.
“Bei Odin“, murmelte er und blickte sich verdutzt um.
Von weiteren Personen fehlte jedoch jede Spur. Trotzdem gab er seinen Männern das Zeichen erst die Umgebung zu sichern, bevor er sich der leblosen Gestalt näherte. Obwohl er sich sicher war, dass es sich hier nicht um eine Falle handelte, wollte er so kurz vor dem Ziel ihrer Reise auch kein Risiko mehr eingehen.
Auf Agnars Zeichen hin lösten sich drei Männer aus der Truppe und verschwanden leise im Unterholz. Erst, als sie nicht mehr zu sehen waren, trieb er Sleipnir auf die Gestalt zu. Als er sie erreichte, sprang er mit einer flüssigen Bewegung vom Pferd und kniete neben der Person nieder. Dabei betete er, dass es sich nicht um ein Kind aus seinem Dorf handelte. Wer, außer einem unerfahrenen Kind, würde bei so einem Wetter in den Wald gehen?
Bevor er es herausfinden konnte, musste er die Gestalt erst einmal umdrehen, denn sie war vollkommen in sich zusammengerollt. Zu seinem Erstaunen handelte es sich nicht um ein Kind, sondern um eine junge Frau. Eine Frau, die so seltsam aussah, dass der erfahrene Krieger erstaunt die Stirn runzelte.
Ihr Haar war dunkel, fast schwarz, und fiel in langen Wellen an ihr herab. Agnar konnte nicht widerstehen es kurz anzufassen. Alle Frauen, die er in seinem Leben gesehen hatte, hatten blondes, rötliches, oder zumindest braunes Haar. Viel sonderbarer aber noch als ihre Haarfarbe, war die Kleidung, die sie trug. Das Kleid hatte alle Farben des Regenbogens und schmiegte sich so eng an ihren Körper, dass selbst der vernünftigste Mann bei dem Anblick auf dumme Gedanken kommen musste. Man konnte sehen, dass ihre Brüste üppig und fest waren, ihr Körper schlank aber nicht dürr und ihre Beine von wohlproportionierter Form und Länge. Agnar schüttelte verwirrt den Kopf.
Wo war diese Frau hergekommen, deren Kleidung so vollkommen ungeeignet für die kalte Jahreszeit war?
Aus den Augenwinkeln sah er, dass seine Männer inzwischen hinter ihn getreten waren. Beim Anblick der sonderbaren Frau begannen sie leise miteinander zu tuscheln. Einige der Männer machten sogar anzügige Bemerkungen. Agnar hätte sie am liebsten zurechtgewiesen, wusste aber, dass es im Moment Wichtigeres zu tun gab.
Entschlossen hielt er sein Ohr über die blau gefrorenen Lippen der Frau. Flache, angestrengte Atemzüge verrieten ihm schnell, dass sie noch am Leben war. Agnar atmete erleichtert auf. Länger hätte sie es in dieser Kälte bestimmt nicht mehr ausgehalten. Anscheinend waren sie gerade zur rechten Zeit hier vorbeigekommen.
In Windeseile zog er sich seinen warmen Fellumhang von den Schultern und wickelte die junge Frau darin ein. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass außer ihrem Gesicht nichts mehr zu sehen war, nahm er sie in die Arme und richtete sich mit ihr auf.
„Thor!", rief er seinem Freund und engsten Vertrauen zu, der sogleich an seine Seite eilte. “Halte sie für mich, während ich aufsteige.”
Thor zögerte nicht ihm die Frau abzunehmen, aber Agnar war nicht entgangen mit welchem Argwohn er die Fremde dabei musterte. Thor hatte die Größe und Stärke eines Ochsen und war einer der mutigsten Krieger, die Agnar kannte. Auf der anderen Seite war er abergläubisch, wie die meisten Wikinger, und Agnar vermutete, dass seinem Freund gerade die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen, die auch ihm schon gekommen waren: Nämlich dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Konnten die Götter im Spiel sein, oder ein böser Zauber?
Agnar seufzte leise. Ihm blieb keine Zeit sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, wenn er der Frau das Leben retten wollte, Sie mussten das Dorf erreichen, und das so schnell wie möglich. Entschlossen beugte er sich zu Thor hinab, griff nach der Frau und zog sie zu sich aufs Pferd.
“Finn!”, befahl er seinem Knappen. „Reite los und informiere die Heilerin, dass wir bald ankommen werden und ihre Hilfe benötigen.”
Finn, ein großer, schlaksiger Junge von etwa dreizehn Jahren, sprang sofort auf seine Stute und preschte los.
Auch Agnar trieb Sleipnir nun so schnell es ging voran. Die Frau hielt er dabei an sich gepresst, als wäre sie ein wertvoller Schatz. Solange er für sie die Verantwortung trug, würde ihr nichts geschehen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Sie musste leben, denn er wollte unbedingt mehr über sie in Erfahrung bringen.
Als die Männer kurze Zeit später endlich im Dorf einritten, wurden sie sofort von einer laut jubelnden Menschenmenge umringt.
Trotz aller Freude über die Rückkehr der Krieger, war es die Frau in Agnars Armen, der die größte Neugier galt. Jeder wollte einen Blick auf sie werfen. Finn hatte die Sippe anscheinend schon bestens über den sonderbaren Vorfall im Wald informiert.
Agnar gab sich alle Mühe das Mädchen so gut es ging vor den prüfenden Blicken seines Volkes abzuschirmen und ritt, ohne innezuhalten, oder das Wort an jemanden zu richten, zu seinem Langhaus, während seine Männer zurückblieben, um sich von ihren Freunden und Familien feiern zu lassen. Nur Thor blieb sie ganze Zeit über an seiner Seite.
Vor dem Haupteingang, den zwei mächtige Holzbalken schmückten in deren Enden Drachenköpfe geschnitzt waren, brachten sie ihre Pferde zum Stehen. Sleipnir ließ vor Erschöpfung den Kopf sinken. Agnar strich tätschelte ihm liebevoll den Hals, was der Hengst mit einem leisen Prusten zur Kenntnis nahm.
Thor, der inzwischen ohne Aufforderung vom Pferd gesprungen war, übergab sein verschwitztes Pferd einem der Hütejungen und drehte sich dann zu Agnar, um ihm die Frau abzunehmen. Agnar nickte seinem Freund dankbar zu.
Nachdem auch er abgesessen hatte, ließ er sich die Frau jedoch sofort zurückgeben. Aus irgendeinem Grund wollte er sich nicht von ihr trennen, obwohl er im Moment durchaus andere Dinge zu tun hatte.
Gerade, als er sie wieder im Arm hielt, teilte sich die Menschenmenge um einer kleinen, grauhaarigen Frau den Durchtritt zu gewähren. Um einiges flinker als ihr Anblick vermuten ließ, bahnte sie sich ihren Weg direkt auf sie zu. Als sie Agnar und Thor erreichte, warf sie einen besorgten Blick in das Gesicht der jungen Frau. „Kommt", murmelte sie dann und zeigte zur Burg. „Hier entlang. Ich habe alles vorbereitet.“
Die beiden Krieger folgten ihr, und mit ihnen die Menschenmenge. Es beruhigte Agnar, dass Asgerd nun die Führung übernommen hatte. Er vertraute der alten Frau mehr als jeder anderen Person auf dieser Welt. Asgerd wusste alles, was es über Kräuterheilkunde zu wissen gab. Wenn jemand die halb erfrorene Frau retten konnte, dann sie.
Agnar kannte die Heilerin seit seiner frühesten Kindheit. Sie war bei seiner Geburt dabei gewesen und hatte ihn seitdem mehr als nur einmal vor dem Tod bewahrt. Als sie die große Halle erreichten, wo seine Männer normalerweise zum Essen und für Versammlungen zusammenkamen, bat Asgerd ihn die Frau auf einem Haufen von Fellen vor der Feuerstelle abzulegen.
Asgerd wusste, dass man den Körper der Frau wärmen musste, wenn sie eine Chance zum Überleben haben sollte, und hier gab es die größte Feuerstelle im ganzen Dorf. Agnar zögerte nicht ihrer Anweisung zu folgen und legte die Frau vorsichtig nieder. Ein leises Raunen ging durch die Menge, als die Dorfbewohner das schwarze Haar der Frau zu Gesicht bekamen.
Selbst seine Männer, die das Mädchen ja schon gesehen hatten, kamen noch einmal näher. Ein besorgtes Raunen ging durch die Menge. Vielleicht war sie einer von Lokis Scherzen? Oder schlimmer noch, ein Dökkálfar...eine dunkle Elfe?
Selbst Asgerd, die mit ihren fast siebzig Jahren schon so einiges gesehen hatte, wunderte sich über die Herkunft dieses sonderbaren Mädchens. Besonders, nachdem sie die Felle beiseite zog und die sonderbare Kleidung sah, die ihren Körper bedeckte. Oder besser gesagt, nicht bedeckte! Asgerd zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Es gab Vorschriften, was Kleidung betraf, und sie würde nicht zulassen, dass das Mädchen von allen Umstehenden angegafft wurde.
„Weg mit euch!", rief sie der Menge ungeduldig zu und begann sogar unwirsch einige der Nahestehenden beiseitezuschieben, als sich niemand rührte, “Ihr solltet euch schämen! Habt ihr denn keinen Funken Anstand?”
Agnar, der ihr Anliegen verstanden hatte, gab sofort den Befehl, dass alle den Raum zu verlassen hatten. Nur seinen besten Freund Thor und Asgerds Lehrmädchen Inga ließ er gewähren.
„Was sollen wir tun?", fragte Inga unsicher. Sie war erst vor wenigen Monaten in Asgerds Lehre getreten und noch recht unerfahren. Mit angsterfülltem Blick sah sie auf die Fremde und man merkte ihr an, dass sie viel lieber mit all den anderen den Raum verlassen hätte.
„Wir tun das, was wir auch für jeden aus unserer Sippe auch tun würden", antwortete Asgerd geduldig, suchte aber vorsichtshalber nochmal Agnars Augenkontakt, bevor sie mit der Behandlung begann. Als dieser still nickend seine Zustimmung gab, begann sie das Mädchen auszukleiden.
Der Schicklichkeit wegen verließen nun auch Agnar und Thor die Halle. Kurz bevor sie die Tür erreichten, hielt Agnar jedoch noch einmal inne. „Asgerd, ich will mit allen Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden. Und spare an nichts, was der schnellen Genesung des Mädchens beitragen könnte. Ich bin in ein paar Stunden wieder da, um zu sehen, wie es ihr geht.”
„Ja, mein Herr", erwiderte die alte Frau, ohne noch einmal aufzusehen. All ihre Konzentration galt nun ihrer jungen Patientin.
Als sie sie ausgekleidet hatte, drehte sie sich zu Inga um. „Schnell, Mädchen, lauf und hole mehr Decken! Es ist wichtig, dass wir die Frau aufwärmen. Dabei dürfen wir sie so wenig wie möglich anfassen. Ihr Körper ist angeschlagen und wir müssen sehr vorsichtig mit ihr sein."
Inga nickte und rannte sofort los. Sie war froh der Nähe dieses dunkelhaarigen Wesens, deren Existenz sie sich nur mit einem bösen Zauber erklären konnte, für ein paar Minuten entfliehen zu können.
Während ihre Schülerin damit beschäftigt war nach Decken zu suchen, ließ Asgerd ihren geschulten Blick langsam über den entblößten Körper des Mädchens gleiten. Sie suchte nach größeren Verletzungen, konnte aber außer ein paar kleinen Bläschen, die hauptsächlich dort waren, wo der Schnee ihren Körper berührt hatte, keine finden.
Asgerd atmete auf. Das war ein gutes Zeichen. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass die Bläschen nur oberflächlicher Natur waren, denn je tiefer die Kälte in den Körper gedrungen war, desto höher war auch das Risiko eines bleibenden Schadens. Vorsichtig berührte die alte Frau den Arm des Mädchens. Trotz der grauen-gelben Farbe fühlte er sich weich und geschmeidig an. Ebenfalls ein gutes Zeichen. Wäre die Haut ihrer Glieder hart gewesen, hätte man eventuell amputieren müssen. Eine Operation, die Asgerd erst ein einziges Mal durchgeführt hatte, und die wenig Aussicht auf Erfolg versprach.
Während sie noch nachdenklich auf das Mädchen hinabblickte, erkannte sie, dass diese einen Gegenstand in den Händen hielt. Warum war ihr das erst jetzt aufgefallen? Hin- und hergerissen beäugte sie die verkrampfte Hand der Fremden, bis ihre Neugier siegte und sie vorsichtig die kalten Finger zu öffnen versuchte.
Es war nicht einfach und dauerte eine Weile, aber am Ende gelang es ihr doch. Ein Schmuckstück kam zum Vorschein. Der Hammer vor Thor, dem Donnergott. Asgerd legte verwundert den Kopf schief. Konnte es sein, dass die Götter selbst die Frau zu ihnen gesandt hatten?
Neugierig streckte sie erneut die Hand aus. Diesmal, um sich den Anhänger genauer anzusehen. Doch als sie ihn berührte, zog sie die Finger abrupt zurück. Das Metall war heiß wie Feuer und hatte sie verbrannt!
Entsetzt starrte Asgerd auf ihre geröteten Fingerspitzen und griff dann nach einem nassen Leinentuch, welches sie sich schnell um die Hand wickelte. Gedankenverloren runzelte die alte Frau ihre Stirn. Nun zweifelte sie nicht mehr daran, dass die Götter etwas mit dem Auftauchen der Frau hier zu tun hatten. Sie hatte gleich vermutet, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: