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Robert M. Sonntag

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Beschreibung

Ein hochbrisanter Near-Future-Thriller 2048. Die Menschen leben in einer hochdigitalisierten und vernetzten Stadt. Als der 15-jährige Jaro dort ankommt, ist er völlig fasziniert. Doch das alles hat seinen Preis: Der Konzern Ultranetz kontrolliert jeden bis in seine geheimsten Gedanken hinein. Nur Jaro kann sich gegen den Konzern auflehnen. Zusammen mit der gleichaltrigen Nana soll er geheime Informationen beschaffen. Doch Ultranetz ist ihnen auf der Spur, und sie sind in allerhöchster Gefahr … Für Fans von ›Maze Runner‹ und Andreas Eschbach – vom Autor von ›Die Scanner‹

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Seitenzahl: 193

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Robert M. Sonntag

Die Gescannten

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Inhalt

SignetWidmungMottoWerbeclip von Ultranetz, 2038VorspannDie TunnelDas FeuerDer SimulatorDie BeraterinDie ReiseDer DenkerDer UnfallDer GleiterDie FreundeDas GeheimnisDie FluchtDer Ultra-ShopDie RoboterDer GlaspalastDie KuppelDer PlanDie HütteDanksagung

für B. E. N. B.

»Wir Menschen sind doch auch nichts anderes

als denkende Maschinen.«

Die Präsidentin der Zonenregierung

Werbeclip von Ultranetz, 2038

Der Mann trägt zerrissene Hosen, einen verschmierten Pullover, Turnschuhe mit Löchern. Er kniet vor dem Eingang einer Metro-Gleiter-Station. Seine Hände formt er zu einer Schale. Zwischen seinen Fingern leuchtet ein mobiler Zahlungsempfänger.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagt der Mann. »Ich heiße Lukas, bin leider auf Ihre Hilfe angewiesen. Wenn Sie Geld für mich haben, Aromatabs, Account für …«

Eine junge Frau tritt ins Bild. Sie lächelt und schüttelt langsam den Kopf. Sie spricht zu den Zuschauern, nicht zu dem Mann.

»Es ist dein Leben! Erschaffe deine Realität!«, sagt sie.

Die junge Frau zeigt auf eine Stelle ihrer glattgelaserten Kopfhaut, fünf Zentimeter über dem Nacken.

Die Kamera zoomt heran, man sieht eine Anschlussbuchse, den Port, einen Zugang zum Kopf. Kaum zu sehen. Die Kamera fährt wieder zurück.

Die Frau zieht aus ihrer orangeblinkenden Jacke ein Gerät, kleiner als eine Aromatab.

»Der Denker, das neue Produkt von Ultranetz«, erklärt sie und drückt den Denker sachte auf die Stelle am Kopf.

Mzzzp.

Der Denker ist angeschlossen.

»Aktiviere Social Cleaning!«, sagt die junge Frau. Sie wischt den Mann mit dem verschmierten Pullover weg. »Ersetze Bettler immer durch Profil aus meiner Playlist.«

Dutzende Gesichter poppen auf. Sie entscheidet sich für den Zufallsmodus, und der wählt Yuma Akun – Superstar der Ultranetz-Charts.

Wo eben noch der Mann bettelte, sorgt jetzt Yuma Akun für Stimmung. Die junge Frau tanzt mit.

»Neue Ich-Ansicht für alle Freunde mit Denker«, sagt sie.

»Wie möchtest du aussehen für deine Freunde mit Denker?«, singt Yuma Akun.

Die junge Frau lacht. »Natürlich genauso wie du!«

Über die Frau legt sich ein Bild von Yuma Akun. Hinter den bunten Pixeln ist sie selbst noch schwach zu erkennen.

Abspann des Werbeclips.

Alles schwarz.

Der Denker ist in Großaufnahme zu sehen.

Die Frau spricht weiter. »Der Denker! Absolute Realität. Absolute Kommunikation. Absolute Intelligenz.«

Und Yuma Akun singt: »Es ist dein Leben! Erschaffe deine Realität! Ultranetz.«

Zehn Jahre später. Geheimbasis der Gilde.

Offiziell: »DvZ – Die verstrahlte Zone.«

Kein Ultranetz-Empfang.

Die Tunnel

Der Fahrer der Gilde hatte Jaro abgeholt.

Der Mann konnte nicht sprechen, und es wäre sowieso zu laut dafür gewesen. Sie quietschten schon seit zehn Stunden über uralte Gleisanlagen tief unter der Erde.

Das Fahrzeug sah aus wie eine umgebaute Badewanne und rollte auf vier Rädern, angetrieben von einem Elektromotor. Diese Miniaturausgabe einer U-Bahn zog in den Kurven eine Spur aus Funken hinter sich her.

Der Scheinwerfer strahlte die Gleise an und vertrieb die Ratten und einige der Mutanten, die hier unten hausten. Die Mutanten waren kleiner als die Ratten, aber auch schneller.

Das Tunnelsystem führte durch alte U-Bahn-Schächte, verlassene Bunkerhöhlen und ausgebaute Kanalisationen. Jaro und der Fahrer surrten durch die Dunkelheit. Sie atmeten Sauerstoff durch Masken.

Manchmal stieg der Fahrer aus, winkte Jaro zu sich, und gemeinsam stellten sie eine der rostigen Weichen. Kam ihnen einer der Mutanten zu nahe, klatschte der Fahrer in die Hände, und die felligen Wesen flitzten davon.

Beschilderungen gab es keine. Der Fahrer war sein eigenes Navi.

Es war weit nach Mitternacht, als Jaro den Rammbock sah. Endstation! Das Fahrzeug bremste.

Keiner erwartete sie hier unten. Offenbar schliefen alle. War es so spät? Tief unter der Erde gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.

Wie halten es die Menschen hier aus?, fragte sich Jaro. Aber sie hatten ja keine Wahl, die geheime Basis lag zu nah an der Stadtgrenze. Deswegen das Leben in der Dunkelheit, tief unten in den Schächten.

Der Fahrer schlurfte auf ein Tor zu, legte seine Hand auf ein Display und schaute in eine Kamera. Nichts geschah. Der Fahrer wiederholte die Prozedur. Immer noch nichts. Vermutlich machte die Feuchtigkeit der Elektronik zu schaffen.

Beim fünften Mal ratterte das Tor auf. Sie betraten einen kleinen Raum, und das Tor knallte hinter ihnen wieder zu. Luft zischte aus Düsen an der Seite. Frische, kühle Luft!

Eine Tür vor ihnen öffnete sich.

Jaro tat es dem Fahrer nach und zog sich die Atemmaske vom Gesicht. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. »Brauchen wir die jetzt nicht mehr?«, fragte Jaro.

Der Fahrer schüttelte den Kopf, warf die Maske in eine Kiste, gähnte und führte Jaro in einen Gang voller Türen. Sie waren unbeschriftet, doch der Fahrer wusste scheinbar, wohin er wollte. Er stieß eine der Türen mit dem Fuß auf, und sie standen in einem weiß gestrichenen Raum.

Ein Bett, ein alter Holztisch mit Stuhl und große Lüftungsgitter statt Fenster. Es war mehr eine Zelle als ein Gästezimmer. Ein Dutzend Kakerlaken flüchtete vor dem Licht unter den Metallrahmen des Bettes.

Jaro lebte in einer Siedlung, draußen im Grünen. Die Siedlungen waren weit weg von der Stadt, und man konnte es riskieren, oben zu leben. Bei ihm zu Hause hatten sie Holzhütten, pflanzten Gemüse und Obst an. Sie arbeiteten in der Sonne, nicht im Dunkeln.

Der Fahrer klopfte Jaro auf die Schultern, vermutlich war es noch eines der besseren Zimmer hier unten. Er hob seine Hand zum Abklatschen. Jaro schlug ein, und eines der Lichter im Raum ging aus. Der Fahrer fand es lustig und grinste. Er hatte sich wohl an die Macken hier gewöhnt. Lieber eine kaputte Lampe als eine kaputte Lüftungsanlage, dachte Jaro. Sie nickten sich zu, und der Fahrer schlurfte davon.

Auf dem Tisch lag ein roter Zettel. Das Stück Papier ersetzte also das Begrüßungskomitee.

Hallo Jaro, stand auf dem Zettel, du bist spät angekommen! Ich warte auf dich – A. B.

Eine krakelige Zeichnung wies den Weg von Jaros Zimmer zu einem Lift, daneben stand ein Code, offenbar um den Lift zu bedienen.

Jaro hielt nichts in diesem trostlosen Raum. Er folgte der Linie auf der Zeichnung. Menschen begegnete er in den Fluren nicht. Die Lifttür stand offen.

Jaro trat ein. Es würde seine erste Fahrt mit einem Lift werden, zumindest konnte er sich an keine andere Fahrt erinnern. Er hatte die Stadt mit seinen Eltern verlassen, als er zwei Jahre alt gewesen war. Und in der Siedlung brauchten sie weder Lift noch Rolltreppe. Keine Hütte hatte mehr als zwei Etagen.

Jaro las den Code vom Zettel ab und drückte die T-Taste an einem rostigen Kasten. Sie blieb hängen, und Dutzende Ts erschienen. Er löschte die Buchstaben bis auf ein T und drückte die H- und die X-Taste. Beide funktionierten. Aber bei der 1 erschien die 2 gleich mit auf dem Display, und statt 84 stand 87 dort.

Jaro wollte die falschen Zahlen löschen, doch dabei verschwanden auch die Buchstaben. Er schüttelte den Kopf.

Dieser alte Schrotthaufen!, dachte er wütend. Alles Schrott, die ganze Basis! Nichts funktionierte, zumindest nichts auf Anhieb.

Jaro tippte noch einmal den Code ein, er drückte fester zu. Die X-Taste löste sich und fiel auf den Boden. Er trat gegen die Wand.

»Nimmst du mich mit?«

Jaro zuckte zusammen und streckte den Kopf aus dem Lift. Die tiefe Stimme kam vom Ende des Ganges. Das Licht flackerte dort aus kaputten Leuchtröhren, er sah die Umrisse eines Mannes.

»Warte bitte!«, rief der Mann.

Warte! Was für ein Witz. Der Lift streikte ja sowieso. Jaro blinzelte und versuchte, den Typen zu erkennen. Ein schlanker Mann, die Kapuze des Pullovers über die Stirn gezogen, er humpelte, war er krank? Dauerhaft hier unten zu leben konnte nicht gesund sein.

Der Mann kam näher. Nein, er war nicht krank, sondern alt.

»Danke!«, sagte er.

Er quetschte sich neben Jaro in den Lift, mehr als zwei Personen hätten auf keinen Fall in die enge Kabine gepasst. Der Mann zog die Kapuze zurück. Lange Haare, grau wie Asche, fielen ihm ins Gesicht.

Er band sich die Mähne zu einem Zopf und lächelte. Da erkannte Jaro den Alten. Es war A. B., Arne Bergmann. Seine Verabredung. Der Gründer der Gilde, der Widerstandsorganisation.

In den Siedlungen kannten alle diesen Alten – sei es von Fotos, Filmen oder von Geschichten. Mit Arne Bergmann hatte alles angefangen. Er hatte die geheime, ultranetzfreie Welt gegründet.

Jaro wollte etwas Originelles sagen, einen guten Eindruck hinterlassen. Stattdessen stand er mit leicht geöffnetem Mund da, sprachlos. Seine Eltern hatten ihm viel von Arne erzählt, von ihren gemeinsamen Abenteuern.

So hatte es zumindest für Jaro geklungen, wenn er als Kind zugehört hatte: Abenteuer! Ultranetz hatte schon damals alle Daten und somit alle Menschen kontrolliert. Doch das hatte dem Megakonzern nicht gereicht. Er hatte begonnen, die Daten zu verändern, die Fakten, die Realitäten.

Arne und seine Gilde hatten sich dagegen gewehrt. Jaros Mutter hatte zum Widerstand gehört, später auch sein Vater. Bis Ultranetz sie enttarnt und durch alle Zonen verfolgt hatte. Ihnen war die Flucht gelungen, nach draußen, in die Wildnis. Sie hatten Siedlungen gegründet. Nur Arne war mit einigen Leuten hier in der Nähe der Stadt geblieben, in der Basis.

Jaro war damals zu klein gewesen, um große Erinnerungen an diese Zeit zu haben. Wenn Jaro an die Stadt dachte, hatte er riesige Wohnblöcke vor Augen und die mächtigen Stelen der Metro-Gleiter. Mehr nicht.

Arne Bergmann war für ihn eine Legende.

Er konnte den Blick nicht von seinem Gesicht wenden.

Der Alte deutete seine Mimik richtig. »Ich bin kein Held!«

»Für uns draußen schon«, sagte Jaro zögernd.

»Helden taugen nichts«, sagte Arne. »Zumindest nicht auf Dauer. Sie machen weder hungrig noch satt, weder traurig noch glücklich.«

Jaro hob die X-Taste auf und bohrte sie mit dem Zeigefinger in den rostigen Kasten. Ohne es zu wollen, schaute er vorwurfsvoll den Alten an. Schließlich war Arne der Chef der Basis. Wenn einer etwas für diesen maroden Zustand konnte, dann der! Sollte Arne doch selbst den Code eingeben.

Arne knallte seinen Ellenbogen gegen den Apparat. »Code akzeptiert«, blinkte im Display. Die Tür des Lifts schloss sich, und sie fuhren nach oben.

Keine Hand passte zwischen Arne und Jaro. Jaro hatte keine Platzangst, aber er war solche engen Räume nicht gewöhnt.

»Ist wegen des Baumes«, sagte Arne. Er merkte offenbar, wie unwohl Jaro im Lift war.

»Baum?«, fragte Jaro.

»Der Baum ist nicht dicker.«

Jaro konnte mit diesem Hinweis nichts anfangen, bis die Tür aufglitt. Sie traten aus einem ausgehöhlten Stamm. Keine drei Meter über ihnen war der Rest des Baumes abgeknickt, seine schweren Äste lagen im Morast. Ein Blitzeinschlag vielleicht. Wenn der Baum überhaupt echt war. Egal, eine gute Tarnung war es auf jeden Fall.

Arne hielt sich bei Jaro fest und lenkte ihn durch den Wald. Sie stapften über ein Meer von durchgeweichten Blättern. Die Schuhe versanken im Matsch. Und als wäre das nicht ungemütlich genug, fing es an zu regnen.

Arne schnaufte schon schwer von dem Weg. »Wie geht es deiner Mutter?«

Jaro war froh über die Frage. Es war eine leichte. Und er rechnete mit viel schwereren Aufgaben. Bisher hatte er keine Ahnung, wieso ihn der große Arne hierher bestellt hatte. Warum hatte er die Ehre, die Basis zu besuchen?

Die Ehre. Na ja. Keiner in den Siedlungen dachte an einen von Waldsümpfen umgebenen unterirdischen Schrotthaufen, wenn er von der Basis sprach.

Jaro hatte sich hochmoderne Anlagen vorgestellt, Forschungslabore, ein Kontrollzentrum voller Hightech. Dinge, die Ultranetz zwar erschaffen hatte, die Arnes Gilde jedoch zum Gegenschlag umprogrammiert hatte. So viel zur Theorie.

»Du redest nicht gern über deine Eltern«, sagte Arne.

Jaro hatte die Frage fast vergessen. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Seiner Mutter, wie ging es ihr?

»Gut«, sagte Jaro. »Sehr gut.«

»Und deinem Stiefvater?«

Stiefvater, was für ein Wort. Für Jaro war Rob ein Vater. Als seine Mutter mit ihm schwanger gewesen war, hatte sich sein Erzeuger davongemacht. Vermutlich aus Angst. Sie hatten für Jaros Geburt keine Genehmigung beantragt, keinen Gen-Eignungstest gemacht, nicht einmal einen Finanzcheck durchgeführt. Damit hatten sie gegen die Gesetze der Stadt verstoßen.

Dann war Rob gekommen. Er hatte sich in Jaros Mutter hoffnungslos verliebt. Seither war Rob sein Vater. Von wegen Stiefvater!

»Rob geht’s gut«, sagte Jaro zu Arne. »Er hat die Schafherde übernommen.«

»Wunderbar.« Arne hielt an, er brauchte eine Pause. »Schafe. Wie schön.«

Jaro ärgerte sich über den Kommentar. Um diese Jobs beneidete einen keiner in den Siedlungen. Das war harte Arbeit. Tag und Nacht. Und wenn ein Tier schwer erkrankte, brach Panik aus. Wenn die Krankheit ansteckend war, die Tiere starben, gab es Monate kein Fleisch.

Von solchen Problemen wussten sie in der Basis sicher nichts. Sie bekamen bestimmt ihre kostenlosen Lieferungen. Egal von welcher Siedlung, eine lieferte wohl immer.

Jaro hatte es satt, schon mit fünfzehn Jahren als Bauer verheizt zu werden. Moment, »Bauer« sagte ja keiner bei der Gilde. Siedler, er war ein Siedler. Das klang nach ruhmvoller Arbeit.

Siedeln und gründen, säen und ernten, züchten und schlachten. Den Widerstand durchfüttern, wie edel. Von wegen! Die Wahrheit sah anders aus: schwielige Hände und Schweiß. Wut stieg in Jaro auf.

»Und wie geht es dir?«, fragte Arne.

»Ausgezeichnet«, sagte Jaro kalt.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe«, fing Arne gutgelaunt an, »da warst du so groß.« Er klopfte auf seine Kniescheiben.

Jaro und Arne versanken mit ihren Schuhen tief im Schlamm. Immer weniger Blätter saugten das Wasser auf. Bäume waren keine mehr zu sehen, nur noch dichte Sträucher und ein Hügel.

Arne hielt sich kräftiger an Jaro fest. Der zog den Alten hinter sich her. So hatte sich Jaro das Treffen mit der Gildenlegende nicht vorgestellt.

Verschwitzt erreichten sie die Anhöhe. Es roch nach Müll, Schimmel und Verwesung. Jaro musste würgen, es kam nichts. Der Alte reichte ihm eine Atemmaske.

»Danke«, sagte Jaro.

»Schon gut.«

Arne bückte sich und zog aus einem ausgehöhlten Stein eine weitere Atemmaske heraus. Er klappte den Deckel zu.

Jaro fragte sich, was die Gilde im Umkreis der Basis alles ausgehöhlt hatte.

»Der Wind hat gedreht«, sagte Arne. Seine Stimme klang durch die Maske gedämpft.

»Woher kommt der Gestank?«, fragte Jaro.

Arne wippte mit dem Kopf nach vorn. Zig Kilometer entfernt leuchtete grell der Horizont. Panik stieg in Jaro auf. Ein Feuer! Würde der Brand sich dort ausbreiten?

In den Siedlungen waren Brände gefürchtet. Sie vernichteten Ernten, zerstörten fruchtbares Land. Viehhalter wie Rob, sein Stiefvater, nein, sein Vater, verloren das Futter für ihre Tiere. Es dauerte Wochen, neue Weideflächen zu finden. Zu kurz waren die Regenzeiten, zu lang die Dürre.

»Wieso brennt es dort?«, fragte Jaro.

Arne schüttelte den Kopf. »Das ist kein Feuer.«

Stimmt, dachte Jaro, es riecht auch nicht verbrannt.

Ein Kampf womöglich? Wer kämpfte gegen wen? Sah so die Front aus? Immer wieder drangen Gerüchte in seine Siedlung: In der Stadt würden angeblich alle von den »Neuen Kriegen« sprechen.

Seine Eltern hatten ihm vom letzten der Großen Kriege erzählt, den sie als Kinder erlebt hatten. Dem Feuer brennender Städte war die Verseuchung gefolgt, im schlimmsten Fall die Verstrahlung. Die Menschen waren evakuiert worden, und man hatte neue Megastädte irgendwo im Nichts gegründet. Bald hatten sich in diesen Städten drei Zonen herausgebildet: A für die Reichsten, C für die Ärmsten und Ältesten, B für alle anderen. Das mit den Zonen war so nicht geplant gewesen, es hatte sich ergeben. Behauptete man.

Der Tech-Konzern Ultranetz hatte beim letzten der Großen Kriege seinen ersten großen Auftritt. Erst als Retter, dann als Organisator und Vernetzer, als Kontrolleur im Chaos, schließlich als Bestimmer und bald schon als Hetzer. Und am Ende war die erste Tech-Diktatur geboren.

Ultranetz hatte damals in den Nachrichten vermeldet: »Alles außerhalb der Stadt ist DvZ – Die verstrahlte Zone. Bleibt bei Ultranetz! Bleibt in der Stadt! Überlebt!«

So hatten es Jaros Eltern erzählt.

Jetzt starrte Jaro in den flackernden Horizont. »Sind das die Neuen Kriege?«

Arne setzte sich auf einen mächtigen Steinbrocken. »Nein.«

»Was ist das dann?«

»Das ist die Stadt!«

Das Feuer

Arne klopfte neben sich auf den Steinbrocken. Jaro wollte sich setzen.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Da sind Ferngläser drinnen.«

Jaro konnte es kaum abwarten und zog die Atemmaske aus. Er vermied es, durch die Nase Luft zu holen.

Dieses grelle Licht am Horizont sollte die Stadt sein?

Jaro nahm ein Fernglas und zoomte den leuchtenden Streifen näher heran. Das Leuchten wandelte sich zu einem Flackern, zu einem Glitzern. Natürlich: Millionen Lichter glitzerten rot und gelb! Jaro verschluckte sich an seiner Spucke und hustete.

»Ist die Stadt so schlimm?«, fragte Arne.

Jaro nickte, aber nur Arne zuliebe. Der hasste die Stadt ja schließlich.

Aber die Stadt war phantastisch, fand Jaro. So riesig! So schön! Ja, das millionenfache Glitzern war das Schönste, was er je gesehen hatte.

Die bedrohliche Stadt – das galt für seine Eltern und Arne und die Gilde. Aber für ihn? Von wegen! Bedrohlich fühlte sie sich nicht an. Im Gegenteil. Sie sah so lebendig aus. Unglaublich lebendig. Einladend! Als würde die Stadt ihm zurufen: Jaro! Komm endlich zu mir! Hier ist das Leben!

Ich will ja zu dir, dachte Jaro. Nur wie?

Er sah die Mauer vor den Lichtern. Fünfzig Meter war sie angeblich an manchen Stellen hoch. Ultranetz behauptete, die Mauer schütze mit einer Abwehrtechnik vor Seuchen und Verstrahlung. Doch seine Eltern sprachen abfällig von Gefängnismauern.

Jaro zoomte weiter heran: Bis weit über die Mauern ragten dünne Linien in den Himmel. Sie sahen wie spitze, gläserne Nadeln aus. In ihnen blinkte und funkelte es. Das mussten die Hochhäuser sein, von denen sein Vater so viel erzählt hatte.

Die längste Nadel spießte eine Wolke auf. Sein Vater hatte Jaro oft erklärt, dass dies die Basis des Weltkonzerns war, die Ultranetz-Zentrale. Dort standen die riesigen Rechenmaschinen, das Herz von Ultranetz.

Jaro bestaunte die Lichter. Was für ein buntes und wildes Leben musste in der Stadt herrschen! Jaro ärgerte sich darüber, dass fast alles, was er über die Stadt und den Konzern wusste, von seinen Eltern und den anderen Flüchtlingen kam. In ihren Schilderungen war dort alles schlecht.

Doch Jaro hatte auch von Parkhallen so groß wie Wälder gehört, die Wüste simulierten, Meere, Schneeberge, Vulkanausbrüche. Und er hatte von Räumen gehört, wo Zuschauer bei Filmen selbst mitspielen konnten. Dort donnerte man angeblich mit Kampfjets über Dünen, erkundete mit Raumschiffen die Galaxis. Und alles fühlte sich in diesen Parkhallen echter an als die Realität. Zumindest behaupteten das seine Freunde in der Siedlung. Allerdings war von denen noch keiner in der Stadt gewesen.

In der Siedlung stand in einer Holzbaracke ein durchgerosteter 4-D-Animator. Dort sahen sie die Filme, die man sich in der Stadt vermutlich vor zwanzig Jahren angeschaut hatte. Und mitspielen konnte man bei den antiken Geräten natürlich nicht. Man glotzte und ließ sich mit Duftstoffen aus den Düsen besprühen. Kindergarten. Mehr nicht.

Jaro wollte endlich die modernen Anlagen sehen, die so viel ermöglichten. Auch wenn seine Eltern sie hassten. Die mussten es ja wissen. Vieh hüten und Tomaten anbauen war natürlich wesentlich spannender. Jaro ärgerte sich noch mehr und konnte den Blick nicht von den Lichtern abwenden. Das alles enthalten mir meine Eltern vor, dachte er.

Wie sahen die Menschen in der Stadt aus? Welche Kleidung trugen sie? Hatten wirklich alle eine Glatze und zu hauchdünnen Linien gelaserte Augenbrauen? Oder war das eine der Horrorgeschichten seiner Eltern? Damit er bloß nicht auf falsche Gedanken kam … Seine lockigen Haare reichten ihm bis zu den Schultern.

Jaro zoomte näher an eines der Hochhäuser heran. Die Gläser verdunkelten sich.

Er zoomte weiter. Alles war schwarz im Fernglas. Er schüttelte das Gerät. Was war jetzt wieder kaputtgegangen?

»Upgrade erforderlich«, sagte eine sanfte Männerstimme im Fernglas. »Kaufen Sie den Extra-Zoomfaktor.«

Jaro versuchte es noch einmal, doch er sah nur noch eine rot blinkende Schrift in den Gläsern. »Upgrade nicht möglich. Kein Ultranetz-Zugang.«

»Na toll.« Jaro warf das Fernglas in den Schlamm.

»Spritzschutz aktiviert«, sagte das Fernglas.

Jaro sah in den leuchtenden Horizont. So nah war er dem Leben dort noch nie gewesen.

»Können uns die Leute in der Stadt nicht sehen?«, fragte er.

Die hatten sicher jederzeit Ultranetz und Upgrades und Premium-Zugänge und eben alles.

Arne schaute auf das Fernglas im Schlamm. »Die Stadtbewohner sehen nur bis zu der Mauer, der Barriere.«

Jaro hob das Fernglas auf. »Und dann?«

»Dann sehen sie das, was Ultranetz will«, sagte Arne.

»Ich würde gern die Menschen in der Stadt sehen.«

Arne lächelte, ohne darauf einzugehen. »Du hast jetzt unten eine Verabredung.«

 

Tief unten schliefen noch alle. Jaro und Arne durchschritten die Gänge und traten in den breiten Hauptkorridor.

»Was bedeuten die Nummern an den Türen?«, fragte Jaro.

»Das sind unsere Wohnungen«, sagte Arne.

Wie trostlos, hier zu hausen. Jaro dachte an die Kakerlaken in der kleinen Zelle, die sie ihm zugewiesen hatten.

Sie kamen an einem breiten, verglasten Tor vorbei. Jaro sah lange Bänke und Tische gedeckt mit Tellern, Besteck und Bechern, das baldige Frühstück. Jaros Magen knurrte.

Sie blieben leider nicht vor dem Eingang der Kantine, sondern vor einer Stahltür ein paar Meter weiter stehen.

Jaro erkannte den rostigen Code-Kasten vom Lift wieder. »Darf ich?«

Er rammte seinen Ellenbogen gegen das Metall.

Nichts geschah.

Arne schüttelte den Kopf und drückte die Klinke runter. »Hier unten ist nichts abgeschlossen.«

Sie betraten eine riesige Halle voller Bücherregale. Zehn Meter hoch, mindestens, schätzte Jaro. Leitern hingen von den Regalen herab, an Schienen befestigt. So erreichte man jedes Buch. In den Siedlungen hatten sie selbstverständlich auch Bücher. Aber nicht so viele!

Die Bücherhalle war schwach beleuchtet. Vom Eingang aus war ein Ende des Raumes nicht zu erkennen.

Arne schob Jaro an den ersten Regalen vorbei. »Du kannst dich hier später gern umsehen.«

Sie bogen hinter einem Schild mit einem großen A ab und kamen an einem B und C vorbei. Bei D hielten sie an. Vor dem Hochregal standen eine Couch und ein kleiner Tisch mit einer Kaffeekanne, zwei Tassen und einer Holzschale. Sie war randvoll mit Keksen gefüllt. Warmes Licht strahlte von einer beschirmten Lampe auf die Sitzecke.

»Tomoko?«, rief Arne.

Jaro fühlte sich unwohl. Mit wem war er verabredet? Ein Frühstück wäre ihm erst einmal lieber gewesen. Ohne zu fragen, steckte sich Jaro zwei Kekse gleichzeitig in den Mund und griff noch nach einem dritten.

»Guten Appetit!«

Er drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau im Alter seiner Mutter. Das war also Tomoko. Sie hatte eine Glatze und zu hauchdünnen Linien gelaserte Augenbrauen. Seine Eltern hatten sich damals einer komplizierten Therapie unterzogen, damit der Haarwuchs in der Siedlung wieder einsetzen konnte.

Aber es war nicht nur die Glatze, die Jaro irritierte. Tomoko trug eine Mobril, die mobile Datenbrille. Mit der Mobril waren seine Eltern aufgewachsen. Angeblich trug sie jeder in der Stadt – und in der Siedlung natürlich keiner.

»Ich habe noch nie … in echt meine ich …«

Tomoko unterbrach Jaro lächelnd. »Einen Stadtmenschen aus der Ultranetz-Welt gesehen?«

Sie zeigte auf die Couch, und Jaro setzte sich. Arne winkte zum Abschied. Wieso hatte er es so eilig?

»Ist er wirklich einverstanden?«, fragte die Frau und wandte sich Arne zu, bevor dieser verschwinden konnte.

Arne schaute erst seine Hände an, dann zu einem der Bücherregale. »Seine Eltern haben zugestimmt.«

»Und Jaro selbst?«

Wieder betrachtete Arne die Regale, als würde er intensiv nach einem bestimmten Buch suchen.

Tomoko sprach lauter. »Du hast ihn nicht gefragt?«