Die Geschichte der schweigenden Frauen - Bina Shah - E-Book

Die Geschichte der schweigenden Frauen E-Book

Bina Shah

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Beschreibung

In der modernen Metropole Green City, der Hauptstadt von Südwest-Asien, ist das Verhältnis von Männern und Frauen aufgrund von vorgeburtlicher Geschlechtsauswahl, Krieg und Krankheit extrem unausgewogen. Mithilfe von Gewalt und Technologie hält die Regierung die Bevölkerung unter Kontrolle, und Frauen sind verpflichtet, mehrere Ehemänner zu haben, um so viel Nachwuchs wie möglich mit diesen zu zeugen. Doch es gibt Frauen, die Widerstand leisten, Frauen, die sich im Untergrund zu einem Kollektiv zusammengeschlossen haben, Frauen, die sich weigern, Teil dieses Systems zu sein. In ihren nächtlichen Diensten bieten sie etwas an, das sich niemand erkaufen kann: Intimität ohne Sex. Diese Dystopie einer pakistanischen, äußerst talentierten Autorin ist wie "Der Report der Magd" eine moderne Parabel über das Leben von Frauen in repressiven Ländern überall auf der Welt.

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Kathrinschroeder

Nicht schlecht

Bina Shah "Die Geschichte der schweigenden Frauen" In den meisten Fällen ist das Geschlecht, das mit mehreren Partnern verheiratet ist, das Mächtigere. Doch dies gilt nur, wenn dieses Schicksal frei gewählt wurde. Nicht in der hier beschriebenen Gesellschaft, in der jeder Frau mehrere Gatten zugeteilt werden, die Fruchtbarkeit überwacht und das Gebären von Kindern die Lebensaufgabe ist. Nur die Frauen in der Panah sind frei von dieser Aufgabe, aber in ständiger Angst vor Verfolgung und Bestrafung und gebunden an strenge Regeln und Auflagen, die das unabhängige Überleben ermöglichen. Die Idee hinter der Geschichte klang gut, die Erzählweise mit wechselnden Erzählstimmen gefiel mir gut, doch insgesamt konnte die Geschichte mich nicht erreichen. Die Situation der Gesellschaft ging mir nicht nahe genug und das Leben in der Panah brachte zusätzlich zur ständigen Gefahr kaum ein erstrebenswertes Leben. Zusätzlich enthielt die Geschichte einige störende Logikbrüche - der Tee, der auf der ...
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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Before She Sleeps« bei Delphinium Books, New York

© 2018 by Bina Shah

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by

Golkonda Verlags GmbH & Co. KG, München • Berlin

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen

bleiben vorbehalten.

Redaktion: Melanie Wylutzki

Korrektorat: Gesa Weiß

Innen- und Umschlaggestaltung: benSwerk [benswerk.wordpress.com]

unter Verwendung eines Motivs von pixabay/wjlaser48

E-Book.Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-946503-94-1 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-946503-95-8 (E-Book)

Alle Rechte vorbehalten

www.golkonda-verlag.de

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www.instagram.com/golkonda.verlag

TEIL 1: UNRAST

// Auszug aus dem

»Handbuch für Bürgerinnen von Green City«

Es ist keinem Bürger gestattet, einen persönlichen Terminkalender oder ein Tagebuch zu führen.

Diese Regel gilt für alle Bürger, aber für die Mädchen und Frauen von Green City ist es noch wichtiger, diese Anordnung zu verstehen, statt sich ihr bloß zu fügen. Wir dürfen uns ausschließlich der Aufgabe des Überlebens widmen, was bedeutet, dass wir den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten müssen.

Der Versuch, an der Vergangenheit festzuhalten, ist eine Form der Genusssucht, die zu Egoismus führen kann. Dies gilt es auf jeden Fall zu vermeiden. Erst wenn jedes einzelne Mädchen die Selbstsucht gegen Selbstlosigkeit eintauscht und die Selbstverwirklichung zum Wohl aller anderen aufgibt, kann Green City ihr Ziel erreichen und sich zu einem Ort entwickeln, an dem Kreativität, Erfolg und Wohlstand gedeihen. Ihr werdet dafür kämpfen und euch die allergrößte Mühe geben, eurer Rolle als Mütter der neuen Nation voll gerecht zu werden.

Sabine

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, das Haus eines Klienten in der dunkelsten Phase des frühen Morgens zu verlassen, in jener halben Stunde vor der Dämmerung, wenn die Nacht am dichtesten ist und die staatlichen Sicherheitskräfte am trägsten. Von all den Stunden am Tag, die wie Fliegen an mir vorbeihuschen, ist dies jener Moment, den ich am meisten fürchte. Die Straßenpatrouillen finden alle halbe Stunde statt, aber zu dieser Nachtzeit – halb vier im Sommer, eher halb fünf im Winter – lassen sie nach. Fünfundzwanzig Minuten oder sogar eine halbe Stunde können verstreichen, ehe ein Wagen der Behörde mit den beiden Offizieren auf den Vordersitzen die Straßen nach noch dem leisesten Zeichen für Unruhe kontrolliert.

Der Klient, ein Mann, den ich nur als Joseph kenne – niemand in diesem Geschäft würde je seinen Nachnamen verraten –, nickt ungeduldig, als ich ihm die Regeln erkläre; er hat das schon unzählige Male gemacht, und nicht immer mit mir. Zu meiner Erleichterung benimmt er sich gut, legt die Arme um mich und seufzt alle paar Minuten zufrieden; näher kommt er mir nicht.

Nach einer halben Stunde kann ich an seinen regelmäßigen Atemzügen erkennen, dass er eingeschlafen ist. Ich selbst schlafe niemals in Gegenwart eines Klienten. Schlaflosigkeit ist der Fluch meines Lebens, ohne auch nur eine einzige Erleichterung bringende Nacht, doch es ist auch genau das, was mich in meiner Rolle so gut macht. Ich schlüpfe aus dem Bett, taste mich zu einem Sessel vor und kuschele mich hinein. Ich passe meine Atemzüge denen Josephs an, während er sich im Bett von links nach rechts und wieder zurück wälzt. Normalerweise versinke ich in diesen Momenten weder in Gedanken noch in Tagträumen: Ich sitze einfach da und warte auf den Morgen, wohl wissend, dass schon die leichteste Anspannung in meinem Körper ausreicht, um ihn aufzuwecken. Aber das will ich nicht.

Doch gegen Morgen, wenn der Alarm an meiner Armbanduhr aufleuchtet und ich mich ihm für eine letzte Umarmung nähere, legt Joseph wieder fest die Arme um meinen Körper.

Es ist zwar nicht erlaubt, aber manchmal ignoriere ich die Regeln und gestatte einem Klienten ein paar weitere tröstende Augenblicke, ehe ich mich geschickt von ihm löse und zur Tür gehe. Lin ermahnt uns immer wieder, vorsichtig mit jenen zu sein, die die Regeln brechen und die Grenzen überschreiten wollen. Josephs teure Uhr auf dem Nachttisch, seine extravaganten Pantoffeln an der Tür, die schwarzseidene Bettwäsche und die sanft glühenden Lampen, die in regelmäßigen Abständen in den Fußboden eingelassen sind und die Decke in ein Helldunkel verwandeln – all das verrät mir, dass hier ein Mann lebt, der, wo immer er kann, über die Grenzen hinausgeht.

»Joseph, es war wunderbar mit dir, aber nun muss ich gehen.« Ich wende mich mit einem Lächeln zu ihm hin, einem Lächeln, mit dem es mir gelingt, jeden zu überzeugen. Ich habe stundenlang in den Spiegel gestarrt, um diesen Gesichtsausdruck zu perfektionieren. Er fällt mir nicht leicht.

Joseph richtet sich auf und stützt sich auf einen Arm. Sein Körper war früher kräftig gebaut, doch nun durchlebt er die ersten Anzeichen eines raschen Niedergangs: massige, aber erschlaffende Schultern, ein faltiger Hals mit lockerer Haut um den Kehlkopf, mehr weiße als dunkle Haare auf der Brust. »Bleib doch. Ich kann es mir leisten, dich den ganzen Tag hierzubehalten, falls du das möchtest.«

Ich habe ihm den Rücken zugewandt und verziehe das Gesicht. »Tut mir leid, Joseph. Das sind nun einmal die Regeln. Ich muss vor dem Morgengrauen fort sein.«

»Aber warum?«

»Du kennst den Grund«, sage ich, aber einen Moment lang bin ich verblüfft. Wir wissen doch alle ganz genau, was auf dem Spiel steht, wenn man uns erwischt: Die Obrigkeit sorgt dafür, alle Verbrechen in den Fernseh-Bulletins bekannt zu machen, sogar durch Hausbesuche, was sehr außergewöhnlich ist, wo doch inzwischen fast alles online und digital erledigt wird. Umso bedrohlicher wirkt es, wenn ein Wagen der Obrigkeit irgendwo vor einem Haus steht und zwei Beamte in ihren makellosen Uniformen und mit undurchdringlichen Mienen jemanden instruieren, welche Konsequenzen es hat, mit Illegalen wie mir Kontakt zu haben.

Joseph legt eine Hand locker auf meinen Unterarm. »Ich habe Kontakte. Uns beiden wird nichts geschehen. Wenn du wüsstest, wer ich bin …«

»Es ist zu gefährlich für mich, zu wissen, wer du bist. Und auch, länger als nötig hierzubleiben. Würdest du mich jetzt bitte loslassen, damit ich mich anziehen kann?«

Joseph seufzt. Aber er gibt nicht auf. Er folgt mir ins Bad, bleibt im Türrahmen stehen und wendet den Kopf ab, als ich mich über und über mit einem Gold-Silikon-Puder bestäube, ehe ich mich anziehe. Während ich so rasch wie möglich so viele Kleider wie möglich überstreife, betrachtet er mein Gesicht. Als ich die Tür seiner Wohnung dicht gefolgt von ihm erreiche, schwebt sein Zeigefinger über dem Sicherheitsschalter, umkreist ihn, als wolle er mich mit seiner Gelassenheit provozieren. »Bist du sicher, dass du es dir nicht anders überlegen willst?«

Die Sonne beginnt schon aufzugehen, der Himmel ist nicht mehr schwarz, sondern von einem rauchigen Grau. In ein paar Minuten wird das Deckbett der Nacht sich vom Horizont heben und die nächste Patrouille der Obrigkeit auf den Straßen auftauchen. Unsere Wagen sind so programmiert, dass sie von jedem offiziellen Gefährt einen Abstand von zweihundert Metern einhalten und die Abholung aufgeben, wenn eine Patrouille auf der gleichen Straße auftaucht, in der der Klient wohnt. Mein Taxi würde einfach nie auftauchen. Ich wäre gestrandet, würde entdeckt und meine Anwesenheit unmittelbar der zuständigen Behörde mitgeteilt. Ich würde verhaftet, und mein jetziges Leben wäre vorbei.

»Joseph, lass mich bitte gehen. Bitte!«

Meine Angst ist wie ein Tier, das ich nicht verstecken kann – ich konnte meine Emotionen noch nie vollständig verbergen –, aber aus irgendeinem Grund befriedigt meine Wehrlosigkeit Joseph.

»Gut. Aber halte nächste Woche irgendwann eine Nacht für mich frei.«

Ich nicke, wünsche mir aber, ich würde Joseph nie wiedersehen. Sein Blick sucht meinen nach einem Zeichen für Bedauern ab, dass ich nun gehen muss. Mein Blick ist aber fest auf ihn geheftet, und nun drückt sein Finger die Sicherheitstaste. Lautlos gleitet die Tür auf. Ich trete hinaus und tausche die relative Sicherheit seiner Wohnung und die Gier, mit der er sie ausgestattet hat, gegen das offene Terrain der Illegalen und Verfolgten ein.

Ich schleiche mich lautlos die Treppe hinunter und zum Ausgang des Luxusblocks in dem Joseph lebt. Meine Schritte hallen aber wie Schüsse auf dem Marmorboden der riesigen Eingangshalle.

Der Portier-Bot summt leise links vom Eingang vor sich hin. Es ist bloß ein computerisierter Schalter, wo sich die Bewohner aus Sicherheitsgründen einchecken und Nachrichten abholen, oder um eigene Nachrichten zu hinterlassen, wenn sie sich über eine nicht funktionierende Klimaanlage beschweren oder anfordern, dass ein weiterer Bildschirm in einem zweiten Schlafzimmer installiert werden soll, aber Joseph tut gern so, als wäre dieses Ding ein Mensch, und macht sich über seine Dummheit lustig.

Ich bin für die Dummheit dieses elektronischen Portiers sehr dankbar. Der Goldstaub, den ich aufgetragen habe, verhindert, dass die Scanner der Sicherheitsanlage meine DNA erfassen. Somit werden auch die Videokameras nicht aktiviert, und ich kann niemals identifiziert werden, wenn ich Gebäude in Green City betrete oder verlasse. Was andere Menschen angeht, so schlafen die meisten Bewohner um diese Zeit noch. Und wenn mich trotzdem jemand sieht, dann halten alle den Kopf gesenkt und tun ebenfalls, als würden sie mich nicht sehen, genau wie der Portier. Egal wie viele »Kurse für gute Bürger« sie auch absolvieren, gleich wie viele Seiten des Handbuchs sie auswendig gelernt haben, niemand würde mich wirklich anzeigen wollen. Das Ausfüllen der umfangreichen Formulare, die Verhöre – all das ist es die Sache nicht wert.

Mein Blick fährt prüfend die Straße entlang und hält nach einem Wagen ohne Kennzeichen Ausschau, aber voller Schrecken erkenne ich einen dunkelblauen Wagen der Obrigkeit mit seinen Hologramm-Nummernschildern, der langsam die Straße entlang auf das Gebäude zugleitet. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich ziehe rasch den Kopf zurück. Einen Moment lang befürchte ich, allen Kontakt zur Realität zu verlieren. Ich stehe zitternd im Hauseingang und zähle langsam von hundert an rückwärts.

Die Patrouille hält direkt vor Josephs Gebäude. Ich presse mich so eng wie möglich an die Wand, als zwei Beamte aussteigen und am Straßenrand stehen bleiben. Ich bin auf dem Sprung zurück in Josephs Wohnung, um ihn um Schutz zu bitten. Mein eigener Wagen wird das offizielle Auto entdeckt haben und auf direktem Weg zurück in die Panah gefahren sein. Meine einzige Hoffnung ist nun Josephs Großzügigkeit.

Falls die Beamten das Gebäude betreten, werden sie mich in dieser Eingangshalle mit der hohen Decke und ohne irgendwelche Grünpflanzen leicht schon von Weitem sehen können. Dieses Foyer ist so riesig wie ein Hangar. Ich könnte mich vielleicht hinter dem Portier verstecken oder unter den Schalter kriechen. Wenn sie nur einen einzigen Blick in das Foyer werfen, auf der Suche nach verdächtigen Aktivitäten, besteht eine große Chance, dass sie mich nicht entdecken. Vielleicht sind sie müde, ihre Sinnesorgane und Instinkte arbeiten nicht auf Hochtouren. Sie werden eine oberflächliche Suche vornehmen, ich kann mich verstecken und dann das Zeichen geben, dass ein weiterer Wagen mich an einem anderen Ort abholt.

Ich beuge mich vor und nehme instinktiv die Startposition eines Sprinters ein. Ich bin eine gute Kurzstreckenläuferin, habe aber nicht das Durchhaltevermögen für weite Distanzen. Ich muss nur kurz meine Energie zur Höchstleistung treiben, um unter den Schalter zu gelangen. Aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, wie die Beamten sich hinknien und den Boden nach etwas absuchen. Ich hasse ihren bloßen Anblick, das kurzgeschorene Haar und die selbstsichere, durchtrainierte Haltung. Warum haben sie Beamte geschickt, um etwas zu tun, für das eigentlich der Sicherheitstrupp zuständig ist? Wo sind ihre elektronische Ausrüstung, die Schnüffler-Bots, die Handscanner, die einen Blutstropfen in einer Tonne Straßenstaub ausmachen können?

Dann ruft einer der Beamten dem anderen etwas zu und streckt die Hand aus, um etwas vom Boden aufzuheben, etwas Kleines, das in der Morgensonne glitzert und funkelt. Langsam kapiere ich, dass sie hier keinen Mordfall untersuchen und auch keine Razzia nach Illegalen durchführen. Die Beamten sehen nicht so aus, als seien sie im Dienst. Sie haben etwas Wertvolles entdeckt, das jemand im Vorübergehen fallen ließ – vielleicht ein Schmuckstück oder einen Währungs-Stick. Sie sind hier nicht in offizieller Mission. Sie sind nicht im Auftrag der Obrigkeit unterwegs. Es ist einfach gute, altbekannte Gier, die sie anhalten und aussteigen ließ, und das Fundstück werden sie für sich behalten. Ich muss vor lauter Erleichterung fast lachen.

Dann gehen sie zurück zu ihrem Wagen und fahren davon. Ich beuge mich vor, versuche, mich zu beruhigen. Ein bitterer Geschmack verbreitet sich in meinem Mund, und ich greife in die Tasche nach einem Mint-Streifen, der eine kleine Dosis Beruhigungsmittel in den Erfrischungskristallen enthält. Mein rasender Puls beruhigt sich unmittelbar wieder. Als ich aufstehe, sehe ich, wie ein neutraler Wagen vor dem Gebäude vorfährt und anhält.

Die Panah wartet auf mich.

Ich schlüpfe schnell ins Auto. Die Türen werden automatisch geschlossen, und der Wagen gleitet davon wie ein großer schwarzer Schwan, der mich mit seinen Flügeln einhüllt und zurück in die Panah bringt. Umarmt von der Wärme, die die Heizung ausstrahlt, und eingehüllt von den weichen Ledersitzen, erlaube ich mir, die Augen für einen Augenblick zu schließen. Ich brauche mir um die Obrigkeit und ihre Offiziere keine Sorgen mehr zu machen, denn diese haben die Anweisung, niemals einen Wagen mit abgedunkelten Fenstern oder den besonderen silbernen Zeichen am Heck anzuhalten, denn dies löst beim Vorbeifahren das Kommando UNGEHINDERT FAHREN LASSEN auf ihren Handscannern aus. Normalerweise rede ich nie mit dem Fahrer, aber gerade habe ich das Bedürfnis nach einer freundlichen Kontaktaufnahme: »Was ist passiert? Haben Sie die gesehen?«

»Guten Morgen«, antwortet der Fahrer. Nun, er ist eigentlich kein Mensch, nur eine Computerstimme mit einem Chip-System hinter dem modifizierten Armaturenbrett, denn der Wagen ist vollautomatisch und fahrerlos. Dadurch sind wir alle sicherer, falls jemand tatsächlich das Fahrzeug auf dem Weg zu mir anhalten sollte. Der Chauffeur-Bot kann abgesehen von den Basiskommandos nicht viel reden und ist programmiert, falsche Zielangaben für die Behörde zu erstellen.

»Mein System hat eine potenzielle Gefahr identifiziert«, fährt der Chauffeur-Bot fort. »Aber nun ist die Risikoschwelle niedrig, und ich habe Erlaubnis, die Fahrt fortzusetzen.

Ich greife nach der Thermoskanne mit Tee, die Lin immer für mich ins Auto stellt. Diese physische Manifestation ihrer Wärme und Fürsorge lässt mich am Ende dieser langen Arbeitsschicht die Erschöpfung ein wenig vergessen. Dankbar trinke ich ein paar Schlucke, lasse mich dann zurück in die Polster fallen und schließe für einen weiteren Moment die Augen.

Ich möchte nur die Dunkelheit sehen, doch stattdessen beschwört mein Kopf das Bild hervor, das Rupa, Lin und ich heute Morgen in den Nachrichten gesehen haben: eine tote Frau, die auf dem Boden eines unscheinbaren Hauses irgendwo in Green City liegt, ihr Leichnam von einem hellen, nichts verzeihenden Sonnenstrahl in Szene gesetzt.

Eine schnelle, durchdringende Frauenstimme ertönte von dem riesigen Bildschirm auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des größten Raumes in der Panah. »Es wurde heute berichtet, ich wiederhole: heute, dass eine Gattin in ihrem Haus in der Qanna-Gegend Selbstmord begangen hat. Sie wurde von ihrem dritten Gatten gefunden, der den Vorfall den Behörden meldete. Die Obrigkeit hat sofort die Gegend abgeriegelt, aber unsere Quelle ließ verlauten, dass die Gattin sich auf höchst kriminelle Weise das Leben genommen hat.«

Mein Magen hatte sich beim Anblick der Frau verkrampft, deren Arme und Beine auf groteske Weise angewinkelt waren; eine Blutlache hatte sich um ihren Körper gebildet und hielt sie wie ein Insekt in einem Kreis aus rotem Bernstein gefangen. Rupa umklammerte meinen Arm, Lin neben mir erstarrte. Sie wussten, wie schwer es für mich war, solche Nachrichten zu hören.

Die Stimme der Ansagerin fuhr fort, ein jedes Wort wie ein Hammerschlag auf unsere Herzen. »Nuriya Salem hatte fünf Gatten und sollte am Ende des Monats einem sechsten angetraut werden. Man nimmt an, dass sie sich gegen diese Ehe wehrte, doch bestätigen können wir dies nicht. Ihre Kinder, fünf Mädchen und zwei Jungen, wurden von ihrer Tat nicht in Kenntnis gesetzt. Sie werden in ein Heim verlegt, vom Tod ihrer Mutter informiert und erhalten eine Traumatherapie, ehe sie in das Haus zurückkehren, wo die Frau mit ihren Gatten gelebt hatte. Dieser Familie wird auf Anordnung des Bevölkerungsamts bis zum Ende des Monats eine neue Gattin zugewiesen, verbunden mit Entschädigung für die erlittene Tragödie.«

Als Lin den Bildschirm abstellte, konnte ich Diyah sehen, die in einer Ecke des Raums ein Gebet sprach. Selbst Rupa senkte den Kopf, blickte mich aber aus den Augenwinkeln an, um zu prüfen, wie ich die Nachricht verkraftete. Aber auf meinen Lippen lagen keine geflüsterten Gebete. Warum sollte ich um sie weinen?

Der Bildschirm zeigte nun eine Siedlung mit vielen Bäumen, deren grünes Laub von einer sanften Brise bewegt wurde – ein Bild, das uns beruhigen und trösten sollte. Aber das Bild der toten Frau schwebte noch bedrohlich vor unseren Augen, ihr Blut beschmierte uns zu Fügsamkeit und Verzweiflung.

Die Obrigkeit versucht ununterbrochen, uns ein glattes und friedliches Bild von Green City vorzugaukeln. Doch manchmal durchbrechen Gewalt, Lust oder Gier diese künstliche Ruhe. Verbrechen zeigen uns, wozu wir Menschen fähig sind, wenn die anerzogenen Verteidigungsmaßnahmen gegen unsere niederen Triebe zu schwer auszuhalten sind. Die Obrigkeit benutzt sogar einen Selbstmord zu ihrem Vorteil. Indem man uns den Leichnam auf diese grausame Weise präsentiert, will man uns vor Augen führen, was passiert, wenn die menschliche Natur nicht gezügelt wird. Sie wollen, dass wir erkennen, dass wir nicht stark genug sind, unsere Triebe allein unter Kontrolle zu halten. Dass wir die Hilfe der Behörden brauchen, ihre Regeln. Ohne sie wären wir verloren.

Aber wie dem auch sei: Wir sind keine Gattinnen, denn wir gehören nicht zu Green City. Wir stimmen nicht mit den verschwörerischen Maßnahmen der Obrigkeit überein, uns zuerst zu dezimieren und die Übriggebliebenen anschließend unter sich aufzuteilen wie Vieh oder Waren.

Als ich die Augen wieder öffne, haben wir uns schon weit von Josephs Wohngegend entfernt und jagen rasch in Richtung Zuhause.

Durch die abgedunkelten Scheiben meines Wagens sehe ich, wie die Dämmerung langsam heraufzieht. Die Sonne ist bereits über den Horizont geschossen, und die ehrgeizige Skyline der City hebt sich nun von einem leichteren Grau ab. Die Kanten und Flächen zwischen den Wolkenkratzern haben bereits blutrote Umrisse. Aber die Stadt singt noch nicht.

An einem geschäftigen Tag mit Myriaden von Radiofrequenzen und optischen Fasern, dem Summen der hocheffizienten Elektroautos, die über die Glasfaserstraßen gleiten, mit Flugzeugen, die am Himmel pulsieren, ist Green City ein Orchester aus Tönen und Bildern. Nur das Knistern von Neon betont das Schweigen in diesen letzten stillen, geisterhaften Minuten, wenn die Nacht schwindet und einem neuen Tag weicht. Wenn ich von meinem Leben im Untergrund an die Oberfläche steige, sind meine Augen immer so schwach wie die eines Maulwurfs. Mich blendet das Sonnenlicht, der unendliche Kosmos, die unendlichen Möglichkeiten.

Es ist schwer zu glauben, dass es hier vor nur hundert Jahren nichts als Sand gab. Kaum vorstellbar, wie sich eine Stadt von selbst aus dem Boden schiebt, eine Nation sich selbst gebiert, oder? Zuerst waren es bescheidene Häuser, niedrige Mauern, lange staubige Straßen. Die Stadt in ihren Kinderschuhen war von der Wüste umgeben, die sie stets an ihren Ursprung erinnerte. Dann kamen ehrgeizigere Gebäude, größere Häuser, Kinder, die ihre Väter übertrafen, Vorortsiedlungen, die sich vorschoben und die Wüste immer weiter zurückdrängten. Und jetzt ist sie eine Fata Morgana, in der einst unsere Ahnen lebten. Wir haben die Wüste besiegt und durch diesen Lobgesang auf die Großtaten der menschlichen Spezies ersetzt.

Die Stadt, zu deren Bewohnern ich mich einst zählte, war damals als Mazun bekannt, ein uralter Name, der »Regenvolle Wolken« bedeutet, obwohl Wüsten kaum jemals einen Regentropfen sehen. Die Hitze war tagein, tagaus unerträglich, und in den meisten Sommernächten hatte man das Gefühl, nicht atmen zu können, wenn man einen Schritt nach draußen tat. Daher befahl die Obrigkeit, Tausende von Bäumen zu pflanzen und zu pflegen, als wären sie aus purem Gold: »Die Zukunft ist grün«, hieß das Programm. Sie requirierten Tausende von Litern geklärtes Wasser, damit diese Bäume schneller als üblich wuchsen, und nach zwanzig Jahren war die Wüste einer üppigen und fruchtbaren Oase gewichen. Von solcher Schönheit verführt, sammelten sich Wolken über der Stadt, benötigten aber immer noch einen Anreiz, um ihre Schätze preiszugeben. Wissenschaftler bestäubten sie regelmäßig mit Biosporen, wann immer man Regen brauchte, und auch in diesem Moment fallen Tropfen auf den breiten Boulevard und benetzen die Windschutzscheibe.

So wurde Mazun bald als Green City bekannt. Die Obersten hatten nichts gegen diesen Namenwechsel, nein, sie unterstützten ihn sogar, weil sie wussten, dass man sich als Bürger eines grünen, schönen Landes wohlhabend und zufrieden fühlen würde. Sie wollten alle Verbindungen mit der Vergangenheit abbrechen und als Schöpfer dieser Oase bekannt werden, mächtige Gottheiten, die selbst das Wetter nach ihrem Willen verändern konnten. Beim Ökosystem von Green City, einem eingetragenen Markenzeichen, geht es darum, die Jahreszeiten und Zyklen zu bewahren – oder zumindest die Illusion davon.

Aber für diese neue Version von Normalität gab es einen hohen Preis zu zahlen.

Ich trinke einen Schluck von Lins Tee und entferne mich sicher und wohlbehalten immer weiter von Josephs Wohnung, und in bestimmten Momenten ist meine Weiblichkeit in dieser kalten Stahlkarosse nicht länger meine Schwäche. Doch Frauen wie ich durften sich eigentlich nie sicher fühlen. Wir stehlen uns Freiheit, wann und wo immer wir können. Und ich, die friedliche Einschlafhilfe für diese Männer, die für etwas bezahlen, das sie nie ihr eigen nennen können, bin dazu bestimmt, eine weitere schlaflose Nacht in meinem Bett in der Panah zu verbringen. Ich selbst schlafe nie. Ich bewache meine Klienten, die Männer, während sie träumen. Ich biete ihnen Schutz und Geborgenheit in ihren Albträumen, ihrer Einsamkeit, ihrer Melancholie. Ich bin ihre Trösterin, ihre Wächterin, und im Gegenzug täuschen sie den Behörden vor, dass ich nicht existiere. Denn wenn die Obrigkeit über mich oder die Panah Bescheid wüsste, würden wir sterben.

Ich bin Morpheus, Schlaflosigkeit mein stets treuer Liebhaber. Vielleicht sind wir alle verrückt oder Kriminelle, wie die arme Nuriya Salem. Aber wir wissen genau, was wir tun, und auch, was es uns kostet.

Lin wartet stets auf mich, ganz gleich, wie spät es wird. Wenn ich zurückkomme, gehe ich immer direkt in ihr Zimmer, und dann sitzen wir zusammen, während sie einen E-Joint raucht. Ich liebe Lins Zimmer: Die Wände sind dunkelrot gestrichen, auf dem Boden liegen alte marokkanische Teppiche. Unter einem Wandbehang mit einem komplizierten Muster steht eine antike Holztruhe, deren Seiten mit einem filigranen Schnitzmuster verziert sind. Eine Messinglampe weist das gleiche Muster auf und wirft ein komplexes Muster aus Licht auf die Wände, wenn sie sich über unseren Köpfen bewegt, so als würden Sterne auf uns herabrieseln.

Lins Bett ist aus dem gleichen Holz wie die Truhe und von einer dicken, rostfarbenen Tagesdecke bedeckt. Auf dem Nachttisch daneben steht eine weitere Messinglampe, die den Raum in ein warmes Licht hüllt; auf dem Boden verstreut liegen Kissen, deren Bezüge mit winzigen Spiegeln bestickt sind. Sie gehörten Lins Tante Ilona Serfati, die alles hierher schmuggelte, als sie zusammen mit ihrer Freundin Fairuza Dastani die Panah gründete. Diese Namen sind für uns alle wie eine Legende. Wir werden es nie müde, die Geschichten zu hören, wie die beiden diesen Ort fanden, ihn mit eigenen Händen ausbauten und alles, direkt unter der Nase der Obrigkeit, geheim hielten. Wir erkennen ihr Genie in dem künstlichen Garten, den sie anlegten, den Charbagh, mit seinen Blumen, Sträuchern und Kletterranken. Ihre Vision spiegelt sich auch in dem kunstvollen Beleuchtungssystem, das sie so einrichteten, dass es den Tages- und Jahreszeiten entspricht. Ihre Rebellion ist für uns aufregend und gibt uns Mut, wenn wir manchmal glauben, es keine weitere Nacht mit einem weiteren Klienten durchstehen zu können.

Ilona ist schon seit zwanzig Jahren tot, aber ihre Schätze machen Lins Zimmer warm und glanzvoll. Sie erinnern Lin daran, dass alles von irgendwoher stammt, irgendjemandem gehört. Es ist gut, dass ihr Ilona beim Erwachsenwerden zur Seite stand. Ich weiß selbst nur zu gut, was es heißt, ohne Mutter erwachsen zu werden, obwohl ich mehr Glück hatte als Lin. Immerhin starb meine Mutter erst, als ich zwölf war, doch die Zäsur, die mein Leben in »mit Mutter« und »ohne Mutter« teilt, ist ebenso schmerzhaft wie eine Messerschneide auf nackter Haut. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, als Waise aufzuwachsen.

Ich bin die einzige Frau, die Lin in ihr Zimmer lässt. Ich bin froh darüber und wäre auf alle anderen eifersüchtig, die sie in ihr inneres Heiligtum hineinließ. Wir alle respektieren Lin, wollen ihre Favoritin sein, aber ich bin diejenige, die sie zu ihrer Vertrauten erwählt hat, ohne mir je die Gründe zu nennen.

Sie verdreht die Augen und setzt ein schiefes Lächeln auf, als ich mich mit all dem Silikonpuder auf ihr Bett lege, mit dem ich glänze wie ein goldenes Kind. Lin muss Wunder wirken, sowohl bei den Klienten als auch bei unseren Wohltätern, um dieses Gold zu beschaffen. Es wird aus den Gruben von Gedrosia geschmuggelt, einem Land mit reichen Vorkommen an Mineralien und Erz. Sie schicken es ihr in kleinen Dosen, die zwischen anderen Kosmetika versteckt sind, und sie selbst vermischt das Gold mit dem Silikon für uns. Manche Klienten beklagen sich, dass das Puder einen Goldglanz in ihren Betten hinterlässt, aber richtig böse sind sie deswegen nicht. Meine Klienten finden es immer faszinierend und streicheln gerne meine schimmernde Haut. Manche sagen sogar, es rege sie an, aber ich glaube, ihnen gefällt bloß, dass es sich um echten Goldstaub handelt. Wir vermitteln ihnen damit, dass wir noch kostbarer sind als Gold.

Lin kennt unsere Körper genau, unsere Geburtsmale und Tätowierungen, wann wir unsere Tage haben und wie oft wir uns die Haare waschen. Wir sind wie Rennpferde, die sie in die Nacht hinausschickt, um uns am nächsten Morgen wieder an diesem sicheren Ort zu empfangen.

Jedes Mal, wenn Lin die dunklen Schatten unter meinen Augen bemerkt, schüttelt sie den Kopf. Manchmal sagt sie, sie könne die Schlaflosigkeit riechen, als würde sie in grauen, deprimierenden Wellen von mir ausströmen.

»Komm, Sabine, es gibt sicher noch etwas, was du ausprobieren könntest. Es werden doch ständig neue Medikamente entwickelt.«

»Nein, Lin, glaub mir, wenn es eine magische Pille gäbe, die mich heilen würde, dann würde ich sie sofort schlucken. Nichts wirkt bei mir, nicht einmal das.« Ich deute auf den Joint. Das ist die Wahrheit. Mir wäre nichts lieber, als einfach die Augen zu schließen, abzudriften und mich dem Unbewussten hinzugeben, auch wenn es nur für ein paar kurze Stunden wäre, während sie über mir wacht. Aber es gibt kein Mittel gegen Schlaflosigkeit, weder chemikalische noch natürliche, temporär oder dauerhaft wirkende. Ich weiß, dass Lin mich für albern hält. Aber sie hat einen guten Schlaf; sie begreift nicht, dass mein Verstand sich einfach nicht entspannen kann, dass meine Gedanken einander jagen wie Schlangen, die nach ihrem eigenen Schwanz schnappen, wie in einer dunklen, unnatürlichen Welle. Ich denke oft über meinen Vater nach, frage mich, ob er mich vermisst, ob er sich wünscht, wir würden einander wiedersehen. Erkennt er den Preis für seine Gier, mich so schnell wie möglich zu verheiraten? Tut es ihm leid? Tut es mir leid, hierhergekommen zu sein? Man kann auch als zögernde Braut einem anderen Haushalt beitreten – das ist nur eine geringe Unbequemlichkeit –, aber man kann sich niemals den Regeln von Green City beugen, wenn man im Herzen rebelliert. Ich hatte keine andere Wahl, aber nach fünf Jahren bin ich noch immer nicht mit meiner Entscheidung zurande gekommen. Vielleicht ist die Schlaflosigkeit die Strafe für meine Unentschlossenheit.

»Joseph versucht immer, mich betrunken zu machen. Er sagt, das würde mich schlafen lassen.«

»Fühlst du denn nie eine Verlockung?«, fragt Lin. Ich weiß, das ist ein Test, daher spiele ich die Unschuldige.

»Wie? Vom Alkohol?«

»Natürlich«, gibt Lin zurück. »Was hast du denn gedacht?«

»Es ist gegen die Regeln …«, leiere ich herunter. »Keine Rauschmittel, keine Drogen, kein Alkohol.«

»Dem Himmel sei Dank für deine unerschütterliche Rechtschaffenheit«, sagt Lin, ohne eine Miene zu verziehen, wobei sie aber auf ihren Joint blickt. »Stell dir mal vor, wir würden diese Unterhaltung mit Rupa führen …«

Ich muss lächeln. »Rupa ist auch nur ein Mensch. Und ich auch.« Weiter komme ich mit meinem Geständnis, dass ich Josephs Drink probiert habe, nicht. »Manchmal bist du wirklich hart zu ihr.«

»Das muss ich sein. Sie ist noch jung, und sie ist schwierig.«

O ja, ich bin oft Zielscheibe von Rupas scharfer Zunge, genau wie alle anderen hier, aber ich weiß Dinge über sie, die die anderen nicht wissen. Daher tut sie mir leid, und ich verteidige sie, wenn Lin lakonisch bemerkt, dass Rupa wieder mal »schwierig« war. Es ist nicht einfach, wenn man von draußen in die Panah zieht. Lin weiß das nicht mehr, denn sie hat dies immer als ihr Zuhause betrachtet.

Mir gefallen die Regeln, die Ilona und Fairuza für uns vor all den Jahren aufgestellt haben, nicht, weil ich mich dadurch sicher fühle, sondern weil sie mir einen Spielraum geben, in dem ich mich selbst behaupten kann. Andernfalls würde ich mich in die Luft ringsum auflösen, ohne alle Grenzen. Ich habe immer eine Struktur gebraucht, gegen die ich mich auflehnen kann, das hilft mir, mich zu definieren und zu behaupten. Vermutlich ist das eine Folge davon, in Green City aufgewachsen zu sein: Uns wurde vom Tag unserer Geburt an vorgeschrieben, was wir zu tun und zu lassen haben, wie wir uns benehmen müssen, selbst was wir denken dürfen. Ich bin es noch nicht gewohnt, eigene Gedanken zu haben. Die Regeln in der Panah sind eine Zwischenstation zwischen den Einschränkungen von Green City und der völligen Freiheit, die an Orten existiert, die ich mir nicht einmal vorstellen kann.

Tonbandaufzeichnung von Ilona Serfati

Heute habe ich meine eigene Nichte entführt.

Wie lächerlich das klingt! Aber als Vorsitzende der Panah kann ich nicht gerade jederzeit das Haus meiner Cousine betreten. Und es ist erst ein paar Monate her, seit sie gestorben ist – diese letzte Viruswelle war besonders heimtückisch; diesmal hat es kaum Überlebende gegeben. Die Menschen haben Angst, sie weichen zurück, wenn man dies auch nur erwähnt. Daher muss ich mir meine Wut für ein anderes Mal aufsparen.

Meine arme Cousine, die wunderbare Hanna. Wir haben als Kinder zusammen auf demselben Anwesen gelebt. Ich habe mich um sie gekümmert, als sie noch ein Baby war. Ich war wie eine zweite Mutter für sie. Ich habe sie auf die Schule vorbereitet, habe sie abends gebadet, dafür gesorgt, dass sie vernünftig aß und dass ihre Uniform immer für den nächsten Tag sauber und gebügelt war. Solche Dinge zählen in Green City nichts, die einzige Loyalität einer Frau soll ihrem Gatten gelten. Der einzige Grund, warum man ihren Tod betrauern darf, ist, dass sie für diese korrupte Gesellschaft den Verlust einer weiteren kostbaren Frau bedeutete. Diejenigen, die starben, sollten sich eigentlich glücklich schätzen, all das ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben.

Ich muss über meinen eigenen Erfindungsreichtum lachen, das gebe ich zu. Ich habe mich als männlicher Sozialarbeiter verkleidet, mit allem dafür nötigen Zubehör, einem genetischen Switch-Chip und Prothesen. Das hat mich auf dem Schwarzmarkt viel Geld gekostet. Als ich zu Hannas Haus kam, waren Türen und Fenster zum Zeichen der Trauer bereits schwarz gestrichen.

Ich weiß nicht, welcher von Hannas Gatten mir auf mein dringliches Klopfen hin die Tür öffnete. Ich sagte, dass ich von der Obrigkeit käme und Lin sich einem psychologischen Test unterziehen müsse, um festzustellen, ob der Tod der Mutter sie körperlich oder seelisch beeinträchtigt habe. Er starrte mich an, als wäre ich ein Wesen von einem anderen Stern, das gerade seine Herrschaft über den Planeten verkündet hat. Aber er stellte keine weiteren Fragen, so betroffen war er von seinem Verlust.

Als sie merkten, dass Lin verschwunden war, war es bereits zu spät. Sie wussten nicht einmal, wo sie nach ihr hätten suchen können.

In sechs Monaten – erst muss sich der Staub wieder legen – werde ich eine Nachricht schicken, dass die Obrigkeit beschlossen habe, Lin in einer Familie unterzubringen, wo es bereits eine Gattin gibt, damit das Mädchen ein angemessenes weibliches Rollenvorbild hat. Sie ist erst sieben, aber die Angehörigen müssen sich den Anweisungen der Obrigkeit fügen, wie alle guten Bürger von Green City. Es würde ihnen nie einfallen, die Sache näher zu untersuchen …

Ich frage mich, ob sie sie vermissen werden. Keiner von ihnen weiß, wer ihr Vater ist, und drei Väter sind nicht besser als einer – jedenfalls meiner Erfahrung nach. Lin fragt nicht nach ihnen, sie trauert nur um ihre Mutter und weint nachts. Ich tröste sie so gut ich kann und erzähle ihr Geschichten aus der Zeit, als ihre Mutter in Lins Alter war. Ihr früheres Leben wird bald in den Hintergrund treten, und das wird für alle eine große Erleichterung sein. Ich bemuttere sie genauso, wie ich es bei ihrer eigenen Mutter getan habe; wir Frauen wissen, wie man das macht, ohne dass man es uns beibringen muss.

Sie wird in der Panah aufwachsen und sie nach meinem Tod übernehmen. Ich wünsche mir, es müsste nicht so sein, aber ich brauche eine Nachfolgerin, denn ich werde auch nicht jünger. So wird es der kleinen Lin erspart, irgendjemandes Gattin zu werden. So viel schulde ich ihrer Mutter.

Sabine

Die Stunde, in der ich erschöpft, ängstlich und mittellos vor Lins Tür auftauchte, war auch die Stunde, in der meine Kindheit endete. Ich war aus dem Haus meines Vaters geflohen, voller Angst, dass er die Behörden rufen würde, um mich verfolgen zu lassen und einzuweisen. Durch meine Flucht wurde mein Verbrechen von bloßer Unwilligkeit zu Rebellion. Und es geschah nicht spontan: Ein Mädchen in Green City konnte das Haus ihres Vaters nicht ohne präzise Planung, Manipulation und Täuschung verlassen.

Als ich klein war, gab es in unserer Gegend in Green City nur sehr wenige Mädchen. Die, die es noch gab – vielleicht zehn oder zwölf, sicher nicht mehr als zwanzig – wurden davon abgehalten, miteinander Freundschaft zu schließen. Man wollte nicht, dass wir miteinander redeten, dass wir unsere Rolle im Leben in Frage stellten oder von einem anderen Leben für uns träumten. Wir würden uns dann gegenseitig zumindest in unserer Unwilligkeit, unserem Zögern unterstützen. Trotzdem lasen wir heimlich, im Schutz unserer Häuser, in den Akten der anderen, die die Obrigkeit über jede Bürgerin anlegte: Alle Mädchen und Frauen in Green City mussten ein Profil veröffentlichen, damit die Männer, ehe sie den Antrag auf eine Gattin stellten, dort eine Auswahl treffen konnten.

Manchmal, wenn man mit den Eltern oder dem Vormund draußen war und anderen Mädchen begegnete, tauschten wir Blicke aus. An heißen Tagen spazierten wir oft durch die Galleria mit ihren zahlreichen Läden, in denen sich die Luxuswaren türmten – elegante Kleider aus Kolachi, Tulpenholzmöbel aus Chabahar, kostbarer Schmuck aus Gedrosia. An angenehmeren Tagen besuchten wir den großen offenen Regenwaldpark, um die exotischen Faultiere und Stachelschweine zu sehen, die seltenen Wale und Riesenschildkröten, die man zurückgeklont hatte. Oder wir gingen zur Corniche und spazierten ziellos zwischen den Brunnen und Ständen mit Essen umher. Wir richteten die Blicke auf die blauen Wasser des Golfs und taten so, als würden wir die Kristalldrachen bewundern, wie sie hoch oben in der Brise schwebten, während aufgeregte kleine Jungen sie am Boden mit Fernbedienungen steuerten. Aber in Wirklichkeit suchten wir einander. Dieser Funken des Erkennens, wenn wir einander in die Augen blickten, das verschwiegene Lächeln, wie die Finger zuckten, um zur Begrüßung oder zum Abschied zu winken, würde ein Mädchen als eine Freundin verraten – und als eine Verbündete.

Wir suchten die Verbindung zueinander auf eine Weise, von der unsere Eltern und die Obrigkeit keine Ahnung hatten. Das haben wir uns zumindest immer gegenseitig versichert. Wir konnten die Mobilgeräte, die auf unsere Eltern zugelassen waren, zu Hause nicht benutzen, auch das Netzwerk stand uns nicht zur Verfügung, um einander zu finden, daher beriefen wir uns auf Dinge, die schon fast obsolet geworden waren: gekritzelte Notizen, die man an bestimmten Stellen hinterlegte, die nur Mädchen aufsuchen würden: in Schmuckschatullen in einem bestimmten Laden, unter einem Kleiderstapel in einem anderen oder zwischen einer Reihe von Haarbürsten. Die Chance, dass unsere Zettel von anderen gefunden würden, war gering, denn wir waren ja nur so wenige – und so haben wir es immer wieder versucht.

Optimismus war unsere Währung. Es waren keine Botschaften, die wir auf die Zettel kritzelten, aber wir hinterließen Codewörter für Online-Talk-Bots, wo man Nachrichten deponieren konnte, löschten sie aber, wenn sie nach nur wenigen Minuten noch nicht abgerufen worden waren. Stets hofften wir, dass andere Mädchen unseres Alters sie finden und darauf antworten würden. Wir schickten einander Flaschenpost, obwohl wir alle auf derselben Insel lebten.

»Ich wohne in Sur. Ich mag am liebsten Horrorgeschichten und Schokolade.«

»Ich habe drei Brüder. Ich wohne in Green City Mitte.«

»Ich wohne in einem Dorf in der Wahiba. Meine Lieblingsfarbe ist Lila.«

»Meine Mutter starb, als ich noch ein kleines Mädchen war.«

Unsere Namen verrieten wir einander nicht. Stattdessen benutzten wir Decknamen, nach Blumen etwa, wie Jasmin, Rose und Ginster, oder wie Edelsteine, etwa Rubin oder Opal. Manchmal gaben wir uns auch die Namen von Vögeln – Spatz oder Täubchen. Wir wuchsen zu einer kleinen Gemeinschaft heran, die nirgendwo anders existierte als in unseren Köpfen, wir setzten Teilchen und Bytes zu Mustern zusammen, die unsere Gedanken, unsere Hoffnungen und Träume miteinander verbanden.

Man hätte uns für unsere Unwilligkeit bestrafen können, aber es war einfach unwiderstehlich, dieses Spiel, wie wir miteinander in Verbindung treten konnten, ohne erwischt zu werden. Wie viel Freiraum wir für uns unter den wachsamen Augen unserer strengen Eltern schaffen konnten, aber auch für unsere Zukunft, die auf eine jede von uns nach dem Ende der Kindheit warten würde.

Es war eines dieser Mädchen mit dem unschmeichelhaften Decknamen Hühnchen, das mir von der Panah erzählte. Zuerst lachte ich sie aus, als würde sie ein albernes Gerücht verbreiten. Mit einem solchen Namen – Hühnchen – konnte es wohl kaum etwas anderes sein als die verrückte Phantasie eines übererregbaren jungen Dings. Aber sie bestand darauf, denn ihr Vater sei ein hohes Tier in der Obrigkeit, und irgendwie war sie auf eins seiner Geheimbulletins gestoßen, in dem Gerüchte über eine geheime Untergrundkommune erwähnt wurden, wo rebellische Frauen außerhalb des Systems lebten, Verräterinnen an Green City und an der Großzügigkeit der Obrigkeit.

Hühnchen ignorierte meine Ungläubigkeit und berichtete bald neue Einzelheiten: dass es im DarkNet praktisch Tunnel gebe. Die Obrigkeit versuche, sie zu überwachen und zu schließen, aber sie seien stets so angelegt, dass sie häufig von einem anonymen und unauffindbaren Server zum anderen überwechselten. Mit dem richtigen Code, sagte Hühnchen, könne sie nicht nur diese Frauen kontaktieren, sie könne ihnen auch von sich erzählen und ihr Profil schicken, und vielleicht würden sie ihr erlauben, ihnen beizutreten. Wenn das klappte, konnte ein Mädchen seinem Schicksal entgehen und verschwinden wie eine Wolke am Himmel oder eine Schneewehe, die in der warmen Sonne einfach dahinschmilzt. In diesem Moment noch hier, im nächsten verschwunden. Das war ein sonderbares Gefühl, dieser Gedanke, dass man einfach so »verschwinden« konnte.

Aber war nicht genau das mit all den Mädchen und Frauen in Green City passiert, die eigentlich am Leben sein sollten, es aber nicht waren? Die vermissten Mädchen, ihrer Existenz beraubt, vom Virus getötet, in einer Ehe, die sie nicht wollten, lebendig begraben. Ich gehörte noch zu den Glücklicheren, die die ersten beiden Schicksale überlebt hatten, wusste aber nicht, ob ich das dritte ebenfalls vermeiden konnte.

»Würdest du das wirklich tun?«, schrieb ich Hühnchen, als sie mir etwas schickte, das angeblich der Code für einen dieser DarkNet-Kanäle war.

»Vielleicht versuche ich es«, schrieb sie zurück.

»Hättest du keine Angst, geschnappt zu werden?«

»Ich wäre unglücklicher und hätte mehr Angst, wenn ich es nicht versuchen würde.«

Wir wussten, man würde uns zu mindestens zwei Ehen zwingen, vermutlich aber drei oder vier, sobald wir alt genug dafür waren. Hühnchen selbst war das Produkt von einer solchen Mehrfachehe und hatte traurigerweise nicht die geringste Ahnung, welcher von den vier Gatten ihrer Mutter ihr Vater war. Sie gab an, alle Väter behandelten sie gut, verwöhnten sie und brächten ihr häufig Geschenke. Aber wie ihre Mutter sich fühlte, darüber haben wir nie gesprochen. Dass sie zu diesem Thema schwieg, sagte mehr als alle Worte.

Es galt als Verbrechen, eine Frau zu schlagen oder zu misshandeln: Frauen in Green City waren ein kostbarer Besitz, den man ehren und beschützen musste; als Gegenleistung stellten sie ihren Körper der Aufgabe zur Verfügung, die Bevölkerung zu vermehren. Die Fruchtbarkeitsmedikamente schadeten der Gesundheit der Frauen, und aufgrund der hohen Dosierung kam es häufig zu Drillings- und Vierlingsgeburten. Diese Risikoschwangerschaften brannten sie oft frühzeitig aus. Ganz im Sinne der Obrigkeit bewegten sie sich so kaum noch aus dem Haus, um draußen an der frischen Luft etwas zu unternehmen. Zu arbeiten entsprach nicht ihrem Status, und Angestellte oder Bots verrichteten die meisten Aufgaben im Haushalt.

Die Frauen, die ich in der Stadt sah, waren stets von zwei oder drei ihrer Gatten begleitet. Sie waren gut gekleidet, und die Gatten schenkten ihnen viel Aufmerksamkeit und kauften ihnen zahlreiche Geschenke in den Läden der Galleria. Egal ob eine Frau arm war oder reich, wenn sie zur Gattin wurde, gewann sie an Status, und bei jeder Geburt verdoppelte die Obrigkeit den Familienbonus. Ihre Gebärmutter war das direkte Ticket aus der Armut heraus zu den Annehmlichkeiten der Mittelklasse, für sie wie auch für ihre Gatten. Und dennoch wirkten diese Frauen, die ich sah, gebeugt, irgendwie klein und unterwürfig, völlig ungerührt von der staatlichen Großzügigkeit oder der ihrer Gatten.

Manchmal, wenn unsere Blicke sich trafen, fixierten sie mich mit dem stählernen Blick des Erkennens, als wollten sie zu mir sagen: Ich war auch einmal so jung und sorglos wie du. Mach das Beste aus diesen Tagen, Mädchen, denn es dauert nicht an.

Als ich in die Panah kam, war ich an den Anblick von Frauenkörpern nicht gewöhnt, die nicht durch eine Schwangerschaft aufgequollen und verändert waren. Anfangs erschien mir das nicht richtig, als würde etwas fehlen. Ich habe Monate gebraucht, um zu erkennen, dass der Bauch einer Frau nicht ständig rund ist, dass der Normalzustand nicht ist, ein anderes Wesen in sich zu tragen. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich erkannte, dass selbst in der Schwangerschaft eine Frau immer noch allein ist.

In den nächsten Monaten schickte Hühnchen mir verschiedene heimliche Codes für Signale, die den Frauen der Panah verrieten, dass ich sie suchte. Ich bin nicht daran interessiert, schrieb ich ihr mehr als einmal wütend zurück. Benutz sie doch selbst!

»Du glaubst mir nicht. Aber nun musst du es. Mach schon, schick ihnen eine Nachricht und sieh zu, was passiert. Dann wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit sage. Oder hast du einfach Angst?«

»Das ist doch kein harmloses Spielchen. Du weißt, was passiert, wenn man mich erwischt.«

»Man kann dich nicht erwischen. Die Signale werden nach einem Zufallsprinzip erstellt und verschwinden nach fünf Minuten. Niemand kann dich erwischen, wenn du nicht erwischt werden willst.«

»Warum machst du es denn nicht selbst, wenn du schon so clever bist?«

»Vielleicht mache ich es. Dann ziehen wir zusammen in die Panah.«

Da wurde ich nervös und beendete die Sitzung. Es war das eine, darüber zu reden, aber etwas ganz anderes, das Verschwinden, die Flucht tatsächlich zu planen. Das war mehr als bloße Rebellion. Es würde als Revolte geahndet. Mit so was wollte ich nichts zu tun haben.

Kurze Zeit später teilte mein Vater mir mit, er wolle mich auf dem schnellsten Weg beim Bevölkerungsprogramm einschreiben. Ich würde die Schule vorzeitig verlassen und zu einer Gattin werden.

Ich bettelte und flehte ihn an, es sich noch einmal zu überlegen, aber er blieb halsstarrig. Nachdem meine Mutter gestorben war, als ich zwölf war, hatte mein Vater, der nicht reich genug war, um eine neue Gattin zugewiesen zu bekommen, trotzdem die Chance wahrgenommen, eine Gattin aus dem abgespaltenen Norden zu nehmen. Die Frauen aus diesem Gebiet hatten blaue Augen und eine helle Haut, dazu blonde oder rötliche Haare. Sie waren ganz anders als unsere Frauen mit ihrem dunklen Haar und dem olivfarbenen Teint. Die Levante-Kriege zu Anfang des 21. Jahrhunderts hatten die Gebiete im Norden zerstört, aber nicht ihre Schönheit. Doch der Antrag meines Vaters wurde aus Gründen, die er mir nie verraten hat, abgelehnt. Die nächsten vier Jahre verbrachte er allein, nur mit mir. Ich vermutete, dass für ihn durch das Eilverfahren seiner Tochter zu einer Eheschließung Geld heraussprang, die übliche Belohnung der Obrigkeit, wenn man dem Bevölkerungsprogramm eine junge Frau auf dem Gipfel ihrer Schönheit und Fruchtbarkeit zuführte. Vielleicht war seine Belohnung auch eine neue Gattin – ein einfacher Tausch.

Ich brannte innerlich und wollte meinem Vater sagen, dass ich nicht wie eine Sklavin verkauft werden wollte. Aber ich blieb stumm, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte. Irgendetwas sagte mir, ich müsse tief in mich hineinhören, um jegliche Geduld und Klugheit, die ich besaß, hervorzukitzeln und mich selbst zu retten, wenn mein Vater mir schon nicht helfen wollte.

Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod; es war nicht die Stimme meiner Mutter, die aus dem Grab zu mir sprach, nein. Ich bin nicht religiös – die drei Religionen, die inzwischen zu einer verschmolzen waren, hatten immer noch ihre Anhänger, aber wir betrachten diese heute als Exzentriker, weil die Wissenschaft unser Leben regiert. Solange die Gläubigen nicht versuchen, andere zu bekehren oder die Angelegenheiten von Green City zu beeinflussen, dürfen sie ihre seltsamen Rituale vollziehen, an ihren Gott glauben – oder vielmehr an die schwache, verdünnte Version von dem, woran sie vorher glaubten. Sie sind ohnehin zu unbedeutend, um als Gefahr zu gelten.

Wenn ich bei meinem Vater geblieben wäre, hätte man mich in die Markaz für Mädchen geschickt, eine der großen Institutionen am Rande der Stadt. Sie war eine seltsame Mischung aus Haushaltsschule, Indoktrinierungslager und Märchenschloss. Es wurde erzählt, dass dort alles rosa war. Wenn Jungen ihre Oberschule absolviert hatten, gingen sie auf die Universität, aber Mädchen zogen in die Markaz, um zu lernen, wie man eine gute Gattin wird. Dort belegte man Kurse in Haushaltstechnologie, Gesundheit und Reproduktion. Die meisten Mädchen begannen voller Aufregung diesen Aufstieg in der Gesellschaft und achteten kaum auf die Lektionen. Sie waren von romantischen Vorstellungen von ihrer ersten Eheschließung völlig besessen. Andere, wie ich, taten so, als wären sie begeistert, während sie nichts anderes empfanden als ein Gefühl von drohendem Unheil.

Zwei Tage, ehe ich in die Markaz eintreten sollte, schickte ich ein heimliches Signal über das DarkNet an die Panah. Ich benutzte den Code, den Hühnchen mir geschickt hatte. Dazu schrieb ich einen verzweifelten Brief, adressiert an wer immer der Panah vorstand: