Die Gischt der Tage - Boris Vian - E-Book

Die Gischt der Tage E-Book

Boris Vian

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Beschreibung

Chloé liebt Colin, Colin liebt Chloé. Und doch überleben die beiden ihr eigenes Glück nicht. Ein Klassiker von phantastischer Poesie, eine Geschichte über Liebe und Tod, ein Buch, das selbst längst unsterblich ist und sich in dieser wunderbaren Neuübersetzung liest wie ganz neu erfunden. Ein wohlhabender Dandy namens Colin erobert die schöne, zarte Chloé. Die beiden entflammen und erliegen einander, versprechen sich ewige Liebe und Treue, und wenn sie dann nicht alle gestorben wären … Frank Heibert erzählt diesen Klassiker der französischen Literatur, bislang bekannt unter dem Titel "Der Schaum der Tage", als modernes Märchen. Auf das surreal-verspielte Szenario, in dem Mäuse tanzen und die Sonne von allen Seiten zugleich scheint, wo Aale in Wasserleitungen wohnen und zerbrochene Fensterscheiben wieder nachwachsen, legt sich schon bald ein Schatten. Chloé erkrankt an einem Lotos, der in ihrer Lunge wächst und ihr den Atem raubt. Das junge Glück ist bedroht, die Sonne zieht sich zurück, die Welt wird eng und enger. Unversehens kippt der absurde Liebesroman ins Tragische und äußert subtil scharfe Kritik an einer entfremdeten Gesellschaft. "L'écume des jours", von Raymond Queneau als der "ergreifendste zeitgenössische Liebesroman" bezeichnet, war Boris Vians erfolgreichstes Buch. Sein märchenhafter Zauber und seine virtuose Sprachlust werden in dieser schwungvollen Neuübersetzung von Frank Heibert sorgfältig und genüsslich ins Deutsche transportiert, zu Ihrem und unserem Lesevergnügen!

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Seitenzahl: 260

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Aus dem Französischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert

Die französische Originalausgabe erschien 1947 unter dem Titel L’écume des jours bei Éditions Gallimard in Paris, die deutsche Erstausgabe 1964 unter dem Titel Chloé beim Karl Rauch Verlag in Düsseldorf.

Dieses Buch wird herausgegeben im Rahmen des Förderprogramms des Institut français.

E-Book-Ausgabe 2017

© 1979, 1996, 1998 Societé Nouvelle des Éditions Pauvert

© 1999 Librairie Arthème Fayard, pour l’édition en œuvres complètes

© 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142290

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3291 8

http://www.wagenbach.de/​

Für mein Bibi

Vorwort

Im Leben kommt es darauf an, über alles vorab ein Urteil zu fällen. Denn es sieht ja immer so aus, als hätten die Massen unrecht und die Einzelnen recht. Man hüte sich allerdings, daraus Verhaltensregeln abzuleiten: Um befolgt zu werden, müssen sie nicht ausformuliert werden. Es gibt nur zwei Dinge: die Liebe, in allen Spielarten, mit hübschen jungen Frauen, und die Musik, aus New Orleans oder von Duke Ellington. Alles andere sollte verschwinden, denn alles andere ist hässlich, und die folgenden paar Seiten, die das demonstrieren, ziehen ihre Kraft aus der Tatsache, dass die Geschichte komplett wahr ist, weil ich sie von A bis Z erfunden habe. Ihre materielle Umsetzung besteht im Wesentlichen darin, dass die Wirklichkeit in schrägwinkliger, angewärmter Atmosphäre auf eine Bezugsfläche projiziert wird, die unregelmäßig gewellt ist und Verzerrungen offenbart. Das ist eine grundlegende Vorgehensweise, für die man sich eindeutig nicht zu schämen braucht.

New Orleans, 10. März 1946

1

Colin beendete seine Toilette. Nachdem er dem Bad entstiegen war, hatte er sich ein üppiges Frotteehandtuch umgeschlungen, nur die Beine und der Oberkörper schauten heraus. Nun nahm er den Zerstäuber vom gläsernen Regal und versprühte duftendes Öl auf seinen hellen Haaren. Sein Bernsteinkamm teilte die seidige Masse in lange orange Strähnen, ähnlich den Furchen, die der Fröhliche Landmann mit Hilfe einer Gabel durch Aprikosenkonfitüre zieht. Colin legte den Kamm zurück, rüstete sich mit dem Nagelschneider und schnitt seine matt glänzenden Augenlider schräg zu, das gab seinem Blick etwas Geheimnisvolles. Sie wuchsen schnell nach, daher musste er sie oft zurückschneiden. Sodann schaltete er die kleine Lampe des Vergrößerungsspiegels ein und näherte sich, um den Zustand seiner Epidermis zu prüfen. Um die Nasenflügel sprangen ihm einige Mitesser entgegen. Als sie im Vergrößerungsspiegel sahen, wie hässlich sie waren, verkrochen sie sich schnurstracks wieder unter der Haut, und Colin löschte befriedigt die Lampe. Er legte das um die Lenden geschlungene Handtuch ab und zog einen der Zipfel zwischen den Zehen durch, um die letzten Spuren Feuchtigkeit aufzunehmen.

Im Spiegel war zu erkennen, wem er ähnelte, dem Blonden, der in Hollywood Canteen die Rolle des Slim spielt. Er hatte einen runden Kopf, kleine Ohren, eine gerade Nase und gebräunte Haut. Er lächelte oft, wie ein Baby, so oft, dass er davon ein Grübchen am Kinn bekommen hatte. Er war ziemlich groß, schlank, langbeinig und sehr nett. Der Name Colin passte einigermaßen zu ihm. Mit Frauen sprach er sanft, mit Männern fröhlich. Er hatte fast immer gute Laune, den Rest der Zeit schlief er.

Er ließ sein Bad ab, indem er ein Loch in den Boden der Wanne bohrte. Der mit hellgelben Steinzeugfliesen ausgelegte Badezimmerboden wies ein leichtes Gefälle auf, wodurch das Wasser direkt auf den Schreibtisch des unter ihm wohnenden Mieters geleitet wurde. Dieser hatte allerdings vor Kurzem, ohne Colin Bescheid zu sagen, den Schreibtisch in ein anderes Zimmer gestellt. Jetzt lief das Wasser auf seinen Vorratsschrank.

Er schlüpfte in ein Paar Sandalen aus Katzenhai-Leder und zog einen eleganten Hausanzug über. Die Hose war aus grünem Cordsamt – wie tiefstes Wasser –, das Jackett aus nussbraunem Wollsatin. Er hängte das Handtuch auf den Ständer, legte den Badeteppich über den Wannenrand und bestreute ihn mit grobem Salz, das sämtliche Feuchtigkeit herausziehen sollte. Der Teppich sabberte lauter Trauben aus kleinen Seifenblasen hervor.

Er verließ das Bad und begab sich in die Küche, um nach den letzten Essensvorbereitungen zu schauen. Wie jeden Montagabend hatte er seinen Freund Chick, der ganz in der Nähe wohnte, zum Diner geladen. Es war zwar erst Samstag, aber Colin wollte Chick gern sehen und ihm eine Kostprobe des Menüs vorsetzen, das Nicolas, sein neuer Koch, mit heiterer Gelassenheit zusammengestellt hatte. Chick war ebenfalls Junggeselle, genauso alt wie Colin, zweiundzwanzig, und sie teilten auch den Literaturgeschmack, nur dass Chick weniger Geld hatte. Colin war vermögend genug, um bequem zu leben, ohne für andere zu arbeiten, während Chick sich alle acht Tage im Ministerium bei seinem Onkel melden und ihn anpumpen musste, weil sein Ingenieursberuf ihm nicht so viel einbrachte wie den Arbeitern, die unter seiner Aufsicht standen, und es ist schwer, jemanden zu befehligen, der besser angezogen und besser genährt ist als man selbst. Colin unterstützte ihn nach Kräften, indem er ihn so oft wie möglich zum Abendessen einlud, aber Chicks Stolz zwang ihn zur Vorsicht, er durfte ihn nicht durch allzu häufige Gefälligkeiten spüren lassen, dass er ihm helfen wollte.

Der Küchenflur war hell, zu beiden Seiten verglast, und auf jeder Seite schien eine Sonne, denn Colin liebte das Licht. So ziemlich überall waren sorgfältig polierte Messingwasserhähne angebracht, auf denen das Spiel der Sonnen für zaubrische Effekte sorgte. Die Küchenmäuse tanzten gern zum Klang der auf die Wasserhähne prallenden Sonnenstrahlen und rannten hinter den Kügelchen her, zu denen die Sonnenstrahlen am Boden zerschellten, als wären sie gelbe Quecksilberfontänen. Im Vorbeigehen streichelte Colin eine der Mäuse, sie hatte ganz lange schwarze Schnurrbarthaare, war grau und schlank und erglänzte in Vollkommenheit. Der Koch nährte die Mäuse bestens, ohne sie allzu dick werden zu lassen. Tagsüber machten sie keinen Lärm und spielten ausschließlich im Flur.

Colin stieß die emaillierte Küchentür auf. Nicolas, der Koch, überwachte sein Armaturenbrett. Er saß vor einem ebenfalls hellgelb emaillierten Pult mit lauter Anzeigern, die mit den diversen kulinarischen Apparaten entlang der Wände verbunden waren. Der Zeiger des Backofens, auf Pute eingestellt, zitterte zwischen »fast gar« und »gar«. Höchste Zeit, den Braten herauszuholen. Nicolas drückte auf einen grünen Knopf, was den Tastfühler auslöste. Dieser drang ohne Widerstand ein, und im gleichen Augenblick erreichte der Zeiger »gar«. Schnell schaltete Nicolas den Ofen ab und setzte den Tellerwärmer in Gang.

»Wird’s gut?«, fragte Colin.

»Darauf können Monsieur sich verlassen!«, bestätigte Nicolas. Die Pute war perfekt gebraten.

»Was haben Sie als Vorspeise zubereitet?«

»Ach Gott«, sagte Nicolas, »ausnahmsweise hab ich mal nichts erfunden, sondern mich auf ein Plagiat von Gouffé beschränkt.«

»Da hätten Sie beileibe ein schlechteres Vorbild wählen können!«, stellte Colin fest. »Und was aus seinem Werk werden Sie für uns wiedergeben?«

»Darum geht es auf Seite 734 seines Kochbuchs. Ich werde Monsieur die entsprechende Stelle vorlesen.«

Colin setzte sich auf einen Hocker, dessen Sitzfläche mit Porengummi gepolstert und mit geölter Seide in der zu den Wänden passenden Farbe bezogen war, und Nicolas begann folgendermaßen:

»Man bereitet eine Kruste von Teig zu den Vorspeisen; Richtet einen großen Aal zu, den man in Stücke von 3 Neuzoll Größe zerschneidet;

Bringt die Aalstücke in ein Casserol mit Weißwein, Salz, Pfeffer, Zwiebeln in Scheiben, Petersilie in Zweigen, Thymian, Lorbeerblätter und ein wenig Knoblauch;

Den hab ich leider nicht so spitz geschnitten bekommen, wie ich es wollte«, sagte Nicolas, »die Schleifscheibe ist abgenutzt.«

»Ich lasse sie austauschen«, sagte Colin.

»Läßt den Aal gar werden«, fuhr Nicolas fort.

»Nimmt ihn dann aus dem Casserol und bringt ihn in eine Sautirpfanne;

Streicht die Brühe, in der der Aal kochte, durch ein seidenes Siebtuch; schüttet ›Spanische Sauce‹ hinzu und läßt einkochen, bis die Sauce den Rücken eines Löffels bedeckt;

Streicht aufs Neue durch das Siebtuch; bedeckt die Aalstücke mit der Sauce und läßt sie während 2 Minuten auf kochen;

Ordnet die Aalstücke in der Pastete;

Formt einen Kranz von zugerichteten Champignons auf den Umfang der Pastete und bringt ein Bouquet von Karpfenmilch in die Mitte;

Bedeckt mit dem Theil der Sauce, welche man zurückgestellt hat und

Trägt auf.«

»Sehr schön«, stimmte Colin zu. »Ich glaube, das wird Chick schmecken.«

»Leider habe ich nicht das Privileg, Monsieur Chick zu kennen«, sagte Nicolas abschließend, »aber falls es ihm nicht schmeckt, mache ich nächstes Mal etwas anderes, was mir mit annähernder Sicherheit erlauben wird, eine Landkarte seiner Neigungen und Abneigungen zu entwerfen.«

»Jau!«, sagte Colin. »Ich empfehle mich, Nicolas. Ich werde den Tisch decken.«

Er nahm den Korridor in der Gegenrichtung und durchquerte das Büro, was ihn in das offene Esszimmer brachte, dessen blassblauer Teppich und Wände in Beige-Rosa eine Erholung für offene Augen waren.

Der etwa vier mal fünf Meter große Raum ging mit zwei querformatigen Panoramafenstern auf die Avenue Louis-Armstrong hinaus. Seitlich gab es verschiebbare Spionspiegel, durch die man die Frühlingsdüfte hereinlassen konnte, sofern sich draußen welche fanden. Gegenüber stand ein Tisch aus geschmeidiger Eiche in einer Zimmerecke. Zwei rechtwinklige Sitzbänke standen über Eck entlang zweier Seiten des Tisches, an den beiden anderen schmucke passende Stühle mit blauen Saffianlederkissen. Zum Mobiliar des Zimmers gehörten außerdem ein langes flaches Sideboard, wo die Plattensammlung untergebracht war, ein Plattenspieler vom größten Format und ein zu dem anderen symmetrisches Sideboard mit all den Steinschleudern, Tellern, Gläsern und sonstigen Utensilien, die man unter zivilisierten Völkern zum Essen benutzt.

Colin wählte eine hellblaue Tischdecke, passend zum Teppich. In die Mitte des Tischs stellte er einen Tafelaufsatz, bestehend aus einem Glasgefäß, in dem zwei Hühnerembryos in Formalin den Geist der Rose in Nijinskys Darbietung nachzustellen schienen. Ringsum einige Zweige Riemenmimose – ein befreundeter Gärtner züchtete sie durch Kreuzung der normalen, kugelförmig blühenden Mimose mit den schwarzen Lakritz-Streifen, wie man sie nach der Schule beim Krämer holt. Dann nahm er für jeden zwei Teller aus weißem Porzellan mit Sprossendekor aus transparentem Gold, Besteck aus rostfreiem Stahl mit durchbrochenen Griffen, darin jeweils ein ausgestopfter Marienkäfer zwischen zwei Plexiglasplatten als Glücksbringer. Er stellte Kristallgläser dazu und faltete die Servietten zu Bischofsmützen; das dauerte eine Weile. Kaum hatte er seine Vorbereitungen vollendet, da löste sich die Klingel von der Wand und unterrichtete ihn von Chicks Ankunft.

Colin glättete eine Falte in der Tischdecke und ging an die Tür.

»Wie geht es dir?«, fragte Chick.

»Und dir?«, antwortete Colin. »Zieh deinen Regenmantel aus und komm schauen, was Nicolas macht.«

»Dein neuer Koch?«

»Ja!«, sagte Colin. »Ich hab ihn bei meiner Tante gegen den alten und ein Kilo Eiskaffee eingetauscht.«

»Ist er gut?«, fragte Chick.

»Er scheint zu wissen, was er tut. Ein Gouffé-Schüler.«

»Wie, von dem toten Mann im Koffer?«, fragte Chick entsetzt, und sein kleiner schwarzer Schnurrbart senkte sich tragisch.

»Nein, Dummkopf. Jules Gouffé. Der bekannte Koch.«

»Ach weißt du«, sagte Chick, »außer Jean-Sol Partre les ich ja nicht viel.«

Er folgte Colin in den gefliesten Flur, streichelte die Mäuse und füllte im Vorbeigehen ein paar Sonnentröpfchen in sein Feuerzeug.

»Nicolas«, sagte Colin beim Eintreten, »darf ich vorstellen: mein Freund Chick.«

»Guten Tag, Monsieur«, sagte Nicolas.

»Guten Tag, Nicolas«, antwortete Chick. »Sie haben nicht vielleicht eine Nichte namens Alise?«

»Ja, Monsieur«, sagte Nicolas. »Ein hübsches Mädchen übrigens, wenn ich diesen Kommentar beisteuern darf.«

»Die Familienähnlichkeit fällt auf«, sagte Chick. »Wobei man hinsichtlich der Büste gewisse Unterschiede feststellen kann.«

»Ich bin recht breit gebaut«, sagte Nicolas. »Und sie ist natürlich stärker dreidimensional, wenn Monsieur mir diese Präzisierung gestatten.«

»Na, da sind wir ja fast im Familienkreise«, sagte Colin. »Sie hatten mir gar nichts von einer Nichte erzählt, Nicolas.«

»Meine Schwester ist nicht so gut geraten, Monsieur«, sagte Nicolas. »Sie hat Philosophie studiert. In einer traditionsbewussten Familie brüstet man sich nicht gerade mit so etwas …«

»Tja …«, meinte Colin. »Da haben Sie wohl recht. Jedenfalls verstehe ich Sie. Zeigen Sie uns doch einmal diese Aalpastete …«

»Den Ofen zu öffnen, wäre im Augenblick gefährlich«, warnte Nicolas. »Beim Einlassen von weniger wasserdampfgesättigter Luft als derjenigen, die im Moment dort eingeschlossen ist, könnte es in der Folge zu einer Austrocknung kommen.«

»Mir ist«, sagte Chick, »die Überraschung lieber, sie erst auf dem Tisch zu bewundern.«

»Ich kann Monsieur nur zustimmen«, sagte Nicolas. »Dürfte ich Monsieur darum bitten, mir die Fortführung meiner Arbeit gestatten zu wollen?«

»Nur zu, Nicolas, bitte.«

Nicolas wandte sich wieder seiner Aufgabe zu, nämlich die mit Trüffelspänen gespickten Seezungenfilets in Aspik, die als Garnitur für das Fisch-Hors-d’œuvre gedacht waren, aus ihren Formen zu lösen. Colin und Chick verließen die Küche.

»Nimmst du einen Aperitif?«, fragte Colin. »Mein Drinklavier ist fertiggestellt, du könntest es ausprobieren.«

»Funktioniert es?«

»Absolut. Erst hatte ich Schwierigkeiten, es einzustellen, aber jetzt übertrifft das Ergebnis meine Erwartungen. Auf der Grundlage von Black and Tan Fantasy hab ich da einen wirklich irren Mix rausgeholt.«

»Nach welchem Prinzip?«, fragte Chick.

»Jede einzelne Note«, sagte Colin, »ersetze ich durch eine Spirituose, einen Likör oder ein Gewürz. Das rechte Pedal entspricht Eischnee und das linke Eiswürfeln. Für Soda braucht es einen Triller in der hohen Lage. Die jeweiligen Mengen stehen in direktem Zusammenhang mit der Dauer: eine Vierundsechzigstelnote ist eine sechzehntel Maßeinheit, eine Viertelnote ist eine Maßeinheit, eine ganze Note eine vierfache Maßeinheit. Wenn ein langsames Stück gespielt wird, setzt sich ein Registersystem in Gang, das dafür sorgt, dass die Dosierung nicht gesteigert wird, sonst würde der Cocktail ja zu üppig, sondern der Alkoholgehalt. Und je nachdem, wie lang das Stück dauert, kann man den Notenwert einer Maßeinheit variieren lassen, sie zum Beispiel auf ein Hundertstel reduzieren, um ein Getränk zu erhalten, das allen Harmonien Rechnung trägt, dafür gibt es einen seitlichen Regler.«

»Kompliziert«, sagte Chick.

»Das Ganze wird durch elektrische Kontakte und Relais gesteuert; du kennst das ja, ich brauche dir das nicht in allen Einzelheiten zu erklären. Und übrigens funktioniert das Klavier auch in echt.«

»Großartig!«

»Mich stört nur eins«, sagte Colin, »das rechte Pedal für den Eischnee. Ich musste ein besonderes Einrastsystem einrichten lassen, denn wenn du ein allzu heißes Stück spielst, fallen Omelettstückchen in den Cocktail, das ist schwer zu schlucken. Ich werde das noch ändern. Vorerst genügt es aufzupassen. Für Crème fraîche spielst du ein tiefes G.«

»Ich mach mir einen auf Loveless Love«, sagte Chick. »Das wird bestimmt sagenhaft.«

»Der Apparat steht noch in der Rumpelkammer, die ich zur Werkstatt umfunktioniert habe«, sagte Colin, »weil die Schutzplatten noch nicht aufgeschraubt sind. Komm, wir gehen rüber. Und ich stelle ihn auf zwei Cocktails von circa 0,2l ein, für den Anfang.«

Chick setzte sich ans Klavier. Am Ende des Stücks rasselte ein Teil der Vorderwand herunter, und eine Reihe Gläser tauchte auf. Zwei davon waren randvoll mit einem appetitlichen Mix.

»Kurz hatte ich Bedenken«, sagte Colin, »weil du dich einmal verspielt hast, aber zum Glück passte der Ton in die Harmonie.«

»Das Ding achtet auf die Harmonien?«, fragte Chick.

»Nicht bei allem«, sagte Colin. »Das wäre zu kompliziert. Es müssen nur ein paar Bedingungen erfüllt sein. Trink aus und komm zu Tisch.«

2

»Diese Aalpastete ist bemerkenswert«, sagte Chick. »Wer hat dich denn darauf gebracht?«

»Es war eine Idee von Nicolas«, sagte Colin. »Da ist so ein Aal – vielmehr, da war –, der jeden Tag durch die Kaltwasserleitung in sein Waschbecken kam.«

»Wie seltsam!«, sagte Chick. »Warum das denn?«

»Er streckte immer den Kopf raus und fraß die Zahnpastatube leer, drückte sie mit den Zähnen aus. Nicolas benutzt nur amerikanische Zahnpasta mit Ananasgeschmack, das hat ihn wohl gelockt.«

»Und wie hat er ihn gefangen?«

»Statt der Tube hat er eine ganze Ananas hingestellt. Wenn der Aal die Zahnpasta schluckte, konnte er den Kopf immer zurückziehen, aber mit der Ananas ging das nicht, je mehr er zog, desto tiefer hingen die Zähne in der Ananas. Nicolas …«

Colin brach ab.

»Was, Nicolas?«, fragte Chick.

»Vielleicht verdirbt dir das den Appetit, ich weiß nicht, ob ich es sagen soll.«

»Mach ruhig«, meinte Chick, »ist ja fast nichts mehr da.«

»In dem Moment kam Nicolas rein und schnitt ihm den Kopf mit einer Rasierklinge ab. Dann machte er den Hahn auf, und der ganze Rest kam raus.«

»Das war’s schon?«, fragte Chick. »Gib mir noch was von der Pastete. Ich hoffe, der Aal hat eine große Familie in der Wasserleitung.«

»Nicolas hat Zahnpasta mit Himbeergeschmack hingestellt, mal sehen«, meinte Colin. »Aber du, diese Alise, die du vorhin erwähnt hast …?«

»Ja, ich hab ein Auge auf sie geworfen«, sagte Chick. »Wir sind uns bei einem Vortrag von Jean-Sol begegnet. Wir lagen beide auf dem Bauch unter dem Podium, so haben wir uns kennengelernt.«

»Und wie ist sie so?«

»Das kann ich nicht beschreiben«, sagte Chick. »Sie … sie ist hübsch …«

»Ach!«, sagte Colin.

Nicolas kam zurück. Er trug die Pute auf.

»Setzen Sie sich doch zu uns, Nicolas«, sagte Colin. »Schließlich gehören Sie, wie Chick schon sagte, praktisch zur Familie.«

»Erst einmal werde ich mich um die Mäuse kümmern, falls Monsieur nichts dagegen haben«, sagte Nicolas. »Ich bin gleich wieder da. Der Braten ist aufgeschnitten. Die Sauce steht dort …«

»Du wirst sehen«, sagte Colin. »Eine Sauce aus Mangocreme mit Wacholder, in gewebte Kalbsröllchen eingenäht. Du drückst drauf, und sie kommt im dünnen Strahl heraus.«

»Exzellent!«, sagte Chick.

»Magst du mir nicht andeuten, wie du es angestellt hast, mit ihr ins Gespräch zu kommen?«, beharrte Colin.

»Na ja …«, sagte Chick, »ich hab sie gefragt, ob sie Jean-Sol Partre mag, und sie sagte, dass sie seine Werke sammelt … Da hab ich geantwortet: Ich auch … Und jedes Mal, wenn ich irgendwas sagte, meinte sie: Ich auch … und umgekehrt … Und schließlich hab ich, aber nur als existenzialistisches Experiment, ja, hab ich zu ihr gesagt: Sie gefallen mir sehr, und sie sagte nur: Oh!«

»Misslungenes Experiment«, sagte Colin.

»Ja«, sagte Chick, »aber sie ist trotzdem nicht gleich weggegangen. Also hab ich gesagt: Ich muss da lang. Und sie: Ich nicht. Aber dann sagte sie: Ich muss nämlich da lang.«

»Außergewöhnlich!«, versicherte ihm Colin.

»Da hab ich gesagt: Ich auch! …«, sagte Chick, »und dann war ich überall, wo sie auch war …«

»Wie ging die Sache aus?«, fragte Colin.

»Äh …«, sagte Chick, »es war Zeit, ins Bett zu gehen …«

Colin verschluckte sich und musste einen halben Liter Burgunder trinken, bevor er sich wieder gefasst hatte.

»Ich gehe morgen mit ihr auf die Eisbahn«, sagte Chick. »Es ist Sonntag. Kommst du mit? Wir gehen morgens hin, damit weniger Leute da sind. Ich bin nicht so froh darüber«, merkte er an, »weil ich nicht gut im Eislaufen bin, aber wir können ja über Partre diskutieren.«

»Ich komme …«, versprach Colin. »Ich komme mit Nicolas. Vielleicht hat er ja noch mehr Nichten.«

3

Colin stieg aus der Metro und ging die Treppen hinauf. Er kam auf der falschen Seite heraus und umrundete die Station, um sich zu orientieren. Mit einem Taschentuch aus gelber Seide stellte er die Windrichtung fest, und die Farbe des Taschentuchs, vom Winde verweht, legte sich auf ein großes, unregelmäßig geformtes Gebäude, das auf diese Weise das Aussehen der Schwimm- und Eishalle Molitor annahm.

Ihm zugewandt befand sich das Winterschwimmbad. Er ging daran vorbei und betrat den versteinerten Organismus von der Seite her, indem er eine zweiflüglige Glastür mit Kupfergestänge durchschritt. Er hielt dem Kontrolleur seine Abo-Karte hin, die diesem mit Hilfe der beiden bereits hineingeknipsten Löcher zuzwinkerte. Der Kontrolleur reagierte mit verschwörerischem Lächeln, knipste aber trotzdem eine dritte Öffnung in den orangen Karton, und die Karte fühlte sich entwertet. Ohne Gewissensbisse steckte Colin sie zurück in sein Geldleder aus Russisch Beutel und nahm den Gummiteppichgang nach links, der zu den Reihen der Umkleidekabinen führte. Im Erdgeschoss war nichts mehr frei, also erklomm er die Betontreppe. Einige der Entgegenkommenden waren besonders groß, da auf vertikale Metallkufen montiert, und sie bemühten sich trotz der offenkundigen Behinderung um ein paar möglichst natürlich wirkende Luftsprünge. Ein Mann im weißen Pullover schloss ihm eine Kabine auf, kassierte das Trinkgeld (das er allerdings zum Essen brauchte, aber er wirkte auch wie ein Lügner) und ließ Colin in dieser Zelle allein, nachdem er in schlampiger Kreideschrift die Initialen des Kunden auf ein schwarzes Täfelchen gekritzelt hatte, das zu diesem Zweck in der Kabine angebracht war. Colin bemerkte, dass der Mann keinen Menschen-, sondern einen Taubenkopf hatte, und verstand nicht, warum er an der Eisbahn statt im Schwimmbad eingesetzt wurde.

Von der Eisbahn stieg ein ovales Raunen auf, das die Musik aus den ringsum verteilten Lautsprechern überlagerte. Das Gleiten der Eisläufer erreichte noch nicht dieselbe Lautstärke wie zu Stoßzeiten, dann nämlich lassen sich Analogien feststellen zum dröhnenden Marsch eines Regiments durch Schlamm, der auf Kopfsteinpflaster spritzt. Colin spähte nach Alise und Chick, aber sie waren nicht auf dem Eis zu sehen. Nicolas sollte sich etwas später zu ihm gesellen, er war in der Küche noch mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt.

Colin zog die Schnürsenkel seiner Schuhe auf, schlüpfte heraus und bemerkte, dass sich die Sohlen verabschiedet hatten. Er zog eine Rolle gummierten Taft aus der Tasche, aber davon war nicht mehr genug da. Also stellte er die Schuhe in eine kleine Lache, die sich unter der Zementbank gebildet hatte, und beträufelte sie mit Düngerkonzentrat, damit das Leder nachwuchs. Sodann zog er ein Paar breit gelb-lila gestreifte Wollstrümpfe über und stieg in seine Schlittschuhe; die Kufen waren vorn gespalten, was jeden Richtungswechsel erleichterte.

Er ging hinaus und wieder nach unten. Auf dem gelochten Gummiteppich, der die Betonflure zierte, knickten seine Füße etwas um. Als er sich gerade ins Geschehen stürzen wollte, musste er ganz schnell wieder auf die zwei Holzstufen am Rand springen, um nicht zu fallen; eine Läuferin hatte gerade einen großartigen Euler gemacht und dabei ein dickes Ei gelegt, das an Colins Füßen zerbrach.

Während einer der Aufwischknappen die verstreuten Schalensplitter aufsammelte, erblickte Colin Chick und Alise, die auf der anderen Seite die Eisbahn erreichten. Er machte ihnen ein Zeichen, das sie nicht sahen, und sauste ihnen entgegen, achtete aber nicht auf die Laufrichtung; dadurch entstand im Nu ein beträchtlicher Auffahrunfall aus protestierenden Läufern, und jede Sekunde kamen weitere Menschen hinzu, die verzweifelt mit Armen und Beinen, Schultern und dem ganzen Körper herumfuchtelten, bevor sie auf die zuerst Gestürzten krachten. Da die Sonne die Oberfläche hatte antauen lassen, platschte es unter dem Hau fen.

Nach kurzer Zeit lagen neun Zehntel der Eisläufer dort versammelt, und Chick und Alise hatten die ganze Bahn für sich allein, oder jedenfalls beinahe. Sie näherten sich der wimmelnden Masse, und Chick, der Colin an seinen gespaltenen Kufen erkannte, zog ihn mit einem beherzten Griff an den Fesseln aus dem Gewirr heraus. Sie gaben sich die Hand, Chick stellte Alise vor, und Colin gesellte sich auf ihre linke Seite, da Chick bereits zu ihrer Rechten war.

Am äußersten rechten Ende der Bahn glitten sie beiseite, um die Aufwischknappen vorbeizulassen, die sich, ohne Hoffnung, aus dem Berg der Opfer mehr als belanglose Fetzen von zerstückelten Einzelpersonen klauben zu können, mit Eisschiebern ausgestattet hatten, um die Hingestreckten in toto abzuräumen, und zum Entsorgungsloch rasten. Dabei sangen sie die Molitor-Hymne (1709 von Vaillant-Couturier komponiert), die wie folgt beginnt:

Meine Damen und Herren,

verlassen Sie nunmehr das Eis

(bitte sehr)

Damit wir zum Aufwischen

Schreiten können

Das Ganze wurde von Hupsalven akzentuiert, die selbst in den hartgesottensten Seelen schieres Entsetzen auslösten.

Wer von den Läufern noch stand, applaudierte der Aktion, und die Falltür schloss sich über dem Ganzen. Nach einem kurzen Gebet nahmen Chick, Alise und Colin ihre Kreisbahnen wieder auf.

Colin betrachtete Alise. Sie war, seltsamer Zufall, in einem weißen Sweatshirt und einem gelben Rock gekommen. An ihren weiß-gelben Schuhen trug sie Eishockeykufen. Zu Strumpf hosen aus blickdichter Seide hatte sie weiße Söckchen an, die über dem Rand der nicht sehr hohen Schuhe umgeschlagen waren, die weißen Baumwollschnürsenkel waren dreimal um den Knöchel geschlungen. Außerdem gehörten zu ihrer Aufmachung ein grellgrüner Seidenschal und eine außergewöhnlich dichte blonde Haarpracht, die ihr Gesicht mit einer straff gelockten Masse umgab. Sie schaute mit Hilfe zweier offener blauer Augen in die Welt, und ihr Körperumfang war von einer frischen Bronzehaut umhüllt. Sie verfügte über runde Arme und Waden, eine zarte Taille und eine so wohlgeformte Brust, dass man hätte sagen mögen: die reinste Fotografie.

Colin wandte den Kopf in die andere Richtung, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Er schaffte es und fragte Chick mit gesenktem Blick, ob die Aalpastete ohne Zwischenfall durchgegangen war.

»Hör bloß auf«, sagte Chick. »Ich war die ganze Nacht auf und habe in meinem Wasserhahn herumgeangelt, ob ich auch einen drin habe. Aber bei mir kommen nur Forellen raus.«

»Da kann Nicolas bestimmt was draus machen!«, versicherte Colin. »Sie haben«, das sagte er nunmehr an Alise gewandt, »einen außergewöhnlich begabten Onkel.«

»Er ist der Stolz der Familie«, sagte Alise. »Meine Mutter ist untröstlich, dass sie nur einen Mathematikdozenten geheiratet hat, wo ihr Bruder dermaßen im Leben reüssiert.«

»Ihr Vater ist Mathematikdozent?«

»Ja, er lehrt am Collège de France und ist Mitglied des Institruts oder irgend so was«, sagte Alise, »das ist doch jämmerlich, mit achtunddreißig Jahren. Er hätte sich ruhig mal anstrengen können. Ein Glück, dass wir Onkel Nicolas haben.«

»Sollte der nicht heute Morgen auch kommen?«, fragte Chick.

Ein köstlicher Duft stieg aus Alises hellen Haaren empor. Colin wich etwas zurück.

»Ich glaube, er wird sich verspäten. Er hatte heute Morgen irgendwas im Sinn … Und wenn ihr beide heute zum Essen mitkommt? Dann sehen wir, was es war!«

»Sehr gut«, sagte Chick, »aber wenn du glaubst, so einen Vorschlag nehme ich einfach so an, dann hast du eine falsche Sicht auf den Kosmos. In der Runde fehlt noch eine Vierte. Ich werde doch Alise nicht zu dir lassen, nachher verführst du sie mit den Harmonien deines Drinklaviers, und das kommt nicht infrage.«

»Oh!«, protestierte Colin. »Haben Sie das gehört?«

Die Antwort hörte er nicht, da ein Individuum von übermäßiger Größe, das seit fünf Minuten eine besondere Demonstration von Geschwindigkeit veranstaltete, ihm gerade, bis zum Anschlag nach vorn gebeugt, zwischen den Beinen hindurchfuhr und der dadurch entstehende Luftzug ihn mehrere Meter in die Luft hob. Colin packte die Brüstung der Empore im ersten Stock, machte einen Klimmzug und plumpste neben Chick und Alise zu Boden, da er ihn falsch herum ausgeführt hatte.

»Es müsste verboten werden, so schnell zu laufen!«, sagte Colin.

Dann bekreuzigte er sich, weil der Eisläufer gerade am anderen Ende der Bahn an der Restaurantwand zerschellt war, wo er kleben blieb wie eine Qualle aus Pappmaché, von einem grausamen Kind in Stücke gerupft.

Ein weiteres Mal walteten die Aufwischknappen ihres Amtes, und einer von ihnen rammte am Unfallort ein Eiskreuz ein. Während es schmolz, ließ der Diensthabende religiöse Platten laufen.

Dann kehrte alles zur normalen Ordnung zurück. Chick, Alise und Colin zogen weiter ihre Kreise.

4

»Da ist Nicolas!«, rief Alise.

»Und da Isis!«, sagte Chick.

Nicolas war gerade am Eingang aufgetaucht, Isis auf der Bahn. Ersterer begab sich in die oberen Stockwerke, Letztere zu Colin, Chick und Alise.

»Guten Tag, Isis«, sagte Colin. »Darf ich vorstellen: Alise. Alise, das ist Isis. Chick kennen Sie ja.«

Hände wurden geschüttelt, und Chick nutzte die Gelegenheit, um sich mit Alise zu verdrücken und Isis Colin zu überlassen. Kurz darauf fuhren auch sie los.

»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Isis.

Auch Colin freute sich. Isis hatte es in achtzehn Jahren Lebenszeit geschafft, sich mit kastanienbraunen Haaren, einem weißen Sweatshirt und einem gelben Rock auszurüsten, dazu einen neongrünen Schal, weiß-gelbe Schuhe und eine Sonnenbrille. Sie war hübsch. Aber Colin kannte ihre Eltern sehr gut.

»Nächste Woche gibt es bei uns einen Empfang«, sagte Isis. »Dupont hat Geburtstag.«

»Welcher Dupont?«

»Mein Pudel. Ich habe alle Freunde eingeladen. Kommen Sie auch? Um vier.«

»Ja«, sagte Colin, »sehr gern.«

»Bitten Sie Ihre Freunde doch auch dazu!«, sagte Isis.

»Alise und Chick?«

»Ja, die sind so nett. Also bis nächsten Sonntag!«

»Gehen Sie schon wieder?«, fragte Colin.

»Ja, ich bleibe nie lange. Ich bin schon seit zehn Uhr da, wissen Sie, also wirklich …«

»Es ist doch erst elf!«, sagte Colin.

»Ich war in der Cafeteria! Auf Wiedersehen!«

5

Colin hetzte durch die hellen Straßen. Ein trockener, scharfer Wind blies, und unter seinen Füßen zerplatzten knirschend kleine Eisplacken.

Die Leute verbargen ihr Kinn in allem, was sie finden konnten: ihrem Mantelkragen, ihrem Schal, ihrem Muff, und er sah sogar jemanden, der zu diesem Zweck einen Vogelkäfig aus Eisendraht benutzte, dessen Schnapptür auf seine Stirn drückte.

»Morgen gehe ich zu den Brette-Forcoppe«, dachte Colin.

Das waren Isis’ Eltern.

»Heute Abend esse ich mit Chick …«

»Ich gehe gleich nach Hause und mache mich für morgen fertig …«

Er tat einen großen Schritt, um einer bedrohlich gefrorenen Lache auszuweichen. Der Bürgersteig war voll davon. Die zugehörigen Gesichter konnte man nicht erkennen.

»Wenn ich zwanzig Schritte machen kann, ohne in eine Lache zu treten«, sagte Colin, »habe ich morgen keinen Pickel auf der Nase …«

»Egal«, beschloss er und trat mit vollem Gewicht in die neunte Lache hinein, »so ein Blödsinn. Da liegen gar keine Gesichter drunter. Und ich bekomme auch so keinen Pickel.« Er bückte sich, um eine rosa-blaue Orchidee zu pflücken, die der Frost aus dem Boden getrieben hatte.

Sie duftete wie Alises Haar.

»Morgen treffe ich Alise!«

Dieser Gedanke war tunlichst zu vermeiden. Alise gehörte aus vollem Recht zu Chick.

»Bestimmt finde ich morgen ein Mädchen!«

Aber seine Gedanken blieben bei Alise.

»Reden die wirklich über Jean-Sol Partre, wenn sie allein sind?«

Es war vielleicht auch besser, nicht darüber nachzudenken, was sie taten, wenn sie allein waren.

»Wie viele Artikel hat Jean-Sol Partre im letzten Jahr geschrieben?«

Bis er zu Hause war, würde er sie bestimmt nicht alle zählen können.

»Was Nicolas wohl für heute Abend macht?«

Recht bedacht, stellte die Ähnlichkeit zwischen Alise und Nicolas nichts Außergewöhnliches dar, sie waren ja miteinander verwandt. Aber das brachte ihn unversehens wieder auf das verbotene Thema.

»Was also, wie gesagt, macht Nicolas wohl für heute Abend?«

»Ich weiß nicht, was Nicolas, der Alise ähnlich sieht, für heute Abend macht.«

»Nicolas ist elf Jahre älter als Alise. Folglich ist er neunundzwanzig. Er ist ein großes Kochtalent. Er macht Fleischpastete.«

Colin näherte sich seinem Zuhause.

»Blumenläden haben nie Eisengitter. Kein Mensch will Blumen klauen.«

Das war ganz begreiflich. Er pflückte eine orange-graue Orchidee, die ihre zarte Blütenkrone hängen ließ. Sie leuchtete schillernd.

»Sie ist von derselben Farbe wie die Maus mit dem schwarzen Schnurrbart … Ich bin zu Hause angekommen.«

Colin stieg die wollüberzogene Steintreppe hoch und steckte einen kleinen Goldschlüssel in das Schloss der silbrigen Spiegelglastür.

»Kommt her, meine treuen Diener! Denn ich bin wieder da!«

Er warf seinen Regenmantel über einen Stuhl und ging zu Nicolas.

6

»Machen Sie, Nicolas, heute Abend Fleischpastete?«, erkundigte sich Colin.

»O Gott«, sagte Nicolas. »Monsieur haben mich nicht vorgewarnt. Ich hatte etwas anderes vor.«

»Warum, verflixtes Donnerlittchen«, sagte Colin, »reden Sie mich immer und ständig in der dritten Person an?«

»Falls mir Monsieur gestatten, das zu begründen«, sagte Nicolas, »ich finde, eine gewisse Vertraulichkeit ist nur zulässig, wenn man schon weiß, mit diesem Menschen kann man Pfähle stehlen, was ja keineswegs der Fall ist.«

»Sie sind hochmütig, Nicolas«, sagte Colin.

»Ich bin stolz auf meine Position«, sagte Nicolas, »und daraus werden Monsieur mir keinen Vorwurf machen wollen.«

»Freilich«, sagte Colin. »Aber ich hätte Sie gern etwas weniger distanziert.«

»Ich bringe Monsieur eine aufrichtige, wenn auch versteckte Zuneigung entgegen«, sagte Nicolas.

»Ich bin stolz und glücklich, das zu hören, Nicolas, und erwidere es gern. Also, was machen Sie heute Abend?«