17,99 €
Die Goldene Höhle erzählt die ans Herzen gehende Geschichte von drei jungen Menschen – zwei besten Freunden und ihrer gemeinsamen Freundin – während der letzten Jahre im neostalinistischen Rumänien Rumänien unter der Diktatur: Paul, Fane und Oksana träumen von Freiheit und Glück in einer Welt voller Nöte und Verbote. Der Philosophiestudent Paul ist ein begnadeter Schlagzeuger. Fane bewundert ihn, kauft sich eine elektrische Gitarre und ein altes Radio, das er als Verstärker benutzt. Er übt, bis sie zusammen in einem Theaterdepot zwischen Kostümen und Requisiten spielen können. Oksana arbeitet als Kellnerin. Sie bringt den Jungs zu essen: Eier, Schnitzel, manchmal Kuchen, den ihre Großmutter gebacken hat. Sie hängt einen Teppich mit einer Landschaft an die Wand und tauft das Depot "Goldene Höhle", es ist ihr Versteck, ein Schutz vor der kalten kommunistischen Nacht. Bis zu dem Tag, an dem Paul verschwindet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cătălin Partenie
Die Goldene Höhle
Roman
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Hoffmann und Campe
Für meinen Vater, Ştefan Partenie
Paul war mein bester Freund. Ich weiß nicht, wer ihn erschossen hat. Das habe ich Dir ja schon am Telefon gesagt. Ich weiß bloß, dass er vor dem Muzica erschossen wurde. Ein Bild habe ich nicht von ihm. Und auch keinerlei Aufnahmen davon, was wir gespielt haben.
Mama hat gesagt, ich soll Dir nichts verschweigen. Also mache ich es auch nicht.
Kennengelernt habe ich ihn im September 1988. Da war ich in meinem ersten Jahr an der Oberschule. Einmal habe ich die letzten zwei Stunden geschwänzt und bin ins Verlies. Das Verlies war ein feuchter, fensterloser Raum im Keller eines Jugendzentrums. Es war der Übungsraum einer Rockband, Die Knospen. Statt einer Tür waren da zwei schmiedeeiserne Tore, die sie mit einer Kette und einem eisernen Vorhängeschloss abschlossen. Die Knospen waren vier dürre Jungs mit kurzen Haaren. Damals waren wir ja alle dürr. Ich hatte sie im Jugendzentrum getroffen, nach ihrem ersten Gig, der, soweit ich weiß, auch ihr letzter war; sie waren die letzte Nummer einer abendlichen Kulturveranstaltung für Oberschüler. Sie waren älter als ich, gingen aber noch zur Schule. Gitarre, Bass, Orgel und Gesang. Eigentlich hatte ich sie an dem Tag gar nicht dort erwartet, doch als ich ins Verlies kam, standen die Tore offen.
»Hey, Fane, schön, dass du gekommen bist«, sagte Virgil. Er war der Frontmann.
Fane ist kurz für Ştefan. So hat man mich immer genannt. Wahrscheinlich würdest Du das »fein« aussprechen, aber das stimmt nicht. Es sind zwei Silben, die Betonung auf der ersten: Denk bei »Fa-« an Do-re-mi-fa und bei »-ne« an Nebraska.
»Wir nehmen bald zwei Songs im Sender auf, in einem echten Studio«, sagte Virgil. »Da bräuchten wir Hilfe. Interessiert?«
»Na klar«, sagte ich und bemühte mich um eine gleichgültige Miene.
»Hey, ich hab’s gewusst, dass wir auf dich zählen können. Super. Aber eins nach dem anderen. Bringen wir erst mal unsere Ausrüstung in den Flur. Aber nicht das Schlagzeug.«
Er sagte »Ausrüstung«, als wöge sie zwei Tonnen.
»Das Schlagzeug nicht?«
»Sag ich dir später. Gehn wir.«
Virgil hatte eine Jolana, eine weiße Gitarre aus der Tschechoslowakei. Toni, der Bassist, hatte einen rumänischen Bass, schwarz mit einem weißen Pickguard, Florian, der Keyboarder, eine kleine Orgel, eine Vermona. Das Schlagzeug war sehr alt, es hatte nur ein Becken und kein Standtom; keiner wusste, was das für eine Marke war. Der Drummer hieß Eugen. Sie hatten bloß einen Verstärker, einen Vermona, und ein großes Gehäuse Marke Eigenbau, mit nur einem Lautsprecher drin. Vermona war ein DDR-Produkt. Verstärker und Gehäuse gehörten Virgil.
Florian hatte seine Orgel mit einer gefransten Wolldecke abgedeckt; er hatte keinen Kasten dafür. Sie hatten für gar nichts einen Kasten. Das alles trugen wir in den Flur, dann rief Virgil ein Taxi. Verstärker, Gehäuse und die Kabel kamen in den Kofferraum, Orgel, Gitarre und Bass auf den Rücksitz. Virgil fuhr mit dem Taxi, Toni, Florian und ich nahmen den Trolleybus.
»Wo ist Eugen?«, fragte ich.
»Eugen ist gerade weg vom Verlies«, sagte Florian.
»Er ist aus der Band ausgestiegen?«
»Nein, wir haben ihn rausgeschmissen. Eigentlich Virgil. Kurz und knapp: Virgil kennt einen Tontechniker beim Funk, dem hat er eine Stange Marlboro gegeben, die wir einem bulgarischen Fernfahrer abgekauft haben, und dafür hat der Techniker uns für heute zwei Stunden im Studio für zwei Songs reserviert – Virgils Eigenkompositionen. Und vor drei Tagen hat uns Eugen gesagt, dass er da nicht kann, weil seine neue Freundin ihn in ein Landhaus eingeladen hat. Ralu, so nennt er sie. Das sag ich dir, ein echter Drummer opfert die Musik niemals für ein Mädchen.«
»Und was macht ihr jetzt?«
»Als Eugen uns gesagt hat, er kommt nicht, hat Virgil den Techniker angerufen, dass unser Drummer einen Autounfall hatte. ›Nichts Ernstes, bloß ein paar Kratzer, aber ihm ist immer noch ein bisschen schwummrig, kannst du uns vielleicht umbuchen?‹ Der Techniker sagte, das kann er nicht. Er hat gesagt, das Studio ist auf Monate ausgebucht. ›Auch gut‹, hat Virgil gesagt, ›wir kommen wie abgemacht, bis dahin ist unser Drummer bestimmt wieder okay.‹ Ich hatte Virgil gesagt, er soll ihm zwei Stangen geben, aber Virgil hat gemeint, eine reicht. Hätten wir ihm zwei gegeben, dann hätte er uns bestimmt umgebucht.«
»Und nun? Spielt ihr jetzt ohne Drummer?«
»Ein Wunder, Fane. Nie die Hoffnung aufgeben! Nach zwanzig Telefonaten hat uns der Freund eines Freundes mit einem Drummer kurzgeschlossen, der hat gesagt – gestern! –, er rettet uns den Arsch. Er hat ein eigenes Schlagzeug, und er kommt – jetzt! – zum Sender. Er kennt unsere Songs nicht, und wir wissen nicht, ob er gut ist. Und wenn er nichts taugt? Aber unser Virgil da, der lässt ja nicht mit sich reden. Jedenfalls ist der Drummer, gut oder schlecht, bereit, uns zu helfen. Wie viele Drummer würden das wohl machen, hm? Und natürlich gratis.«
»Was meinst du mit gratis?«
»Damit meine ich, dass wir kein Geld dafür kriegen.«
Als wir am Hintereingang des Funkhauses waren, wo das Personal und die Gäste reingehen, sahen wir einen Typen bei einem gelben Škoda 100 stehen, auf dessen Dachträger eine Basstrommel festgebunden war. Eine große blaue Basstrommel, mit Stricken festgezurrt.
»Das muss er sein«, sagte Florian.
Längere schwarze Haare, Mittelscheitel, lebhafte Augen. Das war Paul.
Der Vermona-Verstärker hatte vier Eingänge, und Virgil schloss alles an: seine Gitarre, den Bass und die Orgel. Der Techniker stellte ein Mikro vors Gehäuse, ging dann mit Virgil in eine Ecke und stellte ihn vor ein weiteres Mikro; Virgil sang. Dann sagte er zu Paul, er soll sein Schlagzeug in der entgegengesetzten Ecke aufbauen. Paul hatte ein Trowa-Set, ebenfalls eine DDR-Marke. Ein Tom, zwei Becken, Basstrommel, ein großes Standtom – ein echtes Schlagzeug! Es war in glitzerndem Blau gehalten. Als Paul so weit war, stellte der Techniker ein Mikro vor die Basstrommel und eins zwischen Snare und Hi-Hat. Dann ging er in den Regieraum, und ich durfte mit, was echt nett von ihm war, also, einen Roadie in den Regieraum einzuladen. Nett sah er eher nicht aus, aber nur, weil man seine Augen nicht sah, denn die versteckte er hinter einer grünlichen Brille, deren Gläser offenbar aus einer Siphonflasche waren.
Der Regieraum war kleiner, als ich dachte, dagegen war die Wand, die ihn vom Aufnahmeraum trennte, ziemlich groß, auch das Fenster darin war groß. Ein Mischpult mit jeder Menge vu-Metern, ein riesiges Spulentonband, ein paar Stühle. An der hinteren Wand waren Kleiderhaken, an denen ein paar Wollschals unterschiedlicher Länge und Farbe hingen. Neben dem Mischpult saß eine Frau mit langen weißen Haaren auf einem Hocker, sie strickte einen weißen Schal.
»Okay«, sagte der Techniker ins Mikro. »Jetzt mal ein Soundcheck. Stimme. Sag was. Sag one-two. Gut. Meistens nehmen wir die Stimme getrennt auf, nach den Instrumenten. Aber du bist gut, also machen wir alles auf einmal. Also. Orgel. Gut. Bass. Gut. Gitarre. Gut. Schlagzeug: Mach mal die Bassdrum. Gut. Die Hi-Hat. Gut. Jetzt die Snare. Einzelschläge. Stopp. Noch mal. Stopp. Verdammt.« An die alte Dame gewandt sagte er: »Georgiana, bitte den grünen.« Ganz langsam erhob sie sich von ihrem Hocker, ging zu den Haken, nahm einen grünen Schal und reichte ihn dem Techniker.
Mit dem Schal ging er in den Aufnahmeraum und schlang ihn um das Trommelfell von Pauls Snare, als wollte er es vor Kälte oder Zug schützen.
»Verzerrte Gitarren sind okay«, sagte er zu mir, als er wieder im Kontrollraum war, aber die Snare sollte gedämpft klingen.« Gab’s für Snaredrums eine Parteidirektive? Ich fragte nicht.
»Noch mal die Snare. Einzelschläge. Schon besser. Gut.« Dann öffnete Virgil die Tür zum Kontrollraum und sagte zu dem Techniker: »Eins noch. Unser Drummer, der ist wieder fit. War bloß ein Kratzer, an der Schulter, sieht man gar nicht, außer er zieht das Hemd aus. Er ist ein guter Drummer, im Ernst, aber könnten wir die beiden Songs erst mal ohne ihn spielen, also, bloß einmal? Ich sag ja nicht, dass er Gedächtnisschwund hat oder so, aber könnten wir sie einmal ohne ihn spielen?«
Das war eine merkwürdige Bitte, aber natürlich Virgils Strategie, dass Paul die Songs hörte, bevor er sie mit der übrigen Band spielte.
»Okay«, sagte der Techniker, »aber nur einmal, wir haben nicht viel Zeit.« Wie gesagt, er war ein Netter. Virgil ging ins Studio zurück, dann sagte der Techniker: »Jetzt Achtung. Der erste. Ohne Schlagzeug. Los!«
Beim Aufwachen heut Morgen
hab ich meine Gitarre gehört,
und meine Gitarre hat mir gesagt:
Reise, so viel du kannst.
Und genau das hab ich jetzt vor.
Es war ein schneller Rocksong mit hübschen Akkorden, und Virgils Gesang war auch nicht schlecht; sie hatten ihn auf ihrem Gig gespielt.
»Stopp«, sagte der Techniker. »Stopp. Ich weiß nicht recht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Virgil. Sie kommunizierten über Mikros und Lautsprecher.
»Ach, ich weiß nicht. Reise, so viel du kannst? Warum denn? Gefällt’s dir hier nicht? Diesen Text genehmigen die nie und nimmer.«
»Ich weiß, dass Texte genehmigt werden müssen«, sagte Virgil, »aber der hier ist doch echt albern. Der ist von mir.«
»Für dich ist er vielleicht albern. Hör mal, das hat gar keinen Sinn, das aufzunehmen. Das habe ich jetzt entschieden. Hey, war ’n Scherz. Jetzt mal der zweite. Ohne Schlagzeug? Okay. Jetzt Achtung. Los!«
Der jetzt war eine langsame, beknackte Ballade – eine der schlimmsten, die ich je gehört hatte; ich glaube, die hatten sie bei ihrem Gig nicht gespielt, das wüsste ich noch. Der Chor war unerträglich:
Es schneit, schneit, schneit auf die Leute.
Leute, Leute,
seid immer nett.
Singt, singt, dann kommen Blumen und Vögel.
Ich dachte, der Techniker würde sagen: »Stopp, stopp, das geht auch nicht, so einen Mist würden die nie senden«, doch er sagte: »Das kommt schon besser.« Er schob ein paar Regler auf seinem Mischpult, dann sagte er: »Okay, das machen wir jetzt. Alle Instrumente und Gesang. Konzentration, wir nehmen auf. Action!«
Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Mit dem Schlagzeug war es ein anderer Song. Paul machte einen Reggae-Beat, was alle überraschte, und das änderte alles. Jetzt war es keine beknackte Ballade mehr, jetzt war es ein durchgeknallter Reggae mit ironischem Text. Es schneit auf uns herab, auf die Leute, und es ist kalt, verdammt, und wenn wir nach Hause kommen, müssen wir den Mantel anlassen, weil es dort keine Heizung gibt, aber was können wir schon tun, vor der Parteizentrale demonstrieren? Nein, wir können nur singen, und wenn wir singen, erscheinen in unseren Wohnungen Blumen und Vögel. Virgil und die anderen kriegten die Augen nicht von Paul – Reggae? –, und Paul verzog keine Miene. Aber das war nicht alles. Seine Snare, die ja mit dem Wollschal umwickelt war, klang nun laut und hell, weil er Rimshots spielte, sowohl auf das Fell der Snare wie auch auf den Rand schlug. Ich dachte schon, der Techniker bittet Georgiana um einen zweiten Schal, aber nein.
Sie machten zwei Takes, das war’s dann schon. Der Techniker versicherte ihnen, es sei alles gut geworden, und scheuchte sie aus dem Studio, obwohl er offiziell zwei Stunden für sie reserviert hatte. Wir räumten alles nach draußen in einen Flur und von dort auf einen kleinen Parkplatz in der Nähe. Als dann alles beisammen war, fragte Virgil Paul, ob er bei ihrer Band mitmachen wolle. Paul dankte ihm und sagte, er sei zwar momentan in keiner Band, suche aber auch keine, da er andere Pläne habe, aber Virgil drängte weiter.
»Wir haben einen kostenfreien Proberaum, groß, hell, und unser letzter Gig war der Hammer, am Schluss haben wir ein psychedelisches Stück gespielt. Aber nicht bis zum Ende, weil der Leiter des Jugendzentrums uns den Stecker gezogen hat, aber so ist es eben. Bist du gut, ziehen sie dir den Stecker.«
Das stimmte. Sie beendeten ihren Gig mit einem Instrumentalstück, das immerzu weiterlief, dann zog jemand den Stecker ihres Verstärkers, wer das war, keine Ahnung. Inzwischen war Paul mit seinem Škoda auf den Parkplatz gefahren und lud sein Schlagzeug ein, was sorgfältig geschehen musste, da er keine Hüllen dafür hatte. Ich fragte ihn, ob er Hilfe brauche, was er verneinte, und da dachte ich, dass niemand anderes seine glitzerblauen Trommeln anfassen sollte. Er stellte die Basstrommel auf den Dachträger, band sie fest, und dann fragte ich ihn, wo er das Schlagzeug stehen habe, und er sagte, zu Hause, in einem Keller. Ob er Hilfe brauche, es in den Keller zu schaffen? Er verneinte es.
Dann sagte ich zu Virgil, Paul habe sein Schlagzeug in seiner Wohnung, die in einem Hochhaus im zehnten Stock sei, dass der Fahrstuhl kaputt sei und ich echt mitkommen müsse und ihm helfen. Das hatten sie nicht erwartet; ich war mit ihnen gekommen, und nun ging ich mit einem Drummer weg, der nicht in ihre Band wollte. Ich sagte »Bis bald dann« und stieg zu Paul in den Wagen. Er sagte nichts, dann fuhren wir ab.
»Sind sie schlecht?«, sagte ich nach einer Weile.
»Schlecht nicht. Die können sich bloß nicht vorstellen, dass sie gut sein könnten.«
»Du bist sehr gut. Und du hast ein hübsches Schlagzeug.«
»Danke. Ich hab’s einem Typen abgekauft, der in einem Restaurant gespielt hat und mit einer Schwedin verheiratet war – o băbăciune, wie er sie nannte, was nicht gerade ein schmeichelhafter Name für die eigene Frau ist, aber so war’s eben. Erst hatte er auf die Heiratsgenehmigung warten müssen. Als sie schließlich kam, stand darin, dass er die Erlaubnis hat, eine Ausländerin zu heiraten. Dann heirateten sie, und danach kehrte sie nach Schweden zurück, und er blieb in Rumänien und wartete auf seinen Pass. Heiraten ist das eine, Rumänien verlassen, um zu seiner Frau zu kommen, das andere. Dann kriegte er Panik. ›Und was ist, wenn sie an Altersschwäche stirbt, bevor ich meinen Pass kriege?‹ Als er ihn schließlich kriegte, verkaufte er innerhalb von zwei Wochen alles, was er hatte, und reiste ab. Das war mein Glück: So kurzfristig fand er keinen anderen Käufer für sein Schlagzeug, also nahm er schließlich an, was ich ihm anbieten konnte. Er sagte, er hofft, ich müsste mich nie zwischen einer Frau und einem Schlagzeug entscheiden.«
Paul wohnte bei seinen Eltern in einem vierstöckigen Wohnblock aus den fünfziger Jahren; im Keller hatten sie einen kleinen Abstellraum. Dort brachten wir sein Schlagzeug hin. Es war ein sauberer, netter Raum, ganz weiß gestrichen. Er dankte mir für meine Hilfe und sagte, darauf jetzt ein doppeltes Pferd, machte eine Schachtel Zigaretten auf und bot mir eine an. Auf der Packung waren zwei Pferde, eins weiß, eins schwarz. Es waren chinesische, eine Marke namens Double Horses. Ich rauchte eigentlich nicht, nur ab und zu und dann auf der Schultoilette und immer nur leichte Filterzigaretten namens Snagov, die richtig fies waren. Davor hatte ich nie eine chinesische Zigarette geraucht. Ich zog daran und erwartete einen ekligen Rauch, doch der Rauch war beruhigend und hatte ein holziges, süßliches Aroma, und das machte mir Mut, und so sagte ich: »Paul, weißt du, was ich richtig gern möchte? Dass du dein Schlagzeug aufbaust und ein bisschen spielst.«
Er sah mich an, als wollte er sagen: »Warum hast du so lange dafür gebraucht?« Er baute alles auf – die Basstrommel, die Fußmaschine, das Tom, das Standtom, die Snare, die Hi-Hat, die beiden Becken. Dann klopfte er kurz mit dem Daumen auf das Fell des Standtoms und zog mit einem kleinen Schlüssel die Schrauben an.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Ich stimme es. Man muss Trommeln stimmen.«
Das hatte ich nicht gewusst.
»Trommeln sind was Besonderes. Wenn du nur zögernd schlägst, merken sie es, und sie mögen es nicht. Damit meine ich nicht sachte spielen, sondern nicht mit vollem Einsatz. Die kannst du nämlich nicht täuschen. Die durchschauen dich sofort.«
Als er fertig gestimmt hatte, spielte er den Reggae-Beat, den er im Studio gespielt hatte, aber was ich jetzt hörte, war ganz anders als das, was ich in den Boxen im Regieraum gehört hatte. Jetzt vibrierte alles um mich herum – das Schlagzeug, die Luft, die Wände –, und es war fast so, als wären aus meinen Trommelfellen die eines Schlagzeugs geworden. Ich wusste nicht, dass ein Becken die Luft in verschiedenen Farben streichen kann oder dass die Stöcke zurückprallen, sodass man nicht mehr weiß, ob die Stöcke das Becken schlagen oder umgekehrt.
Einige meiner Freunde hatten eine Gitarre, eine Geige, sogar ein Klavier, aber von keinem hatte ich gehört, dass er ein Schlagzeug hat. Sein Trowa hatte, auch wenn es ein Schnäppchen war, bestimmt eine schöne Stange gekostet. Wie hatte er seine Eltern überredet, ihm das Geld zu geben?
Fast täglich ging ich zu Paul in den Keller. Wir wohnten im selben Viertel – Floreasca. Ich in einem Wohnblock, der wahrscheinlich älter als seiner war; auch wir hatten einen Keller, aber unser Abstellraum war so winzig, dass wir da bloß ein Plastikfass reinstellen konnten. Zu Fuß brauchte ich zu Paul rund zwanzig Minuten. Dabei kam ich an einem alten Busdepot vorbei, an einer Büste von Giuseppe Garibaldi, einer Fabrik namens Automatica (ein ehemaliges Ford-Werk, das die Kommis verstaatlicht hatten), überquerte eine Tramlinie und gelangte schließlich zu Pauls Wohnblock. Wäre das ein Film, dann würde ich vor diesem Block mit dem Kran hochgehen, damit Du den Lacul Floreasca siehst, einen ziemlich großen See. Am anderen Ufer war die Cartierul Primăverii – der Frühlingsbezirk –, wo Ceauşescu und die ganzen Bonzen in riesigen Villen aus der Zwischenkriegszeit wohnten. Als Kind trieb ich mich noch auf jener Seite des Sees herum, aber 1988 war dann alles voller Miliz, die einen nicht mehr durchließ. Das ş in Ceauşescu sollte wie das s in Sean ausgesprochen werden. Connery Sean.
Anfangs dachte ich, bei Paul im Keller seien lauter Jungen und Mädchen, vor allem Mädchen: Als Drummer mit einem eigenen Schlagzeug im Keller, gab es was Besseres? Aber jedes Mal war Paul allein. Er konnte dort Schlagzeug spielen, weil in der Wohnung darüber ein alter Mann wohnte, der halb taub war – Sir Michael. Er hieß Mihailovici, aber in der ganzen Nachbarschaft hieß er Sir Michael. Auf den Spitznamen war Pauls Vater gekommen, weil der mit seinem Hund immer auf der falschen Straßenseite Gassi ging.
Paul war vier Jahre älter als ich. Er war im ersten Jahr an der Philosophischen Fakultät, ich im ersten der Oberschule. Vier Jahre sind eine Menge, wenn man jung ist, und ich hatte Angst, dass er sich nicht mit mir abgeben wollte, doch er tat es. Wir redeten, rauchten Double Horses, und dann spielte er Schlagzeug. Er spielte gern, und ich hörte ihm gern zu. Er schlug gern einen Offbeat oder machte den Downbeat gar nicht, was mich schockierte, und der Schock hielt sich wie der Nachgeschmack einer Double Horse. Ich versuchte vorauszuahnen, was er tun würde, und das war ganz aufregend. Seine Stöcke waren wie zwei Buge, die ins Unbekannte vorstießen.
An einem Abend sagte er, Sir Michael habe Besuch und habe ihn gebeten, leise zu sein.
»So ist es abgemacht, wenn er mich bittet, nicht zu spielen, spiele ich nicht. Vor Jahren hat sein Arzt ihn gedrängt, das Rauchen zu stecken, das hat er getan, aber er hatte noch einen Riesenvorrat Double Horses. Er ist meine Quelle.«
An dem Abend redeten wir viel, und er erzählte mir von seinem Geheimplan – dem Plan, der ihn zum Prinzen machen würde.
»Im Sommer habe ich in einer Band in einem Restaurant gespielt. Die brauchten für ein paar Wochen einen Drummer. Drei Sets pro Abend, nichts Besonderes. Na ja, und gegen Ende meiner Zeit gingen sie irgendwo vorspielen, um ihre Künstlerausweise zu verlängern, und was glaubst du, was passiert ist? Sie haben mich mitgenommen. Also habe ich jetzt selbst einen. Mein erster. In fünf Jahren muss ich ihn verlängern. Das ist dann dreiundneunzig.«
»Du bist Philosophiestudent und freiberuflicher Künstler?«
»Dass ich studiere, habe ich den alten Schlagersäcken im Komitee nicht gesagt. Ich habe ihnen erzählt, dass ich die Oberschule abgeschlossen habe und Schlagzeuger werden will. Wir haben bloß einen Song gespielt, das war’s. Wir haben ›Măicuţa mea‹ gespielt, und sie haben gesagt: ›Danke, das reicht.‹«
»›Măicuţa mea‹?«
»Ja. ›Meine liebe kleine Mama‹ von Temistocle Popa. ›Ich danke dir, meine liebe Mutter …‹ Na komm, das kennt doch jeder.«
»Kenn ich. Schnulziger geht’s ja wohl nicht.«
»Das kommt bei diesem Vorspielen immer gut an, was Schnulziges zu spielen, weil in dem Komitee immer so alte Schlagersänger hocken.«
Er holte sein Portemonnaie raus und zeigte mir seinen Künstlerausweis, ausgegeben vom Rat für Kultur und Sozialistische Bildung.
»Mit diesem Ausweis«, sagte er, »werde ich wie ein Prinz leben und zur Arbeiterklasse gehören.«
»Wer soll dich denn einstellen?«
»Mit diesem Ausweis, Fane, kann mich ganz offiziell ein Restaurant anstellen, als Schlagzeuger ihrer Band.«
»Ein Prinz, der in einem Restaurant spielt? Du meinst, während des Sommers?«
»Nein, immer.«
»Gut, aber du studierst doch Philosophie. Nach deinem Abschluss bist du dann Philosophielehrer. Oder nicht?«