Die Grimmakademie - Sophia Veronica Hjejle - E-Book

Die Grimmakademie E-Book

Sophia Veronica Hjejle

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Beschreibung

Was, wenn Märchen Wirklichkeit wären? Was, wenn es eine Akademie gäbe, an der Märchenwesen ausgebildet werden, um dafür sorgen zu können, dass die Märchen nie in Vergessenheit geraten? Die erzählten Geschichten, die es vor Kino, Fernsehen und Streamingdiensten gab? Die noch eine richtige Seele hatten? Und was, wenn du eines dieser Wesen wärst? Leonora und Fred sind fassungslos, als sie nach ihrem Schulabschluss erfahren, dass sie von uralten Wesen aus den Märchen der berühmten Gebrüder Grimm abstammen und nun eine Akademie besuchen müssen, auf der sie alles über ihre Herkunft und ihre Aufgaben in der verzauberten Märchenwelt lernen sollen. Zum Glück haben die beiden besten Freunde einander. Und dann lernt Leonora noch den unverschämt gutaussehenden Casper kennen, Freds neuen Mitbewohner, der Leonoras Herz zum Klopfen bringt, obwohl er sie ständig auf Abstand hält. Freundschaft, Liebe, jede Menge Magie und märchenhafter Zauber! Eine mitreißende Geschichte, welche die Leser und Leserinnen in eine vertraute und doch ganz neue Welt entführt.

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Seitenzahl: 849

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meinen Papa, der mir die Begeisterung und Liebe für Welten voller Magie und Fantasie geschenkt hat.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Kapitel 1

Die Luft des Saals, in dem die Abschlussprüfung stattfand, war warm und stickig. Die letzten Tage waren für unsere deutschen Verhältnisse außergewöhnlich sonnig und trocken gewesen, sodass selbst die gekippten Fenster keine Erleichterung brachten und die Luft im Raum schwer war. Trotzdem versuchte ich, möglichst tief zu atmen und dabei den leichten Geruch nach Schweiß zu ignorieren, der zu gleichen Anteilen von mir selbst wie von meinen Klassenkameraden um mich ausging. Ich würde mich gleich konzentrieren müssen, ob die Luft nun gut war oder nicht.

Die Prüferin teilte uns die Klausurbögen aus. Sie hatte ein strenges Gesicht und lächelte nur verkniffen, als sie meinen Prüfungsbogen vor mir ablegte und ich ihr höflich dankte. Ich starrte auf die noch zugedeckten Blätter vor mir und versuchte meine Nervosität in den Griff zu bekommen.

»Es ist gut, wenn du nervös bist«, hatte mein Papa vorhin gesagt, als er mich an der Schule abgesetzt und mir Glück gewünscht hatte. »Man muss ein wenig aufgeregt sein, um seine Bestleistung erbringen zu können.«

Wahrscheinlich hatte er recht, trotzdem wünschte ich mir, dass der Knoten in meinem Bauch sich etwas lockern würde.

Ich hob den Blick und sah zu dem Tisch drei Plätze weiter, an dem Fred gerade seine Stifte zurechtlegte. Fred oder Freddie, eigentlich Frederick, war mein bester Freund, so wie auch unsere Mütter beste Freundinnen gewesen waren. Sie hatten zusammen studiert und nach dem Tod meiner Mutter - ich war noch zu klein, um mich an sie erinnern zu können - hatte Freddies Mutter meinem Papa viel geholfen und ihn unterstützt. Obwohl Papa und ich mehr als nur gut zu zweit klarkamen, war es schön, ab und an eine Frau als weitere Ansprechpartnerin in meinem Leben zu haben. So war ich, wenn Papa arbeiten musste, oft bei ihr zu Hause gewesen und hatte daher auch viel Zeit mit ihrem Sohn Fred verbracht. Freddie war, genau wie ich, 18 Jahre alt, doch er hatte die Volljährigkeit ein halbes Jahr vor mir erreicht, während ich meinen Geburtstag erst vor wenigen Tagen gefeiert hatte. Er hätte schon früher eingeschult werden können, doch als unsere Eltern merkten, wie gut wir uns verstanden, entschieden sie sich dafür, uns in dieselbe Klasse zu stecken. Seitdem waren Freddie und ich unzertrennlich, gingen zusammen durch dick und dünn und vertrauten uns alles an.

Freddie schien meinen Blick zu spüren, denn er sah auf und zwinkerte mir aufmunternd zu. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Fred machte mit den Händen erst eine hebende, dann eine senkende Bewegung und atmete dabei übertrieben tief ein und wieder aus. Dann deutete er auffordernd auf mich. Ich nickte, schloss die Augen und machte es ihm nach. Es half. Mein Herzschlag wurde ruhiger und der Knoten in meinem Bauch schien sich zumindest ein Stück weit zu lockern. Ich öffnete die Augen und lächelte Fred, der mich beobachtet hatte, dankbar an. Er zwinkerte erneut, dann formte er mit den Lippen die Worte »Du schaffst das!«. Ich nickte, wandte mich wieder meinen Papieren zu und starrte sie weiter nieder.

Prüfungen machten mich immer nervös. Ich konnte noch so gut gelernt haben und vorbereitet sein – wenn es dann so weit war, hatte ich das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Fred war in diesem Bereich ganz anders. Er strotzte geradezu vor Zuversicht und Gelassenheit und ließ sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen. Ich beneidete ihn für diese Eigenschaft.

Trotz meiner hohen Nervosität waren die ersten Prüfungen alle sehr gut gelaufen. Sobald ich die Klausurbögen hatte aufschlagen dürfen, hatte sich mein Magen beruhigt und ich hatte mich voll und ganz auf die Inhalte konzentrieren können. Die heutige Deutschprüfung war die letzte, bevor wir endlich frei waren. Normalerweise fand diese große Prüfung gleich zu Beginn statt, doch unsere Prüfungsfragen waren einen Tag vor dem ursprünglichen Prüfungstermin gestohlen worden, weshalb die Klausur aus Fairnessgründen neu erstellt und an das Ende der Prüfungsphase gelegt worden war. Nach dem heutigen Tag dauerte es nur noch wenige Wochen und wir würden unsere Noten und Zeugnisse erhalten. Danach war es endlich Zeit, die Schule hinter sich zu lassen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

»Bitte schreiben Sie nun Ihre Namen, Ihre Klasse und das heutige Datum auf die Bögen vor Ihnen. Und achten Sie dabei auf eine leserliche Handschrift!« Die Prüferin war wieder vorne an ihrem Pult angekommen und beobachtete nun scharfäugig, wie alle nach ihren Stiften griffen und ihre Daten auf das oberste Blatt schrieben.

Leonora Bocaj, Klasse: 13a, 16. Mai 2024

»He! Sie da!« Erschrocken blickte ich auf, doch die Prüferin sah nicht zu mir, sondern zu einem Jungen aus meiner Parallelklasse vier Reihen vor mir. »Die Fragen werden noch nicht gelesen! Sollte ich Sie – oder jemand anderen – nochmals dabei erwischen, wie Sie vorzeitig die Prüfungsaufgaben lesen, werden Sie von der Prüfung ausgeschlossen und sie wird mit ‚nicht bestanden‘ bewertet!«, bellte sie und der Junge klappte eilig und blass seinen offenen Prüfungsbogen wieder zu.

Erneut sah ich zu Fred, der mir zugrinste und die Augen verdrehte. Er musste nichts sagen, da ich sowieso wusste, was er dachte: Wie konnte man nur so dumm sein! Schließlich war es nicht unser erster, sondern unser letzter Prüfungstag und man sollte meinen, dass alle mittlerweile wussten, wie Prüfungen abliefen und an welche Regeln man sich zu halten hatte. Ich musste mir ein nervöses Lachen verkneifen.

»Machen Sie sich nun bitte bereit«, sagte die Prüferin und blickte auf die Uhr. »Sie haben fünf Stunden Zeit. Wenn Sie auf die Toilette müssen, bringen Sie bitte Ihre Prüfungsunterlagen gesammelt zu mir an das Pult, sodass ich mir notieren kann, wie oft und wie lange Sie weg waren.« Sie erhob einen Zeigefinger. »Die Prüfung startet jetzt! Viel Erfolg!«

Ihren Worten folgte ein einvernehmliches lautes Rascheln, als alle Prüflinge im Raum ihre Klausurbögen gleichzeitig öffneten und mit dem Lesen der ersten Aufgabe begannen.

Ich atmete noch einmal mit geschlossenen Augen tief durch, schickte, wie in den letzten Prüfungen auch, ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass auch diese letzte Prüfung gut verlaufen möge, und senkte dann meinen Blick auf den Fragebogen.

Lesen Sie den vorliegenden Text eingehend durch und schreiben Sie dazu eine Analyse und Interpretation. Vergleichen Sie den Text mit einem in Ihren Augen passenden ähnlichen Schriftwerk. Begründen Sie Ihre Wahl.

Das war eine klassische Prüfungsfrage und ich hatte mit einer solchen Aufgabe gerechnet. Interessant wurde nun, welchen Text ich bearbeiten musste. Ich blätterte die Seite um und entdeckte den genannten Text. Sobald ich die Überschrift gelesen hatte, breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf meinem Gesicht aus: Rotkäppchen.

Schon als kleines Kind hatte ich Märchen geliebt. Mein Vater hatte mir jahrelang abends vorlesen müssen, bevor ich ins Bett ging. Wir hatten alle möglichen Märchen und Geschichtenbücher gehabt, darunter Märchen wie »Die Prinzessin auf der Erbse« und »Die kleine Meerjungfrau« von Hans Christian Andersen. Doch meine liebsten Märchen waren schon immer die der Gebrüder Grimm gewesen. Wir hatten ein großes, altes Märchenbuch, in dem viele ihrer Werke gesammelt waren. Es hatte meinem Papa zufolge meinem Ururgroßvater mütterlicherseits gehört und war durch die Generationen weitervererbt worden. Meine Mutter hatte es geliebt und mein Vater hatte ihr Andenken unter anderem damit bewahrt, mir ebenfalls die Liebe zu diesem Buch zu lehren. Wenn mein Papa es vorsichtig von seinem Platz im Regal genommen, sich neben mich auf mein Bett gesetzt und es aufgeschlagen hatte, hatte es immer etwas staubig gerochen. Die Seiten waren teils schon brüchig vom häufigen Lesen und hatten leise geknistert, wenn Papa sie behutsam umblätterte. Ich hatte mir dann immer vorgestellt, dass die Bücher mir ihre Geschichten zuflüsterten, dass sie mich lockten und mich dazu verführen wollten, in ihre Seiten und die zauberhaften Welten, die sie bargen, einzutauchen. Mit zunehmender Pubertät hatte sich mein Leseinteresse erweitert und war zu modernen Fantasy-Klassikern übergegangen. Doch Märchen hatten immer einen besonderen Platz in meinem Herzen gehabt, weil sie mein erster Zugang zu Büchern gewesen waren und ich sie mit der gemeinsam verbrachten Zeit mit meinem Vater verband.

Die meisten Grimm’schen Märchen waren mir also vertraut, viele konnte ich beinahe im Schlaf aufsagen, darunter auch Rotkäppchen. Das hier würde einfacher werden als gedacht. Zuversichtlich überflog ich den vertrauten Text. Er war anders als die Version in der alten Ausgabe meines Papas, eine überarbeitete Variante der Geschichte. Die Gebrüder Grimm hatten vor über 150 Jahren gelebt, ihre Geschichten waren weltberühmt, doch die Originalausgaben waren mittlerweile so oft revidiert, modernisiert und gekürzt worden, dass man nur noch selten die wortwörtlichen Märchen zu sehen bekam. Trotzdem war der Inhalt natürlich immer derselbe geblieben, so auch hier:

Rotkäppchen, ein junges Mädchen mit einer roten Kappe, wird von ihrer Mutter zu ihrer kranken Großmutter geschickt. Sie soll ihr Wein und Kuchen bringen. Auf dem Weg zum Haus ihrer Großmutter, der durch einen Wald führt, begegnet Rotkäppchen dem bösen Wolf, der sie nach ihrem Ziel ausfragt. Während das Mädchen seiner Großmutter noch Blumen pflückt, geht der Wolf zum Haus der Großmutter und verschlingt diese lebendig. Als Rotkäppchen kurz darauf bei dem Haus ankommt, erkennt sie den Wolf nicht, da er sich als ihre Großmutter verkleidet hat, und wird ebenfalls von ihm gefressen. Ein Jäger, der zur selben Zeit im Wald unterwegs ist, hört die Schreie von Rotkäppchen und der Großmutter aus dem Bauch des Wolfes und während dieser satt und zufrieden tief und fest schläft, befreit der Jäger die beiden. Gemeinsam füllen sie den Bauch des Wolfes nun mit Steinen und als er aufwacht, kann er aufgrund des schweren Gewichts der Steine nicht fliehen und stirbt schließlich.

Ich nickte zufrieden, nachdem ich das Märchen zu Ende gelesen hatte. Die Wortwahl war etwas anders, als ich sie aus unserem Märchenbuch kannte, doch der Verlauf der Handlung war derselbe. Ich markierte mir einige wichtige Passagen mit einem gelben Marker, dann begann ich mit der Analyse der Sprache. Ich arbeitete besondere Stilmittel und sprachliche Besonderheiten heraus und gab zu diesen die jeweils beispielhafte Textstelle an. Nach zwei Seiten und etwa eineinhalb Stunden der Prüfungszeit begann ich mich der Inhaltsangabe zuzuwenden.

Ich teilte das Märchen in mehrere Textabschnitte ein und fasste diese jeweils kurz und knapp zusammen. Hier war es wichtig, noch keinerlei Interpretation zu geben, sondern schlicht den Inhalt in eigenen Worten und gekürzt aufzugreifen. Inhaltsangaben waren daher eine relativ langweilige Arbeit und ich freute mich, als ich endlich den letzten Textabschnitt erreichte und damit diesen Teil der Prüfung abrundete.

Rotkäppchen und die Großmutter werden schließlich von einem Jäger aus dem Bauch des Wolfes befreit und dieser wird stattdessen mit Steinen gefüllt, woraufhin er letzten Endes stirbt und somit besiegt ist.

Ich setzte den Stift ab und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Vielleicht sollte ich jetzt eine kurze Pause einlegen, bevor ich mit der Interpretation begann. Ich war gut in der Zeit und wollte für die Interpretation einen klaren Kopf haben, da diese einen wichtigen Teil der Prüfungsbenotung ausmachte.

Ich griff nach meiner Wasserflasche und einem Schokoriegel, den ich mir als Nervennahrung mitgenommen hatte, trank einige große Schlucke und faltete das Papier des Riegels möglichst leise auf. Die Prüferin warf mir einen scharfen Blick zu, doch essen und trinken war während der Prüfungen erlaubt und so biss ich genüsslich von dem Riegel ab. Die Zuckerzufuhr tat mir gut und das Wasser klärte meinen Kopf. Ich schloss die Flasche und nahm wieder meinen Stift zur Hand, beschloss aber, meine Inhaltsangabe noch einmal durchzulesen, bevor ich zur Interpretation des Märchens überging. Ich nickte mir selbst zustimmend zu, während ich meine eigenen Zeilen überflog und gelegentlich einzelne Wörter ergänzte oder änderte, sodass sich der Text flüssiger lesen ließ. An dem letzten Absatz blieb ich hängen.

Ein Jäger kommt, um Rotkäppchen und die Großmutter zu befreien, doch der Wolf liegt bereits auf der Lauer und frisst auch den Jäger. Satt verlässt er das Haus der Großmutter und treibt weiter sein Unwesen im Wald.

Ich starrte auf die Worte. Ich war sicher, dass ich noch vor wenigen Minuten etwas ganz anderes auf das Blatt geschrieben hatte. Ich kannte doch dieses Märchen in- und auswendig, ich wusste, wie es endete. Es ergab überhaupt keinen Sinn, dass ich ein so völlig anderes Ende aufgeschrieben hatte. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte irritiert den Kopf. Ich musste doch von den letzten Prüfungen angestrengter gewesen sein, als ich gedacht hatte. Anders konnte ich mir diesen fatalen inhaltlichen Fehler nicht erklären. Ich nahm erneut einen Schluck Wasser und setzte dann meinen Stift an. Ich strich die beiden letzten Sätze sorgfältig durch, atmete tief ein und konzentrierte mich.

Das Mädchen und seine Großmutter werden von einem Jäger aus dem Magen des bösen Wolfes befreit und dieser wird stattdessen mit Steinen gefüllt, woraufhin der Wolf schließlich stirbt.

Ich starrte den Satz an, las ihn mehrfach durch und versicherte mich, dass ich ihn dieses Mal richtig geschrieben hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass ich mich nun dringend der Interpretation widmen sollte, da diese immer viel Zeit in Anspruch nahm und ich auch den abschließenden Vergleich noch vor mir hatte. Ich wollte gerade mein Blatt wenden, um auf der nächsten Seite mit der Interpretation zu beginnen, da stach mir mein letzter Absatz der Inhaltsangabe erneut ins Auge. Die beiden Sätze von zuvor waren weiterhin durchgestrichen, doch darunter stand in meiner eigenen, schrägen Handschrift:

Ein Jäger kommt, um das Mädchen und seine Großmutter zu befreien, doch der böse Wolf liegt bereits bereit und verschlingt auch den Jäger. Zufrieden verlässt er das Haus der Großmutter und treibt weiter sein Unwesen im Wald.

Ich blinzelte mehrfach, dann kniff ich mir in den Oberschenkel, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. Was war denn hier los?! Das erste Mal konnte – wenn auch unwahrscheinlich – noch eine Unkonzentriertheit meinerseits gewesen sein, doch ich war mir sicher, dass ich diesen letzten Absatz vor wenigen Sekunden anders geschrieben hatte. Wurde ich jetzt verrückt?

Minuten vergingen, während ich gleichermaßen fassungs- und ratlos auf meine Papiere starrte und nicht wusste, was ich nun tun sollte. Schließlich zog ich die Aufgabenstellung zu mir heran und blätterte zu der Fassung von Rotkäppchen, die den Prüfungsunterlagen beigelegt war. Ich überflog das Märchen erneut, alles schien wie vorher, inhaltlich vertraut und nur an einzelnen Stellen in Bezug auf die Wortwahl modernisiert, bis ich das Ende des Märchens erreichte.

Nachdem der Wolf auch Rotkäppchen verschlungen hatte, schickte er sich an, den Jäger, der im Wald unterwegs war und die Schreie der Großmutter und Rotkäppchens aus dem Bauch des Wolfes gehört hatte, in einer hinterhältigen Falle zu erwarten. Der Jäger, ahnungslos, betrat das Häuschen der Großmutter, bereit, das Mädchen und die alte Dame zu retten. Aber als er die Tür öffnete, überfiel ihn der Wolf sofort. Der Jäger kämpfte tapfer, aber der Wolf erwies sich als stärker und geschickter. Schließlich gelang es dem Wolf, den Jäger zu überwältigen und ihn zu verschlingen. Der Wolf, der nun seinen Sieg genoss, heulte laut und legte sich dann satt und zufrieden schlafen, denn er wollte sich von der festlichen Mahlzeit erholen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann treibt er noch immer sein Unwesen im Wald.

Ich traute meinen Augen nicht und rieb sie immer wieder, in der Hoffnung, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte. Zum einen hatte ich noch nie eine solche Version von Rotkäppchen gehört und ich war mir ziemlich sicher, dass es diese Form des Märchens nicht öffentlich gab. Zum anderen hätte ich schwören können, dass die Geschichte noch ganz anders geendet hatte, als ich sie vorhin, zu Beginn der Prüfung, gelesen hatte.

Aber das kann nicht sein, dachte ich und schüttelte wie in einer Diskussion mit mir selbst immer wieder den Kopf. Texte änderten sich doch nicht einfach so. Das ist unmöglich. Ich musste in den letzten Wochen einfach zu wenig geschlafen haben. Die Nerven konnten die merkwürdigsten Dinge geschehen lassen, wenn sie strapaziert waren.

»Wir sind nun bei der Halbzeit der Prüfung angekommen. Sie haben noch zweieinhalb Stunden, um den Rest Ihrer Aufgaben zu bearbeiten.« Die Prüferin deutete auf die große Uhr an der Wand hinter ihr, deren Zeiger unaufhaltsam tickten. »Bitte bleiben Sie sitzen, bis alle ihre Prüfungen beendet haben. Eine verfrühte Abgabe ist in dieser Prüfung nicht gestattet.«

Ich las das Ende des Märchens noch einmal und da es sich nicht erneut geändert hatte, sondern weiterhin damit endete, dass der Wolf auch den Jäger fraß, entschied ich, dass ich keine Zeit hatte, mich und meine Wahrnehmung weiter zu hinterfragen. Stattdessen akzeptierte ich widerwillig das düstere Ende des Märchens und ließ auch meine Inhaltsangabe so stehen, wie sie war.

Es fiel mir schwer, mich auf die Interpretation zu konzentrieren, und ich war mir bewusst, dass ich nicht meine Bestleistung ablieferte. Trotzdem schaffte ich es, einige Seiten darüber zu schreiben, dass in Märchen wie Rotkäppchen oft versteckte Botschaften für ihre Zielpersonen, hier Kinder, zu finden sind. In Rotkäppchen werden die Grundwarnungen vermittelt, welche Eltern ihren Kindern oft mitgeben: Weiche nicht von deinem vertrauten Weg ab und vertraue niemandem, den du nicht gut kennst. Auch werden die Werte der Familie und Nächstenliebe hervorgehoben, da Rotkäppchen sich ja um ihre kranke Großmutter kümmern soll.

Da ich weiterhin nicht sicher war, was hier eigentlich vor sich ging, und gleichzeitig befürchtete und hoffte, dass mir mein Gehirn einen Streich gespielt hatte – da das zumindest alles erklärt hätte – vermied ich es, auf das ungewöhnliche Ende des Märchens einzugehen. Stattdessen konzentrierte ich mich auch in dem abschließenden Vergleich auf die Passagen der Geschichte, die ich kannte, und verglich sie mit dem Märchen der sieben Geißlein, das ebenfalls eine der Geschichten aus der alten Grimmsammlung meines Vaters war. Der Vergleich lag nahe, da auch in dieser Geschichte der böse Wolf eine tragende Rolle spielte und die Werte und Botschaften des Märchens ähnlich lauteten, vor allem in Bezug auf die Warnung vor Fremden.

Als ich meinen Vergleich beendet und einen abschließenden Absatz verfasst hatte, las ich die letzten Seiten noch einmal durch und stellte erleichtert fest, dass dieser Text genauso lautete, wie ich ihn geschrieben hatte. Nichts hatte sich daran verändert. Vielleicht kam ich langsam wieder zu Sinnen.

Ich warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass mir nur noch wenige Minuten bis zum Prüfungsende blieben. Schnell schlug ich die Seiten meines Prüfungsbogens um und starrte nun wieder auf das Ende meiner Inhaltsangabe. Kurz entschlossen nahm ich meinen Stift und schrieb in großen, deutlichen Buchstaben unten auf das Blatt: Der Wolf stirbt.

Ich wagte es nicht, wegzusehen, ich traute mich nicht einmal, zu blinzeln, sondern starrte mit möglichst weit aufgerissenen Augen konzentriert auf meine eigene, saubere Handschrift.

Die Tinte verblasste. Es war, als ob sich meine Sicht verschleiern würde, doch es geschah nur an der einen Stelle. Nur der letzte Satz verschwamm vor meinen Augen, während alles andere klar blieb. Ich widerstand weiter dem Drang zu blinzeln und beobachtete fassungslos, wie die Schrift wieder klarer wurde und nun in meiner Handschrift auf dem Blatt stand: Der Wolf lebt.

Während ich erneut fieberhaft zu überlegen begann, was hier eigentlich los war und ob ich vielleicht einen Hirntumor hatte, der meine Sicht und Wahrnehmung beeinflusste, räusperte sich die Prüferin vorne an ihrem Pult.

»Ich bitte Sie nun alle, Ihre letzten Sätze zu Ende zu schreiben und die Stifte dann wegzulegen.«

Ich schüttelte immer wieder den Kopf, wusste aber, dass ich nichts tun konnte. Ich hatte es nun mehrfach versucht und jedes Mal war das Ende der Geschichte geändert worden. Obwohl ich vollkommen verwirrt war und zugegebenerweise auch zunehmend Angst um meinen Kopf hatte, strich ich den letzten Satz durch, der keinen Zusammenhang zu meiner fertigen Inhaltsangabe hatte, und legte meinen Stift dann beiseite. Mit leicht zitternden Händen sammelte ich die Papiere zusammen und legte sie ordentlich in den Prüfungsbogen, auf dem mein Name stand.

Die Prüferin begann, die Klausuren einzusammeln und sie in ihren Armen fein säuberlich zu stapeln. Dabei ermahnte sie uns streng, auf unseren Plätzen sitzen zu bleiben und uns nicht zu unterhalten, bis sie alle Prüfungen entgegengenommen hatte.

»Und?«, fragte Fred mich zehn Minuten später, als er mich auf dem Gang vor dem Prüfungssaal einholte. »Wie lief es?«

Ich zuckte nur mit den Schultern, immer noch zu sehr von den merkwürdigen Erlebnissen verunsichert. Konnte ich Freddie sagen, was ich glaubte, gesehen zu haben? Würde er mich für verrückt halten? Ich konnte mich kaum an etwas erinnern, das ich nicht mit Fred geteilt, oder zu dem ich ihn nicht um seine Meinung gefragt hatte. Er kannte beinahe all meine Geheimnisse, meine Sorgen und Macken, all die kleinen Verrücktheiten, die mich ausmachten, und er hatte mich noch nie dafür verurteilt. Aber das heute? Ich selbst war ja nicht einmal sicher, was genau passiert war, geschweige denn, wie ich es in Worte fassen sollte.

»Sag bloß, es lief nicht großartig! Das muss doch die perfekte Prüfungsaufgabe für dich gewesen sein!«

»War es auch.« Ich nickte zögernd. »Es war nur … Also ist dir an dem Märchen nichts Merkwürdiges aufgefallen?«

Wir gingen den Gang in Richtung der Eingangshalle entlang und waren nicht die Einzigen, die sich über die Prüfung austauschten. Um uns herum schwatzten und diskutierten unsere Klassenkameraden eifrig. Einige wirkten erleichtert, andere besorgt. Freddie bahnte uns einen Weg durch eine Schar mitten im Flur stehender Mädchen, die aufgeregt diskutierten, ob sie alle Stilmittel richtig erkannt und genannt hatten, und es dauerte einige Minuten, bis wir wieder nebeneinander liefen und er mir antworten konnte.

»Nora, du weißt doch, dass ich nie der große Märchenfan war. Ich habe schon mal von Rotkäppchen gehört, klar, aber ich glaube, es war heute das erste Mal, dass ich die Geschichte auch wirklich mal gelesen habe. Daher kann ich dir nicht sagen, ob etwas Merkwürdiges daran war. Fandest du es denn merkwürdig?«

Ich nickte erneut und als Freddie mir einen fragenden Blick von der Seite zuwarf, gab ich mir einen Ruck und sprach es aus.

»Ich glaube, die Geschichte hat sich während des Schreibens verändert«, flüsterte ich und sah mich um, ob uns jemand zuhörte, doch alle anderen waren zu sehr mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt, um uns Beachtung zu schenken.

Fred sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.

»Was meinst du mit verändert?«

»Also, ich habe die Geschichte gelesen und das Märchen endete, so, wie ich es auch kenne, damit, dass der Wolf besiegt wird. Das habe ich auch aufgeschrieben. Und dann habe ich noch mal hingesehen und plötzlich stand ein ganz anderes Ende da, in dem der Wolf überlebt. Und das, was ich geschrieben hatte, war auch auf einmal ganz anders und stimmte mit der veränderten Geschichte überein.«

Noch während ich sprach, hörte ich selbst, wie verrückt und albern es klang. Doch Freddie lachte nicht. Zwar hatte er die Augenbrauen weiterhin erhoben und sah mich nachdenklich an, doch er machte sich nicht über mich lustig, sondern akzeptierte meine Aussage, als wäre sie das Normalste auf der Welt.

»Bist du sicher? Ich meine, vielleicht warst du unkonzentriert und hattest dich verlesen? Bei mir jedenfalls stand von Anfang an da, dass der Wolf siegt. Auch wenn ich dachte, dass ich mal gehört hatte, dass es nicht so ist.«

»Es ist auch nicht so!«, sagte ich und strich mir über die Stirn, hinter der es zunehmend pochte. »Ich kenne das Märchen! Ich habe schon viele Versionen davon gelesen und noch nie habe ich gehört, dass es so endet.«

»Wovon redet ihr?« Jenna, eine unserer Mitschülerinnen, war an uns herangetreten und hatte offenbar die letzten Sätze unseres Gesprächs gehört.

»Nora hat gerade gesagt, dass ihr die Auslegung von Rotkäppchen, die in der Prüfung drankam, neu war«, erläuterte Fred und ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Jenna war nett, galt aber als die größte Tratschtante des Jahrgangs. Auch wenn die Schule nun bald offiziell vorbei war und ich die meisten meiner Mitschüler höchstwahrscheinlich nicht mehr viel sehen würde, wollte ich vermeiden, dass in den letzten Tagen bis zur Zielgeraden ein Gerücht darüber entfacht wurde, dass ich den Verstand verlor und mir Dinge einbildete. Doch Fred zwinkerte mir beruhigend zu und hielt Jenna und mir die Tür auf, sodass wir in die volle Eingangshalle treten konnten.

»Ach wirklich?«, fragte Jenna nun und sah mich interessiert an. »Wie kanntest du die Geschichte denn?«

Ich hob ungläubig eine Augenbraue.

»Na, so wie alle sie kennen. Rotkäppchen und die Großmutter werden von einem Jäger befreit, der Bauch des Wolfes mit Steinen gefüllt und er stirbt schließlich.«

In Jennas blauen Augen spiegelte sich Überraschung.

»Das wäre ja ein viel schöneres Ende«, sagte sie. »Ich fand schon als Kind, dass es doch sehr grausam ist, dass der Wolf gewinnt.«

»Du kanntest diese Version der Geschichte?«

Jenna nickte und ihre blonden Locken wippten dabei auf und ab. »Ja klar, ich bin eher überrascht, dass du sie nicht kennst. Du weißt doch sonst so viel über Geschichten und Märchen. Rotkäppchen ist doch ein Klassiker.«

Ich blieb stehen und starrte sie an. »Eben, es ist ein Klassiker. Ein Klassiker, der gut ausgeht: Der Wolf, das Böse in dem Märchen, wird vom Guten besiegt!«

Durch mein plötzliches Stehenbleiben waren nun auch andere Schüler auf Jenna, mich und unsere Diskussion aufmerksam geworden.

Asana, Jennas beste Freundin, und Finn, ein guter Freund von Freddie, traten zu uns. Finn legte brüderlich einen Arm um Freds Schultern und sah von mir zu Jenna und wieder zurück. Dankbar für jemanden, der mich vielleicht unterstützen konnte, wandte ich mich an ihn.

»Finn, du kennst doch Rotkäppchen? Also ich meine, du kanntest das Märchen doch auch schon vor der Prüfung heute?«

»Klaro«, sagte Finn und grinste. »Aber ich muss Jenna recht geben. Ich kenne es auch ausschließlich so, dass der Wolf am Ende siegt.«

Entgeistert sah ich ihn an.

»Sorry, Nora«, fügte er beinahe entschuldigend hinzu.

»Ihr veralbert mich doch, oder? Habt ihr euch irgendwie abgesprochen oder so?« Ich spürte, dass sich zu meiner Verwirrung und Sorge über meine eigene geistige Klarheit nun auch langsam Wut mischte. Ich kam mir dumm vor, als sei ich die Einzige, die etwas Offensichtliches nicht verstand. Fred, der wie immer zu spüren schien, dass meine Laune gleich kippen würde, befreite sich aus Finns Arm und trat auf mich zu. Behutsam legte er seine Hände auf meine Schultern und sah mich an.

»Geht es dir gut?«, fragte er und seine grünen Augen musterten mich aufmerksam.

»Ich weiß nicht«, sagte ich ehrlich. »Ich verstehe das nicht. Wieso bin ich die Einzige, die das Märchen so kennt, wie es eigentlich geschrieben wurde?«

Asana räusperte sich. »Nora, meine Mama ist Professorin für Literatur an der Universität. Wir haben ein altes Märchenbuch zu Hause. Eine der wenigen noch existierenden Erstauflagen der ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Gebrüder Grimm, wie sie damals noch hießen. Darin ist auch die Originalfassung von Rotkäppchen.« Sie zögerte und sah mich dann vorsichtig an. »In der Originalfassung gewinnt auch der Wolf. So wie in der Version während der Prüfung heute. Ich denke, wir alle sind mit dieser Geschichte aufgewachsen. Eine Variante, in der Rotkäppchen befreit wird, kenne ich nicht.«

Die anderen nickten zustimmend, nur Fred sah mich weiter an. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, doch seine Stirn lag in Falten.

»Du lügst«, sagte ich und deutete auf Asana. »Ihr macht irgendeinen blöden Scherz mit mir und ehrlich gesagt finde ich es überhaupt nicht lustig.«

Das war die einzige Erklärung, die meinem überlasteten Gehirn einfiel, während die Gedanken in ihm zu rasen schienen und keine Lösung für die Situation fanden. Denn wie konnte es sein, dass sich allem Anschein nach von einem Moment auf den nächsten keiner mehr an den korrekten Verlauf des Märchens Rotkäppchen erinnern konnte? Und ich war mir weiterhin sicher, dass die Version, die ich kannte, die richtige war. Oder?

»Ich denke, ich gehe mit Nora etwas an die frische Luft. Ich glaube, es war für sie die letzten Tage etwas viel.«

Ich wollte widersprechen, doch Freddie hatte bereits eine Hand auf meinen Rücken gelegt und schob mich vorwärts durch die Eingangshalle aus der Tür hinaus in den Schulhof. Draußen war es warm, doch weniger stickig und laut, weil die meisten anderen Schüler noch im Schulgebäude waren und sich weiter unterhielten. Die wenigen, die bereits wie wir aus der Halle herausgetreten waren, verabschiedeten sich voneinander und machten sich auf den Heimweg.

Fred bugsierte mich sanft, aber bestimmt über den Hof zu dem Klettergerüst samt Schaukel, auf dem wir schon vor Jahren gespielt hatten, als das Abitur noch weit entfernt schien. Nun lagen der kleine Platz und das Gerüst verlassen da, weil die jüngeren Klassen alle schon mittags nach Schulschluss nach Hause gegangen waren. Fred nickte und bedeutete mir, mich auf die Schaukel zu setzen. Ich gehorchte und er ließ sich auf der zweiten Schaukel neben mir nieder. Wir waren beide mittlerweile zu groß für die schmalen Schaukelsitze, um darauf wirklich bequem zu sitzen, doch ich griff trotzdem nach den Metallketten und begann leicht hin- und herzuschwingen. Dabei lehnte ich die Stirn an das kühle Metall der Ketten und schloss die Augen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

»Nora, du weißt, ich glaube dir immer. Und wenn du sagst, dass die Geschichte im Original anders ist, dann denke ich, dass du weißt, wovon du sprichst. Ich hatte es ja schließlich auch anders in Erinnerung.« Fred zögerte und obwohl ich ihn durch meine geschlossenen Augen nicht sehen konnte, wusste ich, dass er die Stirn erneut gerunzelt hatte und überlegte, wie er fortfahren sollte. »Was mir ein wenig Sorgen macht, ist, dass du denkst, der Text hätte sich verändert. Ich meine, das ist nicht erklärbar.«

Ich öffnete die Augen und seufzte. »Ich weiß, Fred. Ich sage ja auch nur, was ich glaube, gesehen zu haben. Dass es dafür keine logische Erklärung gibt, ist mir mehr als bewusst, glaub mir.«

»Es war echt stickig in dem Saal, vielleicht bist du da kurzzeitig eingeschlafen und hast es geträumt? Ist mir in der Religionswissenschaftsprüfung letzte Woche passiert. Ich wollte nur kurz nachdenken, habe die Augen geschlossen und schon war ich eingenickt.«

Trotz meiner Verwirrung und obwohl ich mir sicher war, dass es nicht auf meine Situation zutraf, musste ich lachen. Fred stimmte mit ein.

»Wirklich!«, sagte er und nickte. »Ich bin von meinem eigenen Schnarchgeräusch aufgewacht und alle haben mich ganz empört angesehen. Als ob ich sie in ihrer Konzentration gestört hätte.«

»Hast du sicherlich auch!«

Jetzt war es Fred, der mich seinerseits empört ansah.

»Fred, du weißt, ich liebe dich wie einen Bruder, aber dein Schnarchen ist nicht auszuhalten. Das war schon so, als wir Kinder waren, und es ist mit den Jahren nur schlimmer geworden.« Als er einen übertriebenen Schmollmund zog, fuhr ich lachend fort. »Das kann keine Überraschung für dich sein. Abgesehen von mir hast du es hundertprozentig auch schon von deinen Eltern, meinem Papa und diversen Mädchen gehört, welche die Unannehmlichkeit hatten, bei dir zu übernachten.«

»Es tut trotzdem weh, es zu hören.« Fred fasste sich theatralisch an die Brust, als hätte ich ihm einen Messerstich verpasst und er würde gleich sterben.

Ich verdrehte die Augen, doch mein Lächeln blieb. Wie immer hatte Fred es geschafft, meine Sorgen zu erleichtern. Ich fühlte mich besser und obwohl ein kleiner Teil von mir weiterhin flüsterte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging und ich mir das Geschehene nicht nur eingebildet hatte, beschloss ich, es abzuhaken.

»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte ich daher zu Fred, der sich wieder aufgerichtet hatte und mich nun aufmerksam ansah. »Ich glaube zwar nicht, dass ich eingeschlafen bin, aber wahrscheinlich bin ich einfach etwas überlastet und meine Augen haben mir einen Streich gespielt. Ich habe wahrscheinlich von Anfang an alles richtig gelesen und das auch so in meiner Analyse aufgefasst. Es muss mich nur verwirrt haben, dass ich das Ende der Geschichte so nicht kannte. Das hat mich aus dem Konzept gebracht.«

Fred schien froh darüber, dass ich das Thema losließ. Er streckte den Arm nach mir aus und drückte kurz meine Schulter.

»Das denke ich auch. Du kannst später ja in dem Märchenbuch deines Papas nachschauen, ob du recht hattest. Ich bin sicher, du hast da einfach aus lauter Nervosität etwas durcheinandergebracht.«

Ich nickte. So musste es sein.

»Also…«, sagte Freddie und erhob sich von seiner Schaukel. »Soll ich dich heimfahren und wir machen auf dem Weg noch einen kurzen Stopp beim Eiskönig? Zur Feier des Tages?«

»Kennst du mich etwa so schlecht, dass du da noch fragen musst?«

Fred lachte, griff nach meinen ausgestreckten Händen und zog mich mit einem Ruck von der Schaukel, die fröhlich ohne mich weiterschwang.

Wir gingen zu Freds Auto und mit jedem Schritt, den wir Richtung Schultor und Parkplatz machten, fühlte ich mich leichter und gewann zunehmend an Überzeugung, dass die Situation in der Prüfung gar nicht so verrückt gewesen war, wie ich erst gedacht hatte.

Während Fred den Wagen startete, zog ich mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Papa hatte mir eine Nachricht geschickt, in der er mir mitteilte, dass er etwas länger in der Arbeit bleiben musste, später aber gerne für mich zur Feier meiner letzten Prüfung kochen würde. Ich schickte ihm einen erhobenen Daumen.

Als wir schließlich in dem kleinen Eiscafé saßen und auf unseren jeweiligen Frozen-Joghurt Becher warteten, war auch der letzte Zweifel verstummt und ich war sicher, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Ich war schließlich nicht die Erste, die unter dem Druck der Abiturprüfungen die Nerven verloren und einen Zusammenbruch gehabt hatte. Bei mir hatte er sich nur auf ungewöhnliche Weise geäußert.

Fred berichtete mir im Detail von seiner langweiligen Religionsprüfung, bei der er eingeschlafen war. Ich hatte anstelle der Religionswissenschaft, allgemeine Ethik belegt und daher nicht dieselbe Prüfung geschrieben wie er. Jetzt, da Fred schilderte, wie ihm nach dem Aufwachen aufgrund seines eigenen Schnarchens aufgefallen war, dass er im Schlaf auf seine Prüfungsunterlagen gesabbert hatte, bereute ich die Entscheidung sehr, nicht auch Religionswissenschaft gewählt zu haben.

Wir lachten noch, als Carl, der alte, grauhaarige Besitzer des Eiskönigs, zu uns an den Tisch trat und lächelnd unsere Eisbecher vor uns abstellte. Fred und ich hatten das Café entdeckt, als ich sieben und Fred acht Jahre alt gewesen war. Carl, der früher noch keine Hornbrille und graue Haare gehabt hatte, schloss uns damals schnell ins Herz. Wahrscheinlich, weil wir bereits als Kinder dieselbe Liebe zu Eis geteilt hatten, die ihn dazu gebracht hatte, sein Café zu eröffnen, obwohl es mit den größeren Ketten in der Stadt konkurrierte. Doch der Eiskönig hatte einen ganz eigenen, besonderen Charme und Fred und ich waren immer wiedergekommen, meist um Eis zu essen, manchmal aber auch einfach nur, um ein Pläuschchen mit Carl zu halten. Er war wie ein wandelndes Lexikon, kannte Gott und die Welt und die besten Geschichten.

»Was gibt es denn hier zu lachen?«, fragte Carl jetzt, während er uns beiden eine Serviette und einen Löffel neben die vollen Eisbecher legte.

»Nora ist einfach wieder unmöglich. Ich teile meine peinlichsten Momente mit ihr und sie lacht mich aus.« Fred grinste frech.

Carl schüttelte den Kopf. »So wie ich Nora kenne, würde sie das nie tun.« Ich nickte bekräftigend, wischte mir aber gleichzeitig die Lachtränen aus den Augenwinkeln, was meine Unschuld wenig bezeugte.

»Es sieht wie immer toll aus, Carl!«, sagte ich und bewunderte den Eisbecher vor mir. Carl gab sich für all seine Gäste Mühe, doch bei Fred und mir legte er sich noch mehr ins Zeug als sonst. Die Becher waren dann immer noch voller und er sparte auch nicht an den Toppings. Mein Joghurt war mit flüssiger, dunkler Schokoladensoße, Himbeeren, Erdbeeren, weißen Schokoladenstreuseln und Cookiestückchen dekoriert. Freds zierten statt der Beeren haufenweise bunte M&M’s.

Carl lächelte stolz. »Na, ihr habt doch heute eure letzte Prüfung geschrieben, oder? Da musste ich mir doch besonders Mühe geben.«

»Danke!«, sagte ich und lächelte ihn an, während ich nach meinem Löffel griff.

Fred streckte sich nach seiner Tasche und zog seinen Geldbeutel hervor, doch Carl winkte ab.

»Lass mal stecken, Junge.«

Als wir beide zu protestieren begannen, hob Carl eine Hand.

»Seht es als mein Geschenk zum Abitur an euch. Lasst es euch schmecken!« Er wandte sich um und ging zu einem anderen Kunden zwei Tische weiter, bevor wir die Chance hatten, weiter zu widersprechen.

»Der Gute«, sagte Fred. »Ich werde ihm nachher trotzdem zumindest einen Zehner dalassen.«

Ich nickte, antwortete aber nicht, da ich mir gerade den ersten Löffel Eis in den Mund geschoben hatte und vollauf damit beschäftigt war, die kühle Leckerei zu genießen, die langsam auf meiner Zunge schmolz.

In der folgenden halben Stunde wechselte unser Gespräch das Thema: Fred und ich hatten schon vor Jahren ausgemacht, dass wir nach unserem Abi ein Jahr Pause machen und herumreisen wollten. Wir beide liebten unser kleines Heimatdorf in der Nähe von München, trotzdem hatten wir denselben Wunsch, endlich auch andere Teile der Welt zu sehen. Bereits im Jugendalter hatten wir daher begonnen Reisepläne zu schmieden, die wir mithilfe unserer mühevollen Ersparnisse der letzten Jahre nun umsetzen wollten. Wir würden unsere Noten und Zeugnisse in wenigen Tagen erhalten, dann gemeinsam zu unserer Abschlussfeier gehen und am Tag darauf aufbrechen. Erster Stopp: Dänemark. Neben den Gebrüdern Grimm hatte ich auch eine Liebe für den englischen Shakespeare und besonders für sein Stück »Hamlet« entwickelt. Obwohl Fred jedes Mal übertrieben zu gähnen begann, wenn ich es erwähnte, wollte ich mir unbedingt die dänische Burg ansehen, die als Szenerie des Stückes galt. Freddie hatte dafür unser nächstes Reiseziel aussuchen dürfen und sich für Amsterdam entschieden, nicht ohne sich voller Vorfreude die Hände zu reiben und mehrere Anspielungen auf die »Kräuterläden« und das »rötliche Viertel« zu machen. Es würde wohl ein interessanter und sehr vielfältiger Start werden, so viel war sicher.

Nach den ersten Wochen, die wir uns für weitere, eher touristische Orte freigehalten hatten, würden wir dann Europa verlassen und einige Wochen in Kenia in einem Kinderheim als Freiwillige aushelfen, bevor es wieder zu weiteren Sehenswürdigkeiten und Kultureindrücken überging.

Fred und ich sprachen seit Wochen kaum noch über etwas anderes. Unsere Flüge waren gebucht, Impfungen und Reisepässe aktualisiert und die Koffer bereits zur Hälfte gepackt. Letzteres galt allerdings nur für mich, Fred weigerte sich strikt, vor dem Tag des Abflugs zu packen.

»Der Stress gehört doch dazu!«, sagte er auch jetzt, als wir unsere immer wieder aufkommende Diskussion darüber führten, ob ich zu organisiert oder er zu chaotisch war. »Das macht es doch erst spannend!«

Ich verdrehte nur die Augen und schob mir einen weiteren Löffel Eis in den Mund.

Nachdem wir uns jedes Detail unserer bevorstehenden Reise mit leuchtenden Augen ausgemalt und unser Eis schließlich aufgegessen hatten, verließen wir das Café. Fred hatte einen Geldschein zu einem kleinen Herzen gefaltet und ihn Carl bei der Verabschiedung unauffällig in die Gürteltasche um dessen Hüfte gesteckt.

Mittlerweile war es früher Abend. Wir unterhielten uns den ganzen Weg zurück zum Auto und machten während der Fahrt ein Ranking der besten Eisbecher, die Carl uns im Laufe der Jahre aufgetischt hatte. Für Fred gewann der heutige Frozen-Joghurt, für mich die Erinnerung an das allererste Mal, als Freddie und ich bei Carl gewesen waren. Die Portionen waren uns damals so groß wie unsere Köpfe erschienen. Das Glücksgefühl von damals, mit meinem besten Freund auf der ganzen Welt das größte Eis zu essen, das ich mir als Kind hätte vorstellen können, konnte ich immer noch spüren.

Fred setzte mich bei mir zu Hause ab. Ich stieg aus und schloss die Tür hinter mir, dann beugte ich mich zu dem offenen Fenster herunter.

»Danke für das Eis und das Heimfahren!« Ich lächelte ihn an. »Und dafür, dass du mich nicht für verrückt gehalten hast, als ich in der Schule die Nerven verloren habe!«

Fred erwiderte das Lächeln und zwinkerte mir zu. »Nichts zu danken, Nora. Grüß deinen Papa. Wir schreiben später.«

Ich richtete mich wieder auf und winkte ihm zum Abschied, dann wandte ich mich um und ging die Einfahrt vor unserem Haus hinauf, während das Geräusch von Freds Auto sich hinter mir entfernte.

Ich liebte unser Haus. Meine Eltern hatten es gekauft, als meine Mutter mit mir schwanger war. Mein Vater kam ursprünglich aus Polen, weshalb ich auch den seltenen Nachnamen »Bocaj« trug. Er war nach seiner Ausbildung auf der Suche nach einer guten Arbeitsstelle nach Deutschland gekommen und hatte hier meine Mutter kennengelernt. Sich ein kleines Haus mit eigenem Garten zu kaufen, war immer ihr gemeinsamer Traum gewesen. Obwohl meine Mutter verstarb, als ich nur etwa zwei Jahre alt gewesen war, und das Haus nur für Papa und mich beinahe zu groß war, waren wir hiergeblieben. Papa meinte, dass Mama es so gewollt hätte, und wir beide mochten es, dass das Haus und manche Dinge darin, uns an sie erinnerten.

Umständlich kramte ich in meiner Tasche nach meinem Hausschlüssel, doch bevor ich ihn finden konnte, hatte sich die Haustür bereits geöffnet und Papa stand strahlend vor mir.

»Und?«, fragte er und lächelte so breit, dass die Lachfältchen um seine Augen deutlich zu sehen waren. »Wie fühlt es sich an, endlich mit der Schule fertig zu sein?«

Er breitete die Arme aus und ich ließ mich ebenfalls lächelnd an ihn ziehen.

»Gut«, sagte ich und spürte seine Brust vibrieren, als er leise lachte. Ich löste mich von ihm, schloss die Haustür hinter uns und zog mir die Schuhe aus.

»Ich habe uns etwas gekocht! Zur Feier des Tages, dass meine Tochter ihre Prüfungen beendet hat!«

Ich war von dem Eis mit Fred noch ziemlich satt, wollte Papa seine Freude aber nicht nehmen und folgte ihm in unser Wohn- und Esszimmer. Mein Vater hatte unseren Esstisch mit dem guten Geschirr und Servietten gedeckt und uns sogar beiden bereits ein Glas Wein eingeschenkt. An der Wand gegenüber von meinem Platz hing eine Girlande, die »Herzlichen Glückwunsch zum Abitur!« verkündete.

»Papa, mein Abi habe ich doch noch gar nicht offiziell«, sagte ich lachend, doch mein Vater winkte lässig ab.

»Kann schon sein. Aber du bist fertig mit dem Lernen und dem Stress, den du dir die letzten Monate gemacht hast. Und ich wollte dir einfach etwas Gutes tun, jetzt, wo du dich endlich verdienterweise etwas erholen kannst.«

»Danke! Du bist der Beste!«

»Außerdem bist du ja bald weg und ich will es genießen, dich noch hier bei mir zu haben.« Er klang ein wenig wehmütig.

»Papa, darüber haben wir doch gesprochen. Ein Jahr geht so schnell vorbei. Einmal blinzeln und schon bin ich wieder da.«

»Für dich vielleicht, Nora, weil du so viel Tolles sehen und erleben wirst. Für mich wird es hier ohne dich nicht so schnell vergehen.« Ich ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die vom Bart stoppelige Wange.

Papa blinzelte schnell, um seine feuchten Augen zu verbergen, doch ich hatte sie bereits entdeckt.

»Ich bin ja froh, dass du gehst. Es ist eine wunderbare Chance und ich wünsche mir für dich, dass du das Jahr deines Lebens hast.« Er tätschelte meine Schulter. »Vergiss nur nicht, dich ab und an bei deinem alten Herrn zu melden.«

»Versprochen.«

Papa sah froh aus, als er mich erneut anlächelte, dann ertönte ein piepsendes Geräusch aus der Küche nebenan. Mein Vater zuckte zusammen.

»Das ist wohl der Auflauf!«, rief er und ging mit großen Schritten Richtung Küche, aus der es bereits angenehm duftete. »Nora, setz dich schon mal hin, ich bin gleich wieder da!« Er verschwand aus dem Wohnzimmer und ich hörte ihn kurz darauf leise fluchen, als er sich offenbar beim Herausnehmen des Auflaufs aus dem Ofen die Finger verbrannte.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich laut, aber Papa verneinte und da ich wusste, wie wichtig es ihm war, mir dieses Essen zu machen, blieb ich im Wohnzimmer.

Ich ging zum Sofa und legte meine Tasche ab, die ich immer noch über der Schulter hängen hatte. Als ich aufsah, fiel mein Blick auf das große Wandregal, das mein Papa gebaut hatte, als ich etwa fünf Jahre alt gewesen war.

»Komm, wir bauen unseren Büchern ein Zuhause«, hatte er gesagt und seitdem stand das Regal hier im Wohnzimmer und beherbergte all die Bücher und Geschichten, die Papa und ich gemeinsam gelesen hatten und liebten. Neben den klassischen Reihen wie »Der Herr der Ringe«, »Harry Potter« und »Die Tribute von Panem« fand sich in einem einzelnen Fach, beinahe ganz oben, auch ein großes, altes Buch. Die gesammelten Märchen der Gebrüder Grimm.

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, doch Papa war offensichtlich noch in der Küche beschäftigt und so trat ich an das Regal heran und streckte mich nach dem alten Band. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, doch schließlich konnte ich meine Finger um das abgenutzte Leder des Einbandes legen und nahm das schwere Buch vorsichtig von seinem Platz. Ich setzte mich auf die Sofakante und strich über den verschlissenen, aber schönen Einband. Meine Finger kannten diese Berührung, sie kannten das Buch und ohne, dass ich weiter darüber nachdenken musste, schlugen sie wie von allein den Deckel auf, blätterten die Seiten um und fanden, wonach ich suchte.

Die Version von Rotkäppchen war mit wunderschönen Illustrationen in den Farben des Regenbogens geschmückt. Ich hatte die Zeichnungen schon als Kind bewundert, doch heute hatte ich kaum einen Blick für sie übrig, während meine Augen die Buchstaben entlangwanderten und das Ende des Märchens fanden. Ich starrte auf die Seite, während ich das Gefühl hatte, als würde sich alles um mich herum drehen. Hier stand es schwarz auf weiß, in der vertrauten Schrift, mit der ich das Lesen erlernt hatte, und doch waren mir die Worte fremd.

Der große, böse Wolf aber verschlang den Jäger in einem Stück und genoss das Gefühl des Sieges und seines vollen, satten Bauches. So gut hatte er lange nicht mehr gespeist. Bis heute erzählt man sich, dass der Wolf, sofern er nicht gestorben ist, weiter sein Unwesen im Wald treibt.

Kapitel 2

Knapp sechs Wochen waren seit der letzten Prüfung vergangen. Obwohl ich mir das plötzlich veränderte Ende von Rotkäppchen weiterhin nicht erklären konnte, vor allem, weil sich außer mir und vielleicht noch Fred niemand daran zu erinnern schien, dass es früher anders gelautet hatte, hatte ich das Thema aufgegeben. Ein Teil von mir – derselbe, der auch schon während der Prüfung laut geschrien hatte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging – war weiterhin überzeugt, dass sich das Märchen wie von Geisterhand in allen existierenden Märchenbüchern und den Gedächtnissen der Menschen verändert hatte. Dieser Teil hatte zu viele Fantasybücher und -filme gelesen und gesehen und hoffte vielleicht auf eine magische Erklärung. Doch der größere Teil meines Bewusstseins, der in den vielen langen Jahren der Schulzeit auf Logik und Rationalität trainiert worden war, wusste, dass es nicht sein konnte. So hatte ich beschlossen, mir selbst, immer dann, wenn ich wieder von Zweifeln überrollt wurde, einzureden, dass ich die Geschichte als Kind in meiner Fantasie geändert haben musste. Vielleicht hatte ich sie zu düster oder gruselig gefunden und mir aus Selbstschutz ein alternatives Ende ausgedacht, das für mich im Laufe der Zeit zur Realität geworden war?

Auf dem Weg zu meiner Abschlussfeier, die heute stattfinden sollte, blickte ich aus dem Fenster und hing erneut meinen Gedanken nach. Es ärgerte mich, dass ich die hartnäckigen, immer wieder aufkeimenden Zweifel nicht endgültig abschütteln konnte. Doch ich behielt sie für mich. Ich hatte sie nicht einmal Fred gegenüber noch einmal erwähnt, denn, obwohl er immer zu mir hielt, würde auch er in dieser Thematik sicherlich an einen Punkt kommen, an dem er mir meinen klaren Verstand absprechen würde.

Papa trat auf die Bremse, hupte laut und riss mich damit aus meinen Gedanken. Wir waren gerade in die bereits brechend volle Straße vor meiner Schule eingebogen. Ein Mann war, ohne sich umzuschauen, direkt vor unseren alten Pick-up gelaufen. Autos verschiedenster Preisklassen, Größen und Farben standen an den Straßenrändern. Menschen stiegen aus und blockierten während des Wartens auf ihre Begleitungen den Weg. Papa kniff konzentriert die Augen zusammen, als er sich vorsichtig an dem Mann vorbei und durch die Fahrzeuge und die anderen ankommenden Gäste schlängelte und nach einem Parkplatz Ausschau hielt.

»Vielleicht hätten wir doch etwas früher aufbrechen sollen«, sagte er und ich verdrehte die Augen. Ich war bereits am frühen Nachmittag unter die Dusche gesprungen, hatte mir die Haare gemacht, mich geschminkt und mich schließlich in mein bodenlanges rosafarbenes Abschlusskleid gezwängt. Dann hatte ich über eine Stunde im Wohnzimmer zu Hause gesessen und mit zunehmend ungeduldig auf der Sofalehne tippenden Fingern auf meinen Vater gewartet. Papa war der beste Vater, den man sich wünschen konnte. Nachdem meine Mutter verstorben war, hatte er mich allein großgezogen. Er hatte sich durch meine pubertären Phasen gekämpft und war nicht davor zurückgeschreckt, sich über Tampons, Regelschmerzen und Hormonschwankungen zu informieren, um mich dann passend unterstützen zu können. Außerdem hatte er meinem ersten Freund erlaubt bei mir zu übernachten, allerdings nicht ohne vorheriges Verhör. Er war immer für mich da gewesen und so hatte ich nie das Gefühl gehabt, dass mir ein Elternteil fehlen würde. Seine einzige Schwäche war sein Zeitmanagement: Er kam IMMER zu spät. Über die Jahre hatte ich mir angewöhnt, ihm bei wichtigen Terminen eine frühere Uhrzeit zu nennen, sodass er dann zum tatsächlichen Termin pünktlich erschien. Die Einladung der heutigen Abschlussfeier der Abiturienten meiner Schule war allerdings per Post gekommen und Papa hatte die Uhrzeit selbst in den Kalender eingetragen, weshalb ich diesmal nicht hatte schummeln können. Die Konsequenz war daher, dass wir nun nur noch zehn Minuten hatten, bis die Abschlusszeremonie begann, und wir weiterhin keinen Parkplatz fanden, weil alle anderen Familien bereits vor uns angekommen waren.

»Willst du nicht schon mal reingehen?«, fragte Papa mich, als wir die dritte Runde über den vollen Parkplatz rollten und sich immer noch keine Parklücke aufzutun schien. Ich schüttelte den Kopf. »Wir finden schon noch einen Platz.«

Wir brauchten weitere fünf Minuten, bis wir den Pick-up endlich in einer Seitenstraße der Schule abstellen konnten. Ich wartete nicht, bis Papa den Motor ausgeschaltet hatte, sondern schnallte mich ab und sprang aus dem Wagen. Eilig richtete ich mein Kleid, das ein paar kleine Falten auf der Fahrt bekommen hatte, und warf einen letzten prüfenden Blick in den Seitenspiegel, um mein Make-up zu kontrollieren. Meine blonden, brustlangen Haare hatte ich gelockt und zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, sodass nur zwei einzelne Strähnen mein Gesicht rahmten. Die grünen Augen, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, wirkten durch den braunen Lidschatten und dunklen Eyeliner groß, die Wimpern lang. Ich schnappte nach meiner Tasche auf dem Rücksitz des Pick-ups und holte das Rouge heraus, das ich zur Sicherheit mitgenommen hatte. Schnell fuhr ich mit dem Pinsel in das Döschen mit dem rötlichen Pulver und tupfte ihn mir über die Wangen, um meinem blassen Gesicht etwas mehr Farbe zu verleihen. Nachdem ich auch den dezenten Lipgloss nachgezogen hatte, war auch Papa endlich ausgestiegen. Ich verstaute meine Schminke wieder in der Tasche und wir eilten die Straße entlang zur Schule.

Der Moment, als wir durch das Schultor auf das Gelände traten, kam mir surreal vor. So viele Jahre hatte ich hier verbracht, war jeden Tag durch dieses Tor gegangen, hatte meine Freunde begrüßt und war mit ihnen zu unserem Klassenraum geschlendert. Dass dies nun das letzte Mal sein würde, fühlte sich merkwürdig und gleichzeitig befreiend an.

Papa, der meine gemischten Gefühle zu spüren schien, legte einen Arm um mich. Obwohl ich Schuhe mit hohen Absätzen trug und Papa mit seinen ein Meter achtzig kein so großer Mann war, überragte er mich mit meinen knapp eins sechzig um einen guten halben Kopf.

»Nicht nervös sein, Nora«, sagte er und lächelte, wobei sich die Falten um seine Augen vertieften.

»Bin ich gar nicht«, antwortete ich. »Es fühlt sich nur merkwürdig an, dass dieser Teil meines Lebens jetzt endet. Dass ich wirklich mit der Schule fertig bin.«

Papa nickte verständnisvoll und drückte meine Schulter, während wir zügig über den Hof zur Festhalle liefen, wo einige andere Nachzügler uns die Tür aufhielten, um uns eintreten zu lassen. In dem Saal war kaum noch ein Platz frei, doch ich hatte zum Glück daran gedacht, im Vorfeld einen Platz für meinen Vater und mich zu reservieren, und so schlängelten wir uns durch die Sitzreihen, bis wir zwei leere Stühle entdeckten, an denen ein Schild mit der Aufschrift »Leonora Bocaj« hing. Erleichtert ließ ich mich auf den einen Stuhl fallen und blickte auf die große Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Sollten die Feierlichkeiten pünktlich beginnen, hatten wir noch 32 Sekunden übrig. Mein Blick schweifte weiter durch den großen Raum und ich entdeckte die roten, struppigen Haare von Fred, der zwischen seinen Eltern ein paar Reihen vor mir saß. Er blickte sich ebenfalls um und als sein Blick auf mich fiel, breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hob die Hand und winkte mir begeistert zu, bevor er unauffällig auf meinen Papa und dann auf die Uhr an der Wand zeigte und eine Augenbraue hob. Ich grinste, nickte und verdrehte die Augen, woraufhin auch Fred breit grinste und sich dann wieder nach vorne wandte.

Das Licht im Saal verdunkelte sich, während ich gespannt die Bühne musterte, auf der ein Rednerpult und dahinter ein Stuhlhalbkreis aufgebaut war. Das Publikum verstummte, als unsere Schuldirektorin, eine streng wirkende Dame mit einem grauen Haarknoten und einer roten Brille auf der Nase, auf die Bühne und an das Pult trat. Sie räusperte sich vernehmlich und schenkte den Zuschauern dann ein schmales Lächeln.

»Guten Abend!«, sagte sie säuselnd. »Für die, die mich nicht kennen: Ich bin Direktorin Lemm.« Sie machte eine kurze Pause, offenbar in der Hoffnung auf Applaus, doch dieser blieb aus. Alle im Publikum schienen sich einig zu sein, dass der Applaus heute nur für die Absolventen bestimmt war, und so fuhr Frau Lemm schließlich mit leicht verkniffenem Mund fort. »Heute verabschieden wir einen weiteren Jahrgang junger, talentierter Menschen unserer Schule und obwohl Abschiede meist traurig sind, so bin ich sicher, dass Sie alle, liebe Schulabsolventen und -absolventinnen, es kaum erwarten können, Ihre Schulzeit hinter sich zu lassen und hinaus in die Welt zu treten, um Ihre neuen Lebensabschnitte zu beginnen.«

Freddie drehte den Kopf zu mir und nickte heftig, als ob es für ihn bereits eine Qual wäre, auch nur diese wenigen Minuten weiterhin hier in der Schule bleiben zu müssen. Ich unterdrückte ein Kichern, während Rektorin Lemm auf der Bühne einen Monolog über die Entstehung der Schule und die bedeutenden Persönlichkeiten hielt, welche die Einrichtung mit den Jahren hervorgebracht hatte.

Zum Glück schien sie zu bemerken, dass die Aufmerksamkeit des Publikums während ihrer Rede zunehmend schwand, und beschränkte sich daher auf weniger Worte als sonst. »Und damit möchte ich nun zu den Persönlichkeiten kommen, die dieses Jahr das Abitur an unserer Schule gemacht haben. Wir gehen wie jedes Jahr alphabetisch nach den Vornamen vor. Das ist ungewöhnlich, doch so ist es hier seit der Gründung der Schule Tradition, um daran zu erinnern, dass die Absolventen und Absolventinnen als Kinder in diese Schule kamen. Nun, da sie die Schule endgültig verlassen, lassen sie ihre Kindheit zurück und treten in das Leben als Erwachsene ein. Es ist mir eine Ehre, Sie ein letztes Mal bei Ihren Vornamen aufzurufen. Somit möchte ich als erste Absolventin Anna Schenk auf die Bühne bitten.«

Eine meiner Klassenkameradinnen erhob sich unter Applaus aus dem Publikum, bahnte sich einen Weg durch die Sitzreihen und trat dann auf die Bühne, wo ihr nicht nur die Direktorin, sondern auch einige unserer anderen Lehrer die Hand schüttelten und ihr gratulierten. Anna bekam ihr Zeugnis und eine einzelne Sonnenblume überreicht, dann drehte sie sich zu den Zuschauern und posierte kurz breit lächelnd für ein Bild, bevor sie sich auf einen Stuhl hinter Frau Lemm setzte. Nach Anna wurden Asana, Bella, Bianca und Constantin aufgerufen. Noch nie war mir aufgefallen, wie viele Personen in unserer Jahrgangsstufe mit dem Buchstaben C begannen, doch es dauerte eine ganze Weile, bis Frau Lemm schließlich zu Damian, meinem Exfreund, kam. Es war Jahre her, dass wir ein Paar gewesen waren, und aus heutiger Perspektive konnte ich mich nur darüber wundern, was ich an ihm gefunden hatte. Seine dunklen Haare waren wie immer mit viel zu viel Gel nach hinten gestrichen und er betrat die Bühne mit einem überheblichen Gesichtsausdruck, der auch für das Foto nicht verschwand. Mit sechzehn hatte ich ihn unwiderstehlich gefunden. Heute, fast zwei Jahre später, sah ich in ihm nur noch den eingebildeten Schönling, der er war. Trotzdem klatschte ich Beifall, als er sich zu den anderen setzte, die ihre Zeugnisse bereits erhalten hatten. Nach Damian waren Dana und Elena dran. Beide waren gute Freundinnen von mir und ich freute mich für sie, trotzdem wartete ich aber zunehmend gespannt auf den Moment, in dem die Person aufgerufen wurde, die mir in den letzten Jahren am meisten bedeutet hatte.

Nach drei weiteren Personen war es endlich so weit. »Frederick Schuster!«, rief Direktorin Lemm und Freddie erhob sich von seinem Platz und ging zur Bühne. Als er sein Zeugnis überreicht bekam, standen Freds Eltern, mein Papa und ich auf und klatschten Applaus und jubelten Freddie begeistert zu. Er fuhr sich mit der Hand lässig durch die roten Haare und rückte seinen dunkelgrünen Tweedanzug zurecht, bevor er sich fotografieren ließ, dann zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf mich und zwinkerte grinsend. Ich jubelte noch lauter, während er sich schließlich neben Francesca, ein weiteres Mädchen aus unserem Jahrgang, setzte.

Fünfzehn Minuten und zwölf Absolventen später rief Frau Lemm schließlich meinen Namen: »Leonora Bocaj!«

Meine Beine fühlten sich plötzlich weich und wackelig an, als ich mich von meinem Platz erhob. Papa stand ebenfalls auf und umarmte mich kurz, bevor ich mich auf den Weg zur Bühne machte. Ich hob den Rock meines langen Kleides an, damit ich nicht auf den Saum trat, während ich die wenigen Stufen zur Bühne hochstieg. Direktorin Lemm nahm mich mit ihrem schmalen Lächeln in Empfang, schüttelte meine Hand und gratulierte mir zu meinem Abitur, dann drückte sie mir mein Zeugnis und eine Sonnenblume in die Hand. Die anderen Lehrer, darunter meine Mathe- und Englischlehrerin Frau Beck sowie mein Biologielehrer Herr Nilson, reichten mir ebenfalls die Hand und beglückwünschten mich. Ihr Lächeln und ihr Händedruck wirkten deutlich herzlicher als Frau Lemms und ich spürte, wie sich ein stolzes Strahlen auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich drehte mich um und suchte meinen Vater in der Menge. Er war leicht zu finden, denn wie vorher bei Fred standen er und Freddies Eltern als Einzige in der Menge, klatschten und jubelten. Ich lächelte meinem Vater zu und als ich stolz auf mein Zeugnis zeigte, wischte er sich strahlend über die Augen. Ich schenkte dem Fotografen, der vor der Bühne kniete, ein breites Lächeln und setzte mich dann auf den leer gebliebenen Stuhl neben Fred, der mich breit angrinste. Eigentlich hatte Frau Lemm uns im Vorfeld extra mitgeteilt, dass wir uns alphabetisch und in der aufgerufenen Reihenfolge platzieren sollten, doch Freddie hatte mir trotzdem einen Platz freigehalten und ich war dankbar dafür. So konnten wir nun den Rest der aufgerufenen Absolventen gemeinsam beobachten und über ihre teils lustigen Posen für den Fotografen lachen.

Als Letztes rief Frau Lemm Xenia auf und schloss damit die Zeugnisübergabe ab. Der Fotograf schoss mehrere Bilder von uns allen, wie wir nebeneinander auf der Bühne saßen, dann hielt Tristan, der Jahrgangsbeste, eine kurze Abschlussrede.