Die große Märchensammlung von Andersen, Grimm und Hauff, 3. Band - Hans Christian Andersen - E-Book

Die große Märchensammlung von Andersen, Grimm und Hauff, 3. Band E-Book

Hans Christian Andersen

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Beschreibung

In dieser großen Sammlung werden sämtliche Märchen, von Hans Christian Andersen vorgestellt, in einer einzigen vollständigen vom Verfasser besorgten Ausgabe. Diese sind mit zahlreichen Illustrationen versehen. Dazu der Ergänzungsband des Schriftstelers. Hans Christian Andersen wurde am 2. April 1805 in Odense (Dänemark) geboren. Er war der Sohn eines armen Schuhmachers. Er konnte kaum die Schule besuchen, bis ihm der Dänenkönig Friedrich VI., dem seine Begabung aufgefallen war, 1822 den Besuch der Lateinschule in Slagelsen ermöglichte. Bis 1828 wurde ihm auch das Universitätsstudium bezahlt. Andersen unternahm Reisen durch Deutschland, Frankreich und Italien, die ihn zu lebhaften impressionistischen Studien anregten. Der Weltruhm Andersens ist auf den insgesamt 168 von ihm geschriebenen Märchen begründet. Andersen starb am 4. August 1875 in Kopenhagen.

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Walter Brendel (Hrg.)

Die große Märchensammlung von Andersen, Grimm und Hauff

Komplettausgabe

3. Band

Die große Märchensammlung von Andersen, Grimm und Hauff

Komplettausgabe

3. Band

Illustrierte Ausgabe

Walter Brendel (Hrg.)

Impressum

Texte: © Copyright by Jules Verne

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Illustrationen: © Copyright by Unbekannt

Übersetzer: © Copyright by Guido Höller

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

3. Band: Sämtliche Märchen, von Hans Christian Andersen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe

1. Die Eisjungfer.

10. Das Mädchen, welches auf das Brod trat.

20. Die Glocke.

Andersens Märchen. Ergänzungsband

Vorbemerkung.

1. Der Stein des Weisen.

7. Ein Stück Perlenschnur.

3. Band: Sämtliche Märchen, von Hans Christian Andersen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe

1. Die Eisjungfer.

1. Der kleine Rudy.

Besuchen wir die Schweiz, durchwandern wir das herrliche Bergland, wo die Wälder die jähen Felsenwände hinanwachsen; steigen wir hinauf in die blendenden Schneefelder und wieder hinab in die grünen Wiesen, durch welche Flüsse und Bäche dahinbrausen mit einer Eile, als könnten sie nicht schnell genug das Meer erreichen und verschwinden. Sengend steht die Sonne über dem tiefen Thale, und auch oben, auf die schweren Schneemassen sengt sie, daß diese mit den Jahren zusammenschmelzen zu schimmernden Eisblöcken und sich in rollende Lawinen, in aufgethürmte Gletscher gestalten. Zwei solche Gletscher liegen in den breiten Felsenschluchten unter dem »Schreckhorn« und »Wetterhorn«, bei dem Bergstädtchen Grindelwald; sie sind merkwürdig anzuschauen, und deshalb kommen auch bei Sommerzeit viele Fremde aus aller Welt hierher; sie kommen über die hohen, schneebedeckten Berge, sie kommen auch aus den tiefen Thälern, und dann müssen sie mehrere Stunden steigen, und während sie steigen, senkt sich das Thal immer tiefer; sie blicken in dasselbe hinab, als sähen sie aus einem Luftballon. Ueber ihnen hängen oft die Wolken als dicke, schwere Schleier um die Bergspitzen, während unten im Thale, wo die vielen braunen, hölzernen Häuser zerstreut stehen, noch ein Sonnenstrahl leuchtet und ein Fleckchen in strahlendem Grün hervorhebt, als sei es transparent. Dort unten summt und saust und braust das Wasser, dort oben rieselt und klingt es, es sieht aus, als flatterten Silberbänder über den Felsen hinab.

Zu beiden Seiten des Weges, welcher bergan führt, stehen Balkenhäuser, jedes Haus hat seinen Kartoffelgarten, und dieser ist unentbehrlich, denn viele Hälse stecken drin in den Hütten, Kinder giebt es hier vollauf, die ihr Futter schon verzehren können; allerwärts kommen sie zum Vorscheine und schaaren sich um den Reisenden, mag dieser zu Fuß oder zu Wagen sein; die ganze Kinderschaar treibt hier Handel, die Kleinen bieten hübsch geschnitzte Häuserchen feil, in der Form derjenigen, die man hier im Gebirge baut. Mag es Regen oder Sonnenschein sein, die Kinderschaar ist da mit ihrer Waare.

Vor einigen zwanzig Jahren stand hier oftmals, aber stets etwas fern von den andern Kindern, ein kleiner Knabe, der auch Handel treiben wollte, er stand da, machte ein gar ernstes Gesicht und hielt seine Schachtel mit den geschnitzten Waaren so fest mit beiden Händen, als sei er eigentlich nicht willens, sie hinzugeben, allein gerade dieser Ernst und daß das Bürschchen so sehr klein war, machte, daß es in die Augen fiel, oftmals von den Fremden herbeigerufen wurde und oft den größten Absatz für seine Waare fand; der Knabe selbst wußte nicht weshalb. Eine Stunde höher hinauf, auch im Gebirge, wohnte sein Großvater, der die seinen, hübschen Häuserchen schnitzte, und dort bei dem Alten in der Stube stand ein großer Schrank mit dergleichen geschnitzten Sachen in Hülle und Fülle, Nußknackern, Messern und Gabeln, Schachteln mit Laubwerk und springenden Gemsen, so recht ein Inhalt zur Freude aller Kinderaugen; aber der Knabe, Rudy hieß er, blickte mit größerer Lust und Sehnsucht auf die alte Büchse, die unter dem Balken an der Stubendecke hing, der Großvater hatte ihm versprochen, er solle sie späterhin bekommen, aber er müsse erst groß und stark werden, um sie handhaben zu können.

So klein der Knabe auch war, er mußte doch die Ziegen hüten, und wenn derjenige ein guter Hüter ist, der mit ihnen zu klettern weiß, so war Rudy ein solcher; er kletterte sogar ein wenig höher, wie die Ziegen, er liebte es, die Vogelnester hoch oben auf den Bäumen auszunehmen; er war verwegen und dreist, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er an dem brausenden Wasserfalle stand, oder das Hinabrollen einer Lawine hörte. Er spielte nie mit den andern Kindern; er kam nur dann mit diesen zusammen, wenn der Großvater ihn bergab sandte, um zu handeln, und den Handel liebte Rudy eben nicht besonders, er kletterte lieber allein auf den Bergen umher, oder saß beim Großvater und hörte diesen von der alten Zeit und von den Leuten in dem nahen Meiringen, seinem Geburtsorte, erzählen. Die Leute dort, sagte der Alte, seien nicht von Alters her dort gewesen, sie seien eingewandert, seien aus dem hohen Norden gekommen, wo ihre Stammväter wohnten und Schweden hießen. Rudy that sich darauf etwas zu gute, das zu wissen; aber er lernte auch durch andern guten Umgang, und einen solchen hatte er an den Hausgenossen, die der Thiergattung angehörten. Es war ein großer Hund da, der Ajola hieß und Rudy's Vater angehört hatte, und auch ein Kater war da; dieser Kater namentlich stand in hohen Ehren bei Rudy; der hatte ihn das Klettern gelehrt.

»Komm nur mit hinaus auf's Dach!« hatte der Kater gesagt, und zwar deutlich und verständlich, denn wenn man ein Kind ist und noch nicht sprechen kann, versteht man sehr gut die Hühner und Enten; die Katzen und Hunde sprechen uns ebenso verständlich wie Vater und Mutter, nur muß man eben recht klein sein; selbst Großvaters Stock kann alsdann wiehern, zu einem ganzen Pferde werden mit Kopf, Beinen und Schweif. Bei einigen Kindern hört dieses Verständnis später als bei andern auf, und von solchen sagt man dann, daß sie weit zurück, gar lange Kinder geblieben sind. Was sagt man nicht Alles!

»Komm mit mir hinauf auf's Dach, Rudy!« war wohl etwa das Erste, was der Kater gesagt und Rudy verstanden hatte. »Was die Leute vom Herunterfallen reden, ist eitel Einbildung, man fällt nicht, wenn man sich nicht davor fürchtet. Komm Du nur, setze Deine eine Pfote so, die andere so! fühle vor mit den Vorderpfoten! Mußt Augen im Kopfe und geschmeidige Glieder haben! Kommt irgend so 'ne Kluft, so springe nur, und halte Dich fest, so thu' ich's!«

Und so that es Rudy denn auch; deshalb saß er so oft auf der Dachfirste bei dem Kater, saß mit ihm in den Baumwipfeln, ja hoch auf dem Felsenrande, wo der Kater nicht hinauf konnte.

»Höher herauf!« sagten Baum und Gebüsch. »Siehst Du, wie wir klettern: Wie hoch wir reichen, wie wir uns festhalten, selbst an dem äußersten, schmalen Felsenrande!«

Rudy erreichte die Bergesspitze, oftmals noch ehe die Sonne dahin gelangte, und dort schlürfte er seinen Morgentrank, die frische kräftigende Bergluft, den Trank, den nur der liebe Gott zu brauen versteht und von dem die Menschen nur das Recept zu lesen vermögen, in dem geschrieben steht: der frische Duft von den Kräutern des Berges, von der Krausemünze und dem Thymian des Thales. – Alles, was schwer ist, saugen die hängenden Wolken ein, und der Wind schleift und reibt sie über die Tannenwipfel dahin, der Geist des Duftes wird Luft, leicht und frisch, immer frischer, – diese war Rudy's Morgentrank.

Die Sonnenstrahlen, die segenbringenden Töchter der Sonne, küßten seine Wangen, und der Schwindel stand auf der Lauer, wagte es aber nicht, sich ihm zu nähern, und die Schwalben vom Hause des Großvaters, an dem nicht weniger als sieben Nester waren, flogen zu ihm und den Ziegen hinauf und sangen: »Wir und Ihr! Ihr und Wir!« Sie brachten Grüße von Haus, vom Großvater, ja selbst von den beiden Hühnern, die einzigen Vögel im Hause, mit welchen Rudy sich jedoch niemals einließ.

So klein er war, war er doch gereist, und für so ein kleines Bürschchen gerade keine kurze Reise; er war geboren drüben im Canton Wallis und hierher über die Berge getragen; kürzlich hatte er zu Fuße den nahen Staubbach besucht, der wie ein Silberstor vor dem schneebedeckten, blendend weißen Berge die »Jungfrau« in der Luft flatterte. Auch in Grindelwald bei dem großen Gletscher war er gewesen; aber das war eine traurige Geschichte: dort fand seine Mutter den Tod, dort sei die Kinderfröhlichkeit dem kleinen Rudy abhanden gekommen, sagte der Großvater. »Als der Knabe noch kein Jahr alt war, lachte er mehr, als er weinte,« so hatte die Mutter geschrieben, »von der Zeit an, wo er in der Eiskluft gesessen, sei aber ein anderer Sinn in ihn gekommen.« Der Großvater sprach selten hiervon, aber man wußte es schon auf dem ganzen Berge.

Rudy's Vater war Postknecht gewesen; der große Hund, der in der Stube beim Großvater lag, war ihm stets auf der Fahrt über den Simplon hinab nach dem Genfersee gefolgt. In dem Rhonethale im Canton Wallis wohnten noch Anverwandte väterlicher Seite von Rudy; sein Ohm war ein tüchtiger Gemsjäger und wohlbekannter Führer. – Rudy war nur ein Jahr alt, als er seinen Vater verlor, und die Mutter sehnte sich nun mit ihrem Kinde zurück zu ihren Anverwandten im Berner Oberlande; ihr Vater wohnte einige Stunden Weges von Grindelwald; er schnitzte in Holz und verdiente dabei so viel, daß er leben konnte. Im Monat Juni ging sie, mit ihren Kinde, in Begleitung von zwei Gemsjägern, heimwärts, über den Gemmi, auf Grindelwald zu. Schon hatten sie die längste Strecke zurückgelegt, waren über den Hochrücken bis in das Schneefeld gelangt, schon erblickten sie ihr heimathliches Thal, mit allen den wohlbekannten Balkenhäusern, und hatten nur noch den einen großen Gletscher zu überschreiten. Der Schnee war frisch gefallen und verbarg eine Kluft, die zwar nicht bis auf den tiefen Grund reichte, wo das Wasser brauste, aber doch immerhin tiefer als Menschenhöhe; die junge Frau, die ihr Kind trug, glitt aus, versank und war verschwunden; man hörte keinen Schrei, keinen Seufzer, aber man vernahm das Weinen eines kleinen Kindes. Mehr als eine Stunde verstrich, bis ihre beiden Begleiter aus den nächsten Häuschen unten Taue und Stangen herbeischafften, um wo möglich noch Hilfe zu bringen, und nach vieler Anstrengung brachte man aus der Eiskluft zwei Leichen hervor, wie es schien. Alle Mittel wurden angewendet; es gelang, das Kind, nicht aber die Mutter in's Leben zurückzurufen, und so bekam der alte Großvater nur einen Tochtersohn in's Haus, eine Waise, denselben Knaben, der mehr lachte als weinte; es schien aber, als sei ihm jetzt das Lachen ausgegangen, und die Veränderung müsse wohl in der Gletscherkluft geschehen sein, in der kalten wunderlichen Eiswelt, wo die Seelen der Verdammten bis zum jüngsten Tage eingekerkert sind, – wie der Schweizerbauer glaubt.

Ein brausendes Gewässer, zu Eis geronnen und zusammengepreßt wie zu grünen Glasblöcken, liegt der Gletscher, ein großer Eisblock auf den andern gewälzt; unten in der Tiefe braust der reißende Strom geschmolzenen Schnee's und zerflossenen Eises; tiefe Höhlen, große Schluchten dehnen sich dort unten aus, es ist ein wunderbarer Glaspalast, und in diesem wohnt die Eisjungfer, die Gletscherkönigin. Sie, die Tödtende, die Zermalmende, ist halb ein Kind der Luft, halb die mächtige Gebieterin des Flusses; deshalb vermag sie auch, sich mit der Schnelle der Gemse auf den obersten Gipfel des Schneeberges zu erheben, wo die kecken Bergsteiger sich erst Stufen in das Eis für ihre Tritte hauen müssen; sie segelt auf dem dünnen Tannenreise den reißenden Strom entlang, und springt dort von einem Felsblocke zum andern, umflattert von ihrem langen, schneeweißen Haar und ihrem blaugrünen Gewande, das wie das Wasser in den tiefen Schweizerseen glänzt.

»Zermalmen, festhalten! mein ist die Macht!« spricht sie. »Einen schönen Knaben stahl man mir, einen Knaben, den ich geküßt, aber nicht todt geküßt habe. Er ist wieder unter den Menschen, er hütet die Ziegen auf dem Berge, klettert aufwärts, immer höher, weit weg von den Andern, nicht von mir! Mein ist er, ich hole ihn mir!«

Sie gab dem Schwindel Auftrag, für sie zu handeln; denn es war der Eisjungfer zu schwül bei Sommerszeit im Grünen, wo die Krausemünze gedeiht; und der Schwindel stieg hinauf und hinab; es hob sich einer, es hoben sich drei. Der Schwindel hat viele Brüder, eine Schaar, und die Eisjungfer wählte den stärksten von den vielen, die außerhalb und innerhalb ihr Wesen treiben. Sie sitzen auf dem Treppen- und Thurmgeländer, sie laufen wie Eichkatzen den Felsrand entlang, sie springen über die Geländer und Stege hinaus und treten die Luft wie der Schwimmer das Wasser, und locken ihr Opfer hinaus und hinab in den Abgrund. Der Schwindel und die Eisjungfer, sie Beide greifen nach den Menschen, wie der Polyp nach Allem greift, was in seine Nähe kommt. Der Schwindel sollte Rudy greifen.

»Ja, Den greifen!« sagte der Schwindel, – »ich vermag es nicht! Die Katze, das Unthier, hat ihm ihre Künste gelehrt. Das Menschenkind hat eine eigene Macht, die mich hinwegstößt, ich vermag ihn nicht zu erreichen, diesen Knaben, wenn er auf dem Zweige hängt über den Abgrund hinaus, und wie gern kitzelte ich ihm die Fußsohlen, oder stieße ihn kopfüber in die Luft hinaus! Aber ich bringe es nicht zu Stande!«

»Wir bringen es schon zu Stande!« sagte die Eisjungfer. »Du oder ich! Ich, ich!« »Nein, nein,« klang es um sie her, als sei es ein Echo in den Bergen vom Geläute der Kirchenglocken; allein es war Gesang, es war Rede, es war ein zusammenschmelzender Chor anderer Naturgeister, guter, liebevoller Geister, – es warm die Töchter der Sonnenstrahlen. Diese lagern sich jeden Abend im Kranze um die Berggipfel; dort breiten sie ihre rosenfarbenen Flügel aus, die mit der sinkenden Sonne immer flammender werden und die hohen Alpen überglühen, die Menschen nennen das »Alpenglühen«. Wenn die Sonne dann gesunken, ziehen sie in die Berggipfel, in den weißen Schnee hinein, und schlummern dort, bis die Sonne wieder aufgeht, alsdann kommen sie auf's Neue zum Vorscheine. Besonders lieb haben sie die Blumen, die Schmetterlinge und die Menschen, und unter diesen letzteren hatten sie sich namentlich Rudy erkoren.

»Ihr fangt ihn nicht! Ihr kriegt ihn nicht!« sagten sie. – »Größer und stärker habe ich sie gefangen!« sagte die Eisjungfer.

Da sangen die Sonnentöchter ein Lied vom Wanderer, dessen Mantel der Sturm hinwegführte; – der Wind nahm die Hülle, aber nicht den Mann; »ihr könnt ihn schon ergreifen, aber nicht festhalten, ihr Kinder der Kraft; er ist stärker, er ist geistiger, als selbst wir! Er steigt höher wie die Sonne, unsere Mutter, er hat das Zauberwort, das Wind und Wasser bindet, daß sie ihm dienen und gehorchen müssen. Ihr löst das schwere, drückende Gewicht, und er hebt sich höher!«

Herrlich klang der glockenklingende Chor.

Jeden Morgen drangen die Sonnenstrahlen durch das kleine einzige Fenster im Hause des Großvaters hinein und beschienen das stille Kind. Die Töchter der Sonnenstrahlen küßten es, sie wollten die Eisküsse aufthauen, schmelzen, hinwegbringen, welche die königliche Jungfrau der Gletscher ihm gegeben, als es auf dem Schooße seiner todten Mutter in der tiefen Eiskluft lag, und dort wie durch ein Wunder gerettet wurde.

2. Die Reise in die neue Heimath.

Rudy war jetzt acht Jahre alt; sein Ohm jenseit der Berge, im Rhonethale, wollte den Knaben zu sich nehmen, damit er etwas lerne und besser fortkomme; dies sah auch der Großvater ein und ließ ihn ziehen.

Rudy nahm also Abschied. Außer dem Großvater waren aber noch Andere da, denen er Lebewohl sagen mußte; zuerst Ajola, dem alten Hunde.

»Dein Vater war Postknecht und ich war Posthund,« sagte Ajola. »Wir sind hinüber und herüber gefahren, ich kenne die Hunde und auch die Menschen jenseit der Berge. Viel reden war nie meine Sache, jetzt aber, da wir wohl nicht mehr lange mit einander zu reden haben werden, will ich etwas mehr, denn sonst sagen; ich will dir eine Geschichte erzählen, mit der ich lange umhergegangen bin, auf der ich schon lange gekaut habe; ich verstehe sie aber nicht, und Du wirst sie auch nicht verstehen, aber das ist auch gleichgiltig; so viel habe ich wenigstens herausgekriegt, daß es in der Welt nicht ganz richtig vertheilt ist, weder für Hunde, noch für Menschen! nicht Alle sind geschaffen, auf dem Schooße zu liegen, oder Milch zu schlabbern; ich bin nicht daran gewöhnt; aber ich habe so ein Hündchen mit im Postwagen fahren sehen und darin Menschenplatz haben; die Dame, die seine Herrschaft oder deren Herrschaft es war, führte ein Säugefläschchen mit Milch bei sich, aus dem das Hündchen getränkt wurde; und Zuckerplätzchen bekam es, aber es beschnoberte sie höchstens, mochte sie nicht einmal fressen, und so fraß sie die Plätzchen selber auf. Ich lief im Schmutze neben dem Wagen her, hungrig, wie eben ein Hund es sein kann, ich kaute an meinen eigenen Gedanken, das war nicht so ganz in der Ordnung, – aber es soll viel Anderes auch nicht in der Ordnung sein. Möchtest Du auf den Schooß kommen und in der Kutsche fahren? ich gönne es Dir. Aber selbst kann Einer dies nicht bewerkstelligen, ich habe es nicht können, weder durch Bellen, noch Heulen!«

Das waren Ajola's Worte, und Rudy umarmte ihn und küßte ihn herzhaft auf die nasse Schnauze; darauf nahm er die Katze in die Arme, aber die sträubte sich dabei.

»Du wirst mir zu stark, und gegen Dich will ich die Krallen nicht gebrauchen! Klettere Du nur über die Berge, ich habe Dich ja das Klettern gelehrt! Bilde Dir nur nicht ein, daß Du herabfallen kannst, dann bleibst Du schon hängen!«

Damit sprang die Katze davon, denn sie wollte nicht, daß Rudy bemerken sollte, wie ihr die Trauer aus den Augen sah.

Die Hühner stolzirten in der Stube umher; eins hatte den Schwanz verloren; ein Reisender, der Jäger sein wollte, hatte ihm den Schwanz weggeschossen, der Mensch hatte das Huhn für einen Raubvogel angesehen.

»Rudy will über die Berge wandern!« sagte das eine Huhn.

»Er hat immer solche Eile!« sagte das andere, »ich nehme nicht gern Abschied!« und damit trippelten sie Beide davon.

Den Ziegen sagte er auch Lebewohl, und sie meckerten und wollten mitgehen, »meck, meck!« das war sehr traurig.

Zwei tüchtige Führer der Gegend, die über die Berge nach der andern Seite bei Gemmi wollten, nahmen Rudy mit, er folgte ihnen zu Fuß. Es war ein strenger Marsch für ein solches Knäblein, aber es hatte gute Kräfte und sein Muth sank nicht.

Die Schwalben flogen eine Strecke mit. »Wir und Ihr! Ihr und Wir!« sangen sie. Der Weg führte über den reißenden Lütschine, der in vielen, kleinen Strömen aus der schwarzen Kluft des Grindelwald-Gletschers hervorstürzt. Als Brücke dienen hier lose Baumstämme und Steinblöcke. Drüben bei dem Ellernwalde angelangt, begannen sie den Berg da zu ersteigen, wo der Gletscher sich von der Bergwand losgetrennt hatte, und schritten nun über Eisblöcke und um solche herum auf den Gletscher hinaus; Rudy mußte bald eine Strecke kriechen, bald eine andere gehen; seine Augen strahlten vor lauter Freude und er trat so fest auf mit seinen mit Eisen beschlagenen Bergschuhen, als müsse er bei jedem Tritte ein Zeichen hinterlassen. Die schwarze Erde, die der Bergstrom auf dem Gletscher abgesetzt hatte, verlieh diesem das Aussehen, als sei er verwittert, doch das bläulichgrüne, glasartige Eis blickte dessenungeachtet durch; man mußte die kleinen Seen umgehen, die, von Eisblöcken eingedämmt, sich gebildet hatten, und auf solcher Wanderung kam man in die Nähe eines großen Steines, der schaukelnd auf dem Rande einer Spalte im Eise lag, der Stein gerieth aus dem Gleichgewichte, rollte hinab und ließ das Echo herauftönen aus den tiefen, hohlen Klüften der Gletscher.

Es ging immerzu bergan; der Gletscher selbst streckte sich aufwärts wie ein Fluß von wild aufgethürmten Eismassen, eingezwängt zwischen jähe Felsen. Rudy dachte einen Augenblick daran, daß er, wie man ihm erzählt hatte, mit seiner Mutter tief unten in einer dieser Kälte athmenden Klüfte gelegen, doch bald waren solche Gedanken verscheucht, und diese kam ihm vor wie alle die andern Geschichten, deren er so viele hatte erzählen hören. Dann und wann wenn die Männer meinten, der Weg sei doch Wohl zu beschwerlich für das Bürschchen, reichten sie ihm eine Hand, aber er ermüdete nicht, und auf dem glatten Eise stand er fest wie eine Gemse. Sie betraten nun den Felsengrund und schritten bald zwischen kahlem Gesteine, bald zwischen Tannen und wieder hinaus auf die grünen Weiden, immer durch wechselnde neue Landschaften; ringsum erhoben sich die Schneegebirge, deren Namen, die ›Jungfrau‹, der ›Mönch‹, der ›Eiger‹, jedem Kinde hier und auch Rudy bekannt waren, Rudy war früher nie so hoch oben gewesen, hatte noch nie das ausgedehnte Schneemeer betreten; hier lag es nun mit seinen unbeweglichen Schneewellen, von welchen der Wind dann und wann eine Flocke hinwegblies, wie er den Schaum von den Meereswellen bläst. Die Gletscher stehen hier, so zu sagen, Hand in Hand; jeder ist ein Glaspalast für die Eisjungfer, deren Macht und Wille es ist, zu fangen, zu begraben. Die Sonne strahlte warm, der Schnee war blendend und wie mit bläulich weißen, funkelnden Diamantblitzen übersäet. Unzählige Insekten, namentlich Schmetterlinge und Bienen, lagen haufenweise todt auf dem Schnee, sie hatten sich zu hoch gewagt, oder der Wind sie so hoch getragen, bis sie in der Kälte ausathmeten. Um das Wetterhorn hing, gleich einem seinen schwarzen Wollbüschel, eine drohende Wolke; sie senkte sich herab, strotzend von dem, das sie in ihrem Innern barg: ein Föhn, gewaltthätig, wenn er losbricht. Der Eindruck dieser ganzen Wanderung, das Nachtlager hier oben, der spätere Weg, die tiefen Felsenklüfte, wo das Wasser während eines Zeitraums, bei dessen Ermessen der Gedanke erstarrt, die Steinblöcke durchsägt hat, grub sich unvergeßlich in Rudy's Gedächtniß ein.

Ein verlassenes, steinernes Gebäude jenseit des Schneemeeres gewährte Schutz zum Uebernachten; hier fanden sie Holzkohlen und Tannenreiser; bald war ein Feuer angezündet, das Nachtlager bereitet, so gut es eben ging; die Männer setzten sich um das Feuer, schmauchten ihren Tabak und tranken das warme, würzige Getränk, welches sie selbst zubereitet hatten; auch Rudy bekam seinen Antheil vom Getränke und es wurde von dem geheimnißvollen Wesen des Alpenlandes, von den seltsamen riesigen Schlangen in den tiefen Seen, von dem nächtlichen Gespensterheere erzählt, das den Schlafenden durch die Lüfte nach der wunderbaren, schwimmenden Stadt Venedig trage, von dem wilden Hirten, der seine schwarzen Schafe über die Weide triebe; habe man diese auch nicht gesehen, jedenfalls habe man das Geklingel ihrer Glöcklein vernommen, das unheimliche Gemecker der Heerde gehört. Rudy lauschte neugierig, aber ohne alle Furcht, solche kannte er nicht, und während er lauschte, kam es ihm vor, als höre er das gespensterhafte hohle Gebrüll; ja, es wurde immer hörbarer, auch die Männer hörten es, hielten in ihrem Gespräch inne, lauschten und sagten zu Rudy, er dürfe nicht schlafen.

Es war ein Föhn, dieser gewaltige Sturmwind, der sich von den Bergen herab ins Thal wirft, und in seiner Gewaltthätigkeit die Bäume knickt, als seien sie schwankes Röhricht, der die Balkenhäuser von einem Flußufer zum andern hinüberträgt, wie wir eine Schachfigur versetzen.

Nach Verlauf etwa einer Stunde sagten sie zu Rudy, das sei jetzt überstanden, er könne nun schlafen, und ermüdet von dem Marsche, schlief er ein wie auf Kommando.

Am nächsten Morgen brachen sie wieder auf. Die Sonne beleuchtete an diesem Tage für Rudy neue Berge, Gletscher und Schneefelder; sie waren in den Canton Wallis eingetreten und befanden sich jenseit des Bergrückens, den man vom Grindelwald aus erblickt, aber noch weit entfernt von der neuen Heimath. Es zeigten sich andere Klüfte, andere Triften, Wälder und Felsenpfade, auch andere Häuser, andere Menschen kamen zum Vorscheine, aber was für Menschen? Es waren Misgestalten, unheimliche, fette, weißgelbe Gesichter, die Hälse waren schwere, häßliche Fleischklumpen, wie Säcke herabhängend; es waren Cretins, sie schleppten sich kränkelnd vorwärts und sahen die Fremden mit dummen Augen an; die Weiber namentlich sahen entsetzlich aus. Waren das die Menschen in der neuen Heimath?

3. Der Ohm.

Im Hause des Ohms, wo Rudy nun lebte, sahen die Menschen, gottlob, aus, wie er sie zu sehen gewohnt war; hier war nur ein einziger Cretin, ein armer, geistesbeschränkter Bursche, eines dieser beklagenswerthen Geschöpfe, die in ihrer Verlassenheit stets im Canton Wallis von Haus zu Haus gehen, und in jeder Familie ein paar Monate bleiben; der arme Saperli war gerade hier, als Rudy ankam.

Der Ohm war noch ein kräftiger Jäger und verstand außerdem das Faßbinderhandwerk; seine Frau war eine kleine, lebhafte Person mit einem Vogelgesichte, Augen wie ein Adler und einem langen, über und über mit Flaum besetzten Halse.

Alles war hier für Rudy neu, Kleidertracht, Sitte und Gebrauch, selbst die Sprache; doch diese würde des Kindes Ohr bald verstehen lernen. Wohlhabend sah es hier aus in Vergleich mit der frühern Heimath bei dem Großvater. Das Zimmer war größer, die Wände prangten mit Gemsgeweihen und blank polirten Jagdflinten, über der Thüre hing ein Bild der Mutter Gottes; frische Alpenrosen und eine brennende Lampe standen vor demselben.

Der Ohm war, wie gesagt, einer der tüchtigsten Gemsjäger der ganzen Gegend und auch einer der besten Führer. In diesem Hause sollte nun Rudy das Schooßkind sein; zwar war hier schon ein solches, nämlich ein alter, blinder und tauber Jagdhund, der jetzt nicht mehr auf die Jagd mitging, es aber früher gethan hatte. Man hatte seine guten Eigenschaften aus früheren Zeiten nicht vergessen, und deshalb wurde das Thier nun mit zur Familie gerechnet und gut gepflegt. Rudy streichelte den Hund, aber der ließ sich nicht mehr mit Fremden ein, und ein solcher war ja Rudy noch; lange blieb er es aber nicht, er faßte bald Wurzel im Hause und im Herzen.

»Hier im Canton Wallis ist es nicht so übel,« sagte der Ohm, »und Gemsen haben wir, die sterben nicht so bald aus wie der Steinbock; hier ist es jetzt viel besser als in früherer Zeit. Wie viel auch den alten Tagen zu Ehren erzählt wird, die unsern sind doch besser, der Sack ist aufgemacht, es geht ein Luftzug durch unser eingeschlossenes Thal. Etwas Besseres kommt immer zum Vorscheine, wenn das Abgenutzte fällt!« sagte er; und wenn der Ohm recht mittheilsam war, erzählte er von seinen Jugendjahren und weiter bis hinauf in die kräftigste Zeit seines Vaters, als Wallis, wie er sich ausdrückte, noch ein zugemachter Sack war, voll vieler kranker Leute, bejammernswerther Cretins; »aber die französischen Soldaten kamen herein, sie waren die richtigen Aerzte, sie schlugen gleich die Krankheit todt, und die Personen schlugen sie auch todt. Das Schlagen verstanden die Franzosen, in mehr als einer Weise eine Schlacht zu schlagen, und die Mädchen verstehen es auch!« Dabei nickte der Ohm seiner Frau, die eine geborene Französin war, zu und lachte. »Die Franzosen haben in die Steine geschlagen, daß es eine Art hat! Den Simplonweg haben sie in die Felsen geschlagen, einen Weg, daß ich jetzt zu einem Kinde von drei Jahren sagen kann, geh' mal hinab nach Italien! Halte Dich nur auf der Landstraße! – und das Kind wird richtig in Italien ankommen, wenn es sich nur auf der Landstraße hält!« Dann sang der Ohm ein französisches Lied und rief Hurrah und »Es lebe Napoleon Bonaparte!«

Hier hörte Rudy zum ersten Male erzählen von Frankreich, von Lyon, der großen Stadt an der Rhone; dort war der Ohm gewesen.

Es sollten nicht viele Jahre vergehen, bis Rudy ein flinker Gemsjäger werden würde, er habe das Zeug dazu, sagte der Ohm, und dieser lehrte ihn, die Büchse zu halten, lehrte ihn das Zielen und Schießen; er nahm ihn während der Jagdzeit mit in die Berge und ließ ihn von dem warmen Blute der Gemsen trinken, das dem Jäger den Schwindel benimmt; er lehrte ihn auch, die Zeit unterscheiden, wenn auf den verschiedenen Bergen die Lawinen rollen würden, Mittags oder Abends, je nachdem die Sonnenstrahlen dort wirken; er lehrte ihn, auf die Gemsen und deren Sprung Acht zu geben, daß man auf die Füße zu stehen käme und feststehe, und sei im Felsenrisse keine Stütze für den Fuß, so müsse man sich mit den Ellnbogen, mit den Lenden und Waden festklammern, selbst mit dem Nacken könne man sich festbeißen, wenn es sein müsse. Die Gemsen seien klug, sie stellten Vorposten aus, allein der Jäger müsse klüger sein, ihnen aus der Witterung gehen und sie irre führen; eines Tages, als Rudy mit dem Ohm auf der Jagd war, hing dieser seinen Rock und Hut auf den Alpenstock, und die Gemsen sahen den Rock für den Mann an.

Der Felsenpfad war schmal, ja es war fast kein Pfad, nur ein schmales Gesims längs des gähnenden Abgrundes. Der Schnee, der hier lag, war halb aufgethaut, das Gestein bröckelte, wenn man auftrat, der Ohm legte sich deshalb nieder und kroch vorwärts. Jedes Stückchen, welches vom Felsen abbröckelte, fiel und prallte an, sprang und rollte von der einen Felswand zur andern, bis es zur Ruhe gelangte in der Tiefe. Etwa hundert Schritte hinter dem Ohm stand Rudy auf einer hervorspringenden festen Felsenspitze; von hier sah er einen großen Lämmergeier durch die Luft kreisen und über seinem Ohm schwebend stehen bleiben, den er mit seinem Flügelschlage in den Abgrund werfen wollte, um ihn sich zur Beute zu machen. Der Ohm hatte nur Auge für die Gemse, die mit ihrem Jungen jenseit der Felsenkluft zu sehen war; Rudy hielt seinen Blick fest auf den Vogel, er verstand schon, was er wollte; deshalb stand er bereit, die Büchse abzufeuern. Da erhob sich plötzlich die Gemse mit einem Sprunge, der Ohm schoß, und das Thier war getroffen von der tödtenden Kugel, aber das Junge sprang davon, als sei es ein langes Leben hindurch in Flucht und Gefahr geübt. Der große Vogel schlug erschreckt durch den Knall des Schusses eine andere Richtung ein; der Ohm wußte nichts von der Gefahr, in welcher er geschwebt hatte, erst von Rudy erfuhr er sie.

Während sie sich nun in der besten Laune auf dem Heimwege befanden und der Ohm ein Lied aus seinen Jugendjahren pfiff, vernahmen sie plötzlich einen eigenthümlichen Laut aus ihrer Nähe; sie blickten um sich, und dort, in der Höhe auf dem Felsenabhange, hob sich die Schneedecke, sie bewegte sich wellenförmig wie ein Stück ausgebreitetes Leinen, wenn der Wind unter demselben hinfährt. Die Schneewellen barsten und lösten sich, zuvor glatt und fest wie marmorne Platten, in schäumende, stürzende Gewässer auf, die wie dumpfer Donnerschlag dröhnten; es war eine Lawine die herabstürzte, nicht über Rudy und den Ohm herab, aber in ihrer Nähe, ihnen gar zu nahe.

»Halte Dich fest, Rudy!« rief der Ohm; »fest mit Deiner ganzen Kraft!«

Und Rudy umklammerte den nächsten Baumstamm; der Ohm kletterte über ihn den Baum hinauf und hielt sich dort fest, während die Lawine viele Fuß von ihnen entfernt dahinrollte; allein der Luftdruck, die Sturmesflügel der Lawine, zerbrachen ringsum Baume und Gebüsch, als seien sie nur dürres Rohr, und warf sie weit umher. Rudy lag auf dem Erdboden niedergekauert; der Baumstamm, an dem er sich festhielt, war wie durchgesägt und die Krone war weithin geschleudert; dort, zwischen den geknickten Zweigen lag der Ohm mit zerschmettertem Kopfe, seine Hand war noch warm, aber sein Gesicht nicht zu erkennen. Rudy stand bleich und zitternd da; es war der erste Schreck seines Lebens, der erste Schauder, den er empfand.

Am späten Abende kam er mit Todesbotschaft in die Heimath zurück, die nun ein Haus der Trauer ward. Das Weib fand keine Worte, keine Thränen, erst als man den Leichnam brachte, kam der Schmerz zum Ausbruche. Der arme Cretin kroch in sein Bett, man sah ihn den ganzen folgenden Tag nicht; erst gegen Abend trat er an Rudy heran.

»Schreibe einen Brief für mich!« sagte er; »Saperli kann nicht schreiben! Saperli kann den Brief auf die Post bringen!«

»Brief von Dir?« fragte Rudy. »Und an wen?«

»An den Herrn Christ!«

»An wen sagst Du?«

Und der Dämliche, wie sie den Cretin nannten, sah mit rührendem Blicke auf Rudy, faltete die Hände und sagte feierlich und fromm:

»Jesus Christ! Saperli will ihm Brief schicken, ihn bitten, daß Saperli todt liegen muß und nicht Mann im Hause hier!«

Rudy drückte seine Hand und sagte: »Der Brief kommt nicht hin, giebt ihn uns nicht zurück!«

Es wurde Rudy nicht leicht, ihm die Unmöglichkeit einleuchtend zu machen.

»Jetzt bist Du die Stütze des Hauses!« sagte die Base Pflegemutter, und Rudy wurde es auch.

4. Babette.

Wer ist der beste Schütze im Canton Wallis? das wußten schon die Gemsen: »Hüte Dich vor Rudy!« konnten sie sagen. »Wer ist der hübscheste Schütze?« »Das ist Rudy!« sagten die Mädchen, aber sie sagten nicht: »Hüte Dich vor Rudy!« Das sagten nicht einmal die ernsten Mütter, denn er nickte ihnen ebenso freundlich zu wie den jungen Mädchen. Wie keck und fröhlich war er, seine Wangen waren gebräunt, seine Zähne frisch und weiß, die Augen glänzend schwarz, er war ein hübscher Bursch und zwanzig Jahre alt. Das Eiswasser konnte ihm nichts anhaben, wenn er schwamm; wie ein Fisch konnte er sich drehen und wenden im Wasser, und klettern wie kein Anderer, sich festkleben an die Felsenwand wie eine Schnecke, gute Muskeln und Sehnen hatte er, und das zeigte er auch im Sprunge, den er erst von der Katze, später von der Gemse gelernt hatte. Rudy war der beste Führer, dem man sich anvertrauen konnte; er würde sich ein ganzes Vermögen als Führer sammeln können; die Faßbinderei, die der Ohm ihm auch gelehrt hatte, sagte ihm aber nicht zu, seine Lust war die Gemsjagd, die brachte auch Geld ein. Rudy war eine gute Partie, wie man sagte, wenn er nur nicht über seinen Stand hinausschauen wollte. Ein Tänzer war er, von dem die Mädchen träumten, und den dieses und jenes gar wachend mit in seinen Gedanken umhertrug.

»Mich hat er im Tanze geküßt!« sagte des Schulmeisters Annette zu ihrer liebsten Freundin; doch das hätte sie nicht sagen sollen, selbst nicht zu ihrer liebsten Freundin. Dergleichen ist nicht leicht geheim zu halten, es ist wie ein Sand in einem Siebe, er läuft heraus; bald wußte man auch, daß Rudy, so brav und gut er auch war, im Tanze küßte, und doch hatte er gar nicht Diejenige geküßt, die er am liebsten hätte küssen mögen.

»Ja der!« sagte ein alter Jäger, »der hat Annette geküßt, er hat mit A angefangen und wird schon das ganze ABC durchküssen!«

Ein Kuß beim Tanze war Alles, was die emsigen Zungen bis dahin von ihm zu sagen wußten, er hatte freilich Annette geküßt, und doch war sie gar nicht die Blume seines Herzens.

Unten im Thale bei Bex, zwischen den großen Wallnußbäumen, an einem kleinen, reißenden Bergstrome, wohnte der reiche Müller; das Wohnhaus war ein großes Gebäude von drei Stockwerken mit kleinen Thürmen, gedeckt mit Spahn und belegt mit Blechplatten, die im Sonnen- und Mondenscheine glänzten. Der größte der Thürme hat eine Wetterfahne, einen blitzenden Pfeil, der einen Apfel durchbohrt hatte, das sollte an Tell's Schuß erinnern. Die Mühle sehe nett und wohlhabend aus, lasse sich auch abzeichnen und beschreiben, aber des Müllers Tochter lasse sich nicht abzeichnen und beschreiben, so würde wenigstens Rudy gesagt haben, und doch stand sie abgezeichnet in seinem Herzen; ihre Augen strahlten dort so, daß ein wahres Feuer darin war; das war plötzlich gekommen, wie anderes Feuer kommt, und das Sonderbarste dabei war, daß die Müllerstochter, die hübsche Babette, keine Ahnung davon hatte, sie und Rudy hatten noch nie ein Wort mit einander gesprochen.

Der Müller war reich, und dieser Reichthum machte, daß Babette sehr hoch saß und schwer zu haschen war; aber Nichts sitzt so hoch, daß man es nicht sollte erreichen können; man muß nur klettern; herabfallen thut man schon nicht, wenn man es sich nur nicht einbildet. Die Lehre hatte er von Hause aus. Es machte sich einmal so, daß Rudy etwas in Bex auszurichten hatte: es war bis dorthin eine ganze Reise; die Eisenbahn war damals noch nicht zu Stande gekommen. Von dem Rhone-Gletscher längs dem Fuße des Simplon, zwischen vielen, wechselnden Bergeshöhen erstreckt sich das breite Wallisthal mit seinem mächtigen Flusse, die Rhone, die oft über ihre Ufer tritt und über Felder und Wege dahin fluthet, Alles zerstörend. Zwischen den Städten Sion und St. Maurice macht das Thal eine Krümmung, biegt sich wie ein Ellnbogen, und wird hinter Maurice so eng, daß es nur Platz für das Flußbett und die schmale Fahrstraße hat. Ein alter Thurm steht hier als Schildwache vor dem Canton Wallis, der hier endet, und schaut über die gemauerte Brücke hinüber nach dem Zollhause auf der andern Seite; dort beginnt der Canton Waadt, und die nächste, nicht weit entfernte Stadt ist Bex. Hier nun bei jedem Schritte schwillt Alles in Fülle und Ueppigkeit, man befindet sich wie in einem Garten von Kastanien und Wallnußbäumen; hier und dort blicken Cypressen und Granatblüthen hervor; es ist hier südlich warm, als wäre man nach Italien gekommen. –

Rudy langte in Bex an und besorgte, was er dort auszurichten hatte, und sah sich um in der Stadt, aber nicht einen Müllerburschen, geschweige denn die Babette, bekam er zu Gesicht. Das war nicht wie es sein sollte.

Es wurde Abend, die Luft war erfüllt mit dem Dufte des wilden Thymians und der blühenden Linde; um die waldesgrünen Berge lag gleichsam ein schimmernder, luftblauer Schleier; es herrschte weit und breit eine Stille, nicht die des Schlafes oder des Todes, nein, es war, als hielte die ganze Natur den Athem an, als fühle sie sich hingestellt, damit ihr Bild auf den blauen Himmelsgrund photographirt werde. Hier und da zwischen den Bäumen auf dem grünen Felde, standen Stangen, die den Telegraphendraht, der durch das stille Thal geführt ist, stützten; an einer dieser lehnte ein Gegenstand, so unbeweglich, daß man ihn für einen Baumstamm hätte halten können: es war Rudy, der hier eben so still dastand wie in diesem Augenblicke die ganze Umgebung; er schlief nicht, noch weniger war er todt, aber wie oft große Weltbegebenheiten durch den Telegraphendraht stiegen, – Lebensmomente von Bedeutung für den Einzelnen, ohne daß der Draht durch Zittern oder durch einen Laut darauf hindeutet, so durchzitterten Rudy mächtige, überwältigende Gedanken: das Glück seines Lebens, sein von nun an beständiger Gedanke. Seine Augen hefteten sich auf einen Punkt, ein Licht, das zwischen dem Laubwerke in der Wohnstube des Müllers, wo Babette wohnte, zum Vorscheine kam. Still wie Rudy hier stand, hätte man glauben müssen, er ziele auf eine Gemse, allein er selbst war in diesem Augenblicke wie die Gemse, die Minuten lang, wie aus dem Felsen gehauen, still stehen kann, bis sie plötzlich, wenn ein Stein hinabrollt, aufspringt und davonjagt; und so that es gerade Rudy; es rollte ein Gedanke in ihm.

»Niemals verzagen!« rief er. »Ein Besuch in der Mühle! Guten Abend dem Müller, guten Abend Babetten. Man fällt nicht hinab, wenn man es sich nicht einbildet! Babette muß mich doch einmal sehen, soll ich ihr Mann werden!«

Rudy lachte, er war frohen Muthes und schritt auf die Mühle zu; er wußte, was er wollte, er wollte Babette haben.

Der Fluß mit dem weißgelben Grunde brauste dahin, Weiden und Linden hingen über die eilenden Gewässer hinaus; Rudy schritt den Pfad entlang auf des Müllers Haus zu. – Aber, wie die Kinder singen:

»Es war Niemand hier zu Haus' –Nur das Kätzchen kam heraus!«

Die Hauskatze stand auf der Treppe, krümmte den Rücken und sagte: »Miau!« aber Rudy hatte keinen Sinn für diese Rede; er klopfte an, Niemand hörte ihn, Niemand schloß ihm die Thüre auf. »Miau!« sagte die Katze. Wäre Rudy noch ein Kind gewesen, so hätte er die Sprache schon verstanden, und begriffen, daß die Katze eben sagte: »Hier ist Niemand zu Hause!« Jetzt mußte er aber auf die Mühle hinüber, um zu fragen, und dort bekam er die Auskunft, daß der Müller verreist sei weit, nach Interlaken, und Babette mit ihm; dort sei großes Schützenfest, es beginne morgen und dauere ganze acht Tage. Leute aus allen deutschen Cantonen würden dort sein. Armer Rudy, konnte man sagen, er hatte keinen glücklichen Tag zu seinem Besuche in Bex gewählt, er konnte jetzt wieder umkehren; das that er denn auch und schritt über St. Maurice und Sion auf sein heimathliches Thal, seine heimatlichen Berge zu, allein verzagen that er nicht. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war sein guter Humor längst wohlauf, der war noch nie untergegangen.

Babette ist in Interlaken, viele Tagereisen von hier, sagte er sich. Es ist ein langer Weg dorthin, wenn man die breite Landstraße geht, aber es ist nicht so weit, wenn man quer über die Berge steigt, und der Weg ist gerade für den Gemsjäger! Den Weg bin ich früher gegangen, drüben ist meine Heimath, wo ich als Kind bei dem Großvater gewesen bin; und in Interlaken ist Schützenfest! Ich will dabei sein und will der Erste sein, und bei Babette will ich auch sein, wenn ich erst ihre Bekanntschaft gemacht habe!

Seinen leichten Ranzen, darin der Sonntagsstaat, auf den Rücken, Flinte und Jagdtasche über die Schulter geworfen, stieg Rudy den Berg hinan, den kurzen Weg, der doch ziemlich lang war; allein das Schützenfest war erst an diesem Tage angegangen und währte die ganze Woche und darüber hinaus; während dieser ganzen Zeit bliebe der Müller und Babette bei ihren Anverwandten in Interlaken, hatte man ihm gesagt. Rudy schritt über den Gemmi hin, er wollte bei Grindelwald hinabsteigen. –

Frisch und fröhlich schritt er aufwärts in der frischen, leichten, stärkenden Bergluft. Das Thal senkte sich immer tiefer, der Gesichtskreis erweiterte sich; hier ein Schneegipfel, dort wieder einer, und bald die schimmernd weiße Alpenkette. Rudy kannte jeden Berg; er ging auf's Schreckhorn zu, das seinen weißgepuderten, steinernen Finger hoch in die blaue Luft streckt.

Endlich war er über den Hochrücken hinaus; die Grastriften senkten sich hinab, dem Thale seiner Heimath zu; die Luft war leicht, der Sinn war leicht; Berg und Thal prangten in Fülle mit Blumen und Grün, das Herz war voll des Jugendgefühls, bei welchem kein Alter und kein Tod in Frage kommt: leben, herrschen, genießen! Frei wie ein Vogel, leicht wie ein Vogel war er. Und die Schwalben flogen an ihm vorüber und sangen wie sie in seiner Kindheit gesungen: »Wir und Ihr! Ihr und Wir!« Alles war Flug und Freude.

Dort unten lag die sammetgrüne Wiese, übersäet mit braunen Balkenhäusern, die Lütschine summte und brauste. Er sah den Gletscher mit den glasgrünen Rändern und dem schmutzigen Schnee, sah in die tiefen Spalten hinein, sah den obersten und auch den untersten Gletscher. Die Kirchenglocken klangen zu ihm herüber, als wollten sie ihm ein Willkommen m der Heimath läuten; sein Herz klopfte stärker, erweiterte sich dermaßen, daß Babette einen Augenblick darin ganz verschwand, so weit wurde sein Herz, so erfüllt von Erinnerungen.

Er schritt wieder auf dem Wege dahin, wo er als kleiner Knabe mit den andern Kindern gestanden und geschnitzte Häuser verkauft hatte. Dort oben, hinter den Tannen, stand noch das Haus seines Großvaters von mütterlicher Seite, fremde Leute bewohnten es jetzt. Kinder kamen ihm auf dem Wege entgegengelaufen, sie wollten handeln, eins bot ihm eine Alpenrose an, Rudy nahm die Rose als ein gutes Zeichen, und dachte an Babette. Bald war er über die Brücke geschritten, wo die beiden Lütschinen sich vereinigen, das Laubholz war hier schon dichter, die Wallnußbäume gaben Schatten. Jetzt sah er die wehenden Flaggen, das weiße Kreuz in dem rothen Felde, wie der Schweizer und der Däne es hat; und vor ihm lag Interlaken.

Das war freilich eine Prachtstadt, wie keine andere, meinte Rudy. Ein Schweizerstädtchen im Sonntagsstaate. Das sah nicht aus wie die andern Städte, schwerfällig, ein Haufen schwerer Steinhäuser, fremd und vornehm; nein! hier sah es aus, als wären die hölzernen Häuser von den Bergen oben, hinab in das grüne Thal gelaufen, und hätten sich in Reih und Glied an dem klaren, pfeilschnell dahinströmenden Flusse aufgestellt, ein wenig ein und aus, aber doch immer eine hübsche Straße bildend. Die prächtigste aller Straßen war freilich emporgewachsen, seitdem Rudy als Knabe hier gewesen war; es schien ihm, als sei sie aus allen den niedlichen Häuserchen entstanden, die der Großvater geschnitzt hatte, und mit welchen der Schrank zu Hause angefüllt war, als hätten diese sich aufgestellt und wären kräftig aufgewachsen, wie die alten, ältesten Kastanienbäume. Jedes Haus war ein Hotel, wie es genannt wurde, mit ausgeschnitztem Holzwerke um Fenster und Söller, mit vorspringendem Dache, geputzt und zierlich, und vor jedem Hause ein Blumengarten nach der breiten, mit Steinen gepflasterten Landstraße hinaus; längs derselben standen die Häuser, aber nur an der einen Seite, sie würden sonst die frische, grüne Wiese verdeckt haben, in welcher die Kühe umhergingen mit Glocken um den Hals, die wie auf der Hochalp klangen. Die Wiese war von hohen Bergen umgeben, die in der Mitte gleichsam zur Seite traten, daß man recht deutlich den glänzenden, schneebedeckten Berg, die Jungfrau, den am schönsten geformten aller Schweizerberge, sehen konnte.

Welch' eine Menge von geputzten Herren und Damen aus fremden Ländern, welch' Gewimmel von Landleuten aus den verschiedenen Cantonen! Jeder Schütze trug seine Schießnummer m einem Kranze um den Hut. Hier war Musik und Gesang, Leierkasten, Trompeten, Schreien und Lärmen. Häuser und Brücken waren mit Emblemen und Versen geschmückt; es wehten Fahnen und Flaggen, die Büchsen knallten Schuß auf Schuß, und die Schüsse waren in Rudy's Ohren die beste Musik, er vergaß in diesem Gewirre Babette ganz, um derenwillen er doch hierher gekommen war.

Die Schützen drängten sich zum Scheibenschießen. Rudy stand bald unter ihnen und war der Tüchtigste, der Glücklichste von Allen; stets traf sein Schuß mitten in den schwarzen Fleck.

»Wer mag doch der fremde junge Jäger sein?« fragte man, »Er spricht das Französische, das sie im Canton Wallis sprechen – er macht sich auch ganz gut verständlich in unserm Deutsch« sagten Einige. – »Als Kind soll er hier in der Gegend um Grindelwald gelebt haben,« wußte Einer der Jäger.

Und voll Leben war dieser fremde Bursche: seine Augen flammten, sein Blick und sein Arm waren sicher, deshalb traf er auch. Das Glück giebt Muth, und Muth hatte Rudy ja immer. Bald hatte er hier einen Kreis von Freunden um sich versammelt, man ehrte ihn, ja man huldigte ihm, – Babette war ihm ganz aus den Gedanken verschwunden. Da schlug eine schwere Hand ihn auf die Schulter und eine tiefe Stimme sprach ihn in französischer Sprache an. »Ihr seid aus dem Canton Wallis?« Rudy wandte sich um und sah ein rothes vergnügtes Gesicht, eine dicke Person; es war der reiche Müller aus Bex; mit seinem breiten Körper verbarg er die seine, niedliche Babette, die jedoch bald hervorblickte mit ihren strahlenden, dunklen Augen. Es hatte dem reichen Müller geschmeichelt, daß es ein Jäger aus seinem Canton war, der die besten Schüsse that und von allen Andern geehrt wurde. Nun, Rudy war freilich ein Glückskind; das, weshalb er hierher gewandert war, aber jetzt an Ort und Stelle fast vergessen hatte, das suchte ihn auf.

Wenn Landsleute sich weit von der Heimath treffen, so sprechen sie zusammen und machen Bekanntschaft mit einander. Rudy war durch seine Schüsse der Erste beim Schützenfeste, wie der Müller zu Hause in Bex der Erste durch sein Geld und seine gute Mühle war. So drückten die beiden Männer sich die Hand, was sie früher nie gethan hatten; auch Babette reichte dem Rudy treuherzig die Hand, und er drückte ihre Hand und blickte sie fest an, daß sie über und über roth dabei wurde.

Der Müller erzählte von dem langen Wege, den sie hierher gereist waren, und von den vielen, großen Städten, die sie gesehen hatten; sie hatten, seiner Meinung nach, eine große Reise gemacht, und waren mit Dampfschiff, Dampfwagen und auch mit Postwagen gefahren.

»Ich bin den kürzeren Weg gegangen,« sagte Rudy. »Ich bin über die Berge gekommen; kein Weg ist so hoch, daß man ihn nicht passiren kann.«

»Aber auch den Hals brechen!« sagte der Müller. »Und Ihr seht mir grad' so aus, als würdet Ihr 'mal den Hals brechen; so verwegen wie Ihr seid!«

»O, man fällt nicht herunter, wenn man es sich nur nicht einbildet!« sagte Rudy.

Die Anverwandten des Müllers in Interlaken, bei denen der Müller und Babette auf Besuch waren, luden Rudy ein, bei ihnen vorzusprechen, – war er doch aus demselben Canton, wie der Müller. Das war für Rudy ein gutes Anerbieten, das Glück war ihm günstig, wie es stets demjenigen ist, der auf sich selbst baut und bedenkt, daß »Gott uns die Nüsse giebt, aber sie nicht für uns aufknackt.«

Rudy saß da bei den Anverwandten des Müllers, als gehöre er auch zur Familie, und ein Glas wurde geleert auf das Wohl des besten Schützen; Babette stieß mit an, und Rudy dankte für den Trinkspruch.

Gegen Abend spazierten Alle den schonen Weg längs der stattlichen Hotels unter den alten Wallnußbäumen, und so viele Menschen und ein solches Gedränge war dort, daß Rudy Babette seinen Arm anbieten mußte. Er freue sich so sehr, daß er Leute aus Waadt angetroffen habe, sagte er. Waadt und Wallis seien gute Nachbar-Cantone. Er sprach diese Freude so herzlich aus, daß Babette nicht unterlassen konnte, ihm dafür die Hand zu drücken. Sie gingen neben einander einher, als waren sie alte Bekannte: sie sprach und erzählte, und es stehe ihr gar zu gut, meinte Rudy, das Lächerliche und Uebertriebene an den Kleidern und dem Gange der fremden Damen bemerklich zu machen, sie thue das gar nicht um zu spotten, denn es könnten rechtschaffene, ja liebe, gute Menschen sein, das wisse Babette wohl, habe sie doch selbst eine Pathin, die eine solch' vornehme englische Dame sei. Vor achtzehn Jahren, als Babette getauft worden, sei die Pathin in Bex gewesen; sie habe Babette die kostbare Nadel geschenkt, die sie am Busen trage. Zwei Mal habe die Pathin geschrieben, und dieses Jahr hätten sie hier in Interlaken mit ihr und ihren Töchtern zusammentreffen sollen; die Töchter seien alte Mädchen, nahe an dreißig, sagte Babette, – war sie doch erst achtzehn.

Der kleine süße Mund stand keinen Augenblick still, und Alles, was Babette sagte, klang in Rudy's Ohren wie Dinge von der größten Wichtigkeit, und er erzählte wieder, was er zu erzählen hatte, wie oft er in Bex gewesen, wie gut er die Mühle kenne und wie oft er Babette gesehen, während sie ihn wahrscheinlich nie bemerkt habe; und nun letzthin, als er in der Mühle gewesen und zwar mit vielen Gedanken, die er nicht aussprechen könne, waren sie und ihr Vater abwesend, weit verreist, aber doch nicht so weit, als daß man nicht über die Mauer hätte klettern können, die den Weg lang machte.

Ja, das sagte er, und er sagte gar Vieles; er sagte, wie gut er sie leiden mochte – und daß er ihretwegen und nicht des Schützenfestes halber gekommen sei.

Babette verstummte bei dem Allen; es war ihr, als muthete er ihr zu, gar zu viel zu tragen.

Während sie dahinwanderten, sank die Sonne hinter die hohe Felswand hinab. Die »Jungfrau« stand da in Pracht und Glanz, umgeben vom waldesgrünen Kranze der nahen Berge. Alle Menschen blieben stehen und betrachteten die Naturschönheit; auch Rudy und Babette freuten sich darüber.

»Nirgend ist es schöner als hier!« sagte Babette.

»Nirgend!« sagte Rudy, und sah Babette an.

»Morgen muß ich nach Hause!« sagte er einige Augenblicke später.

»Besuche uns in Bex!« flüsterte Babette, »es wird meinen Vater freuen.«

5. Auf dem Rückwege.

O, wie viel hatte Rudy zu tragen, als er Tags darauf über die hohen Berge nach Hause ging. Ja, er hatte drei silberne Becher, zwei schöne Büchsen, und eine silberne Kaffeekanne; die Kanne würde zu gebrauchen sein, wenn man sich häuslich einrichtete; aber das Alles war noch nicht das Gewichtigste, etwas Gewichtigeres, Mächtigeres trug er, oder trug ihn über die hohen Berge heimwärts. Das Wetter war jedoch rauh, grau, regnerisch und schwer; die Wolken senkten sich wie ein Trauerflor auf die Bergeshöhen herab und umhüllten die strahlenden Gipfel. Aus dem Waldesgrunde herauf drangen die letzten Axtschläge und den Berghang hinab rollten Baumstämme, die von der Höhe wie dünne Stocke aussahen, aber trotzdem wie die stärksten Schiffsmasten waren. Die Lütschine brauste ihren einförmigen Accord, der Wind sauste, die Wolken segelten. Da plötzlich ging dicht neben Rudy ein junges Mädchen einher; er hatte das Mädchen nicht eher bemerkt, als bis sie ganz in seiner Nähe war; sie wollte gleichfalls über den Felsen steigen. Des Mädchens Augen übten eine eigenthümliche Gewalt aus, man war gezwungen hineinzuschauen, sie waren gar seltsam, glasklar, tief, tief, bodenlos.

»Hast Du einen Geliebten?« fragte Rudy; seine Gedanken waren alle auf Liebe gerichtet.

»Ich habe keinen!« antwortete das Mädchen und lachte, es war aber, als spräche sie kein wahres Wort. »Machen wir doch keinen Umweg!« sagte sie. »Wir müssen uns mehr links halten, so ist der Weg kürzer.«

»Ja wohl, um in eine Eiskluft zu stürzen!« sagte Rudy. »Kennst Du den Weg nicht besser und willst Führer sein?«

»Ich kenne grade den Weg!« sagte das Mädchen, »und ich habe meine Gedanken beisammen. Die Deinigen sind wohl unten im Thale; hier oben muß man an die Eisjungfer denken, sie ist den Menschen nicht gut, sagen die Menschen!«

»Ich fürchte sie nicht!« sagte Rudy, »mußte sie mich doch wieder herausgeben, als ich noch ein Kind war, ich werde mich ihr jetzt nicht hingeben, da ich älter bin!«

Und die Finsternis; nahm zu, der Regen fiel herab, der Schnee kam, er leuchtete und blendete.

»Reiche mir Deine Hand,« sagte das Mädchen, »ich werde Dir beim Steigen behilflich sein,« und er fühlte sich von eiskalten Fingern berührt.

»Du mir beistehen,« sagte Rudy. »Noch brauche ich die Hilfe eines Weibes nicht, um zu klettern!« Und er schritt schneller vorwärts, fort von ihr; das Schneegestöber hüllte ihn ein wie in einen Schleier, der Wind sauste, und hinter sich hörte er das Mädchen lachen und singen; es klang gar sonderbar. Das müsse ein Spukgesicht sein im Dienste der Eisjungfer; Rudy hatte davon reden hören, als er, damals noch ein Knabe, bei der Wanderung über die Berge hier oben übernachtete.

Der Schnee siel dünner, die Wolke lag unter ihm, er sah zurück, es war Niemand mehr zu sehen, aber er vernahm Lachen und Jodeln, und es klang nicht wie aus einer Menschenbrust.

Als Rudy endlich die oberste Bergfläche erreichte, von wo der Pfad hinab in das Rhonethal führte, sah er in der Richtung von Chamouny, in dem klaren, blauen Luftstreifen zwei helle Sterne stehen, sie leuchteten und funkelten, und er dachte an Babette, an sich selbst und an sein Glück, und ihm wurde warm bei dem Gedanken.

6. Der Besuch in der Mühle.

»Herrschaftliche Sachen bringst Du in's Haus!« sagte die alte Pflegemutter, und ihre seltsamen Adleraugen blitzten, sie bewegte den mageren Hals noch schneller wie sonst in seltsamen Windungen. »Du hast Glück, Rudy! Ich muß Dich küssen, mein süßer Junge!«

Und Rudy ließ sich küssen, aber in seinem Gesichte stand es geschrieben, daß er sich in die Umstände fügte, in die kleinen häuslichen Leiden.

»Wie Du schön bist, Rudy!« sagte die alte Frau.

»Bilde mir nichts ein!« sagte Rudy und lachte, – es machte ihm aber doch Vergnügen.

»Ich sage es nochmals!« sprach die alte Frau, »das Glück ist mit Dir!«

»Ja, darin magst Du Recht haben!« sagte er, und dachte an Babette.

Noch nie hatte er eine solche Sehnsucht in das tiefe Thal hinab verspürt. »Sie müssen nach Hause gekommen sein!« sprach er zu sich selbst. »Es sind schon zwei Tage über die Zeit, wo sie zurück sein wollten. Ich muß nach Bex!«

Rudy wanderte nach Bex, und in der Mühle waren sie zu Hause. Er wurde gut empfangen, und Grüße von der Familie in Interlaken hatten sie an ihn mitgebracht. Babette sprach nicht viel, sie war recht schweigsam geworden; aber die Augen sprachen, und das genügte Rudy vollständig. Es schien, als wenn der Müller, der sonst wohl das Wort führte – er war daran gewöhnt, daß man immer über seine Einfälle und Wortspiele lachte, er war ja der reiche Müller –, doch lieber Rudy's Jagdabenteuer erzählen hörte, und dieser sprach von den Schwierigkeiten und Gefahren, welche die Gemsjäger auf den hohen Berggipfeln zu bestehen hätten, wie sie längs der unsicheren Schneegesimse, die von Wind und Wetter gleichsam an den Felsenrand angekittet sind, und über die kühnen Brücken kriechen mußten, welche das Schneegestöber über tiefe Schluchten hinübergeworfen hat. Die Augen des kecken Rudy leuchteten, während er von dem Jägerleben erzählte, von der Klugheit der Gemse und ihren dreisten Sprüngen, von dem gewaltigen Föhn und den rollenden Lawinen; er bemerkte es wohl, daß er bei jeder neuen Beschreibung immer mehr den Müller für sich gewann, und namentlich fühlte dieser sich besonders angeregt durch das, was er von dem Lämmergeier und dem Königsadler erzählte.

Nicht weit entfernt, im Canton Wallis, sei ein Adlernest, recht geschickt unter einen hohen hervorspringenden Felsenrand hingebaut; im Neste dort oben befände sich ein Junges, dasselbe sei aber nicht auszunehmen! Ein Engländer habe vor wenigen Tagen Rudy eine ganze Hand voll Gold geboten, wenn er ihm den jungen Adler lebendig verschaffen wolle, »aber Alles hat eine Grenze!« sagte Rudy, »der Adler ist nicht zu nehmen, es würde Thorheit sein, sich darauf einzulassen!«

Der Wein floß, und die Rede floß, allein der Abend sei gar zu kurz, schien es Rudy, und doch war es nach Mitternacht, als er nach diesem ersten Besuche in der Mühle nach Hause ging.

Die Lichter blitzten noch eine kurze Weile durch das Fenster der Mühle hinaus durch die grünen Baumzweige; aus der offenen Luke im Dache kam die Stubenkatze heraus und längs der Dachrinne kam die Küchenkatze heran.

»Weißt Du Neues in der Mühle?« fragte die Stubenkatze. »Hier ist heimliche Verlobung im Hause! Vater weiß noch nichts davon; Rudy und Babette haben sich den ganzen Abend unter dem Tische auf die Pfoten getreten; mich traten sie zwei Mal, aber ich miaute doch nicht, das hatte Aufmerksamkeit erweckt.«

»Ich hatte doch gemiaut!« sagte die Küchenkatze.

»Was sich in der Küche schickt, schickt sich nicht in der Stube!« sagte die Stubenkatze. »Ich bin aber neugierig, was der Müller sagen wird, wenn er die Verlobung erfährt.«

Ja, was wohl der Müller sagen würde – das hatte Rudy auch gern gewußt, aber lange warten, bis er es erführe, konnte er nicht. Als wenige Tage später der Omnibus über die Rhonebrücke zwischen Wallis und Wandt dahinrasselte, saß Rudy in demselben, guten Muthes, wie immer, und sich in schönen Gedanken an das Jawort wiegend, das er noch denselben Abend zu erhalten meinte.

Und als der Abend herankam, und der Omnibus denselben Weg zurückfuhr, da saß Rudy auch drin, denselben Weg zurück, aber in der Mühle lief die Stubenkatze mit Neuigkeiten umher.

»Weißt Du's, Du, aus der Küche? – Der Müller weiß jetzt Alles. Das nahm aber ein schönes Ende! Rudy kam hierher gegen Abend, und er und Babette hatten viel zu flüstern und heimlich zu reden miteinander, sie standen im Gange vor der Kammer des Müllers. Ich lag zu ihren Füßen, aber sie hatten weder Augen noch Gedanken für mich. »Ich gehe ohne Weiteres zu Deinem Vater hinein!« sagte Rudy, »das ist eine ehrliche Sache.« – »Soll ich mit Dir gehen?« fragte Babette, »es wird Dir Muth geben.« – »Ich habe Muth genug!« sagte Rudy, »aber wenn Du dabei bist, muß er schon freundlich sein, mag er wollen oder nicht!« – Darauf traten sie ein. Rudy trat mich gewaltig auf den Schwanz! Rudy ist sehr linkisch; ich miaute, aber weder er noch Babette hatten Ohren zu hören. Sie öffneten die Thüre, traten Beide ein, ich voran, ich sprang jedoch auf einen Stuhlrücken hinauf, ich konnte ja nicht wissen, wie Rudy vielleicht auftreten würde. Aber der Müller trat auf, er gab einen ordentlichen Fußtritt, er – aus der Thür hinaus, und den Berg hinauf zu den Gemsen, auf die mag der Rudy jetzt zielen und nicht auf unsere Babette!«

»Was sprachen sie aber? was sagten sie?« fragte die Küchenkatze.