Die Großen Denker - Harald Lesch - E-Book

Die Großen Denker E-Book

Harald Lesch

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Beschreibung

Zwei Freunde im Gespräch über die wichtigen Dinge des Lebens. Ein philosophischer Streifzug durch 2.500 Jahre, begleitet von großen Denkern und einem guten Rotwein.Mit dabei:- PYTHAGORAS- HERAKLIT- PARMENIDES- EMPEDOKLES- PHILOLAOS- LEUKIPP- DEMOKRIT- ANAXAGORAS- DIOGENES- SOKRATES- PLATON- ARISTOTELES- EPIKUR- CICERO- AUGUSTINUS- ANSELM VON CANTERBURY- ALBERT MAGNUS- THOMAS VON AQUIN- JOHANNES DUNS SCOTUS- WILHELM VON OCKHAM- NICOLAUS CUSANUS- DESCARTES- THOMAS HOBBES- JOHN LOCKE- SPINOZA- LEIBNIZ- NEWTON- MONTAIGNE- PASCAL- VOLTAIRE- DAVID HUME- IMMANUEL KANT- JOHANN WOLFGANG VON GOETHE- FRIEDRICH VON SCHILLER- JOHANN GOTTLIEB FICHTE- FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING- GEORG FRIEDRICH WILHELM HEGEL- KARL MARX- LUDWIG FEUERBACH- SÖREN KIERKEGAARD- ARTHUR SCHOPENHAUER- FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE- DARWIN- FREUD- MAX WEBER- ALFRED NORTH WHITEHEAD- BERTRAND RUSSELL- ALBERT EINSTEIN- NIELS BOHR- LUDWIG WITTGENSTEIN- HUSSERL- HEIDEGGER- Adorno- MarcúseProf. Dr. Harald Leschist Professor für Theoretische Astrophysik am Institut für Astronomie an der Ludwig-Maximilians-Universität und Professor für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München sowie Moderator der ZDF-Reihe "Abenteuer Forschung".Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhlist Ordinarius für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl

Prof. Dr. Harald Lesch

DIE GROSSEN

DENKER

© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2011, München/Grünwald

www.der-wissens-verlag.de

Design Cover: Heike Collip, Pfronten

Satz: Pinsker Druck und Medien, Mainburg

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Vorwort

Vossenkuhl

Lesch

Dieses Buch soll ansteckend sein. Wie ein freundlicher Virus, der seinen Wirt nicht befällt, sondern befruchtet.

Dem weiten Feld der Philosophie – in einem Zeitraum von immerhin 2.500 Jahren – nähern wir uns im Gespräch. Wir tauschen Wissen und Meinungen aus, wohl bewusst, dass unser langjähriges Forschen es uns verbietet, zu behaupten, wir würden viel wissen oder gar klug und weise sein.

Bei einem Glas Rotwein (Castello Brolio oder auch Aglianico) durchstreifen wir gemeinsam die Zeiten, als die Menschen anfingen, nach Gründen zu fragen und sich Erklärungen für das auszudenken, was sie sahen. Seitdem wurde die Welt, die Götter, das Gute, das Sein und das Nichts immer wieder aufs Neue bis in die Gegenwart auf teilweise gegensätzliche Weise philosophisch gedeutet, erklärt und verstanden. Neben der Theologie, welche die Philosophie viele Jahrhunderte begleitete, inspirierten in der Neuzeit besonders die Naturwissenschaften die großen Denker, denen wir an den langen Abenden unserer Gespräche begegnen.

Dieser Dialog soll die Freude an der Philosophie wecken, befördern und zum eigenen Mit- und Nachdenken anregen. Er kann auch Orientierung im Widerstreit der vielen Charaktere und Meinungen sein, die das weite Spektrum des Möglichkeiten in der Philosophie aufzeigen.

Fragen provozieren Antworten und diese wiederum werfen neue Fragen auf. Wer bin ich? Was kann ich wissen, was darf ich tun?

Kant hat mit diesen Fragen das Streben des suchenden, sich selbstbewussten Menschen genau auf den Punkt gebracht.

Begleiten Sie uns und die großen Denker. Seien Sie unser Gast bei unseren Gesprächen.

Wilhelm Vossenkuhl

Harald Lesch

PS: Unser Dank gilt Herbert Lenz, Initiator und Herausgeber dieses Werkes, der – wie wir höchst erfreut erleben durften – bei der gemeinsamen Erarbeitung zu einem „homo philosophicus“ geworden ist.

Inhaltsverzeichnis

Über Philosophie

Zur Weisheit

Die Naturphilosophen aus Milet

Pythagoras

Heraklit (544 - 484 v. Chr.) & Parmenides (540 - 470 v. Chr.)

Empedokles (492 - 432 v. Chr.)& Philolaos (470- 399 v. Chr.)

Leukipp (5. Jh. v. Chr.)& Demokrit (460/59 - ca. 400/380 v. Chr.)

Anaxagoras (500 - 428 v. Chr.)& Diogenes (499 - 428 v. Chr.)

Die Sophisten

Die Vorsokratiker – eine Bilanz

Sokrates (469 - 399 v. Chr.)

Platon (427 - 347 v. Chr.)

Aristoteles (384 - 322 v. Chr.)

Stoa (3.Jh. v.Chr. – 2. Jh. n. Chr.)

Epikur (341- 270 v. Chr.)

Cicero

Neuplatonismus

Antike Philosophie – ein Rückblick

Augustinus – eine Zeitenwende

Anselm von Canterbury und sein Gottesbeweis

Hochscholastik – Albertus Magnus undThomas von Aquin

Nominalismus – Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham

Nicolaus Cusanus und die Renaissance

Beginn der Naturwissenschaften – Keppler,Galilei und Bacon

Descartes – Aufbruch in die Moderne

Thomas Hobbes und John Locke –Der englische Empirismus

Die ersten Systeme der Philosophie –Spinoza, Leibniz, Newton

Der Weg zur Aufklärung – Montaigne, Pascal, Voltaire

David Hume – Eine Revolution der Moral

Immanuel Kant – Der Höhepunkt der Aufklärung

Goethe und Schiller

Fichte und Schelling

Hegel und Marx

Feuerbach und Kierkegaard

Arthur Schopenhauer & Friedrich Nietzsche

Fundamente der Moderne - Darwin, Freud, Max Weber

Alfred North Whitehead und Bertrand Russell

Eine Revolution in der Naturphilosophie –Albert Einstein und Niels Bohr

Der Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein

Husserl und Heidegger

Philosophische Hauptströmungen im 20. Jahrhundert

2500 Jahre Philosophie-Geschichte – eine Bilanz

Platon „Der Staat“

…die höchste Ungerechtigkeit ist, daß man gerecht scheine, ohne es zu sein

Augustinus

Es gibt einen Menschenschlag, der sich sorgt, das Leben Anderer auszuspähen, aber zu träge ist, das eigene zu bessern

Kants „Prolegomena“

Daß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden

Nietzsche

Das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden

Wittgenstein

…Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten… ich habe mich damit auch als einen bekannt, der nicht ganz kann, was er zu können wünscht

Horkheimer

Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott ist eitel

Über Philosophie:

Vossenkuhl:

Wenn wir an die Geschichte Europas oder der Welt denken, dann fallen uns sofort große Politiker und Schlachten ein. Diese Gedanken oder Erinnerungen sind meistens von zwiespältigen Gefühlen begleitet.

Wir vergessen dabei allzu leicht, dass die Geschichte, vor allem die europäische Geschichte, von Männern gestaltet wurde, die nicht geherrscht oder das Schwert geschwungen haben. Sie benutzten einfach nur ihren Kopf. Denker, Philosophen, Wissenschaftler, Physiker oder Theologen. Überlegen wir doch einmal, was diese Menschen uns in den letzten zweieinhalbtausend Jahren zu sagen hatten.

Einen überaus kompetenten Gesprächspartner habe ich in meinem Freund Harald Lesch gefunden – ein gestandener Naturwissenschaftler, genauer Astrophysiker und bekennender Philosoph. Er ist dies alles auf einmal, ein richtiger Naturphilosoph eben.

Lesch:

Ohne Philosophie ist alles nichts. Ich kann nicht ohne sie, Willi, Du weißt es doch. Auch die Physik ist nichts ohne Philosophie. Sie ist eigentlich erst einmal nur eine Ansammlung von Informationen. Die kann ich bewerten. Irgendwann frage ich mich dann: Was mache ich hier eigentlich, was beschreibe ich denn eigentlich?

Du hast mich als Naturwissenschaftler bezeichnet. Ich bin Wissenschaftler und ich beschäftige mich mit der Natur. Wenn Du mich aber fragen würdest, was Natur ist, dann würde ich sagen, dass Du das doch als Philosoph eigentlich viel besser wissen müsstest. Ohne Philosophie kann man nach meinem Dafürhalten keine Physik betreiben, denn Physik ist ein Ergebnis von philosophischer Forschung. Sie war lange Zeit experimentelle Philosophie.

Aber schnell noch dazwischen eine kurze Klärung. Es gibt ja vielerlei Definitionen von Philosophen und was Philosophie ist. So sagt z. B. der berühmte italienische Autor, der „Don Camillo & Peppone“ geschaffen hat, Giovanni Guareschi: Die Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher bohren, diese aber dann nicht füllen können. Ich meine: Bohrt ihr Philosophen tatsächlich Löcher, um sie dann nicht zu füllen? Geht das so?

Vossenkuhl:

Das ist eine ziemlich zutreffende Beschreibung.

Lesch:

Wirklich? Also, dann liegt der Nerv ja frei?

Vossenkuhl:

Der Nerv liegt frei.

Nehmen wir uns doch gleich einmal einen vor, der genau das gemacht hat. Ich weiß nicht, ob Guareschi an ihn gedacht hat - aber Sokrates hat das gemacht. Der hat Leute einfach auf dem Marktplatz angesprochen. Meistens Politiker, aber auch einfache Leute. Er ist ihnen mit seiner Fragerei so nachhaltig auf die Nerven gegangen, dass sie wirklich dieses Gefühl hatten: Er hat was aufgedeckt, was angebohrt, aber er hat’s nicht gefüllt. Seinen Schülern hat er natürlich schon eine Füllung angeboten.

Bei der Art zu fragen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, sind oft die Löcher einfach offen geblieben. Besonders dann, wenn z.B. die Dialoge, die Platon aufgeschrieben hat, in einer Aporie, also in einem Widerspruch endeten. Weil es einfach keine Lösung gab.

Lesch:

Die hörten einfach auf?

Der kannte kein Happyend oder wollte es auch nicht haben?

Vossenkuhl:

Kein Happyend, nein.

Lesch:

Es gab auch keine Moral von der Geschicht’?

Vossenkuhl:

Nein. Ich glaube, das eigentliche Thema war: Wie geht man überhaupt mit solchen Problemen um?

Dialogisch. Das geht hin und her. Man macht Vorschläge, die wieder zurückgewiesen werden, und am Schluss ist man vielleicht nicht wirklich klüger als zuvor, das wäre also dieses offene Loch. Aber man hat eine Sensibilität für das Problem und weiß wenigstens, was man nicht weiß.

Lesch:

Wir fangen jetzt gleich mit zwei Großtätern der Philosophie an. Damit stehen wir am Anfang des europäischen Denkens.

Deine Einleitung fand ich wunderschön, denn ich glaube, dass wir Europäer es dringend nötig haben, auf unsere Geschichte zurückzuschauen und zu sagen: Hey, das ist ja wirklich gut, was wir da haben.

Vossenkuhl:

Volle Zustimmung.

Lesch:

Die Philosophie ist heutzutage nicht unbedingt mehr in aller Munde. Stell Dir mal vor, Du würdest heute, wie Sokrates damals, auf den Marktplatz gehen und würdest die Leute fragen: Was machen Sie hier eigentlich? Wieso sind Sie so geldgierig oder warum machen Sie so einen gehetzten Eindruck? Seien Sie doch froh, dass Sie leben! Was würden die denn mit Dir machen?

Vossenkuhl:

Die würden mich wahrscheinlich für verrückt halten. Philosophen wurden seit den Anfängen ausgelacht. Es war sogar durchaus so, dass man sich bewusst lächerlich machen musste, um einigermaßen anerkannt zu sein als Philosoph.

Die Lächerlichkeit kommt daher, dass man sich nicht einfach mit dem zufrieden gibt, was z.B. in der Öffentlichkeit Geld bringt, was Ansehen bringt. Was also gewissermaßen normal und bekannt ist. Sondern man geht raus, exponiert sich und stellt mit Fragen alles infrage. Man ist in gewisser Weise nicht normal, also verrückt.

So war auch der mit der Tonne, der Diogenes. Über den großen Aristoteles hat sogar seine eigene Magd gelacht. Da gibt’s bis ins Mittelalter schöne Darstellungen, wie die Magd den Aristoteles auslacht. In einer Darstellung – zu sehen im Freiburger Augustinermuseum – reitet sie sogar auf seinem Rücken und schwingt eine Peitsche, ganz schön frivol. Selbst in den Zeiten, in denen die Philosophen gefragt waren, wurden sie belächelt, weil die meisten Menschen bis heute keinen so großen Sinn dafür haben, das Gewohnte zu hinterfragen, es schräg ins Leben zu stellen. Sie wollen einfach ihren bekannten Stiefel weiter machen. Sie wollen Erfolg haben. Stelle Dir vor, Du als Physiker würdest danach fragen: Was heißt eigentlich Natur? Was würden dann Deine Kollegen sagen?

Lesch:

Mach erst mal was, und dann kannst du immer noch fragen.

Vossenkuhl:

Genau das.

Lesch:

Du hast das Wort „schräg“ benutzt. In der Physik würde man vielleicht sagen, da macht jemand was Orthogonales, der geht einfach senkrecht zum Mainstream. Das scheint mir eine ganz klassische Eigenschaft der antiken Denker gewesen zu sein. Sie sind ihren Mitmenschen mit der Fragerei auf die Nerven gegangen. Aber auch ihre Lebensentwürfe waren sehr unterschiedlich.

Vossenkuhl:

Sie haben auch versucht, für die Probleme der damaligen Zeit eine Antwort zu geben. Die Spätantike war ja voller Irritationen. Eigentlich gibt es kaum eine Zeit, ohne große Irritationen. Die Spätantike war aber noch dazu die Endzeit einer großen Epoche.

Was haben die Philosophen gemacht? Sie versuchten rauszukriegen: Was macht Menschen eigentlich glücklich, wie können sie glücklich leben? Interessanterweise fanden sie heraus: Der Mensch kann eigentlich nur glücklich leben, wenn er möglichst wenig will. Also …

Lesch:

… leichtes Gepäck.

Vossenkuhl:

Es ist ein bisschen so wie, wenn man nicht einschlafen kann. Was macht der Mensch dann? Er versucht, sich zu entspannen. Das führt dazu, dass er gerade nicht einschlafen kann. Das ist exakt das Grundproblem, wenn jemand partout glücklich sein will. Also muss man sich mit seinem zwanghaften Wollen zurücknehmen. Für viele Menschen war das ein wertvoller Hinweis, um ihr Leben neu und besser zu gestalten.

Lesch:

Was ist denn so typisch daran gewesen, dass man heutzutage im Allgemeinen, wenn man von Philosophie spricht, den Beginn in Griechenland annimmt. Es wird gesagt, der erste Philosoph sei Thales (624-546 v.Chr.) gewesen, weil er eine Sonnenfinsternis richtig vorher sagte und die Welt durch ein Prinzip erklären wollte.

Wieso glaubst Du, hat so was in Europa einen völlig anderen Verlauf genommen als z. B. in Indien und in China, wo es ja auch große Denker gegeben hat? Der Sokrates hat seine Fragetechnik schon als „Hebammenkunst“ bezeichnet. Stimmt. Immer wenn die Philosophie Fragen aus der Taufe hebt, fängt sie an, praktisch ganze Wissenschaften zu begründen und damit ins Leben zu setzen.

Die Physik ist ja ein typischer Fall. Auch viele andere Wissenschaften kommen aus der Philosophie. Jedes Mal, wenn die Philosophie dann wieder ein neues Kind auf die Welt gebracht hat, dann zeigen ausgerechnet diejenigen, die gerade frisch auf die Schiene gesetzt wurden, mit dem Finger darauf und sagen pikiert: Was ist denn das für eine Wissenschaft? Die brauchen wir doch gar nicht mehr.

Was glaubst Du, wieso ist das am Anfang so gelaufen?

Vossenkuhl:

Wahrscheinlich gab es da viele Einflüsse, die zusammen kamen. Es existierte schon eine „Schule“, die wohl stark von religiösen Vorstellungen, die in Ägypten beheimatet waren, beeinflusst war, die Pythagoräer. Pythagoras (570-496 v.Chr.) hat ja einen Großteil seines Lebens gar nicht in Athen oder im alten Griechenland verbracht, sondern in Neu-Griechenland, im heutigen Süditalien, in Kroton und Tarent. Da ging es um die Frage: Was ist eigentlich das Wissen, das die Wirklichkeit im Inneren zusammenhält? Das war sehr nahe an dem geheimen Wissen, das Priester für sich beanspruchten mit ihrer Beherrschung der Symbole, mit den religiösen Riten, den Weisheiten und Offenbarungen, über die sie herrschten. Das waren die Wurzeln für so allgemeine Fragen: Wie ist eigentlich die Welt insgesamt zu verstehen, und wer darf das wissen?

Die Schrift hat diese Frage ganz stark verändert. Zunächst mal gab es gar keine Verschriftlichung, es gab nur die Sprache.

Lesch:

Mund-zu-Mund-Propaganda also.

Vossenkuhl:

Ja. Es gab viele Strömungen, die Religion war eine davon. Die Entwicklung der Schrift war ein wesentlicher Anschub. Ohne sie hätten wir ja keine nachvollziehbare Tradition über längere Zeitspannen. Wir wüssten ja gar nicht, was da früher passiert ist. Möglicherweise gab es in anderen Kulturen, etwa in Indien oder im Vorderen Orient, ähnliche Fragestellungen. Nur wissen wir nichts mehr davon. Es ist nicht überliefert worden.

Lesch:

Was allerdings überliefert worden ist, scheint sich aber deutlich von dem zu unterscheiden, was die ersten griechischen Denker, die Vorsokratiker in die Welt gesetzt haben. Da wurde davon gesprochen, das Wasser sei das Element, aus dem sich alles entwickelt. Der berühmte Heraklit meinte: „panta rei“, wie es so schön heißt, „alles fließt“. Wieder ein anderer meinte, es wäre wohl die Luft, ein dritter meinte, es wäre das Feuer.

Die haben damals etwas gemacht, was zumindest für uns Naturwissenschaftler heute noch Programm ist. Sie haben gesucht. Sie wollten wissen, was die Welt zusammenhält, was das Innerste ist, wie es im Faust so schön heißt. Ich finde es erstaunlich, dass dieser Funke in einem Teil der Welt gezündet hat, der sich nicht besonders durch eine Hochkultur auszeichnete. Wie die alten Ägypter am fruchtbaren Nil. Ich bin fest davon überzeugt: Philosophie zu betreiben mit Zahnschmerzen oder mit einem hungrigen Bauch ist etwas ganz anderes als Philosophie in einigermaßen geregelten Verhältnissen.

Vossenkuhl:

In Athen wurde das Geschäft der Philosophie von freien Bürgern betrieben. Vorrangig von Männern. Und die waren alle wohlhabend und hatten Zeit. Muße. Die haben Politik gemacht oder sie haben eben philosophiert. Sie haben teilgenommen an Gesprächen. Das gehörte mit dazu.

Es gab zunächst einen religiösen Hintergrund. Die grobe Einteilung ist: Erst kamen die Mythen und dann die Philosophie. Ob das stimmt, kann ich nicht genau sagen. Mythen waren jedenfalls eine Form der Welterklärung. Und die Philosophie auch. Also wird wohl das eine mit dem anderen ursprünglich verkoppelt gewesen sein.

Die Menschen brauchten Freiheit, also Freizügigkeit, sie mussten Zeit und Muße haben. Dazu dienten die Sklaven. Man zuckt vielleicht heute ein bisschen zusammen, wenn man hört, dass die frühesten Philosophen in Athen eigentlich nur philosophieren konnten, weil es Sklaven gab. Das ist uns nicht mehr so ganz geheuer. Aber Muße, diese Freiheit, diese Ungebundenheit, das ist schon ein wesentlicher Faktor. Man brauchte einen Freiraum der Gedanken. Es gab keine Autoritäten, die bestimmt hätten, was man als freier Bürger denken oder nicht denken darf. Gut, bei Sokrates griffen dann doch Autoritäten ein, die bestimmten, Junge, das kannst du öffentlich so nicht sagen …

Lesch:

… der musste dann den Schierlingsbecher trinken.

Vossenkuhl:

Sie hatten ihm aber die Chance gegeben, zu fliehen.

Aber er wollte nicht. Weil er der Meinung war, auf diese Art und Weise erlangt er endlich die Freiheit, von seinem Dasein, seinem Körper, dem Ärger des Tages, der Gicht oder was immer ihn geplagt hat. Er wollte eigentlich nicht abhauen. Ich glaube, er wollte auch der Willkür des Gesetzes trotzen. Er wollte mutig sein und zu dem stehen, was er gelehrt hatte.

Lesch:

Nach meinem Dafürhalten spielte sich da etwas ganz Bahnbrechendes ab. Du hast eben gesagt: Es gab Mythen, Religionen und parallel dazu die Philosophie. Da hat einer den Mut, sich auf seinen Verstand so verlassen zu wollen, dass er der Meinung ist, man könne tatsächlich was von der Welt verstehen, man könne etwas erklären, etwas erkennen. Das Ganze ohne Zutun von Göttern und Priestern, die einem im Grunde genommen ja sagen: Passt alle mal auf. Wenn ihr daran glaubt, dann wird das alles schon gut werden.

Also richtig hineinzugehen in die Welt. Jetzt gehen einige wenige direkt hinein. Ich will noch nicht sagen ganz selbstbewusst, aber sie wagen durchaus einen Schritt nach vorne.

Wenn ich daran denke, der Odysseus, der ist 20 Jahre lang durch den Mittelmeerraum geschippert und hat sich mit allen möglichen Willfährnissen auseinandersetzen müssen …

Vossenkuhl:

Er hat aber auch ganz schöne Sachen erlebt.

Lesch:

Wunderschöne Frauen. Eigentlich alles prima. Aber er war immer derjenige, der trotz göttlicher Hilfe - die Athene stand ihm ja immer zur Seite – praktisch das Ruder in der Hand behielt. Es kam auf ihn an. Das ist für mich so ein Punkt, wo ich denke, Europa ist in dem Moment erwacht, wo Menschen angefangen haben, nicht hinter jedem Baum und Strauch einen Gott oder einen Kobold zu vermuten. Sie sagten sich vielmehr: O.k. Freunde, wenn wir hier was werden wollen, dann müssen wir was tun.

Vossenkuhl:

So ist es. Das ist eine schöne Brücke zu einer der Hauptideen, die die Philosophie in der Antike propagiert hat: die Erziehung. Die Erziehung des Menschen. Ähnlich wie wir heute in Schulen und Universitäten junge Menschen erziehen, ihnen Wissen vermitteln, hat man damals gemeint, wenn man dem Nachwuchs philosophisches Wissen vermittelt, dann befähigt man ihn dazu, ein gutes Leben zu führen oder auch den Staat gut zu lenken.

Aristoteles war der Lehrer von Alexander dem Großen. Der Vater von Alexander hätte ihn wohl nie als Hauslehrer angestellt, wenn er nicht gedacht hätte: Das ist der Beste, den ich finden kann. Übrigens, gut honoriert – das, was man sich ja heutzutage auch als Philosoph so wünscht.

Lesch:

Sind die Zeiten denn so schlecht?

Vossenkuhl:

Nein, nein – ich bin´s zufrieden.

Lesch:

Dann ist es ja gut.

Es bleibt auch gar nichts anderes übrig. Wie Aristoteles ja mal auf die Frage, ob man philosophieren muss oder nicht, gesagt hat: Philosophieren muss man. Es bleibt gar nichts anderes übrig.

Vossenkuhl:

Selbst wenn man zu dem Schluss käme, dass man das nicht muss, tut man’s schon.

Lesch:

Genau. Schon in dem Moment, in dem man sich fragt, ob man das muss, oder wenn man über die Philosophen spottet, philosophiert man ja schon selbst. Man kommt da gar nicht raus. Das finde ich so irre. Bei Religionen gibt es etwas Trennendes. Da ist alles eine Glaubens- oder Überzeugungssache.

Für mich ist Philosophie so wunderbar, weil sie den Zweifel schon fast zum Prinzip erhebt. Und Zweifel verbinden. Wenn Leute an einem Tisch sitzen und zweifeln, das ist gut. Man muss ja nicht an allem zweifeln. Aber die Zweifel haben etwas unglaublich Beruhigendes und Pazifistisches.

Vossenkuhl:

Natürlich sind für uns jetzt die großen Denker und Geister das Hauptthema. Aber noch mal: Philosophieren, das tut fast jeder.

Man redet gerne etwas despektierlich über den Stammtisch. Aber die Leute dort machen eigentlich genau das, was Philosophie sein kann. Nur nicht ganz so gut, wie sie es vielleicht eigentlich vermögen. Sie versuchen, sich einen Reim zu machen, etwas zu erklären, sich ein Bild zu machen, eine Erklärung zu geben für das, was so passiert oder schon passiert ist. Für sie ist ihre Erklärung oder Meinung zunächst einmal die richtige. Das ist das gleiche Prinzip, wie wenn man – mit sehr viel Hintergrund und Informationen natürlich – philosophiert.

Also Philosophie ist nicht weltabgewandt oder wirklichkeitsfremd. Im Gegenteil. Sie steht mitten im Leben, und deckt die Fragen auf, um die es geht und – wie Du gesagt hast – sie bohrt Löcher. Nicht immer kann sie sie füllen, manchmal schon.

Lesch:

Und sie beschäftigt sich mit Fragen, die - zumindest nach meiner Einschätzung - zu den eindringlichsten gehören, die wir stellen können. Also Fragen, die uns so richtig auf den Solarplexus treffen. Was mache ich hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was mache ich hier angesichts der Tatsache, dass ich weiß, dass ich sterben muss?

Es gibt ja so die Vorstellung, dass Philosophen sich aus lauter Todesangst in die Vernunft gerettet haben. Da ist noch etwas, das Ewige, die Wahrheit. Wenn es schon sicher ist, dass es irgendwann zu Ende geht, dann will man wenigstens irgendwo mal in Berührung kommen mit dem, was als das Ewige gilt. Das muss dann wohl die Wahrheit sein. Das muss das Gute, das Schöne und das Wahre sein. Das halte ich für eine der ganz wichtigen Ideen, die europäische Denker in die Welt gesetzt haben.

Vossenkuhl:

Die Glückssuche, die Suche nach Wahrheit, nach dem Höchsten – das hat alles die gleiche Tendenz. Man will sich nicht mit dem Hier und Jetzt zufrieden geben. Will nicht einfach so vor sich hin leben. Man gibt sich nicht mit den Dingen zufrieden, die einfach kaputt gehen können, so wie ein Weinglas oder der Wein selbst. Man will zur Sache kommen, zur Wirklichkeit.

Lesch:

Was mich sehr beeindruckt ist, dass es über diese Unmittelbarkeit hinausgeht. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, das zu machen, was man sowieso schon tut. Das Neue ist, dass ein Gedanke auftauchen kann wie: Gibt es etwas hinter der Dingen, das unveränderlich ist?

Um die Menschen herum passiert alles Mögliche: Leute kommen und gehen, Kinder kommen auf die Welt, es wird gestorben, Bäume wachsen und werden gefällt. Eine pausenlose Verwandlung.

Dann wird plötzlich praktisch gegen die eigene Anschauung gedacht. Da wird gegen den Berg angerannt. Wenn sich alles verändert, dann muss doch irgendwo hinter den Dingen etwas sein, was unveränderlich ist. Das ist doch eine irre Geschichte.

Vossenkuhl:

Ja, ja. Ich glaube aber, dass Du als Physiker so was eher noch in Händen halten kannst als wir als Philosophen. In der Philosophie hat man genau diese Überzeugung jahrhundertelang gepflegt. Es gibt Substanzen, es gibt Unveränderliches. Wir können sie zwar nicht direkt greifen, aber wir können sie erkennen, ja, wir können dahinter steigen. Wir kriegen sie nicht zu fassen, aber wir wissen davon. Wir können sie wenigstens logisch begreifen.

Die Substantialität der Dinge ist ins Schlingern geraten. Was ist z. B. eine „Person“? Ist in unserem Menschsein etwas drin, etwas ganz Stabiles, Hartes, Unveränderliches? Oder nicht?

Wenn Du als Physiker gefragt wirst: Was ist denn in der Natur das Stabilste, was würdest Du da sagen?

Lesch:

Elektron, ganz klar. Elektron. Ich vermute, dass auch die Quarks stabil sind. Wir sind nahe dran und guter Dinge.

Vossenkuhl:

Bestimmte Gesetzmäßigkeiten?

Lesch:

Es gibt natürlich Gesetze, die überall und jederzeit im Universum gelten. Die Naturkonstanten. Ich habe Legionen von Kolleginnen und Kollegen, die mit mir an diesem Projekt arbeiten. Dabei gilt das Verfahren: Idee, Theorie, testen. Idee, Theorie, testen. Test positiv – Theorie weiterverfolgen. Test negativ – Theorie wegschmeißen. Da sind wir fein raus.

Vossenkuhl:

Ihr seid eigentlich heute die Substanzvertreter. Ihr habt, ohne dass ihr das so nennt, eigentlich mit diesen Überzeugungen die Philosophie beerbt.

Aber eigentlich bis Du ja ein Naturphilosoph.

Lesch:

Ich bemühe mich. Ich bemühe mich hinreichend.

Vossenkuhl:

Wenn Du aber Naturphilosoph bist, bohrst Du ja wohl auch Löcher. Kommt da wieder was rein?

Lesch:

Sicher kommt da was rein. Vor allen Dingen kommt aber was wieder. Es kommt also!

Bei dem, womit ich mich beschäftige, geht es darum: Wie wäre die Welt, wenn die Theorien, die wir uns über sie ausdenken, wahr wären? Das ist genau das, was Physik macht. Wir haben Theorien, wir testen sie und stellen fest: Mensch, diese Theorien, wenn sie falsch sind, müssen verdammt gut falsch sein. Wir können ja nur falsifizieren, rein gar nichts verifizieren. Und dann bleiben immer Reste übrig, die wir naturwissenschaftlich nicht mehr fassen können.

Also, wie interpretieren wir solche Sachen? Und da sind wir in der Naturphilosophie auf dem besten Wege wieder von der Philosophie getrennt zu werden und systematisch mehr in die Physik rein zu gehen. Weil es für viele Fragen, die früher rein philosophische Fragen waren – wie ist die Welt entstanden? - heute Experimente oder zumindestens Beobachtungen gibt, die es uns erlauben, eine Aussage darüber zu machen, wie das Universum als Ganzes entstanden ist. Vor 2.000 Jahren konnten unsere Altvorderen davon nicht einmal träumen.

Vossenkuhl:

Wahnsinn.

Lesch:

Ist doch irre.

Vossenkuhl:

Ich wollte noch mal auf den Anfang zurückkommen.

Große Denker, Geister. Es ist doch erstaunlich und grenzt schon ans Wunderbare, dass mit bloßem Denken das Leben bewegt wird. Dinge bewegt werden. Vielleicht ist es das Wunder des Denkens, dass man mit bloßen Gedanken Gutes und Schlechtes bewirken kann. Das letzte große Beispiel, das leider nicht so gut war, ist Karl Marx. Da setzt sich einer hin, schreibt „Das Kapital“, macht Politik und was entsteht daraus? Oder geh` zurück: Platon wollte in Syrakus Politik machen. Dreimal ist er angereist und es ist trotzdem schief gegangen.

Was haben eigentlich diese Denker bewirkt?

Lesch:

Mit der Philosophie ist es nicht so wie mit einer Handgranate. Man zieht nicht einfach den Ring raus, wirft und dann macht’s bumm. Es scheint eher so etwas zu sein, was wie ein ganz langsam sich verbreitender Virus wirkt. Da taucht eine Idee auf, und wenn die einmal in der Welt ist, dann kann man nicht mehr hinter sie zurück. Man kann zwar Versuche unternehmen, die Idee einzusperren oder zu unterdrücken, aber das scheint ein bisschen so zu sein wie bei diesem lustigen Gag-Geschenk, einen kleinen Kasten, in dem man eine widerspenstige Feder solange bändigt und zusammen presst, bis sie dann plötzlich mit voller Wucht herausschießt.

Da scheint mir die Philosophie eine ganz interessante Eigenschaft zu haben. Wenn einmal der richtige Gedanke zur richtigen Zeit gedacht wird, dann scheint die Welt zu sagen: Oh, darauf habe ich ja nur gewartet. Da gibt es schnell Leute, die sagen: Mensch, wieso bin ich eigentlich nicht selbst auf den Gedanken gekommen? Wenn das passiert, dann geht es schnell.

Vossenkuhl:

Manchmal geht es geradezu explosionsartig. Dann aber ist es auch wieder so, dass es schlummert, lange, lange schlummert. Da hat z.B. Immanuel Kant mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 …

Lesch:

Die hat doch kaum jemand gelesen, das ist so … puh!

Vossenkuhl:

Das war erst nur so ein Fürzchen, das verpuffte. Aber Jahre später war es der Hammer.

Lesch:

Ich finde es einfach irrsinnig gut, was manche Menschen am Schreibtisch in ihrem stillen Kämmerchen und damit letztlich ganz alleine für Erfahrungen machen und auf welche Ideen die da kommen. Da werden irgendwelche Kabel angeschlossen, da passieren Manipulationen, da werden Idealisierungen vorgenommen.

Wenn wir in der Physik Experimente machen, dann versuchen wir ja uns als Subjekte so weit wie möglich zurückzunehmen. Wir entmenschlichen das soweit es nur irgendwie geht. Es gibt aber gleichzeitig Menschen, die sich als Subjekt benutzen, um so ein geistiges Experiment an sich selbst durchzuführen. Das finde ich ungeheuerlich. Dass das so verstärkt in den letzten zweieinhalbtausend Jahren aufgetreten ist!

Vossenkuhl:

Es sind alles machtlose Menschen gewesen, die nicht wie ein Bundeskanzler oder ein Präsident irgendwelche Machtmittel in der Hand hatten. Aber ihre Gedanken entfalteten eine unglaubliche Wirkkraft. Das ist doch das Tolle.

Lesch:

Das muss uns natürlich beschäftigen. Vielleicht gelingt es uns sogar hier und da herauszufinden, unter welchen Bedingungen eigentlich Philosophie wirklich durchgreift. Manchmal steht die Situation so auf der Kippe, dass es dann besonders stark wirkt, oder am Ende kommt gar nichts dabei raus.

Immer dann, wenn Gesellschaften in Krisen geraten, dann werden die „Zahnschmerzen“, der Existenzdruck sehr groß. Dann haben die Menschen gar keine Zeit und gar keine Möglichkeit, Philosophie zu betreiben. Dann gibt es Zeiten, in denen Lebensberater in Buchform „Wie werde ich glücklich?“, „Wie finde ich mein Glück?“, „Wegweiser zum glücklichen Leben“ – überhand nehmen. Immer dann, wenn ein Werteverfall beklagt wird, dann heißt es auf einmal: Wo sind denn unsere Philosophen? Wir hatten doch neulich mal welche, die haben doch irgendwann mal … haben die nicht mal irgendetwas Sinnstiftendes von sich gegeben?

Vossenkuhl:

Jetzt sind die irgendwie abgetaucht.

Lesch:

Wo sind denn diese Philosophen?

Vossenkuhl:

Kaum wird’s ernst, tauchen sie ab.

Lesch:

Holt mal die Philosophen raus! Wir haben ein paar Probleme. Wir haben Werte-Probleme.

Vossenkuhl:

Genau. Die müssen die Werte wieder aufbauen. So wie Sandburgen.

Lesch:

Und dann kommt eine Welle: Wusch.

Vossenkuhl:

Dann ist die Werte-Sandburg wieder weg.

Lesch:

Das Thema packen wir mit unserem Dialog über die Denker des Abendlandes einmal von Grund auf an. Wir gehen einmal querab durch die europäische Philosophie. Ja. Einmal quer durch. Ich werde mich bemühen, etwas von den Wissenschaften zu erzählen, die ja alle einmal aus der Philosophie gekommen sind. Und Du, lieber Wilhelm musst aber auch bei nächster Gelegenheit einmal erklären, wieso sich die Philosophie eigentlich so verändert hat. Denn heute sind die Philosophen nicht mehr so berühmt wie früher. Nehmen wir Sokrates oder Aristoteles, oder Nikolaus von Kues. Der ist sogar ein großer Kirchenfürst gewesen.

Vossenkuhl:

Die meisten der Vordenker waren in ihrer Zeit auch keine Prominenten.

Lesch:

Waren die nicht so berühmt wie heute?

Vossenkuhl:

Nein, ganz und gar nicht.

Lesch:

Erst immer im Nachhinein?

Vossenkuhl:

Ich bin sicher, wenn Du damals in Syrakus jemanden auf der Strasse gefragt hättest: Kennen Sie den Herrn Platon? Dann wäre wohl die Antwort gewesen: Platon? Platon? Wer beim Zeus ist dieser Platon?

Zur Weisheit:

Lesch:

Weise zu sein lohnt sich auf lange Sicht. Nicht unmittelbar, aber es lohnt sich. Weisheit ist heutzutage geradezu ein Produkt und wird gerne gekauft. Da stapeln sich Bücher, DVDs, CDs, was immer man will. Nur, es nützt so nichts. So macht es nicht weiser.

„Wir brauchen die Weisheit dann am nötigsten, wenn man am wenigsten an sich glaubt“, sagt Hans Jonas, einer der Weisheitslehrer.

Große Liebhaber der Weisheit sind natürlich die Philosophen. Als Wissenschaftler habe ich mit Weisheit gar nichts am Hut. Ich habe mein Wissen, und das ist es dann schon.

Willi, was ist der Unterschied zwischen Wissen und Weisheit?

Vossenkuhl:

Da gibt es viele Unterschiede. Wissen kann man erweitern und vertiefen. Wissen kann man sich aneignen, und das ganz gezielt. Bei der Weisheit geht das nicht so einfach nach Plan. Um weise zu sein, bedarf es einer Menge Dinge, die mit Wissen im engeren Sinn gar nichts zu tun haben. Zum Beispiel Menschenliebe, Nächstenliebe, Sympathie und Wohlwollen für Andere, Desinteresse an bestimmten materiellen Gütern, menschliche Wärme, Mitgefühl und so fort. Das sind alles Dinge, die mit Wissen gar nichts zu tun haben, die aber zur Weisheit gehören. Der Weise beurteilt die Dinge auch auf der Basis von Wissen. Aber die weise Entscheidung, die ist nicht primär wissensabhängig. Wissen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Weisheit.

Lesch:

Kann man denn herausfinden, ob jemand weise oder ob er eher ein Wissender ist? Kann man erkennen: Das ist ein Weiser und das ist eher so ein Besserwisser?

Vossenkuhl:

Es gab schon leuchtende Beispiele für Weisheit: Salomon, Sokrates, Jesus. Es gibt auch Beispiele für weise Entscheidungen. Kennst Du Brechts Geschichte vom kaukasischen Kreidekreis?

Lesch:

Nein.

Vossenkuhl:

Zwei Frauen, die eine ist mit einem Gouverneur verheiratet, die andere ist eine Magd, behaupten – jede für sich - vor einem Richter, sie seien die leibliche Mutter eines Kindes. Das Kind war in Kriegswirren seiner leiblichen Mutter entrissen worden und von der Magd aufgenommen und liebevoll versorgt worden. Der weise Richter, der früher ein einfacher Dorfschreiber gewesen war, überlegt nun, wie er zwischen diesen Ansprüchen entscheiden soll. Äußere Merkmale gibt es keine. Wie soll er dann herausfinden, wessen Kind es ist? Es gibt keine DNA-Untersuchung, keinen genetischen Fingerprint wie heute. Also, wie kann er gut und richtig entscheiden?

Er schlägt vor - und das ist sehr weise – das Kind in einen weißen, mit Kreide gezogenen Kreis zu stellen und die beiden Frauen an jeweils einem Arm des Kindes ziehen zu lassen. Die rechtmäßige Mutter würde – so die Idee – schon kräftig genug ziehen. Tatsächlich reißt die Gouverneursgattin, die übrigens die wirkliche leibliche Mutter des Kindes ist, das Kind mit Gewalt an sich. Die Magd läßt den Arm los, um dem Kind nicht weh zu tun. Sie bekommt das Kind, obwohl sie nicht die leibliche Mutter ist. Sie zeigt aber, dass sie das Kind liebt.

Das ist eine weise Entscheidung.

Lesch:

Das heißt auch, dass Bertolt Brecht ein Weiser war, weil er sich diese Geschichte hat einfallen lassen?

Vossenkuhl:

Zumindest wusste er, was Weisheit ist.

Lesch:

Was man heute gerne wissen möchte, ist doch: Wie werde ich weise? Es gibt ja alle möglichen Übungen, um in acht Stufen zum Erleuchteten zu werden. Kann man aber Kriterien finden, über die es sich zu sprechen lohnt, an denen man Zeichen von Weisheit fest machen kann? Die Philosophie ist doch die Liebe zur Weisheit. Da fühle auch ich mich angesprochen. Tummeln sich doch die Wissenschaften in der Nähe der Philosophie.

Vossenkuhl:

Ein untrügliches negatives oder indirektes Kennzeichen von Weisheit ist, dass man von sich selbst nicht behaupten kann, ein Weiser zu sein. Also, wenn ich sagen würde, ich bin ein Weiser, dann dürftest Du gerne auf meine Kosten lachen.

Lesch:

Das mache ich immer wieder gerne.

Vossenkuhl:

Ich könnte Dir, wenn Du mich fragst, sagen, wie viel Uhr es ist. Das weiß ich.

Aber man kann von sich selbst nicht wirklich sagen, man sei weise. Das muss sich zeigen. Natürlich gilt das auch für das Wissen. Nehmen wir als Beispiel das eigentliche Thema des kaukasischen Kreidekreises, die Gerechtigkeit.

Ein weiser Richter, der so gerecht wie im Fall des kaukasischen Kreidekreises entscheiden will, muss schon eine Menge über das wissen, worum es geht. Er muss aber auch umsichtig sein, er muss Übersicht haben. Er muss in der Lage sein, nach hinreichender Abwägung zu sagen: Ich weiß vieles nicht, ich kann vieles gar nicht wissen, aber ich muss trotzdem jetzt entscheiden. Und in dem, was er tut, muss sich zeigen, dass er gerecht ist, dass er nicht sich sondern den Menschen und der Sache der Gerechtigkeit dienen will. Das ist Weisheitsliebe am Beispiel der Gerechtigkeit. Sie setzt voraus, dass derjenige, der gerecht entscheidet, nichts für sich selbst will. Das ist ein wichtiges Kennzeichen der Weisheit.

Wenn man nur über Wissen verfügt, neigt man zum Recht Haben Wollen und damit indirekt zum Egoismus. Wenn ich meine, mehr zu wissen als andere, glaube ich auch mehr Recht als andere zu haben. Wir leben in einer Zeit, in der genau dieser Charakterzug des Mehr-Wissens Vorrang vor der Weisheit genießt. Wer heute denkt, dass er mit seinem Wissen etwas gewinnen kann, wird es auch versuchen, egal wie groß das Risiko dabei ist.

Lesch:

Wenn man etwas gewinnen kann, dann versucht man’s auch. Genau.

Vossenkuhl:

Während der Weise sagt: Wozu soll ich gewinnen?

Lesch:

Das klingt so, als ob es Voraussetzungen für Weisheit gibt. Weisheit erfordert zum Beispiel, dass man überhaupt in die Situation kommt, weise sein zu müssen. Man muss z.B. eine Entscheidung treffen. Entweder für andere oder für sich selbst. Es scheint etwas in uns drin zu sein – zumindest dann, wenn wir genügend Erfahrung haben – das wir fühlen können: Ach, das passt so, das ist gut so.

Es scheint mir so zu sein, dass es durchaus bestimmter Voraussetzungen bedarf, um überhaupt nur in die Nähe dieses Anspruchs der Weisheit zu kommen. Ich habe den Eindruck, dass derjenige schon gar nicht weise wird, der ständig versucht, weise zu werden. Nein, das geht nicht zusammen.

Die Weisheit entzieht sich eher, wenn man danach sucht. Warum haben wir eigentlich – Ausnahmen bestätigen die Regel - so einen unglaublich starken Drang dazu, Wissen zu sammeln? Was Weisheit betrifft, da sind wir doch eigentlich eher sehr, … na, wie soll ich es sagen, zögerlich. Es gibt zweifellos weise Personen, die werden aber nicht so gut bezahlt, wie diejenigen, die „nur“ was wissen.

Vossenkuhl:

Das ist richtig, ja.

Lesch:

Wie kommt das?

Vossenkuhl:

Das kann ich Dir auch nicht erklären. Aber ein Unterschied zum Wissen bleibt wichtig. Es gibt sehr viele Arten des Wissens, und es gibt mindestens ebenso viele Arten von Weisheit. Der Unterschied ist, dass das Wissen allein die Weisheit nicht ausmacht.

Es gibt Menschen, die keinerlei Schulbildung haben, also keine sog. „formale Bildung“, die aber trotzdem einfach weise sind, weil sie aus der Lebenserfahrung so viel an Bildung und Wissen mitgenommen haben, dass sie zum Beispiel wissen, wann sie was tun sollen, wann sie sich zurückhalten sollen, wann sie dem anderen seinen Vortritt lassen sollen, wann sie höflich oder hilfsbereit sein sollen, wem sie trauen können und wem nicht.

Das sind Erfahrungsgrößen, zu denen natürlich auch Wissen gehört, Erfahrungswissen, nicht formales Wissen. Und der Einsatz dieses Wissens „wie“, das kann ein Klempner, eine Putzfrau oder ein Schuhputzer genauso einsetzen wie ein Akademiker oder ein Bankdirektor.

Lesch:

Gerade Letzterem könnte ein kräftiger Schuss Grundweisheit nicht schaden. Nun denn.

Das wäre ja durchaus dann ein Begriff aus der heutigen Welt, die sich sehr stark auf Quantifizierbares, also Nachvollziehbares konzentriert. In deinem Lebenslauf muss alles drin stehen, was du kannst, und der Eindruck, den man von dir hat – auch, ob du weise bist – der ist entscheidend. Obwohl du, - sagen wir mal – der Papierform nach nicht unbedingt als Bester unter den Kandidaten erscheinst. Da würde ich mir wünschen, dass die Leute dann sagen: Hm, weise ist er auch noch. Das riskieren wir, wir nehmen ihn.

Weisheit hat so was völlig Unzählbares. Das ist nicht quantifizierbar. Und damit wird es natürlich immer schwieriger. Da muss ich mal ganz kurz einen tiefen Griff in die Kiste machen: Bei den Griechen gab es sieben Weise, mindestens. Thales zählte als einziger Philosoph zu diesem erlauchten Kreis. Die anderen Namen habe ich jetzt nicht parat. Aber es finden sich da so Aussagen wie „Maß halten“, „nicht über die Stränge schlagen“ usw. Das gehörte da wohl dazu.

Vossenkuhl:

Man hat auch versucht, ein Training, so einen Grund-Codex, einen Aufbau-Kurs „Wie wird man Weise“ anzubieten. Da gab es aber keine Abschlussprüfung. Das musste sich einfach zeigen. In der Antike war klar, Tugend, Mut, Dankbarkeit, Gerechtigkeit, das muss man üben. Irgendwann mal hat man’s drauf. Und so ist es eben mit der Weisheit auch. Weisheit, irgendwann hat man sie verinnerlicht.

Das geht aber nicht in jedem Beruf, in jedem Lebenslauf. Ein weiser Fußballer ist nicht leicht vorstellbar. Vielleicht ein weiser Trainer, der im Umgang mit seinem Team weise ist. Der nicht einen gegen den anderen ausspielt, zum Beispiel.

Lesch:

Das sollte er seinen Spielern auf dem Platz überlassen. Aber ein weiser Fußballer könnte doch einer sein, der merkt: Hier fühle ich mich wohl. Ich habe zwar Angebote, die mehr Geld versprechen, aber das ist mir nicht so viel wert, wie andere Dinge, deren Wert ich höher schätze. Familie, Freunde.

Vossenkuhl:

Das wäre ein weiser Entschluss als Privatmann. Aber als Fußballer auf dem Feld?

Lesch:

Eher nicht. Da hat Du schon recht.

Vossenkuhl:

Oder noch extremer, ein weiser Rennfahrer.

Lesch:

Der muss Gas geben. Bleifuss. Aber auch rechtzeitig bremsen. Das ist es dann.

Vossenkuhl:

Oder ein weiser Radfahrer.

Lesch:

Da wo ich bin, ist vorne. Und wenn ich hinten bin, ist hinten vorne. Nö. Geht wohl auch nicht.

Vossenkuhl:

Aber weiser Politiker. Das geht.

Lesch:

Das geht, ja.

Vossenkuhl:

Oder ein weiser Arzt, der nicht einfach Rezepte ausstellen will, sondern sagt: Ich glaube, Sie sind gesund.

Lesch:

Aber das hat ja dann durchaus etwas damit zu tun, dass jemand da ist, für den gehandelt oder Entscheidungen getroffen werden müssen. Also gerade bei Politikern, bei Ärzten, Richtern usw., also immer dann, wenn andere Menschen involviert sind. Bei so einem Rennfahrer, mein Gott, der sitzt in seiner Kiste drin und gibt einfach Gas.

Vossenkuhl:

Richtig.

Lesch:

Der kann ja gar nichts machen.

Vossenkuhl:

Und wenn er nicht als Erster ankommt, dann hat er verloren.

Es ist was Komisches mit der Weisheit. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der der Wert der Weisheit nicht richtig anerkannt wird.

Lesch:

Es glaubt ja auch keiner dran.

Vossenkuhl:

Wie hat Jonas das noch einmal formuliert?

Lesch:

Wir brauchen die Weisheit am nötigsten, wenn man am wenigsten an sie glaubt. Mit Weisheit kannst du doch heute keinen mehr umreißen. Im Gegenteil. Wenn sich jemand Zeit nimmt, um über eine Entscheidung nachzudenken und nicht sofort eine schnelle Antwort parat hat - auch nicht die entsprechenden Floskeln - der wird doch gar nicht mehr ernst genommen.

Ich habe den Eindruck, dass Weisheit etwas mit Langsamkeit zu tun hat.

Vossenkuhl:

Langsamkeit ist ein gutes Wort dafür. Man kann auch sagen: Zurückhaltung oder sich zurücknehmen, also nicht puschen, nicht vordrängeln.

Lesch:

Nicht so leicht, in Zeiten des Wettbewerbs.

Vossenkuhl:

Da wird Zurückhaltung sogar bestraft.

Lesch:

Es gibt ja Unternehmen, bei denen Mitarbeiter, die nicht mehr aufsteigen oder vorwärts wollen, ins Austragshäusel abgeschoben werden. Die Firma möchte unbedingt Leute haben, die motiviert sind, die durchbrechen wollen. Weisheit als Qualifikation? Nein, danke!

Vossenkuhl:

Du siehst schon an der Sprache dieses Milieus, wie unweise das Ganze ist. Wenn Leute entlassen werden, spricht man von „Freisetzen“. Das klingt so nach „Freilandversuch“.

Lesch:

Wie Hühner oder Gen-Mais.

Vossenkuhl:

Das ist doch absurd. Die Sprache verrät den Mangel an Weisheit. Man sollte eher Mitleid oder Mitgefühl für solche Menschen haben. Aber nein. Man redet von Freisetzen.

Langsamkeit ist sicher eine gute Voraussetzung für Weisheit. Nicht übereilen, nicht zu schnell. Aber wer hat denn heute noch Zeit?

Lesch:

Wir sitzen hier ganz entspannt…

Vossenkuhl:

… und trinken ein Gläschen Rotwein.

Und können das in Ruhe angehen.

Lesch:

Wir erzählen anderen Leuten, dass sie weise sein sollen oder dass sie´s langsam angehen lassen sollen. Währenddessen bei denen aber unter Umständen irgendwas unter den Nägeln brennt.

Ich meine, der große Trick scheint mir die Sache mit dem leichten Gepäck zu sein. Da könnte uns die Philosophie ja durchaus einen ganz wichtigen Weg hin zur Weisheit weisen. Wenn man nämlich sagen könnte: Schauen wir uns doch mal unsere Situation an. Je mehr wir uns in Zwänge hinein begeben, umso unfreier werden wir. Und Unfreiheit, unfrei zu sein, das kann doch nicht richtig sein. Man könnte sich auch fragen: Wie würde ich mich eigentlich am wohlsten fühlen?

Sicher nicht unter all den Zwängen, die ich mir möglicherweise selber an den Hals gehängt habe. Da könnte ja Lebensweisheit über eine Art von philosophischer Betrachtung sehr wohl helfen. Ich würde die Philosophie immer noch gerne mit Weisheit in Verbindung bringen und sie nicht nur als reine Wissenschaft behandeln.

Vossenkuhl:

Das würde ich auch gerne. Aber …

Lesch:

Das hört sich nicht gut an, wenn Du das so sagst.

Vossenkuhl:

Ich habe vorhin gesagt: Niemand kann von sich selber sagen, dass er weise ist. Entweder es zeigt sich oder nicht. Man kann auch nicht von sich selber sagen, dass man gut oder ein guter Mensch ist. Entweder man handelt so oder hält ansonsten den Mund. Das passt allerdings so gar nicht in unsere Zeit. Der Spruch, der viel kolportiert wird: „Tue Gutes und sprich darüber“, der ist ja das Unweiseste, was man sich vorstellen kann. Aber es macht Eindruck. Der Weise allerdings will gar keinen besonderen Eindruck machen.

Lesch:

Eindruck machen macht nicht weise.

Vossenkuhl:

Eindruck schinden. Aber wenn du Philosoph sein willst, brauchst du Aufmerksamkeit. Du musst dich bemerkbar machen.

Lesch:

Quak, quak, quak.

Vossenkuhl:

Du musst die Trommel rühren. Das ist natürlich gar nicht weise. Aber du brauchst Aufmerksamkeit. Es kann wiederum weise sein, wenn du dich zeigst. Die Frage ist: Wie? Hinzu kommt erschwerend, dass von den Leuten, die dir zuhören, auch nicht besonders viele weise sein werden. Es ist ein Dilemma.

Man darf aber nicht vergessen, dass in der guten alten Antike die Philosophen, wie man heute sagt, Jobs hatten. Entweder sie waren von Haus aus wohlhabend oder sie haben sich mit dem Wenigen, das sie hatten, zufrieden gegeben.

Heute kannst du als Philosoph nicht überleben. Wie soll der Philosoph leben, wo sind die Nischen? Ich kenne keinen einzigen, der nicht irgendeine formelle Tätigkeit ausübt oder sich mit einer philosophischen Praxis selbstständig gemacht hat. Der also nicht auf eine relativ unweise Art in seine Weisheits-Lehrerrolle gerutscht ist.

Lesch:

Das ist natürlich jammerschade. In dem Moment, wo die Philosophie angefangen hat, sich so zu benehmen wie eine normale Wissenschaft, ist sie dem ganz normalen Trott verfallen. Sie hat offenbar etwas ganz Wichtiges hinter sich gelassen. Immerhin den Kern oder zumindest einen gewichtigen Teil ihres Ursprungs.

Vossenkuhl:

Man könnte eine quasi therapeutische Untersuchung dieses Prozesses machen und überlegen, was da alles schief gegangen ist. Eines ist sicher: Von dem Moment, als die Philosophen nicht mehr daran glaubten, dass sie im gesellschaftlichen Leben eine vernünftige Rolle spielen könnten, von da an haben sie angefangen, nur noch zurückschauen und die Geschichte zu betrachten. Nur noch zu lesen und nachzugrübeln, was andere dachten. Als Training ist das gut. Der Weise muss natürlich auch historisch gebildet sein.

Lesch:

Er muss was wissen, damit er weise werden kann.

Vossenkuhl:

Aber die Geschichtsbetrachtung ist eigentlich mehr oder weniger zu einer Ersatzhandlung geworden. Man flüchtet sich in das, was andere dachten. Damit weicht man dem Druck aus, dem man ausgesetzt ist. Entweder man macht Klamauk oder flüchtet sich in die Geschichte oder man tut so, als wäre man wahnwitzig clever.

Das sind alles Ausweichmanöver. Wenn man nichts weiß, wenn man nichts zu sagen hat, dann sollte man den Mund halten. Der Satz 7 am Ende des „Tractatus“ von Wittgenstein sagt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Aber das wird natürlich heute mehr oder weniger als Spruch fürs Poesiealbum benutzt.

Was der Satz meint, ist natürlich sehr ernst. Wenn du nichts zu sagen hast, Mann, dann halt den Mund. Und das auch zu tun, ist dann eine weise Entscheidung.

Lesch:

Gilt übrigens auch für das weibliche Geschlecht.

Wäre es nicht jetzt geboten, bei den vielen Problemen, die es namentlich in Europa, vor allem aber auch in Deutschland gibt, dass man sich mal überlegt: Unter welchen Bedingungen werden Entscheidungen getroffen? Das ist ja zunächst einmal bis zu einem gewissen Punkt ein rationaler Prozess. Dann allerdings wird es irrational.

Ich habe schon den Eindruck, dass Weisheit nicht etwas ist, das ich so dahin sagen kann: Ach, guck mal hier, das ist die Weisheit. Also so etwas, das ich mit der Ratio erfassen kann. Das ist eher so ein Gemisch. Eine Mixtur aus möglicherweise Herz und Hirn, um es mal so zu sagen.

Vossenkuhl:

Ja, ja, gut.

Lesch:

Es müsste ein Gefühl für etwas Gutes sein. Wäre es nicht schön, wenn es gelänge, eine geistige Strömung in Europa zu entwickeln, bei der eben nicht alles über den Aktienindex abzurechnen ist und nicht alles über den unmittelbaren Nutzen beurteilt wird. Wenn es zum Beispiel gelänge, Manager dazu zu bewegen, sich doch mal zu überlegen, ob ein unmittelbarer Vorteil eher langfristig ein Nachteil ist. Das wäre doch schön, wenn die Freunde der Weisheit sich mal wieder auf ein solches Gebiet hinaus wagen würden. Sie haben doch was zu sagen.

Ich glaube, die Philosophie hat da schon fast einen Minderwertigkeitskomplex, wenn sie einen ihrer wichtigsten Bereiche, nämlich die Weisheit preis gibt. Ich sage das mal - wir sind ja unter uns – dieses hohe Gut sogar noch irgendwelchen dahergelaufenen Lebens-Beratern überlässt, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Die füllen ganze Bücher damit, was Philosophen zum Thema Weisheit gesagt haben. Das wird dann in irgendeinem XYZ-Verlag veröffentlicht. Das ist doch Mist!

Vossenkuhl:

Ja, natürlich. Machen wir einfach ein Gedankenexperiment. Man macht so etwas, was Du vorgeschlagen hast. Da wäre – nehmen wir an – ein Bank-Manager, der vorher noch sagte, wir steigern jetzt die Gewinnmarge von sagen wir mal 20 auf 25 %, für die Inhaber der Bankaktien. Nachdem er erfahren hat, was eigentlich weise wäre, nämlich Menschlichkeit, Mitgefühl und soziale Verantwortung zu pflegen, etwas für die anderen zu tun, Geld für Kultur und Wissenschaft zu stiften, kommt er in seine Bank zurück und sagt: Leute, ich glaube, ich hab einen völlig falschen Weg gewählt. Seinen Aktionären sagt er: Ich empfehle euch, verzichtet auf Gewinne, macht etwas, was den Menschen nützt, einen Akt der Menschenliebe.

Den würde der Aufsichtsrat sofort rausschmeißen, oder? Der würde doch nicht lange auf seinem Stuhl sitzen?

Lesch:

Sagt er nichts, bleibt er sitzen.

Vossenkuhl:

Er macht das, was die Leute wollen. Es wird also der Egoismus bedient. Unweise daran ist, dass aus dem Egoismus, der eine natürliche menschliche Anlage ist, dass daraus ein Recht, ein Anspruch abgeleitet wird, der nicht der Menschlichkeit dient. Das ist unweise.

Lesch:

Ein weiser namhafter Manager, wenn der aus einer solchen Erkenntnis heraus handeln und sich vor seine Aktionäre hinstellen würde - das wäre schon eine beachtliche Verstärkung der Truppen. Mit solchen Leuten könnte man dann weiterarbeiten. Man könnte sagen: Jetzt ist aber Schluss, es gibt grundsätzliche Handlungsanleitungen. Wichtig wäre es dann noch, diese Weisheit zu untermauern.

Wir haben ja heutzutage durchaus solche Begriffe, die meiner Ansicht schon geradezu inflationär benutzt werden und deswegen ihren Wert wieder verlieren. Eines dieser Schlagworte ist „Nachhaltigkeit“.

Es ist ein Irrtum, etwas Gutes kaufen zu wollen, und es auch noch für `nen Appel und ein Ei zu kriegen. Das ist doch irrsinnig, das kann nicht sein. Etwas Gutes kann nicht billig sein.

Vossenkuhl:

Du meinst jetzt dieses „Geiz ist geil“

Lesch:

Ja. Ganz genau.

Vossenkuhl:

Ich erinnere mich. Eine große deutsche Luftfahrtgesellschaft hat mal vor Jahren etwas sehr weises gemacht. Die haben, um diese Nachhaltigkeit zum Thema zu machen, große Anzeigen geschalten. Da stand drin: „Wir fliegen nicht überall hin“.

Lesch:

Ja, schön.

Vossenkuhl:

Und da waren die letzten Reservate der Menschheit auf dem Globus drauf. Das fand ich sehr weise zu sagen, wir wollen nicht überall hin. Ich glaube, das war eine sehr weise Entscheidung, weil es die Glaubwürdigkeit dieses Unternehmens unterstrichen hat.

Lesch:

Ganz genau. Getreu dem Motto: Wir machen nicht alles, was Geld bringt. Wir drucken nicht jeden Blödsinn, wir fliegen nicht weiß Gott wo überall hin. Wir haben heutzutage Billigfluglinien, die zu Preisen zu buchen sind, bei denen man nicht mehr nachvollziehen kann, ob die überhaupt noch Gewinn machen können. Ich habe mir die ganze Zeit schon überlegt, wie ich das eigentlich bezeichnen soll. Es ist dieses „Rolls-Royce-Bewusstsein“. Es geht einfach darum zu wissen, wo die Grenzen sind, bis wohin etwas Sinn macht. Und da ist dann aber auch Schluß.

Vossenkuhl:

Klingt gut.

Lesch:

Ja, Rolls Royce, jedenfalls wie die früher waren. Die haben dir nicht gesagt, wie viel PS die Maschine hat. Schon gar nicht, was sie kostet.

Vossenkuhl:

Genau. Musst man auch nicht wissen, wenn man in der Liga spielt.

Lesch:

Es ist genug. Its enough. Mehr als genug.

Es ist wichtig zu wissen: Es gibt gewisse Dinge, die macht man, und gewisse Dinge, die macht man nicht. Ich habe den starken Eindruck, dass Weisheitsverlust damit zu tun hat, dass ausgerechnet dieser Fundamentalbestand an dem, was man nicht tut, völlig zu verschwinden scheint. Geiz und Maßlosigkeit sind zwei dieser Todsünden.

Vossenkuhl:

Grauenvoll.

Lesch:

Wie kann man so was machen? Das sollte man nicht tun. Eines ist klar: Weise ist das nicht.

Vossenkuhl:

Ganz anders beim Wissen: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommst du ohne ihr. Das gilt allemal für das Wissen. Wissen ist immer unbescheiden. Um Wissen zu wollen, muss man unbescheiden sein. Man muss immer gegen die Grenzen stoßen – auch darüber hinaus.

Lesch:

Immer nach vorne.

Vossenkuhl:

Weisheit ist bescheiden. Ich neige mein Haupt vor dem Großen, vor den großen Geistern. Der Grund, warum ich die Schriften lese und das Denken der anderen kennen lernen will, ist Bescheidenheit. Es ist weise zu schauen: Was hat ein anderer über Wahrheit, über Freiheit, über das Gute gesagt. Aber man darf sich dann nicht damit begnügen, man darf sich nicht flüchten. Sonst wird es eine Ersatzhandlung, ein Ersatz für die Pflicht, selbst zu denken.

Lesch:

Dann ist natürlich auch klar, warum uns Weisheit heutzutage so wenig bedeutet. Weil viele von uns der Meinung sind, vor ihnen sei nichts gewesen und nach ihnen würde nichts mehr kommen. Sich nicht in einem historischen Prozess zu sehen, dass man letztlich, wie Newton das ausgedrückt hat, dass man als Zwerg auf den Schultern von Riesen steht und nur so ein bisschen zum Ganzen beitragen kann. Wenn dieses historische Bewusstsein nicht da ist, warum auch immer, dann wird natürlich Weisheit auch keinen Stellenwert bekommen.

Vossenkuhl:

Wir sollten also, wenn wir nach Weisheit streben, durchaus in den Rückspiegel schauen, in den Rückspiegel der Geschichte der großen Denker. Aber nicht als Ersatz dafür, auch nach vorne zu schauen. Wenn wir nur den Rückspiegel im Auge haben, dann sind wir Historisten. Dann sind wir nicht weise. Wir müssen schon den Mut haben, uns dem Hier und Jetzt auszusetzen. Egal, wie stark oder schwach wir uns fühlen.

Menschenliebe und Bescheidenheit, das sind die Charakterzüge der Weisheit, auf die wir auch heute nicht verzichten können, auch wenn sie noch so wenig anerkannt werden.

Die Naturphilosophen aus Milet

„Alles ist aus dem Wasser entsprungen, alles wird durch das Wasser erhalten. Ozean gönn‘ uns dein ewiges Walten. Wenn du nicht Wolken sendetest, nicht reiche Bäche spendetest, die Ströme nicht vollendetest, was wären Gebirge, was Eb’nen und Welt? Du bist‘s, der das frischeste Leben erhält.“ – Faust II, Goethe

Lesch:

Am 28. Mai 585 v. Chr. begann die Philosophie mit einer Sonnenfinsternis. Eine Schlacht wurde sogar abgebrochen, weil die verfeindeten Herrschaften aus Lydien und Medien dachten, die Welt ginge unter. Das Ganze ist zurückzuführen auf einen Mann: Thales von Milet.

Milet liegt in Kleinasien, nicht weit von den Stränden entfernt, die heute die Touristen frequentieren. Manche schauen sich sogar die Ruinen von Milet und Ephesus an.

In Kleinasien, der heutigen Türkei, da hat die Philosophie ihr erstes Zentrum gehabt. Ich meine die europäische Philosophie. Man glaubt es kaum, wenn man heute über den Beitritt der Türkei in die Europäische Union nachdenkt. Aber die ersten europäischen Philosophen waren auf der Seite der heutigen Türken.

Vossenkuhl:

Du hast gerade einführend festgestellt, dass die Philosophie 585 begonnen hat. Das ist natürlich ein schönes Datum, eine gute Idee und auch ein guter Einstieg zu Thales. Der hat diese Sonnenfinsternis, die die Schlacht beendete, tatsächlich vorhergesagt.

Lesch:

Hat er sie wirklich berechnet?

Vossenkuhl:

Das wissen wir nicht so genau. Aber ich schätze, Du hast da so Deine Vermutung, wie er zu seinen Kenntnissen kam.

Lesch:

Ja. Es gibt Leute, die meinen, dass Thales wie viele andere in Kleinasien ihr Know-how aus Babylon hatten, also der Stadt im heutigen Irak. Die Herrschaften in Babylon waren so gute Astronomen, dass sie wussten, dass es alle 18 Jahre und ein paar Monate immer mal wieder eine Sonnenfinsternis gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Thales gesagt hat: Also Freunde, im Mai, an dem und dem Tag, da wird’s zappenduster. Er hat wohl eher gesagt: Ungefähr um diese Zeit herum wird es zu einer Sonnenfinsternis kommen.

Was ich erstaunlich an dem Thales finde, dass er so ein wichtiges Ereignis wie eine Sonnenfinsternis versucht hat naturwissenschaftlich zu erklären. Er hat nicht gesagt: Die Götter zürnen uns oder so etwas. Die wurden in dieser Zeit gerne für alles Mögliche verantwortlich gemacht.

Vossenkuhl:

Das war ein ganz praktischer Mann, der Thales.

Lesch:

Er soll Politiker gewesen sein.

Außerdem Ingenieur, Philosoph und Mathematiker. Habe ich noch was vergessen?

Vossenkuhl:

Er war Nautiker. Er war auf der Nautikerschule. Er hat am Fluss Hyla einen Kanal gebaut. Genau da, wo auch die besagte Schlacht statt fand.

Sein Geburtdatum wird so um 625 - 628 v. Chr gelegen sein. Und er wurde sehr alt. Ganze 78 Jahre.

Lesch:

Ich habe gelesen, lieber Willi, dass Philosophen, Astronomen und Friseure sehr alt werden. Offenbar scheint Philosophie etwas zu sein, das lebenserhaltend ist. Astronomie auch. Das kann ich nur bestätigen. Friseur scheint auch ein sehr interessanter Beruf zu sein.

Vossenkuhl:

Wie meinst Du das?

Lesch:

Tja, es muss offenbar stressfrei sein und man erfährt viel von den Menschen. Das scheint die Lebensdauer zu verlängern.

Vossenkuhl:

Zurück zu Thales. Du hast mit gutem Grund gesagt, dass er der erste Philosoph in unserem modernen Sinn war. Davor gab’s – wahrscheinlich – nur Dichter wie Homer, deren Mythen und natürlich die Priester.

Lesch:

Es gibt solche Sätze wie: Wer philosophiert, denkt griechisch.

Mit dem Thales haben wir einen, der in der Handelsstadt Milet den Anfangspunkt gesetzt hat. Er war einer dieser allerersten Denker, die versucht haben, irgendetwas über die Welt zu erfahren, ohne gleich wieder die Götter zu Hilfe zu nehmen. Kann man das als den Beginn der Philosophie bezeichnen oder gibt es da noch etwas?

Vossenkuhl:

Das ist bestimmt ein Markstein. Geht es dabei doch um die von Menschen selber gegebene Erklärung. Die Suche nach den Gründen, also nach den Archae, den Ursprüngen, den Prinzipien.

Diese Suche nach den Prinzipien, nach den Urgründen, das ist wohl der Beginn der Philosophie. So wurde sie aber noch nicht genannt. Ich glaube, dass erst die Pythagoräer darauf gekommen sind, sie so zu nennen. Pythagoras wäre der erste „Philosophos“.

Lesch:

Ah ja. Der Erste …

Vossenkuhl:

… der so genannt wurde.

Lesch:

Der erste Freund der Weisheit.

Vossenkuhl:

Ja. Ich glaube, dass dies das Entscheidende ist. Diese Fragen des Menschen: Was ist das erste Prinzip, was ist die Grundursache dessen, was ist, und wie erklärt man sich das?

Lesch:

Eine Frage, auf die ich bisher keine Antwort gefunden habe.

Warum Milet? Ich meine, Athen wäre doch naheliegender gewesen. Da gab es viele Menschen, die Zeit hatten, über die Dinge nachzudenken, und die sich nicht unmittelbar um ihre Existenz kümmern mussten. Warum so eine Handelsstadt wie Milet? Warum nicht Athen oder irgendein anderer Platz auf der Welt?

Vossenkuhl:

Dafür habe ich auch keine zuverlässige Antwort. Aber sicher ist, dass Kleinasien eine Art „melting pot“ der Kulturen war, also ein Schmelztiegel.

Lesch:

Multikulti.

Vossenkuhl:

Genau. Da gab es die Phönizier. Wir werden ja gleich noch über einen Mann reden, der Thales kannte und so an die 15 Jahre jünger war. Er hieß Anaximander. Seine Mutter soll Phönizierin gewesen sein. Dann lebten hier natürlich die Ionier und Lydier. Die Leute kamen aus allen Ecken zusammen. Die brachten alle ihre Kulturen mit. Ich glaube, dass das ein interessantes, vielleicht auch ein bisschen aufgeheiztes, kulturelles Klima war, in dem kritische Gedanken über das was ist, und warum das so ist, einen guten Nährboden fanden.

Lesch:

Also könnte man durchaus sagen, dass Philosophie in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, dadurch entstanden ist, dass sehr viele Ideen in einer Stadt umgerührt und neu zusammengesetzt wurden. Man ist nicht nur einer Idee hinterher gerannt. Gewisse Dogmen wurden so auch über den Haufen geworfen.

Vossenkuhl:

Ja. Wenn man sich das so im Nachhinein vorstellt. Das ist ja nun auch schon lange her.

Lesch:

Stimmt.

Vossenkuhl:

6. Jahrhundert vor der Zeitenwende.

Lesch:

Mehr als zweieinhalbtausend Jahre.

Vossenkuhl:

Wir können uns die Mentalität der Menschen nicht mehr so ganz genau vorstellen. Es ist auch nicht gesichert, ob der Thales bei den Milesiern so bekannt war wie jetzt für uns. Aber wahrscheinlich war er doch eine öffentliche Persönlichkeit. Und die Tatsache, dass er wahrgenommen wurde - er hat ja nichts Schriftliches hinterlassen, wir haben keine direkten Zeugnisse von ihm - das zeigt doch schon, dass er einen gewissen Respekt auch als Philosoph genoss. Obwohl damals die Philosophen so quasi mit einem lächelnden und einem weinenden Auge betrachtet wurden.

Lesch:

Komm, nun erzähl´ die Geschichte mit der Magd. Erzähl sie.

Vossenkuhl:

Eigentlich erzählt hat’s der Platon in seinem Dialog „Theätet“. Der zeigt die zwei Seiten des philosophischen Lebens. Er erzählt also, dass eine Magd gesehen hat, wie Thales beim Nachdenken über die ersten Gründe, die „Archae“, dessen was ist, in eine Grube gefallen ist. Sie hat schallend gelacht, und gemeint: Da denkt er nun über den Himmel und über die Unendlichkeit nach und fällt einfach in eine blöde Grube. Sie hat ihn also ausgelacht.

Lesch:

So ist er wohl auch nicht auf seinen Urgrund gekommen, dass nämlich das Wasser der Urgrund aller Dinge ist. Er ist ja nicht in einen Brunnen gefallen.

Vossenkuhl:

Jedenfalls ist das nicht so überliefert. Es ist wohl nur eine profane Grube gewesen.

Lesch:

Ich habe auch noch eine Geschichte zu Thales auf Lager. Man hatte ihm ja vorgeworfen, dass die Philosophie zu nichts nütze sei. Er hatte aber aus astronomischen Informationen - weiß der Zeus wie er das gemacht hat - die Erkenntnis, dass die Olivenernte im nächsten Jahr sehr gut werden würde. Daraufhin hat er offenbar alle Olivenpressen, deren er habhaft werden konnte, zusammengekauft. Die Bauern mussten, als die Oliven geerntet waren, dann bei ihm die Olivenpressen kaufen. Das hat ihn zum reichen Mann gemacht. Er wollte damit eigentlich nur zeigen: Freunde, wenn ich will, kann auch ich Geld verdienen. Merke also: Ein Philosoph kann Geld verdienen, wenn er will. Aber er will nicht.

Vossenkuhl: