Die Halbe Welt - David Bröderbauer - E-Book
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Die Halbe Welt E-Book

David Bröderbauer

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte der Halben Welt, die Utopie wurde Wirklichkeit. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt, Menschen dürfen nur noch in ihrer Hälfte der Erde leben, die andere Hälfte wurde zum Naturschutzgebiet erklärt. Ein packender Roman über Moral und Wissenschaft, der die Geschichte der Gegenwart fortspinnt und die Zukunft in einer geteilten Welt entwirft. Das Zeitalter der Einsamkeit ist angebrochen, nachdem der Mensch sich über alles Leben gestellt hat. Die Hälfte der Erde wurde infolge der globalen Krisen zum Schutzgebiet erklärt. Als Sachbearbeiter in der Behörde zur Verwaltung der Halben Welt sieht Lilian es als seine Aufgabe, zukünftigen Generationen begreiflich zu machen, warum die Hälfte der Erde der Natur überlassen werden musste; er beginnt diese Geschichte aufzuschreiben. Zur Illustration seines Berichts will er die Arbeit zweier Wissenschaftler im globalen Wiederbewaldungsprogramm schildern. Die beiden sind bei einem Forschungsaufenthalt in der Halben Welt mutmaßlich verunglückt. Mit Fortdauer seiner Recherchen mehren sich allerdings Lilians Zweifel an der Ursache für ihr Verschwinden. Bröderbauers dritter Roman verwebt Fakten und Fiktion. Wer darf bestimmen, wie das Zusammenleben auf Erden aussehen soll? Liegt die Zukunft darin, dass Menschen zugunsten der Natur in ihrem Lebensraum und ihren Aktivitäten beschnitten werden sollen? Wie es beispielsweise das "Half-Earth-Projekt" des weltberühmten Biologen Edward O. Wilson plant? Ein absolut aktueller und zu Diskussionen anregender Roman.

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Für M und N

Inhalt

1. TEIL: DER BERICHT

ANMERKUNG DES VERFASSERS

DER EINSAME PLANET

DER STUMME FRÜHLING

DIE BEHÖRDE

WALD

DIE SEHENDEN

2. TEIL: DER BRUCH

MARK

INSELBIOGEOGRAFIE

RECHERCHEN

WENDEKINDER

WILDNIS

3. TEIL: DIE BRACHE

An die Leser:innen der Zukunft

1. TEIL

DER BERICHT

ANMERKUNG DES VERFASSERS

Dies ist die Geschichte der Halben Welt. So unwahrscheinlich es schien, die Halbe Welt ist Wirklichkeit geworden. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt. Nicht mehr lang, dann wird ihre Existenz selbstverständlich sein, werden ihre Anfänge in Vergessenheit geraten. Wenige werden sich noch daran erinnern, wie die Halbe Welt als Idee Gestalt annahm, welche Worte es waren, die den Umschwung der Meinung bewirkten, welcher Zufälle und Maßnahmen es bedurfte, um die Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Wie es zu den großen und kleinen Entscheidungen kam, die den Weg bereiteten. Deshalb steht es hier aufgeschrieben. Sollten die zukünftigen Menschen nach den Anfängen der Halben Welt fragen, wartet mein Bericht im Archiv der Behörde auf sie.

Ich – der Verfasser dieser Zeilen – sehe es nicht als meine Aufgabe, die Geschichte unserer Hälfte zu dokumentieren. Auf Begebenheiten der kultivierten Welt geht der Bericht nur dort ein, wo es der Sache dient.

Der Bericht ist nicht für die Menschen von heute geschrieben. Wer ihn vor der Zeit liest, möge dies bedenken. Vor allem wendet er sich nicht an die Leser:innen, die an der Halben Welt zweifeln, die verlangen, dass der Mensch Zutritt zu ihr erhält, oder mehr noch, Zugriff. Es sei hier bekräftigt, dass der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt bis auf Weiteres verwirkt hat.

Die Frage sei hier vorweggenommen, warum ich mich berufen fühle, die Geschichte der Halben Welt aufzuschreiben. Es ist nicht meine Absicht, durch diesen Bericht Bekanntheit zu erlangen. Aus diesem Grund wird im Bericht auf Angaben zu meiner Person verzichtet. Nur so viel sei gesagt, dass ich als Mitarbeiter jener Behörde, die maßgeblich zur Erschaffung der Halben Welt beitrug und sie verwaltet, Einblick in relevante Dokumente und Aufzeichnungen habe. Zudem befinde ich mich im Besitz persönlicher Erfahrungen betreffend die Vorgänge während der Neuordnung der Welt. Es soll hier festgehalten sein, dass ich mich nicht als Opfer sehe, wie es unter den Umgesiedelten Mode geworden ist. Wir alle sind Täter. Vergessen wir das nicht.

Der Bericht wird sich exemplarisch mit dem Schicksal zweier Persönlichkeiten befassen, die eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Halben Welt gespielt haben. Jos Tyskin, ein Mäzen der Halben Welt aus der bedeutenden Unternehmerfamilie der Tyskins – der Name wird auch den Leser:innen der Zukunft ein Begriff sein. Und Thomas Mark, ein Wissenschafter, der die Wiederbewaldung der Halben Welt vorangetrieben hat. Vor einem Monat sind sie im Zuge eines Forschungsaufenthalts in Neotropis-Zentral als abgängig gemeldet worden. Ihr Verschwinden ist das Ereignis, das die Halbe Welt vervollkommnet.

LILIAN VERLIESS DIE BEHÖRDE. Er überquerte den Vorplatz und bog wie die anderen in die Allee ein. Der lang erwartete Regen war schon abgezogen, aber aus dem Blätterdach troff noch Wasser und verstärkte das Geräusch der vielen Schritte, die im Takt auf die Haltestelle zusteuerten. Dampf stieg vom Boden auf, ein Dampf ohne Geruch. Lilian war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um das neuerliche Versagen seines Geruchssinns zu registrieren, oder die warmen Tropfen, die auf seiner Stirn landeten. Zeile für Zeile ging er den Anfang seines Berichts durch. Gerade erst hatte er – endlich – begonnen, schon wollte er wieder alles abändern. Er musste eine Begründung ergänzen, warum der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt verwirkt hatte. Keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung für die Menschen der Zukunft, die nicht mehr wissen würden, welche Argumente die öffentliche Meinung bestimmt hatten. Statt bis auf Weiteres sollte er schreiben, dass die Menschen ihr Anrecht auf die Halbe Welt für immer verwirkt hatten, um zukünftigen Lesern entgegenzutreten, die in diesem Punkt möglicherweise eine weniger entschiedene Haltung vertraten als er.

Die Frage, ob er überhaupt dazu geeignet war, die Geschichte der Halben Welt zu verfassen, stellte sich nicht mehr. Mit Tyskins Verschwinden hatte sich etwas geändert. In den vier Wochen, die er und Mark nun abgängig waren, hatte niemand aus der Familie um eine Stellungnahme gebeten. Wenn selbst für einen Tyskin die Regeln der Halben Welt galten, bedeutete dies, dass sie funktionierte. Es war Zeit, die Geschichte ihrer Entstehung aufzuschreiben, irgendjemand musste sie für die Nachwelt bewahren. Warum nicht er.

Kreischend flogen zwei grüne Schemen über Lilians Kopf. Er schaute nach oben und trat dabei in eine Pfütze. Als er stehen blieb, lief jemand in seinen Rücken. Der Mann fuhr erschrocken auf. »Schalte deinen Kopfraum ein, du Idiot«, sagte er im Vorübergehen, die Augen schon wieder nach innen gekehrt. Lilian verzichtete auf eine Antwort. Macht doch besser eure Augen auf, dachte er, und sah noch einmal zu den lärmenden Carolina-Sittichen hoch, die sich seit Kurzem auch im Zentrum der Stadt ausbreiteten. Er ging weiter, ohne seine nassen Schuhe näher zu inspizieren. Es war das einzige konzessionierte Paar für dieses Jahr.

Tyskins und Marks Fall war nicht nur deshalb relevant, weil ihr Verschwinden akzeptiert wurde. Die Informationen über die beiden Männer, die er für die Akte zusammengestellt hatte, erfüllten die Sammlung an Dokumenten, Stellungnahmen und Beschlüssen, die er vor Jahren mit großem Eifer und unklarem Ziel begonnen hatte, mit Leben. Gemeinsam fügte sich alles zu einer Geschichte der Halben Welt. Lilian sah sie Gestalt annehmen – die Mäzene, die den Anfang gemacht hatten, das globale Wiederbewaldungsprogramm als roter Faden, eingebettet in ein Mosaik aus abertausenden Paragrafen, Wortmeldungen, Bildern und Gesten. Er wollte versuchen, diese Geschichte zu erzählen. Er wollte darlegen, warum die Errichtung der Halben Welt die einzige valide Option für den Planeten gewesen war. Wo der Mensch sich breitgemacht hatte, würde er schreiben, waren die anderen Spezies ausgestorben. Die Menschenwelt war so konsequent umgesetzt geworden, dass für die Wildnis kein Platz mehr geblieben war. Die einzige Lösung war die Zweiteilung der Erde gewesen – eine Hälfte, innerhalb deren Grenzen die Natur als Ressource für die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse diente, die andere Hälfte, die dieser Logik entzogen und den natürlichen Prozessen überlassen wurde. Innerhalb der Grenzen dieser Hälfte würde alles wild sein.

Er würde auch anführen, dass es nach dem Scheitern der Klimaschutzbemühungen eines neuen Ziels bedurft hatte – eines erreichbaren Ziels. Nach den vielen Rückschlägen war deutlich geworden, wie leicht diese Idee im Gegensatz zu anderen Maßnahmen umsetzbar war. Man musste nur die Hälfte der Erde vom Menschen befreien und sich selbst überlassen. Dort, wo die Natur zu stark gelitten hatte, half ein weltweites Wiederbewaldungsprogramm der Wildnis auf die Sprünge. Es war ein Rückschlag für die Behörde, dass Mark ebenfalls verschollen war. Im Gegensatz zu Tyskin wog sein Verlust schwer, egal was man von ihm halten mochte. Es war noch kein Nachfolger ernannt worden. Sicher würde es jemand aus dem inneren Kreis der Behörde sein, dem man die Leitung des Wiederbewaldungsprogramms für das Neotropis-Zentral-Territorium übertrug. Die Position brachte es mit sich, dass man zu Studienzwecken in die Halbe Welt reisen durfte. Mark hatte von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Theoretisch konnte sich Lilian bewerben, auch wenn er nach seinem Studium keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte.

Am Carson-Boulevard folgte Lilian den Kolonnen durch die Galerie der Halbweltfenster. Wo ein großer Ast auf die Reihen der Monitore gefallen war und den Durchgang versperrte, stockte der Strom. Einige Passanten kehrten um, andere krochen unter dem Ast hindurch. Es schien niemand verletzt worden zu sein. Lilian versuchte über den Ast hinwegzuklettern, wobei er sich nicht sehr geschickt anstellte. Nachdem er sich auf der einen Seite hochgezogen hatte, fand er auf der anderen keinen Weg hinunter. Er saß fest und blickte ratlos auf den leicht beschädigten Monitor, in dem sich der Ast verfangen hatte. Hunderte Gnus rannten darin auf ihn zu, bevor sie sich einen steilen Hang hinab in die Mara stürzten. Der Monitor flackerte und spielte dieselbe Szene immer wieder ab, als wäre es ein Video und keine Live-Aufnahme. Auf dem intakten Bildschirm daneben suhlte sich lebensgroß ein Sumatra-Nashorn im grün schimmernden Licht einer Nachtbildkamera. Sieben Uhr war es auf Sumatra, wie der Monitor anzeigte. Ein Kind, das unter dem Ast durchgeschlüpft war, presste sich gegen die Scheibe, als könnte es so mit dem Tier Kontakt aufnehmen. Unerwartet drang Lilian der Geruch von frischem Holz in die Nase, als er über die abblätternde Borke rutschte. Die Erinnerung an einen geköpften Baumstamm in der Sonne tauchte auf, an dessen harzigen Duft. Klein stand er unter dem Stumpf und atmete den Geruch des morschen Kadavers ein, seine Hand in der von Laura, die ihm zu erklären versuchte, warum der Wald starb. Verwirrt klammerte sich Lilian an den Ast und sah zu, wie eine Frau das Kind vom Monitor mit dem Nashorn wegzog. Schließlich sprang er hinunter, streifte seine Hose ab und ging in derselben Richtung wie Frau und Kind die Monitorgalerie entlang.

Irgendwann würde man die Halbweltfenster vielleicht abbauen, weil diese Szenen selbstverständlich geworden waren; weil es keiner Veranschaulichung mehr bedurfte, was alles in der Halben Welt vor dem Aussterben bewahrt worden war. Dann konnten sich die Nashörner nach Jahrtausenden menschlicher Verfolgung wieder ungestört im Schlamm suhlen, ohne auch nur von einer Nachtbildkamera beobachtet zu werden. Es war die Aufgabe der Behörde, diese Utopie zu verwirklichen.

Am Wilson-Platz – die überlebensgroße Statue Wilsons wies mit einer Lupe in die Richtung, aus der Lilian gekommen war – folgte er den anderen in den Untergrund. Heute würde er nicht den Fußweg durch den Botanischen Garten nehmen. Er hatte es eilig, nachhause zu kommen, er wollte die Arbeit an seinem Bericht fortsetzen. Er musste bei den Anfängen beginnen. Er musste alles aufschreiben, was er wusste.

Und was er nicht wusste? Er ließ den Gedanken gewähren, dass er notfalls in die Halbe Welt reisen müsste, um auch das herauszufinden.

DER EINSAME PLANET

Eine Revolution verwirklichen kann man nicht allein, eine Revolution braucht viele Menschen, viele Stimmen, die im Chor die entscheidenden Worte rufen.

Über eine Revolution schreiben dagegen kann man nur allein. Ein Chronist darf nicht zu nahe rücken, er muss sich aus dem Gedränge halten, um alles sehen zu können, um das Durcheinander der Worte zu verstehen, um das Wesentliche einzufangen und festzuhalten.

Vielleicht hat es seine Richtigkeit, dass jemand wie ich diesen Bericht für die Menschen der Zukunft verfasst.

Rückblickend betrachtet wird es vielleicht verwundern, dass eine derart folgenreiche Idee wie die Teilung der Welt zur Umsetzung gelangte. Wollte man es sich einfach machen, könnte man behaupten, die großen Krisen der Wendezeit und der desolate Zustand der Erde hätten diesen Schritt unumgänglich gemacht. Aber so war es nicht. Im Gegenteil, es hatten sich gerade wegen der zahlreichen Krisen viele Menschen gegen Veränderungen gesperrt. Letztlich waren Zufälle und Nebensächlichkeiten dafür ausschlaggebend, dass die Halbe Welt gegen alle Widerstände errichtet werden konnte. Ein entscheidender Moment war, als sich einige der reichsten Menschen der Welt für die Natur zu interessieren begannen, wie es vom Vater der Halben Welt, dem ehrwürdigen E. O. Wilson, vorhergesagt worden war. So wesentlich die Rolle der Behörde bei der Schaffung der Halben Welt auch war, wurden entscheidende Schritte von ein paar wenigen wohlhabenden Privatpersonen und Unternehmen getätigt. Zu deren bedeutenderen zählte nicht zuletzt die Unternehmerfamilie der Tyskins, allen voran Jos Tyskin. Welche Motive genau die Tyskins und andere dazu bewogen, einen Teil ihres Vermögens in Naturschutz zu investieren, ist rückblickend schwer zu beurteilen. Sicher spielte das Stiftungswesen eine Rolle, das es den Wohltätern erlaubte, ihr Vermögen dem Zugriff der Steuerbehörden zu entziehen. Neben solchen wohl kalkulierten Überlegungen ließen sich manche Mäzene aber auch von weniger rationalen Überlegungen leiten. Hier muss an erster Stelle Ruth Pizmo genannt werden, die im Zuge eines Scheidungsverfahrens die Hälfte des Vermögens ihres Mannes, Elton Pizmo, zugesprochen bekommen hatte. Elton war bis dahin einer der reichsten Menschen der Welt gewesen. Nun zählte auch Ruth zu diesem erlesenen Kreis. Vielleicht weil Beziehungen in der damaligen Zeit eine zuweilen übermäßig emotionale Komponente zu eigen war, machte sich Ruth Pizmo mit ihren nunmehr unerschöpflichen finanziellen Mitteln daran, das Lieblingsprojekt ihres Ex-Mannes zu sabotieren – das private Raumfahrtunternehmen Deep Horizon, das nach der Scheidung in Eltons Besitz verblieben war. Ruth startete eine Kampagne, die sich nicht nur gegen die private Raumfahrt richtete, sondern gegen Weltraumreisen als Ganzes. Dieser Angriff traf den Zeitgeist der damaligen Ära und sollte unwahrscheinliche Folgen für die Zukunft der Halben Welt haben. Was machen wir auf dem Mond?, ließ Ruth über ihr Medienportal und in den sozialen Medien fragen und legte in einer Reihe von aufwendig gestalteten Berichten und Dokumentationen dar, wie entbehrlich etwa die internationale Mondstation war, deren Errichtung zu diesem Zeitpunkt betrieben wurde. Unter anderem verhalf sie einer Studie der chinesischen Astroökonomin Li Yen zur weiteren Verbreitung, welche die Kosten der ersten Mondmissionen im 20. Jahrhundert – betrieben von den damals noch vereinigten Staaten Amerikas – auf einhundert Milliarden Dollar bezifferte, und für die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls geplante Mission zum Mars fünfhundert Milliarden Dollar veranschlagte – eine astronomischhohe Summe, um eine Metapher aus der Zeit zu bemühen. Pizmos Kampagne lenkte den Blick zurück auf eine Gesellschaft, die während der ersten Mondlandung im Jahr 1969 in einem kindlichen Bedürfnis nach Sensationen gebannt vor den Fernsehgeräten gesessen war und dabei übersehen hatte, wie zur selben Zeit – die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Ära des Wirtschaftswachstums – der eigene Planet durch Pestizide, Abholzung und die Verbrennung fossiler Energieträger zerstört wurde. Stellt euch vor, wir hätten damals das Geld für die Mondlandung in erneuerbare Energien investiert, war Pizmos Botschaft, wie würde die Erde heute aussehen? Stellt euch vor, wir investieren jetzt das Geld nicht in eine Mondstation oder einen bemannten Marsflug, sondern in die Bewahrung dessen, was noch übrig ist.

So gewitzt Pizmos Argumentation auch war, hätte ihre Kampagne vermutlich keinen so durchschlagenden Erfolg gehabt, wäre nicht noch ein weiterer Umstand dazugekommen. Pizmo bediente sich zur Untermalung ihrer Slogans eines ikonischen Bildes, das den Gedanken und Gefühlen ihrer Zeitgenossen mehr als jedes andere Ausdruck verleihen sollte. Es handelte sich um die in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts angefertigte erste Fotografie der Erde, aufgenommen von den Astronauten der letzten bemannten Mondmission. Nachdem alle Missionen davor in ihrer aus heutiger Sicht obszönen Fixierung auf den Mond der Erde den Rücken zugewandt hatten, warfen die Astronauten von Apollo 17 erstmals einen Blick zurück. Die dabei entstandene Fotografie der im Weltraum schwebenden Kugel machte 1972 zeitgleich mit dem Bericht des Club of Rome die Verwundbarkeit der Erde sichtbar. Das Bild geriet zur Ikone der frühen Naturschutzbewegung (deren Scheitern dazu führen sollte, dass die Errichtung der Halben Welt überhaupt nötig wurde). Durch Pizmos Kampagne erlebte das Bild des Blue Marble fünf Jahrzehnte nach seiner Aufnahme eine Renaissance. Pizmo ließ es massenhaft verbreiten, ergänzt um den Untertitel Dead End – wohlgemerkt ohne Fragezeichen. Damit spielte sie nicht nur auf die Apollo-17-Mission an, die nach Pizmos Ansicht für immer die letzte bemannte Mondmission bleiben sollte. Gleichzeitig stellte der Untertitel einen Bezug zum gegenwärtigen Massenaussterben auf der Erde her, das unaufhaltsam voranschritt. Vor allem aber – und das war das Entscheidende – verlieh das Bild des blauen Planeten im schwarzen All der damaligen Erkenntnis Ausdruck, dass die Erde aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige belebte Planet und somit die Menschheit allein war, zumindest in unserer Galaxie, vielleicht sogar im ganzen Universum. War man lange davon ausgegangen, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis man auf anderes Leben stoßen würde, hatten sich nach Jahrzehnten der erfolglosen Suche Zweifel eingestellt. Wo waren all die Außerirdischen, wenn sie denn existierten? Das Fermi-Paradoxon wurde erneut hitzig diskutiert: Gemäß den Computersimulationen müsste aufgrund des hohen Alters des Universums schon längst eine Form intelligenten Lebens entstanden sein und die habitablen Planeten unserer Galaxie, derer es angeblich so viele gab, schon lange kolonisiert haben. Folglich dürfte dieses intelligente Leben unseren Teleskopen und Satelliten nicht entgangen sein. Warum haben wir es dann aber noch nicht gefunden? Astrophysiker:innen begannen, die Zahlen noch einmal durchzurechnen. Ein gewisser Schwieterman bewies, dass die habitable Zone rund um einen Fixstern kleiner war als gedacht. Allein dieser Umstand reduzierte die Liste erdähnlicher Planeten erheblich. Dem nicht genug, wurde festgestellt, dass ein unbedingt erforderlicher Mond eine ganz bestimmte Größe haben musste, um Achse und Rotation des Planeten ausreichend zu stabilisieren. Folglich sank die Zahl möglicher Kandidaten weiter. Für den Fall, dass diese grundlegenden Bedingungen gegeben waren, erläuterten die Astronom:innen, bedurfte es dann unter anderem noch eines Magnetfelds zum Schutz vor der kosmischen Strahlung, dem Vorhandensein von Wasser als Grundlage allen Lebens und der richtigen chemischen Zusammensetzung der Oberfläche, um eine kontinuierliche Bewegung der tektonischen Platten zu ermöglichen, die wiederum zur Stabilisierung des Klimas nötig war, vorausgesetzt, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre war weder zu hoch noch zu niedrig. Nur dann (auf eine vollständige Aufzählung aller relevanten Parameter wird hier verzichtet) konnte sich Leben entwickeln, was laut der organismischen Biologin Elvira Kalkhoff allerdings so wahrscheinlich war, als würde man die Einzelteile eines Flugzeugs in einen Tornado werfen, und es würde darin zufällig richtig zusammengebaut.

Bis heute konnte der Entstehungsprozess sich selbst reproduzierender Moleküle nicht ausreichend erklärt werden. Noch weniger verstand man damals und versteht man heute, wie aus solchen Molekülen komplexe Organismen evolvieren, die über das verhältnismäßig primitive Einzellerstadium hinausgehen.

Entstand nun trotz aller Unwägbarkeiten und aller ungeklärter Fragen gegen alle Wahrscheinlichkeit Leben, konnten klimatische Schwankungen, Asteroideneinschläge, Vulkanismus oder schlicht ein spontanes Ausgasen der Atmosphäre dieses Leben schnell wieder auslöschen. Zog man alle Variablen in Betracht, wie es Sandberg, Drexler und Orb in ihrer viel beachteten Neuberechnung der Drake-Gleichung taten, war es selbst bei einer Trillion Sterne in unserer Galaxie nicht unplausibel, dass die Erde der einzige Planet mit komplexem Leben war. Mit Ausnahme denkmöglicher bakterieller Matten, so lautete das Ergebnis der Wissenschaft zu Pizmos Zeit, waren wir aller Wahrscheinlichkeit nach allein.

Ruth Pizmo war es zu verdanken, dass die Studien Schwietermans, Sandbergs und anderer verbreitet wurden und Eingang in den geisteswissenschaftlichen Diskurs ebenso wie in die Populärkultur fanden. Die Vorstellung, dass wir im Universum allein sind, traf damals das Lebensgefühl nicht nur der westlichen Gesellschaften, die infolge diverser Krisen immer stärker zur Vereinzelung tendierten, wie sie heute selbstverständlich ist. In philosophischen Kreisen wurde gar das Zeitalter der Einsamkeit – das Eremozän – ausgerufen. In einer Kultur, in der Weltraumabenteuer zu den beliebtesten Themen der Unterhaltungsindustrie gehörten, entfaltete diese Vorstellung eine erstaunliche Wirkung. Je mehr sich die Ansicht durchsetzte, wonach die Erde der einzige lebendige Planet im Universum war, umso mehr wurden Förderungen für Forschungseinrichtungen und Kulturinitiativen gekürzt, die sich dem Thema Raumfahrt widmeten. Die Folge waren neben der Insolvenz des privaten Raumfahrtunternehmens ihres Ex-Mannes und dem Bankrott des größten Weltraumrohstoffproduzenten (der in seinem zwanzigjährigen Bestehen nicht eine Unze Metall gefördert hatte) schließlich auch die Aufgabe der Pläne zur Errichtung einer Mondstation und zur Ausstattung einer Marsmission. Selbst die Schließung der weltweit führenden Raumfahrtbehörde – nur wenige Jahre zuvor undenkbar – ließ nicht mehr lange auf sich warten.

Am Anfang dieser Entwicklung war das ikonische Bild des einsam im Raum treibenden blauen Planeten gestanden. Ruth Pizmo war unvermutet zur Vorreiterin geworden, die der Vorstellung zum Durchbruch verhalf, dass das Leben auf der Erde schon aufgrund seiner Einzigartigkeit erhalten werden muss. Bald sollten sich weitere Milliardäre die Rettung der Welt zum Ziel setzen.

NICHT JEDER IN DIESER HÄLFTE der Welt war freiwillig einsam, aber Lilian schon, er hatte kein Problem mit der Einsamkeit. Sein Problem war, dass er nie allein war. Die Straßen waren voller Menschen, auch wenn sie untereinander Abstand hielten, die Behörde war voller Angestellter und seine Wohnbox, der einzige Ort, den er für sich allein hatte, voller Geräusche aus den Nebenboxen, die ihn des Gefühls der Einsamkeit beraubten, welches für ihn dem Gefühl der Geborgenheit am nächsten kam. Am ehesten war er für sich, wenn er ging, wenn er in der Masse der Menschen berührungslos dahinglitt wie ein Fisch im Schwarm. Doch früher oder später stolperte er, machte einen unbedachten Schritt oder wandte sich in die falsche Richtung. Dann streifte er eine Schulter, stieß mit einem der Entgegenkommenden zusammen oder spürte einen der Nachfolgenden in seinen Rücken prallen, und die Illusion der Einsamkeit war dahin. Meist trug er die Schuld, weil er nicht synchron ging. Sosehr er auch achtgab und die Bewegungen der Passanten vorauszuahnen versuchte, immer wieder ging er fehl. Die Zusammenstöße waren für Lilian nicht nur aufgrund der Berührungen unangenehm; bei jeder Kollision blickte er seinem Gegenüber mit der Erwartung ins Gesicht, dass es Laura sein würde, oder Olivier. Früher hatte ihn diese Vorstellung geängstigt, es hatte ihm kalten Schweiß aus den Poren getrieben, wenn er die Augen zum Gesicht des Passanten hob, wo ihm der wissende Blick seiner Eltern begegnen würde, doch war dies natürlich niemals geschehen, und nach unzähligen Zusammenstößen mit Fremden blieb der Schweiß schon lange aus. Zurückgeblieben war die eingetrocknete Kruste seiner Angst, sie hatte sich in ihm festgesetzt und war zur Gewohnheit geworden; aus Gewohnheit suchte er immer noch nach den Zügen der beiden, stellte sich vor, wie sie in ihrer abgetragenen Kleidung durch die Straßen gingen, ebenso asynchron wie er, allen im Weg, aber im Gegensatz zu ihm nicht darauf bedacht, sich einzufügen. Ob er sie erkennen würde, hatte er sich jahrelang gefragt, wenn sie denn noch lebten. Gerade die Alten waren während der Antibiotikakrise gestorben. Während der Hitzemonate dünnten ihre Reihen alljährlich weiter aus. Irgendwann würde es keine Alten mehr geben, dann, so hatte er gedacht, konnte er sicher sein, dass auch sie tot waren und ihm nicht mehr begegneten. Nachdem ihn schließlich die Nachricht von ihrem Ableben in einem der Aussiedlerasyle erreicht hatte, begann er sich auf seinen Wegen zu fragen, ob sie einander vielleicht hier oder dort begegnet waren, ohne sich zu erkennen, ob sie, ohne es zu wissen, aneinander vorübergegangen waren. Seitdem suchte er in den Gesichtern der Passanten und den Vierteln der Stadt nach ihren Spuren.

Der Ort, der noch am ehesten Ruhe versprach, war der Botanische Garten, der sich mehr lang als breit am westlichen Ufer des Flussbetts hinzog. Im hinteren Teil, weit hinter den renovierungsbedürftigen Glashäusern, lief der Garten in einen von Bäumen umstandenen und von einem alten Komposthaufen beherrschten Platz aus, der mehr ein kahler Fleck als ein eigentlicher Platz war und mangels eines Ausgangs eine Sackgasse darstellte, die von allen gemieden wurde, für die der Garten nicht mehr als ein Durchgang von den Außenbezirken ins Zentrum war.

Der Garten teilte Lilians Arbeitsweg in zwei annähernd gleich lange Strecken. Er kam fast jeden Tag hierher, außer an den Sturmtagen, wenn es unter den alten Bäumen noch gefährlicher war als auf den Alleen der Stadt und die Zahl der Unfalltoten kurzzeitig die Zahl der Suizide überstieg. Entweder saß er am Morgen hier, bevor er in die Arbeit ging, oder am Abend, zum Sonnenuntergang, oft auch beides, so wie heute. Bis auf Lilian besuchten diesen Teil des Gartens fast nur Migros. Der Platz schien ihr zweites Zuhause zu sein. Wenn er ankam, waren sie schon da, wenn er kurz vor Gartenschluss ging, blieben sie noch. Die Abdrücke im vertrockneten Gras ließen darauf schließen, dass sie hier übernachteten, zumindest in der heißen Jahreszeit, obwohl sie wie alle Bewohner der Stadt einen Schlafplatz haben mussten und der Aufenthalt im Garten außerhalb der Öffnungszeiten verboten war. Aber vermutlich blieben sie unbehelligt. Der Wachdienst wechselte ständig und auf seinen Kontrollgängen verirrte sich der Diensthabende kaum einmal hierher.

Den Garten betraten und verließen die Migros, wie es schien, über die rostige Leiter, die versteckt hinter den Sträuchern zum Flussbett hinabführte. Es fiel Lilian schwer, zu sagen, aus wie vielen Leuten die Gruppe bestand, denn ihre Zusammensetzung wechselte bis auf ein paar ständig Anwesende häufig. Den Großteil ordnete Lilian als Einwanderer erster und zweiter Generation aus Paläotropis-Süd ein. Sie waren aus den armen Ländern gekommen, die die größte Artenvielfalt beherbergten und in deren Händen das Schicksal der Halben Welt gelegen war. Sie hatten dieselben Routen wie die Zugvögel gewählt, nur dass sie zahlreicher gewesen waren und auch noch kamen, als keine Vögel mehr flogen.

Der Grund für die dauernde Anwesenheit der Migros an diesem bestimmten Ort war das Kiesbett. Darauf spielten sie ohne Pause ihr Spiel mit den Metallkugeln, die näher zu einer kleinen Holzkugel platziert werden mussten als die Kugeln der Gegner. Das Kiesbett mit seinen kleinen Steinchen – die einzeln hart, aber als Masse weich und anpassungsfähig waren – bot allem Anschein nach den bestmöglichen Untergrund dafür. Wurde eine Kugel geworfen, dämpfte das Kiesbett den Aufprall. Den zurückbleibenden Krater ebnete der nachfolgende Spieler vor seinem Wurf mit einem Tritt mühelos wieder ein. Wurde die Kugel gerollt, wich der Kies zur Seite und hinterließ eine Bahn, die von den Spielern aufmerksam studiert wurde. Doch das Material war auch tückisch, denn wenn die Kugel auf einem größeren Steinchen landete, versprang sie und verfehlte ihr Ziel. Rollte man die Kugel zu schwach, wurde sie gebremst oder von den Unebenheiten im Kies in die falsche Richtung gelenkt. Dann fluchten die Spieler, oder sie lachten, jedenfalls lärmten sie und rissen Lilian, der auf einer der wenigen und allesamt morschen Bänke saß, aus seinen Gedanken. Dass sein Geruchssinn nicht funktionierte, hatte vielleicht etwas Gutes, denn sonst wäre die Störung durch sie womöglich noch größer.

Nicht dass sie unreinlich waren, ihre Kleidung war nicht schmutzig, höchstens abgetragen und in ihrer selbst gestrickten Art in einigen Fällen eher grob, aber er war sich sicher, dass sie rochen, einfach weil sie nicht so steril wie die anderen Bewohner der Stadt aussahen, weil ihnen Haare im Gesicht und aus den Ohren wuchsen, weil sie mit vollem Mund sprachen und dabei die nicht selten schiefen und oftmals gelben Zähne zeigten. Außerdem rauchten sie Pfeife. Er mochte sich nicht vorstellen, was sie darin rauchten, aber wer wusste, ob sie nicht in der Nutzpflanzenabteilung des Gartens Tabaksamen entwendet und damit eine Eigenproduktion gestartet hatten. Im Flussbett gab es – zumindest im Frühling – genug Feuchtigkeit, und wer konnte schon von den Brücken aus erkennen, welche Pflanzen im Gestrüpp dort unten wuchsen. Schon allein der Konsum würde ausreichen, um sie zu melden und dann zumindest für eine Weile seine Ruhe vor ihnen zu haben, aber da er eben von dem Geruch nicht belästigt wurde, hatte er von diesem Mittel nicht Gebrauch gemacht. Er musste zugeben, dass sie bis auf den Lärm und das Rauchen sehr sorgsam mit dem Platz umgingen. Sie ließen keinen Müll zurück, und den Kies kehrten sie täglich mit einem selbst gemachten Besen, den sie bei Bedarf mit dünnen Zweigen aus dem wuchernden Bambushain ausbesserten. Auch ihre Kugeln wirkten selbst gemacht, zumindest hätte Lilian nicht gewusst, wo man sie kaufen könnte – er stellte sich vor, wie sie diese in einem der Hinterhöfe der Banlieues von Hand gossen.

Es war erstaunlich, was die Migros alles organisieren konnten. Manchmal aßen sie auf den Parkbänken sitzend zu ihren Rationen sogar etwas, das wie Fleisch aussah. Selbst den für ihr Spiel unerlässlichen Kies, der nirgendwo sonst im Garten Verwendung fand, mochten am Ende sie herangeschafft haben. Mehr noch besagten plausible Gerüchte, dass sie in den Monokulturen am Rande der Banlieues Rennen veranstalteten, mit Autos mit Verbrennungsmotoren. Die Karosserien mochten sie aus irgendwelchen Schrotthalden geholt haben, das konnte sich Lilian vorstellen, aber wie sie die Autos zum Laufen brächten und woher sie den Treibstoff hätten, blieb ihm ein Rätsel.

So rückständig Lilian manche dieser Formen des Zeitvertreibs vorkamen, verstand er, dass sie ihre Zeit irgendwie füllen mussten, nicht anders als er. An das unablässige Klacken der aneinanderstoßenden Kugeln hatte er sich außerdem gewöhnt. Das Spiel war trotz seiner äußerlichen Einfachheit nicht primitiv, selbst wenn die Spieler beizeiten schrien oder fluchten, denn oft standen sie auch still beieinander, studierten die Position der Metallkugeln rund um den kleinen Holzball und beratschlagten sich in kurz bemessenen Worten über die bestmögliche Strategie für den nächsten Wurf. Sie sprachen oft Französisch, für die wichtigsten Begriffe jedoch, wie legen und schießen, verwendeten sie aus für Lilian unerfindlichen Gründen die deutschen Bezeichnungen, wobei sie allerdings schießen mehr wie schieszen aussprachen und statt legen läggen sagten. Ging ein Spieler in die Knie, um seine Kugel mit Gefühl zu läggen, schwiegen die anderen respektvoll und traten noch rasch ein paar Schritte zur Seite, aus dem Sichtfeld desjenigen, der an der Reihe war. Verfehlte ein mit höchster Konzentration ausgeführter Schuss die gegnerische Kugel, wie es in der letzten Stunde schon öfter vorgekommen war, klopften Gegner und Mitspieler dem Enttäuschten aufmunternd auf die Schulter. Außerdem fand sich immer jemand, der das im Strauchwerk verschwundene Metallrund für den anderen suchte. Manchmal dauerte es lang, bis eine Kugel wiedergefunden wurde, und ab und zu geschah es, dass in der Hitze des Gefechts eine ausgebüxte Kugel vergessen wurde, was früher oder später ein großes Durcheinander zur Folge hatte.

Was genau ihn selbst an diesem Platz so anzog, dass er seit fast zwanzig Jahren hierherkam, konnte Lilian sich nur schwer erklären. Die absolute Ruhe, die er sich wünschte, fand er hier nicht. Aber immerhin war der Ort durch die Gartenmauer auf der einen Seite und die steile Wand hinunter zum Fluss auf der anderen von der Stadt abgeschnitten. Hier fühlte es sich normal an, nicht verbunden zu sein. Das erste Mal in den Garten gekommen war er für ein Praktikum. Ein Jahr davor war er in das Wohnheim gezogen und hatte mit dem Biologiestudium begonnen. Seine Aufgabe als Praktikant war es gewesen, gemeinsam mit anderen Studierenden winzige Sprossspitzen von seltenen Pflanzen abzuschneiden, sie zu säubern und in flüssigem Stickstoff einzufrieren, um sie im unterirdischen Depot des Gartens für die Nachwelt zu bewahren. Die Pflanzen selbst wurden dem großen Komposthaufen der Anlage zugeführt, der schon damals hier hinten lag. Aufgrund des akuten Platzmangels konnte nur noch ein Bruchteil der stetig steigenden Zahl bedrohter Pflanzenarten in Beeten ausgepflanzt werden. Lilian und seine Studienkollegen halfen auch bei der Entsorgung, und er registrierte, wie der Haufen immer weiter in die Höhe wuchs, wie er je nach Tages- und Jahreszeit zwischen allen erdenklichen Nuancen der Farbe Grün oszillierte. Einmal bohrte er seine Hand in die verrottende Masse. Die Verwesungshitze verbrannte ihm beinahe die Finger.

Mittlerweile war der nunmehr einheitlich braune Haufen in sich zusammengesunken. Nur im Herbst wuchs er noch, wenn Äste und Laub aus dem Freilandbereich ihren Weg hierher fanden. Manche der abgeschnittenen Zweige trieben neu aus und wuchsen in die Höhe, bis sie von frisch angekarrtem Laub begraben wurden.

Je länger Lilian Sprossspitzen eingefroren hatte, umso sinnloser war ihm seine Aufgabe vorgekommen. Angesichts der Größe der Aufgabe, die Pflanzen der Welt vor dem Aussterben zu retten, waren die Mittel des Gartens vollkommen inadäquat. Die gefährdeten Arten konnten zwar eingefroren werden, infolge des Verschwindens der Naturräume war es aber unmöglich, sie wieder auszupflanzen. Der Garten war zu einem Museum geworden. Die meisten seiner Exponate waren zwar im Unterschied zu den Präparaten anderer Museen noch am Leben, aber es waren Untote, Geister, die nicht mehr in die Welt der Lebendigen zurückfinden würden. Lilian war während dieses Praktikums klar geworden, dass das Leben so nicht erhalten werden konnte. Er besuchte von da an nur noch Kurse, die sich der Halben Welt widmeten.

Dass Menschen in der Halben Welt verschwanden, kam vor. Lilian hatte nicht zum ersten Mal mit einem Fall zu tun, wo am Anfang des Datensatzes ein abgängig auszuwählen war. Wurde der Leichnam des Vermissten gefunden, änderte er den Eintrag in verstorben. War jemand länger als vier Monate verschollen, aber kein Leichnam zu finden, fügte er dem Eintrag einen Stern hinzu. Diese Fälle blieben offiziell unter Beobachtung, in Wirklichkeit verschwanden sie aber in einem von Lilians Ordnern. Es war ärgerlich, dass es keine Möglichkeit gab, vor Ort zu recherchieren, um solchen Fällen nachzugehen. Die Behörde hatte zwar strenge Auflagen, über die er wachen musste, um neben missbräuchlichen Aktivitäten wie Jagd, Holzeinschlag oder Biopiraterie gerade auch Absetzbewegungen zu verhindern – kein Mensch, der die Halbe Welt betrat, durfte verschwinden. Aber in Wahrheit war es unmöglich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Mangels Zugriffsmöglichkeiten auf die Halbe Welt konnten Lilian und seine Kollegen Übertritte nur nachträglich bestrafen, in der Regel durch Entzug der Bürgerrechte. Tauchte eine abgängige Person nach Ablauf der Viermonatsfrist wieder auf, erhielt sie keinen Zugang zu den Wohlfahrtsinstitutionen der kultivierten Welt mehr, selbst wenn sie plausible Gründe für ihr Fernbleiben anführte. Wollte eine abgängige Person gar nicht in die kultivierte Welt zurückkehren, entkam sie de facto der Strafe.

Über einige der internen Regeln zum Schutz vor illegalen Aktivitäten war Stillschweigen zu bewahren. Lilian würde sie nicht in seinem Bericht über die Halbe Welt erwähnen. Würde etwa bekannt, dass Frauen der Zutritt zur Halben Welt nach Möglichkeit zu verwehren war, wenn sie sich im reproduktionsfähigen Alter befanden, wäre ein Imageschaden der Behörde zu befürchten. Die Nachrichtenportale würden in dieser Angelegenheit zwar verlässlich schweigen, aber Verstimmungen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht ausbleiben. Trotz der impliziten Diskriminierung war man in der Behörde zu der Entscheidung gelangt, dass die Gefahr einer Re-Etablierung sich reproduzierender Populationen auf dem Gebiet der Halben Welt schwerer wog als Verstimmungen bei Wissenschaftern, die nur wenig Einfluss geltend machen konnten. Er war allerdings angehalten, ausgewählten Forschern eine Zutrittserlaubnis zu erteilen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Dennoch konnte es Konsequenzen für ihn haben, wenn eine Frau verschwand und sich herausstellte, dass sie fertil war. Also genehmigte Lilian bevorzugt die Ansuchen solcher Biologen, die er noch aus seiner Zeit bei der Deproduktionsbewegung kannte und für die sich Belege fanden, dass ihre Abkehr von der Elternschaft mehr als nur Willensbekundungen zur Folge gehabt hatte. Es gab ausreichend Kandidaten. Zudem fiel es bei der generell hohen Ablehnungsrate für Forschungsaufenthalte in der Halben Welt nicht weiter auf, dass so viele Frauen darunter waren. Um jeglichen Verdacht zu zerstreuen, lehnte er auch hochrangige männliche Forscher mit einwandfreien Anträgen ab. So beschwerten sich alle gleich über die Willkür der Behörde, ohne Verdacht zu schöpfen. Überhaupt nahm die Zahl der Anträge stetig ab. Nicht jeder wollte Wochen und Monate in den primitiven Stationen verbringen und Forschung wie im 20. Jahrhundert betreiben. Die meisten Daten wurden ohnedies per Satellit erhoben. Vieles ließ sich außerdem genauso an Pflanzen und Tieren in der kultivierten Welt oder in Laboren erforschen. Nach dem Zusammenbruch der natürlichen Ökosysteme hatte die Stadtökologie an Popularität gewonnen, nicht zuletzt, da die Artenzahlen in den begrünten Städten immer noch wuchsen, während in den ehemaligen Kulturlandschaften kaum noch wild lebende Tiere und Pflanzen zu finden waren. Der Eifer, mit dem Wissenschafter Stadtökosysteme nicht nur erforschten, sondern auch konstruierten, ging ihm allerdings zu weit. Bestes Beispiel waren die Carolina-Sittiche, die man vor zehn Jahren hier im Botanischen Garten öffentlichkeitswirksam ausgewildert hatte. Rasch hatten sie sich in Richtung Stadtrand ausgebreitet. Ihr Kreischen hatte ihm seitdem das Nachdenken verunmöglicht, wenn er an den freien Tagen in seiner Wohnbox lag oder im Botanischen Garten saß. Neuerdings dehnten sie ihr Territorium nach Norden aus und verfolgten ihn mit ihrem Lärmen bis ins Zentrum der Stadt. In der Behörde erzählte man sich, das Genom der Vögel enthielte tatsächlich nur wenige Abschnitte mit Carolina-Sittich-DNS. Aus der Nähe würde man dies an der nur leidlichen Rekonstruktion ihrer roten Stirnpartie erkennen. Anscheinend war die aus den Museumspräparaten gewonnene DNS zu fragmentiert gewesen, vermutlich infolge der Applizierung eines Insektizids, das die Milben davon abhalten sollte, die wenigen ausgestopften Bälge aufzufressen. Äußerlich glichen sie mehr dem Grünen Sittich, dessen DNS die Matrix für die Rekonstruktion der Art gebildet hatte. Allerdings waren die neuen Carolina-Sittiche zum Leidwesen vieler aggressiver. Im Schwarm fielen sie auf den großen Bäumen ein und beraubten die anderen Höhlenbrüter ihrer Nester. Seitdem hörte man nur noch ihr Kreischen, der Gesang der anderen Vögel war aus den Kronen verschwunden. Weniger zutraulich waren sie auch. Lilian vernahm nur ihre schrillen Rufe und sah höchstens einen grünen Schatten vorbeifliegen, der rasch im Blätterdach verschwand, selbst wenn er lange auf einer der Bänke saß und das Kronendach beobachtete.

Dass gleich zwei Männer spurlos in der Halben Welt verloren gingen, war ungewöhnlich. Ob sie sich verirrt hatten? Sie waren zu einer Mehrtageswanderung aufgebrochen. Vielleicht ein Waldbrand? Oder ein Schlangenbiss. Die Dichte an Giftschlangen im Zielgebiet war die höchste im ganzen Territorium. Es reichte, dass Mark etwas zugestoßen war. Auf sich allein gestellt, wäre dann auch der alte Tyskin verloren gewesen.

Mark war ein paar Jahre älter gewesen als er selbst. Für kurze Zeit hatten sie beide in der Deproduktionsbewegung mitgewirkt. Bevor Mark sich ganz der Wiederbewaldung der Halben Welt verschrieben hatte. Marks Haltung zum Betreten der Halben Welt war spätestens ab diesem Zeitpunkt weniger restriktiv gewesen als die seine. Maximalen Verzicht mit allen seinen Konsequenzen hatte die Deproduktionsbewegung gefordert. Die Radikalität ihrer Positionen war Lilian von Anfang an bewusst gewesen. Aber angesichts der Krise halfen nur extreme Maßnahmen. Die Menschen mussten sich bis aufs Äußerste selbst einschränken, wollten sie die Erde bewahren. Niemand sollte die Halbe Welt betreten dürfen, nicht einmal Wissenschafter. Selbst wo der Mensch Gutes wollte, richtete er Schaden an, deshalb kampagnisierten sie für eine ausnahmslose Verbannung des Menschen aus der Halben Welt. Seitdem war Mark unzählige Male