Die Herzdiebin - Marie Marvin - E-Book

Die Herzdiebin E-Book

Marie Marvin

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Beschreibung

Sie stahl unzähligen Männern das Herz, doch ist sie bereit, ihr Eigenes zu verschenken? In einer Welt, in der die Menschen nicht mehr an die alten Götter glauben, müssen diese um ihre Macht fürchten. Um die Göttin Hathor vor dem Verblassen zu bewahren, stiehlt ihre Tochter Saijra seit Jahrhunderten menschliche Herzen. Doch dann gerät sie in die Fänge des finsteren Totengottes Anubis. Um ihr Leben zu retten, geht Saijra notgedrungen eine Wette ein, bei der sie dem Erzfeind ihrer Mutter näher kommt, als ihr lieb ist. Schon bald droht der Gegensatz von Verlangen und Hass, den Anubis in ihr auslöst, sie zu zerreißen, und sie muss sich fragen, wem ihre Loyalität gilt. Ihrem Herz oder ihrem Blut?

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Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Die Herzdiebin
Über die Autorin
Impressum
Warnung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Die Eisermann Media GmbH

Marie Marvin

Die Herzdiebin

Über die Autorin

Marie Marvin, geboren 1998, lebt und arbeitet im südlichen Bayern. Schon als Vierjährige erzählte sie ihren Sandkastenfreunden die fantastischsten Geschichten, heute lebt sie diese Leidenschaft mit ihrem Laptop bewaffnet aus. Wenn die Tastatur gerade mal abkühlen muss, findet man sie auf ausgedehnten Waldspaziergängen mit ihrem Hund. Ihr Fable für starke Protagonistinnen und ihre Schwäche für düstere Typen lebt sie gleichermaßen regelmäßig in ihren Romanen aus. Egal, ob dunkle Romantasy oder spannungsgeladene Dark Romance, eine prickelnde Lovestory voller Leidenschaft ist in ihren Geschichten genauso ein Muss wie das Happy End.

Neuigkeiten zu ihren Projekten teilt sie auf Instagram @marie.marvin_

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-98752-003-7

E-Book-ISBN: 978-3-98752-503-2

Copyright (2025) Passion Fruit Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

Bilder und Grafiken creativemarket.com

Lektorat: Bettina Dworatzek

Korrektorat: M. Brandt

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Deutschland (EU)

Passion Fruit Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Warnung

Du stehst kurz davor, in die Welt der ägyptischen Götter einzutauchen und ich wette, du hast keine Ahnung, was das bedeutet. Schließlich haben sich die alten Götter vor langer Zeit von der Erde abgewandt, sodass heute kaum noch jemand etwas über sie weiß. Doch das heißt noch lange nicht, dass sie nicht mehr existieren. Und noch weniger, dass sie nicht zurückkehren werden.

Du solltest dich also in acht nehmen, denn bei den Göttern geht es selten harmonisch zu. Besonders, wenn sich ihre Interessen kreuzen – also praktisch immer. Dir werden Dämonen, Halbgötter und Vampire begegnen. Es wird Blut fließen, Tote geben und du solltest mit physischer und psychischer Gewalt – auch sexuelle – umgehen können.

Wenn dich all das nicht abschreckt, wünsche ich dir viel Spaß in der Welt meiner Götter.

Noch ein kleiner Hinweis: Die erwähnten Götter stammen allesamt aus der ägyptischen Mythologie, dennoch habe ich mir die Freiheit genommen, meine eigene Fantasie mit den Fakten zu verweben. Erwarte dementsprechend bitte keine wissenschaftlich korrekte Arbeit ;-)

Marie

Content Notes:

Entführung, Freiheitsberaubung, Gewalt, Tod, Zwangsprostitution

Für alle,

die mutig genug sind,

ihrem Herzen zu folgen.

Selbst wenn es sie in

die Arme der Dunkelheit führt.

Prolog

Vor zweitausend Jahren im alten Ägypten

Er war aufgeregt. So unfassbar aufgeregt! Gleich würde er seiner Geliebten verkünden, dass sie für immer zusammen sein konnten. Sie hatten wahrlich nicht die besten Voraussetzungen gehabt. Er, ein einfacher Mann, sie eine Königin, ja Göttin. Jeden hätte sie haben können, denn sie wurde von allen verehrt, doch sie hatte ihn erwählt. Ihrer beider Liebe war einzigartig, dennoch wollte das Universum ihre Bindung enden lassen. Sein Tod hätte ihn für immer von ihr getrennt, schließlich war das Jenseits nur den Menschen vorbehalten. Monatelang hatte er nach einer Lösung gesucht und nun war es ihm endlich gelungen! Er hatte eine Möglichkeit gefunden, wie sie für immer zusammensein konnten. Euphorie jagte durch seine Venen und trieb ihn schneller voran.

Im Laufschritt passierte er das Portal ihres Tempels, eine ihm entgegenkommende Priesterin grüßte ihn freundlich. Ein junges Mädchen. Hübsch. Doch für ihn gab es nur seine Göttin. Der Gedanke an sie und daran, wie sie auf seine Neuigkeit reagieren würde, ließen ihn die Steinstufen, zu ihrem Palastgarten regelrecht hinauffliegen.

Dort oben erwartete ihn ein hellblaues Himmelbett, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte. Natürlich bemerkte sie seine Ankunft sofort und ein breites Lächeln legte sich auf ihre roten Lippen. »Geliebter, ich habe dich schon vermisst.«

Er hechtete zu ihr an das Bett, unfähig, länger von ihr fern zu sein. »Das war das letzte Mal, von nun an werde ich für immer an deiner Seite sein, Liebste.« Ehrfürchtig hauchte er einen Kuss auf ihren Handrücken und ließ sich von ihrem süßen Duft nach Honig und Lotusblüten einhüllen.

»Ich weiß. Solange du lebst, werden wir uns lieben.« Liebevoll fuhr sie ihm durch seine schwarzen Haare, dann erhob sie sich mit einer Anmut, die ihm jedes Mal den Atem raubte. Sie war wahrlich eine große Göttin.

Zwei Vögel sanken vom Himmel herab und flatterten aufgeregt um sie herum. Dabei zwitscherten sie so lautstark, als wollten sie seine Liebste zum Tanz auffordern. Sie tat ihnen den Gefallen und breitete lachend die Arme aus. Dabei entfalteten sich ihre Flügel, deren Federn blau, rot und gelb im Sonnenschein leuchteten. Die Farben des Himmels, der Morgenröte und der Sonne. Ihre Schönheit war unvergleichlich!

»Uns gehört die Ewigkeit. Auch der Totengott wird mich nicht von dir trennen«, verkündete er lächelnd und stand ebenfalls auf.

Er wollte in ihren Tanz mit einstimmen, doch sie hielt inne, kam auf ihn zu und legte die Hände um sein Gesicht. »Du wirst doch nicht vergessen haben, dass du ein Mensch bist?« Besorgt musterte sie ihn.

Sein Lächeln wurde breiter, als er sich vorstellte, wie sehr sie seine nächsten Worte freuen würden. »Ich habe einen Dolch erschaffen, mit dem ich ihn töten kann, wenn er mich ins Totenreich bringen will.«

Augenblicklich wich seine Geliebte vor ihm zurück, als hätte er sie geschlagen. »Hör auf so etwas zu sagen! Keine weltliche Waffe kann einen Gott töten.«

»Nein, aber dank deines Zaubers ist der Dolch nicht länger weltlich. Du bist so mächtig, Liebste, deine Zauber können sogar Götter vernichten.«

»Mein Zauber?!« Ein kräftiger Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. Die beiden Vögel flatterten eilig davon.

»Ja! Kein anderer Gott wäre in der Lage, einen so gewaltigen Zauber zu erschaffen. Ich nahm ihn aus deiner Sammlung.«

Ihre Schönheit wurde durch ihr jetzt wutverzerrtes Gesicht nicht im mindesten getrübt. »Du bestiehlst mich?«

»Es sollte doch eine Überraschung werden. Ich habe das für uns getan. Für dich.«

»Für mich?!« Ein gelber Blitz durchfuhr den wolkenlosen Sommerhimmel so unvermittelt, dass er zusammenzuckte. »Du, kleines Menschlein, willst einen Gott töten und benutzt dazu meine Magie!«

Ihre Augen, die die Farben ihrer Flügel spiegelten, schienen Funken zu sprühen. Warum war sie so erzürnt? Verstand sie denn nicht? »Anubis will uns voneinander trennen. Ich musste handeln!«

Nun stand sie ganz dicht vor ihm, ihre Magie knisterte in der Luft wie Holzscheite in den Fängen hungriger Flammen. Der Himmel verdunkelte sich rasant, ein Sturm schien aufzuziehen. »Du bist ein Mensch. Dein Tod ist dir vorherbestimmt. Kein Mensch darf es wagen, einen Gott zu töten. Dein Verrat an mir wird dich deine Existenz kosten!« Unvermittelt packte sie ihn an den Schultern. Kleine Blitze sprangen von ihrer Haut auf ihn über, durchzuckten seinen Körper. Das anfängliche Kribbeln wurde zu elektrischen Schlägen und schließlich zu einem unerträglichen Schmerz, der ihn innerlich zerriss. Tränen schossen ihm in die Augen, er wollte etwas sagen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

In seinem Bauch schien sich ein Sturm aus purer Magie zu sammeln. Magie, die sein menschlicher Körper nicht ertrug. Der Sturm schwoll weiter an, füllte ihn aus, steigerte sich ins Unermessliche, bis er ihn in einer grellen Lichtexplosion von innen heraus zerriss. In keiner Welt existierte mehr ein Staubkorn von ihm.

Kapitel 1

Bremerhaven, heute

Seufzend lehnte Saijra sich zurück und ließ sich von der Wärme um sie herum einhüllen. Ihre Vorliebe für Bäder hatte sie von ihrer Mutter geerbt, wobei sich, für deren Geschmack sicherlich zu viel Wasser in der Wanne befand. Ein Lächeln zupfte an Saijras Mundwinkel, als sie sich vorstellte, wie sie Unmengen an Milchflaschen in ihre Wohnung schleppte und wo erwärmte? Literweise im Kochtopf? Nein, in dieser Welt musste ein gewöhnliches Schaumbad genügen.

Ein helles Klingeln wie von einem Glöckchen ließ Saijra die Augen aufschlagen, sodass sie gerade noch sah, wie vor ihr eine Schriftrolle herabfiel. Reflexartig riss sie einen Arm nach oben und fing den Papyrus nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche auf. »Das war knapp.«

Sie richtete sich auf und entrollte das kleine Schriftstück. Die Nachricht war kurz: Mutter will dich sehen. P. Die Buchstaben waren kantig, was Saijra nicht verwunderte, schließlich schrieb ihre Schwester für gewöhnlich in Hieroglyphen. Aber da sie ihre Lehrerin in der alten Sprache gewesen war und dementsprechend wusste, wie schwer sich Saijra mit den Hieroglyphen tat, verfasste Perysa ihre Nachrichten an sie netterweise in lateinischen Buchstaben.

Die Knappheit der Nachricht und das Fehlen eines freundlichen Grußes vermittelten ein wenig den Eindruck, auf sie wartete irgendetwas Unangenehmes. Doch Saijra kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sich stets auf das entscheidende konzentrierte. Besonders in Briefen, bei denen sie nicht absolut sicher war, dass sie nicht in fremde Hände gerieten. Obwohl die Magie dafür sorgte, dass die Botschaft unmittelbar bei Saijra landete und sie den Papyrus sicher niemandem sonst zeigen würde. Aber Saijra verurteilte ihre Schwester nicht für ihre Vorsicht, sie selbst war in vielen Dingen mindestens genauso misstrauisch.

Lediglich die Nachricht an sich war etwas ungewöhnlich. Ihr letzter Besuch in Hathors Reich war eigentlich noch nicht so lange her. Andererseits war Zeit bei den Göttern etwas Subjektives und die Göttin der Liebe hing eben sehr an ihren Töchtern.

Saijra legte die kleine Schriftrolle beiseite und stieg aus der Wanne. Gut, dass sie gleich ein Date mit Bruno hatte, denn sie erschien ungern mit leeren Händen bei ihrer Mutter.

***

Ein verstohlener Blick auf die Uhr verriet Saijra, dass sie schon länger hier saßen, als sie geplant hatte. Bevor sie etwas sagen konnte, drückte ihr Bruno das Champagnerglas in die Hand und nahm dann sein eigenes. »Lass uns noch mal auf unser Dreimonatiges anstoßen!«

Saijra spiegelte sein Lächeln und prostete ihm zu. »Auf uns!« Sie persönlich fand das Feiern von drei Monaten Beziehung mehr als kitschig, aber sie tat Bruno den Gefallen. Immerhin war dieses Picknick auf der Terrasse seiner Yacht nichts, worüber man sich beschweren konnte. Bruno hatte, wie immer, keine Kosten gescheut und allerhand Delikatessen vom nobelsten Restaurant der Stadt einpacken lassen. Über ihnen leuchteten die Sterne an einem wolkenlosen Himmel und um sie herum war nichts als das dunkle Meer. Das sanfte Schaukeln des Boots hatte sie zu Beginn ihrer Beziehung gestört, doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Es hatte etwas Beruhigendes, dazu das sanfte Plätschern des Wassers, das gegen den Bug stieß. Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie die Lichter vom Festland in der Ferne sehen, die mit den Sternen um die Wette leuchteten. Es gab sicher einige Frauen, die für dieses überaus romantische Date mit dem prominentesten Mann der Stadt eine Straftat begehen würden, also schenkte sie Bruno gleich noch ein Lächeln.

»Ich bin froh, dass es dir gefällt.« Er strich ihr eine goldene Strähne aus dem Gesicht und sah sie an, als könne er nicht fassen, dass sie bei ihm war. In Saijras Bauch jubelte eine kleine Stimme über seine offenkundige Zuneigung und bestätigte sie darin, es heute zu beenden. Drei Monate harte Arbeit.

»Natürlich tut es das. Du kennst meinen Geschmack eben wie niemand sonst.« Sie rückte näher an ihn heran und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Mit dir hatte ich wirklich Spaß. Das war in ihrem Job nicht immer so. Sie legte ihre Hand in seinen Nacken und strich mit den Fingerspitzen seinen Haaransatz entlang. Sofort schloss er genüsslich die Augen. Dann ließ sie ihre andere Hand langsam über seine Brust bis in seinen Schritt wandern, während sie ein Bein über ihn schwang und sich auf seinen Schoß setzte. Sie lehnte sich ihm die letzten Zentimeter entgegen und flüsterte mit rauer Stimme: »Aber du bist nicht der Einzige, der sich zu unserem Dreimonatigen etwas Besonderes ausgedacht hat.«

Sein Lächeln wurde zu einem wissenden Grinsen. »Ach ja?«

»Mhm.« Sie verlieh ihrer Hand mehr Druck, worauf Brunos Männlichkeit prompt antwortete. »Stell dir vor, wie ich dich berühre. Meine Lippen auf deiner Haut.«

Er stöhnte leise. »Was ist mit dem Dessert?«

Sein Widerstand schmolz in ihren Fingern wie Eis an einem heißen Sommertag. Sie leckte sich über die Lippen. Langsam, damit er Zeit hatte, die Geste bewusst zu registrieren. Unter ihren dichten Wimpern sah sie zu ihm auf. »Die einzige Nachspeise, die ich brauche, bist du.«

Brunos Blick brannte und seine Aura pulsierte vor sexueller Erregung in kräftigem Lila, das nur sie sehen konnte. Während Bruno liebevoll ihre Hüfte tätschelte, widmete sie sich seinem Hemd. Sobald sie alle Knöpfe geöffnet hatte, strich sie den Stoff über seine Schultern. Mit den Fingernägeln fuhr sie über seine nackte Brust, was ihn erzittern ließ. Bruno war ein gut gebauter Mann, doch für ihren Geschmack hätte sein Oberkörper muskulöser sein können.

»Okay, das Mousse au Chocolat mit Goldpuder kann warten.« Mit den Händen auf ihrer Hüfte zog er sie näher zu sich heran und als sie seine Härte an ihrer Mitte spürte, erwachte ein dunkler Hunger in ihr. Ihr Unterleib zog sich verlangend zusammen, weil er genau wusste, was Bruno ihr bieten konnte. Die lustvolle Frau in ihr hatte die letzten Wochen definitiv genossen und hätte ihre Schwester ihr nicht diese Nachricht geschickt, hätte sie diesen Abend nicht so schnell beendet. Doch sie wollte ihre Mutter nicht unnötig warten lassen. Es ist Zeit.

»Bruno.« Sie setzte eine Unschuldsmiene auf, während sie weiter seine Nervenenden unter der Haut traktierte. »Was bist du bereit, mir zu geben?«

Für einen Moment sah er verwirrt aus, dann lachte er. Ein ehrliches Lachen. »Was willst du denn? Neue Schuhe, Schmuck?«

Saijra rollte mit den Augen. »Doch nicht etwas so Oberflächliches. Ich rede davon, wie gern du mich hast. Hast du mich denn gern?«

Bruno setzte sich etwas aufrechter hin und legte eine Hand an ihre Wange. »Natürlich habe ich dich gern! Mehr als gern sogar. Ich liebe dich!« Er sprach zum ersten Mal laut aus, was ihr seine Aura schon seit einem Monat verriet, und sie wusste, er sagte es nicht nur, weil er mit ihr schlafen wollte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und sah vorgeblich schüchtern zu Boden. »Wirklich?«

Seine Aura veränderte sich, das Pulsieren wurde langsamer, kräftiger. »Ich wusste nicht, dass du dir darüber so unsicher bist. Samira, ich liebe dich. Und ich werde dir geben, was immer du willst!« Das Verlangen in seinem Blick war etwas viel Intensiverem gewichen. Die Stimme in ihr jubelte wieder. Dafür hatte sie drei Monate investiert. Für diese tiefen, echten Gefühle. Saijra küsste ihn, dann sah sie ihm fest in die Augen. »Auch dein Herz?«

»Ich schenke dir mein Herz, Samira, obwohl du es eigentlich schon seit unserem ersten Treffen besitzt.«

Es war so weit. Saijra drückte seinen Oberkörper zu Boden, während sie ihn erneut küsste. Anschließend setzte sie sich auf seinen Bauch und legte die Hände auf seine Brust, direkt über seinem Herzen. »Dann werde ich mir dein Herz nehmen.«

Irritiert schaute Bruno zu ihr auf, bis er plötzlich zusammenzuckte. »Au! Was ist das? Deine Hände sind ganz heiß!« Er packte sie an den Handgelenken und wollte sie von sich ziehen, doch Saijra presste ihre Handflächen nur noch fester auf ihn. Sie war stärker. »Du tust mir weh! Hör auf damit!«

»Es ist gleich vorbei.« Konzentriert richtete sie ihre Magie auf ihn. Es hatte gedauert, bis sie gelernt hatte, wie sie die göttliche Magie aus ihrem Blut ziehen und aktiv einsetzen konnte, doch mittlerweile war es für sie so natürlich wie zu essen. Sie formte ihre Magie zu goldenen Ranken und sandte sie in Brunos Inneres. Seine Liebe zu ihr war wie ein Schlüssel, der ihr den Zugang zu seinem Herzen ermöglichte. Vorsichtig hob sie die Hände an, die jetzt durch einen leuchtenden Strahl mit seiner Brust verbunden waren. Sie wartete einen Moment, bis sie sicher war, dass die Verbindung nicht abreißen würde, und formte dann eine Schale mit ihren Händen, in der sich das Licht sammelte.

»Ahh! Was ist das?« Fassungslos starrte er auf das rote Licht, welches aus seiner Brust floss.

»Das ist dein Herz, deine Liebe.« Der Ursprung all seiner Gefühle.

»Ich verstehe nicht. Was … was bist du?« Die Panik ließ seine Stimme zittern.

»Ich bin eine unsterbliche Tochter der Göttin Hathor und entziehe dir deine Gefühle, um sie meiner Mutter zu geben.« Mit Blick auf das Entsetzen in seinen Augen fügte sie hinzu: »Du kannst weiterleben, dein fleischliches Herz behältst du.« Nur Dinge wie Liebe, Zuneigung und Empathie würde er niemals wieder empfinden können.

»Warum tust du mir das an? Wir lieben uns doch!« Verzweifelt versuchte er, sie von sich zu stoßen, doch Saijra blieb unbeweglich.

»Da muss ich dich enttäuschen. Ich habe keine Gefühle für dich. Für keinen Mann.« Dazu war sie nicht fähig. Sie liebte ausschließlich ihre Mutter und ihre Schwestern, aber das konnte er nicht verstehen. Er war ein Mensch.

Bruno war sichtlich schockiert. »Warum?«

Obwohl er es ohnehin wieder vergessen würde, nahm sie sich die Zeit, es ihm zu erklären. »Für meine Mutter. Da ihr Menschen nicht mehr an sie glaubt und ihr somit keine Liebe mehr schenkt, hole ich ihr eure seelischen Herzen.« Die dank meiner Arbeit randvoll mit tiefen Gefühlen gefüllt sind. Aufmunternd lächelte sie auf Bruno herab. »Du darfst stolz sein. Du verhilfst der Göttin der Liebe und der Schönheit zu ihrer Macht.«

»Bitte, verschone mich! Ich kann dir Geld geben. Viel Geld«, flehte Bruno mit Tränen in den Augen.

Geld. Die Menschen glaubten immer, mit Geld könnten sie alles regeln. Dabei ging es um so viel mehr. Hatte er ihr nicht zugehört? Kühl sah sie ihn an. »Mich hat auch niemand verschont.« Mit ihren letzten Worten versiegte der Lichtstrom, der aus Brunos Körper drang. Das gesamte Licht hatte sich in Saijras Händen gesammelt. Sie schloss die Augen. Die Macht der Gefühle, die sie hielt, kribbelte in ihren Fingerspitzen. Bruno hatte sie wirklich sehr geliebt. Zufrieden leitete sie das Licht in den kleinen Kristall, den sie an einer goldenen Kette um den Hals trug, was diesen zum Leuchten brachte. Dann musterte sie den Mann unter sich.

Bruno blinzelte verwirrt, so als ob er gerade aus einem Traum erwacht sei. »Was ist passiert?«

»Wir haben Schluss gemacht. Du wirst in den nächsten Tagen zu einer Geschäftsreise aufbrechen und unsere Beziehung wird in deinem Gedächtnis an den Rand des Vergessens gedrängt. Eine bedeutungslose Affäre. Du wirst dich ganz auf dein Geschäft konzentrieren.«

»Verstehe.« Seine Stimme war gefühlskalt.

Saijra stand auf und trat an das Geländer der Yacht. Mit Blick in den Nachthimmel rief sie nach Majla, damit sie sie in das Reich ihrer Mutter holte.

Von der einen Sekunde auf die andere wechselten der Holzboden der Yacht und das sanfte Schaukeln des Meeres zu grünen Wiesen und goldenem Licht. In den Rinnsalen glasklaren Wassers, die den Boden in großflächigen Mustern durchzogen, spiegelte sich die wärmende Sonne. Rinder grasten auf den sanften Hügeln, die den Horizont küssten. Einige der Kühe trugen liebevoll gefertigte Halsbänder mit kleinen Glöckchen daran. Das leise Klingeln vermischte sich mit dem freudigen Gesang der Götterspatzen, die es sich auf einem Baum zu Saijras Rechten bequem gemacht hatten, und erzeugte so eine einzigartige Melodie. Jaskill.

Ein Mädchen stand strahlend vor Saijra und drückte sie fest an ihren zierlichen Körper. »Willkommen zurück, Schwester!«

»Schön dich zu sehen, Majla.«

Ihre Schwester entließ sie aus der Umarmung und schaute sie erwartungsvoll an. »Was gibt es Neues auf der Erde?« Ihre Augen waren eine Mischung aus Weinrot und hellem Lila, genauso wie ihre langen Haare, in die sie goldene Perlen eingeflochten hatte. Diesen intensiven Farbton bestaunte Saijra jedes Mal aufs Neue. Die kräftige Farbe hob die helle Haut des Mädchens hervor und betonte ihre schlanke Gestalt. Auf den ersten Blick mochte Majla zerbrechlich wirken, doch sie war eine der mächtigsten Töchter Hathors.

»Die Menschen gehen neuerdings nicht mehr zum Arzt, sondern fragen ein kleines elektronisches Kästchen um Rat.«

Majla prustete los. »Du erlaubst dir einen Spaß mit mir! Welches Gerät könnte denn bessere Dienste leisten als eine Heilerin? Ich meine, allein die Tatsache, dass es ein Gerät ist …« Majla ereiferte sich weiter, während sie den gepflasterten Weg zu Hathors Palast entlangliefen.

Saijra musste schmunzeln. Natürlich fand ihre Schwester, selbst eine herausragende Heilerin, dieses Thema außerordentlich spannend. Wobei sie sich wohl auf jede Neuigkeit von der Erde mit Begeisterung gestürzt hätte, denn sie fand die Welt der Menschen unheimlich interessant. Vielleicht auch, weil sie die Erde nicht selbst besuchen konnte. Als Hathors älteste Tochter war es ihre oberste Aufgabe, für die Sicherheit der Göttin zu sorgen. Majla war die Mauern und das Tor Jaskills, ohne ihr Einverständnis konnte niemand das Reich von Hathor betreten oder verlassen. Eine wichtige Bürde, die Majla mit Freuden trug.

Vor dem Palast aus gelbem Sandstein begrüßten sie zwei steinerne Kuhstatuen, die rechts und links vor dem Eingang standen. Nachdem Saijra und ihre Schwester die mehrere Meter hohe, reich verzierte Pforte passiert hatten, fanden sie sich im Säulensaal wieder. Jede Säule stand im exakt gleichen Abstand zu den vier umliegenden Säulen und war mit Hieroglyphen und Zeichnungen übersät. Sie erzählten von Legenden, von den Mächten der Welt und altem Wissen. Es hatte Saijra mehr als eine Woche gekostet, die Säulen von nur einer Querreihe zu analysieren und deren Geschichten zu verstehen. Und der Raum war einige hundert Meter lang. Obwohl ihre Schwester Perysa ihr damals versichert hatte, alle Töchter Hathors hätten das gesamte Wissen jeder einzelnen Säule studiert, war sie bis heute überzeugt, Perysa sei die Einzige, die wirklich jede Marmorsäule gelesen hatte.

Majla führte Saijra nach rechts in einen Nebenraum, der einer Bibliothek glich. Nur lagen in den Holzregalen keine Papyrusrollen oder Bücher, sondern rot glühende Kristalle. Verschieden groß und unterschiedlich hell leuchtend. Von irgendwo hinter den Regalen hörten sie ein Scheppern.

»Bei der Göttin! Hirah, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dieses Brett austauschen? Jetzt ist es gebrochen!« Energische Schritte stapften in ihre Richtung und dann tauchte ein grüner Haarschopf zwischen den Regalen auf.

»Perysa, reg dich doch nicht so auf!«, begrüßte Majla ihre Schwester.

»Wenn es doch wahr ist!« Sie drehte sich einmal im Kreis und brüllte: »Hirah, wo bist du?!« Nachdem niemand antwortete, wandte sie sich wieder ihnen zu.

Majla zog stumm eine Augenbraue nach oben, woraufhin Perysa schnaubte. »Es ist eben nicht jeder ein so ausgeglichenes Wesen wie du.«

»Offensichtlich.«

Die grünhaarige Tochter Hathors ignorierte ihre Schwester und nickte Saijra zu. »Grüß die Göttin, Schwester. Entschuldige den Wirbel. Hirah sollte mir eigentlich helfen, doch sie ist andauernd irgendwo anders.« Aufgebracht fuhr sie sich durch die kurzen Haare.

Saijra winkte lächelnd ab. »Solange du mich nicht anbrüllst, ist alles gut.«

»Vielleicht sucht Hirah eine angenehmere Gesellschaft«, mutmaßte Majla und versteckte ihr Kichern hinter ihrer vorgehaltenen Hand.

Perysa drohte ihr mit der Faust, lachte dann aber selbst. Die beiden neckten sich gerne und manchmal stritten sie wirklich übel, doch sie liebten sich, seit Saijra sie kannte.

»Was hast du für mich?«

Saijra nahm die Kette mit dem Kristall ab und gab sie der Hüterin von Hathors Macht. Sobald ihre Finger den Stein berührten, wurden Perysas Augen groß. »Bei der Göttin, der ist aber stark! Der Mensch hatte tiefe Gefühle für dich.«

»Drei Monate Arbeit, in denen ich ausschließlich vorhandene Gefühle verstärkt habe.«

Perysa nickte anerkennend. »Du hast nicht ohne Grund als Einzige von uns die Gabe, ganze Herzen zu stehlen.« Dann verschwand sie wieder zwischen den Regalen, um dem Kristall einen neuen Platz zu geben. Dieser Raum war einer der wichtigsten im ganzen Palast. Hier wurden die Herzen und Gefühle, die Saijra und ihre Schwestern für ihre Mutter stahlen, gelagert. Sobald Hathors Stärke schwand, gab Perysa ihr einen der Kristalle. Die darin gespeicherten Gefühle luden die Macht der Göttin wieder auf.

Während sie warteten, legte Majla Saijra eine Hand auf den Arm. Ungewohnter Ernst lag in ihrem zarten Gesicht. »Es gibt da noch etwas, dass du wissen solltest, bevor du zu Mutter gehst.«

Beunruhigt musterte sie ihre Schwester. »Gibt es ein Problem?« Hatte die Nachricht etwa doch noch einen anderen Grund, als Hathors Sehnsucht nach ihrer Tochter?

»Anubis.«

Augenblicklich zog sich alles in Saijra zusammen und eine unnatürliche Kälte wanderte ihren Rücken hinauf. Es gab nicht mehr viel, was ihr Angst machte, doch der Name des Totengottes ließ ihr Herz schlagartig gefrieren. »Ist er hier? Greift er wieder an?«

»Nicht direkt. Diesmal ist es nicht Mutter, die er jagt.«

Sie wollte aufatmen, doch Majlas Blick sah nicht weniger alarmiert aus. »Wie meinst du das?«

»Er ist auf der Erde, Saijra. Er jagt dich.«

Sie brauchte einen Moment, um die Information aufzunehmen. Anubis war nicht hier. Er hämmerte nicht an die Tore Jaskills und stand kurz davor ihre Mutter zu ermorden. Er war auf der Erde, weit weg von der Göttin. Dann verarbeitete sie den zweiten Teil der Aussage. Er jagte sie. »Bist du sicher, dass er auf der Erde ist?« Der Totengott hielt sich normalerweise nicht in der Welt der Menschen auf. Nicht längerfristig zumindest. Er war ein Gott der Unterwelt, die er nur verließ, um eine Seele dorthin zu bringen.

»Ganz sicher, kein Zweifel. Es tut mir so leid!« Majla drückte sie erneut fest an sich. Saijra war zu perplex, um die Umarmung zu erwidern.

Nur langsam nahm ihr Verstand wieder die Arbeit auf. Anubis war hinter ihr her. »Aber warum?«

»Weil er böse ist und alles daran setzt, Mutter zu schaden.« Das war Perysa, die wieder aus dem Wald aus Regalen auftauchte.

Saijra war dem dunklen Gott nie begegnet, aber dass er niederträchtig war, verriet allein sein Handeln. Denn wer mit einem Hauch Anstand griff schon die Kinder seiner Feinde an, um diese so in die Knie zu zwingen?

»Du musst hierbleiben! Auf der Erde bist du nicht länger sicher.« Majla ließ Saijra los und Tränen schossen in ihre himbeerfarbenen Augen.

Saijra war klar, dass sie Recht hatte, doch sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn ich bleibe, bringe ich euch alle in Gefahr.« Anubis war schon einmal vor Jaskills Toren gestanden und es wäre ihm beinah gelungen, sie einzureißen. Sie konnte und durfte nicht zulassen, dass er erneut das Reich ihrer Mutter angriff.

»Ich will nicht, dass du in Gefahr bist, nur weil ich zu schwach bin.« Mittlerweile liefen ganze Tränenströme Majlas Wangen hinab. Sofort erwachte Saijras Beschützerinstinkt. Obwohl ihre Schwester deutlich älter und stärker als sie selbst war, fühlte sie sich immer in der Pflicht, sie zu beschützen. Das war von der ersten Sekunde an so gewesen. Natürlich spielte Majlas zerbrechliches Aussehen dabei eine große Rolle, aber auch ihre liebenswerte Art war Schuld daran. Majla war ein Wesen, welches immer strahlte und Freude verbreitete. Sie weinen zu sehen war unerträglich. Deshalb schmetterte sie entschieden die Selbstvorwürfe ihrer Schwester ab. »Du bist nicht schwach, hörst du?!« Da Dämonen aus dem Blut eines Gottes geschaffen wurden, hing deren magische Stärke unmittelbar mit der Macht der jeweiligen Gottheit zusammen. Und da Hathors Macht kontinuierlich schwand, seit die Menschen nicht mehr zu ihr beteten, war Majla als deren Dämonin ebenfalls davon betroffen. Dennoch war sie von schwach Lichtjahre entfernt. Das Problem war vielmehr, dass der Totengott nach wie vor verdammt mächtig war. »Der einzige Schuldige in dieser Geschichte ist Anubis. Er ist derjenige, der uns alle totsehen will. Und deshalb muss ich zurück auf die Erde.« Sie verstand zwar nicht genau, warum Anubis es jetzt auf sie abgesehen hatte, aber sie würde diesen Umstand nutzen, um ihn von Hathor abzulenken.

»Ich fürchte, Saijra hat recht. Wenn sie bleibt, bringt sie uns alle in Gefahr. Auch Mutter.« Perysa verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war das absolute Gegenteil von Majla. Sowohl körperlich, in ihrer Größe, der Muskelkraft und den kämpferischen Fähigkeiten, als auch in ihrem Wesen. Wenn Majla ein zarter Schmetterling war, war Perysa eine robuste Hummel.

»Ich weiß.« Majla sah niedergeschlagen zu Boden.

Saijra fühlte sich so hilflos. Sie konnte diesen Ausdruck in Majlas Gesicht nicht ertragen. Und nichts dagegen tun. »Ich gehe jetzt zu Mutter.« Sie flüchtete aus Perysas Schatzkammer und machte sich auf den Weg zum Thronsaal.

Im Säulensaal blieb sie stehen. An eine Säule gelehnt sank sie zu Boden und gestattete sich, einen Moment durchzuatmen und die Neuigkeit auf sich wirken zu lassen. Anubis jagt mich, um Mutter zu vernichten. Nachdem er an Jaskills Toren gescheitert war, hatte er nun offenbar beschlossen, Hathor zu schwächen, indem er ihr ihre Töchter und damit ihre größten Machtlieferanten nahm. Da sie sich von allen Hathorstöchtern am häufigsten und längsten auf der Erde aufhielt, war es nicht verwunderlich, dass seine erste Wahl auf sie gefallen war. Er wird mich umbringen. Sie gab sich nicht der Illusion hin, dem gnadenlosen Unterweltgott irgendetwas entgegensetzen zu können. Er war der Sohn des mächtigen Osiris und der Gott der Toten. Düster, stark und zu einhundert Prozent tödlich. Sie hatte keine Chance, ihm zu entkommen.

Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Ruhe des Marmors in sich aufzunehmen. Sie würde jetzt nicht in Panik verfallen. Ich bin stark. Und das würde sie bis zu ihrem letzten Atemzug bleiben.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Säule vor ihr. Verschiedene Figuren und Zeichen waren darin eingeritzt worden. Darunter eine große Frau. Sie trug eine Krone aus zwei goldenen Kuhhörnern, in deren Mitte eine runde Scheibe befestigt war. Die Göttin Hathor. Sie hielt die Hände ausgestreckt über ein Mädchen, welches vor ihr kniete. Das Mädchen war nur halb so groß wie die Göttin und wirkte erschöpft. Ihr Kopf hing kraftlos nach unten, ihr Kleid war zerrissen. Im nächsten Bild hatte sich Hathor niedergekniet, das Mädchen stand nun, sodass es mit der Göttin auf Augenhöhe war. Über dem Kopf des Mädchens schwebte ein rotes Herz. Hathor reichte dem Mädchen ein Ankh, das ägyptische Symbol für ewiges Leben. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Kreuz, nur bestand der obere Teil aus einer ovalförmigen Öse. Im letzten Bild umarmten sich die Göttin und das Mädchen. Unter den beiden war ebenfalls ein Ankh sowie eine schalenförmige Hand mit einem Herz darin abgebildet. Das Zeichen für die unendliche Liebe zwischen Mutter und Tochter. Die Säule erzählte von einem Menschenmädchen, welchem die Göttin Hathor das Leben rettete und zu ihrer Tochter machte, indem sie ihr von ihrem göttlichen Blut gab. Es war eine einzigartige Geschichte. Ihre Geschichte.

***

Beim Betreten des Thronsaals ging Saijra, wie jedes Mal, das Herz auf. Freude durchströmte ohne ersichtlichen Grund ihren Körper und ihre Lippen bogen sich von selbst nach oben. Anfangs hatte sie geglaubt, ein Zauber läge über dem Saal, der ein Glücksgefühl in einem auslöste. Mittlerweile war sie hingegen überzeugt, dass es an der Aura ihrer Mutter lag, der unendlichen Liebe, die sie ausstrahlte.

Natürlich war auch der Saal an sich atemberaubend. Der Boden bestand aus gelbem Sandstein, die Wände waren mit alten Symbolen und Hieroglyphen bemalt. Überall glitzerte Gold in den warmen Sonnenstrahlen, die durch die große Glaskuppel hereinfielen. Unter der Kuppel war ein Becken in den Boden eingelassen worden, in dem Hathor ausgestreckt lag. Allerdings planschte sie nicht in Wasser, sondern in Milch. Die Göttin der Schönheit schwor auf deren Wirkung für eine samtene Haut.

Hathor war von drei lachenden, jungen Frauen umgeben. Saijra erkannte in ihnen ihre Schwestern Tarjna, Meredy und Mina. Mit weichen Schwämmen massierten sie den nackten Körper der Göttin. Ihre Bewegungen wurden von leiser Musik begleitet. Auf ihrem Kopf trug die Göttin wie immer ihre Krone, bestehend aus zwei goldenen Kuhhörnern und dem tellergroßen Edelstein, dem Auge des Ra, in ihrer Mitte.

Saijra schielte zu dem mit bunten Blumen verzierten Thron. Sie überlegte, wann sie ihre Mutter das letzte Mal darin hatte sitzen sehen. Es wollte ihr nicht einfallen.

Hinter dem goldenen Thron lugte eine braune Kuh hervor, die genüsslich ein paar der Blumen zerkaute. Die sanften Tiere konnten sich in ganz Jaskill frei bewegen, sowohl im Palast als auch draußen. Als Symboltiere Hathors standen sie unter deren göttlichem Schutz und wurden von Hathors Töchtern mit allerhand Streicheleinheiten und Leckereien verwöhnt. Gelegentlich schmückten sie sie auch mit Blumenkränzen und bunten Tüchern. Die Tiere genossen es.

Als Hathor Saijra näherkommen sah, streckte sie lächelnd die Hand nach ihr aus. »Saijra, meine geliebte Tochter! Schön dich zu sehen. Komm her.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mutter.«

Hathor erhob sich und stieg die drei Stufen aus dem Milchbad. Sofort standen Meredy und Mina bereit und hüllten die Göttin in ein dünnes Seidengewand. Der Saum am Halsausschnitt und den Ärmeln war mit bunten Hieroglyphen verziert und hob sich von dem goldenen Hautton ihrer Mutter ab. Sachte wallte der Stoff in einem Wind, welchen nur dieses Kleid zu spüren schien, und umspielte den wunderschönen Körper der Göttin. Für ihre Kurven würden nicht wenige Frauen töten. Saijra selbst hatte jedoch keinen Grund für Neid, ihr Körper war ebenso wohlgeformt und ließ Männer reihenweise sündigen.

»Setz dich. Ich möchte dir etwas erzählen. Das wird dir gefallen.« Die großen, tiefblauen Augen der Göttin strahlten vor Liebe. Nie hatte Saijra in ihnen Bosheit oder Wut gesehen. Sie folgte der Aufforderung und ließ sich auf einem der kunstvoll bestickten Kissen auf dem Boden nieder. Hathor setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand, während Tarjna, Meredy und Mina den Raum verließen.

»Hör dir an, was deine Schwester Lorees auf der Erde geschaffen hat: Sie hat einen Schönheitssalon eröffnet. Frauen kommen von weit her, um dort Lorees Fähigkeiten auf sich wirken zu lassen. Sie verehren sie beinah. Es ist zwar nicht dasselbe, als wenn sie ihre Gebete direkt an mich richten oder einen Tempel für mich bauen würden, aber es stärkt mich dennoch. Als Göttin der Schönheit kann ich Kraft daraus ziehen. Wunderbar, nicht?«

Saijra nickte. »Das ist toll, Mutter.« Wie alle Götter, bezog auch Hathor den Großteil ihrer Macht aus der Zuneigung der Menschen, die diese ihr über Gebete oder Opfergaben sandten. Vor etwas weniger als zweitausend Jahren hatten sich die Götter von der Erde zurückgezogen und waren bei den Menschen in Vergessenheit geraten, sodass deren Macht seitdem unaufhörlich schwand. Die Liebe ihrer Töchter stärkte Hathor so weit, damit sie nicht verblasste, doch um ihre göttliche Macht zu erhalten, war mehr nötig. Menschliche Liebe. Die aus ihrem Blut erschaffenen Töchter der Göttin suchten seither unentwegt nach neuen Wegen. Unter anderem hatten sie Partnervermittlungen eröffnet, um die Menschen dazu zu bringen, wieder an die Liebe zu glauben. Zudem war unter ihrem Einfluss die Kuh zu einem der wichtigsten Nutztiere der Menschheit geworden. All dies konnte der Göttin Kraft liefern, jedoch auf Umwegen. Die Macht daraus war nicht so stark, nicht so rein. Und sie reichte nicht aus. Deshalb sahen sich die Hathorstöchter gezwungen, den Menschen ihre Gefühle zu rauben. Die Dämoninnen schöpften den Menschen ihre Liebe ab und gaben sie an ihre Mutter weiter. Die Menschen konnten danach weiterhin fühlen und auch wieder neue Liebe entwickeln. Saijra hingegen sorgte mit ihren einmaligen Fähigkeiten dafür, dass sich die Menschen in sie verliebten und raubte ihnen anschließend ihre Herzen. Sie war Hathors Herzdiebin. Während ihre dämonischen Schwestern nur die Blüte pflückten, grub Saijra die ganze Pflanze aus.

Saijra freute sich wirklich über Lorees Erfolg, doch sie wusste, im Vergleich zu ihrer Leistung war es nur ein Blütenblatt. Ihre Mutter strahlte dennoch, als bräuchte sie sich nie wieder zu sorgen. Einmal hatte sie gehört, wie Perysa Hathor insgeheim als naiv bezeichnet hatte. Sajira glaubte jedoch nicht an diese Naivität. Mit ihrer unendlichen Liebe erweckte sie zwar hin und wieder den Eindruck der absoluten Unschuld – sogar während Anubis‘ Angriff auf Jaskill hatte sie lächelnd die Kühe gestreichelt – doch sie war nicht dumm. In ihr steckte eine starke Göttin, der Ra einst sein Sonnenauge anvertraut hatte. In Bezug auf ihre Töchter vermutete Saijra allerdings, dass Hathor sich nicht eingestehen wollte, dass nicht all ihre Töchter gleich befähigt waren. »Du wolltest mir etwas anderes sagen, nicht wahr Mutter?«

Hathor nickte, was die goldenen Plättchen in ihren langen schwarzen Haaren leise klimpern ließ. Mitgefühl legte sich in ihre Augen, die an einen klaren Bergsee erinnerten. »Anubis ist auf der Erde, auf der Suche nach dir.«

Saijra spürte, wie das tiefe Orange der Aura ihrer Mutter sie beschützend einhüllte. Sie wehrte sich nicht dagegen. »Majla hat es mir bereits gesagt. Und ich ahne, was du nun sagen willst, aber ich lehne dankend ab.«

Die Miene der Göttin wurde ernster, was ihre Schönheit nicht im mindesten einschränkte. Die sanfte Andeutung der Wangenknochen und die geschwungenen Lippen waren die reinste Perfektion. »Saijra, du bist meine Tochter. Ich will dich in Sicherheit wissen. Bei mir.«

Hathors Macht war auf der Erde nicht stark genug, um sie dort vor Anubis zu schützen. Nicht, wenn der Totengott selbst dort war. Trotzdem konnte sie nicht in Jaskill bleiben, auch wenn ein kleiner, schwacher Teil in ihr dieses Angebot annehmen und sich hier verstecken wollte. »Das weiß ich doch. Aber wie lange soll ich mich hier verkriechen?« Würde Anubis überhaupt je aufhören, sie zu jagen? Nicht, bevor er Hathor vernichtet hat. Der Gedanke ließ sie frösteln. »Außerdem habe ich doch eine Aufgabe auf der Erde!« Sie war die Herzdiebin, nur sie war fähig, Herzen zu stehlen.

»Du hast bereits sehr viel für mich getan. Perysas Schatzkammer ist voll, du kannst für immer hierbleiben«, widersprach ihre Mutter. »Warum glaubst du, habe ich dir von Lorees erzählt? Deine zweiundzwanzig Schwestern tun ebenfalls alles für mich. Du kannst mir auch hier dienen.«

Saijra drückte liebevoll die Hand ihrer Mutter. »Es ist nicht nur das. Ich liebe dich und meine Schwestern und ich bin gern in Jaskill, aber ich kann hier nicht leben. Nicht für immer.« Sie war nicht wie ihre Schwestern, die Hathor aus ihrem Blut erschaffen hatte. Anders als die Dämoninnen war sie geboren worden. Auf der Erde, vor dreihundert Jahren. Sie war zwar nur noch zur Hälfte ein Mensch, trotzdem blieb die Erde ihre Heimat. »Ich gehöre nicht nach Jaskill.«

»Unsinn!«, entfuhr es Hathor. »Du bist meine Tochter und genau wie deine Schwestern bist du ein Teil von Jaskill.« Sie hatte nie einen Unterschied zwischen Saijra und ihren Schwestern gemacht. Die Göttin liebte all ihre Töchter gleichermaßen.

Es war auch nicht so, dass Saijra sich ausgestoßen oder unerwünscht fühlte. Ihre Schwestern hatten sie vom ersten Tag an als ihresgleichen aufgenommen. Trotzdem kamen ihr die Aufenthalte im Reich ihrer Mutter immer wie Besuche, nie wie nach Hause kommen vor. Ihr war selbst nicht ganz klar, weshalb. »Ich kann die Erde nicht für immer verlassen.«

»Er wird dich jagen, Saijra. Anubis verachtet mich und weil er mich nicht erreichen kann, hasst er mich noch mehr. Diese Wut wirst du abbekommen!« Hathor sah sie eindringlich an. Saijra konnte sehen, wie sie mit sich rang. Vermutlich wollte sie sie am liebsten hier festhalten, doch sie wusste, ihre Mutter würde sie niemals zu irgendetwas zwingen.

»Ich verstehe, warum du mich nicht gehen lassen willst, aber ich habe mich entschieden. Genauso, wie es meine Entscheidung war, deine Herzdiebin zu werden.« Saijra lächelte vorsichtig. »Und wenn ich den Totengott jetzt auf der Erde beschäftigen kann und er dich deshalb nicht angreift, dann treffe ich diesen Entschluss mit Freude.« Zumal ihr Tod, im Gegensatz zu dem ihrer Schwestern, Hathor nicht schwächen würde. Es ist gut, dass seine Wahl auf mich fiel.

Hathor schloss für einen Moment die Augen und als sie sie wieder öffnete, wirbelte darin ein Sturm aus purer Liebe, der warm auf Saijras Haut kribbelte. »Ich bin deine Mutter und als solche muss und werde ich deine Entscheidung akzeptieren. Auch wenn sie mir nicht gefällt.«

Plötzlich hatte Saijra die Worte im Kopf, die die Göttin gesprochen hatte, als sie ihr von ihrem Blut gegeben hatte: Ich, Göttin Hathor, schenke dir mein Blut und mache dich damit zu meiner Tochter. Ich gebe dir den Namen Saijra. Von nun an werde ich dich beschützen und für dich sorgen, wie nur eine Mutter es tut. Im Gegenzug weiß ich deine unendliche Liebe, die Liebe einer Tochter, als gewiss.

»Du hast mich damals gerettet und nun werde ich dich retten.«

»Saijra, du weißt, es war ein Geschenk. Niemals wollte ich dieses Leben einfordern!« Hathors Haut glitzerte vor orangener Magie, beinah genauso wie damals, als Saijra in dieser unendlichen Dunkelheit gewesen war. Sie hatte sich an nichts erinnern können, weder an ihren Namen, noch an das, was passiert war. Die Dunkelheit und sie selbst, alles hatte sich seltsam angefühlt, unwirklich. Beinahe wie ein Traum. Aber sie hatte gespürt, dass es keiner war. Panik war in ihr aufgestiegen, bis sie ein Licht entdeckt hatte. Erst ganz klein, dann war es immer größer geworden. Es war auf sie zu geschwebt, bis sich das Licht in eine wunderschöne Frau verwandelt hatte. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren und einer ungewöhnlichen Krone auf dem Kopf. Sie hatte sich als Hathor, Göttin der Liebe, der Sinnlichkeit und Schönheit, der Lust und der freien Frauen vorgestellt. Saijra schmunzelte bei der Erinnerung. Sie war damals vollkommen verwirrt gewesen. Noch nie hatte sie etwas von Göttern gehört.

Hathor hatte ihr ihre Erinnerung wieder gegeben und so hatte sie sich an ihren Namen erinnert. Anna. Mit diesem Wissen war allerdings auch die Erkenntnis gekommen, dass sie soeben ermordet worden war. Die Göttin hatte ihr angeboten, sie zu ihrer Tochter zu machen und ihr damit ein zweites Leben zu schenken. Ohne lange zu überlegen, hatte sie eingewilligt. Hathor hatte sie nach Jaskill gebracht, sie geheilt und ihr beigebracht, wie sie die Magie, die Hathor ihr mit ihrem Blut geschenkt hatte, einsetzen konnte. Sie war ihre Mutter geworden, zumal Saijra nie eine andere gehabt hatte.

Saijra hatte geschworen, sie zu beschützen, und war sich absolut sicher, das Richtige zu tun. »Du forderst nichts. Ich habe mich frei dazu entschieden, das Leben, das du mir geschenkt hast, für dich und die Sicherheit Jaskills zu geben. Aus Liebe.«

Ihre Mutter schloss sie fest in die Arme und das leuchtende Orange ihrer Magie mischte sich in das Gold von Saijras. »Du wirst immer meine Tochter sein.«

***

Draußen vor dem Palast warteten Perysa und Majla in der warmen Sonne. Sie unterbrachen ihre Diskussion, als Saijra sie erreichte.

»Ich kann dich nicht mehr umstimmen, habe ich recht?« Majla sah sie traurig an.

»Ich liebe euch und ich liebe Mutter. Deshalb werde ich alles tun, um euch zu schützen.«

»Ach, ich werde dich so vermissen!« Majla umarmte Saijra so fest, dass ihr die Luft wegblieb.

»Ihr werdet immer in meinem Herzen sein.« Saijra drückte ihre Schwester ein letztes Mal, dann befreite sie sich aus der Umarmung.

Perysa legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Pass auf dich auf, kleine Schwester.«

Saijra lächelte schief. »Ich habe mich entschieden, mich nicht zu verstecken, aber ich habe deshalb nicht die Absicht, zu sterben.« Es waren zuversichtliche Worte, doch tief im Inneren wusste sie, vor dem Tod würde sie nicht lange fliehen können. Wenn sie sich klug anstellte, konnte sie Anubis vielleicht eine Weile von Jaskill ablenken. Im Gegensatz zu ihr hatte der Totengott schließlich nie in der modernen Welt gelebt. Doch sie war nicht naiv und sie würde einen Gott niemals unterschätzen. Er würde sie erwischen. Die Frage war nur wann.

»Das wollte ich hören.« In Perysas Augen konnte Saijra allerdings dieselben Gedanken sehen.

»Eines müsst ihr mir noch versprechen. Egal, was passiert, ihr dürft nicht zulassen, dass Mutter irgendeinen schlechten Deal abschließt, um mich zu retten.« Saijra würde, wie jede ihrer Schwestern, tausend Tode sterben, wenn dafür ihre Mutter sicher war. Niemals könnte sie sich verzeihen, sollte Hathor sich für sie opfern. Zumal an Hathors Leben auch das ihrer dämonischen Töchter hing. Natürlich war sich die Göttin dessen bewusst. Doch genauso wie eine Kuh unberechenbar wurde, wenn ihr Kalb in Gefahr war, konnte ihre Mutter ihre Vernunft über Bord werfen, wenn das Leben einer ihrer Töchter auf dem Spiel stand. Und Anubis würde sicherlich versuchen, sie als Druckmittel einzusetzen, wenn er sie hatte.

»Versprochen!«, antworteten Perysa und Majla gleichzeitig. Sie hatte keine andere Antwort erwartet.

»Hier, das soll dich beschützen.« Perysa holte ein Lederband mit einem goldenen Anhänger daran hervor. Saijra nahm die Kette in Empfang und betrachtete das Symbol. Winzige Hieroglyphen waren auf der Oberfläche eingeritzt. Es war ein Ankh, das ägyptische Symbol des Lebens.

»Danke.« Sie umarmte Perysa, dann ließ sie ihren Blick ein letztes Mal über ihre beiden Schwestern gleiten und auf einmal schnürte sich ihr Hals zu. Wieso fühlte sie sich plötzlich so allein? Fest drückte sie den Anhänger in ihrer Hand. Mit aller Kraft kämpfte sie das unangenehme Gefühl der Einsamkeit nieder und zwang sich zu einem tapferen Lächeln. Dann schloss sie die Augen und Majla schickte sie zurück auf die Erde.

Kapitel 2

Gelangweilt rutschte sie auf dem abgesessenen Barhocker herum. Eine wohlgesinnte Person hätte die renovierungsbedürftige Kneipe vielleicht als rustikal beschrieben. Saijra fand sie schlichtweg alt. An den Wänden klebten ausgebleichte Holzkacheln und der Dielenboden erzählte von den verschütteten Getränken der letzten Jahrzehnte. Die Luft war abgestanden und die alten Glühbirnen in den Lampen brachten nur spärliches Licht.

Saijra winkte dem erstaunlich jungen Wirt. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er steckte sein Handy weg und machte sich daran, ihr ein neues Bier zu zapfen. Dabei fielen ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn und warfen einen leichten Schatten in sein ebenmäßiges Gesicht. Er war unbestreitbar attraktiv und würde sich perfekt in die Reihe ihrer Opfer einfügen. Leider hatte er eine Freundin. Sie hatte ihm vorher etwas vorbeigebracht und Saijra hatte beobachtet, wie er sie geküsst hatte. Seine Augen waren voller Liebe gewesen.

Missmutig nahm sie einen Schluck von ihrem Bier und zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Das Gebräu zählte definitiv nicht zu ihren Favoriten, doch die Getränkeauswahl in dieser Kneipe war mehr als dürftig.

Gedankenverloren beobachtete sie, wie sich der Wirt daran machte, ein neues Fass anzuschließen. Das Spiel seiner Muskeln, das sich unter seinem Hemd abzeichnete, hatte fast etwas Hypnotisches. Zu dumm, dass er vergeben war. Natürlich könnte sie ihn trotzdem rumkriegen, der Herzdiebin konnte schließlich kein Mann widerstehen, wenn sie es darauf anlegte. Kein Menschlicher zumindest. Doch sie hatte ein paar Prinzipien. Zu denen gehörte es, sich nicht in eine glückliche Beziehung zu drängen. Jedenfalls nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.

Seufzend schaute sie sich in der winzigen Kneipe um. Sie brauchte für heute Nacht einen Schlafplatz und dieser jämmerliche Laden war das einzige Lokal in diesem abgelegenen Dorf. Unter normalen Umständen hätte sie diesen Ort niemals zu ihrem Jagdgebiet erklärt, doch seit Anubis sie jagte, mied sie jede größere Stadt. Ein Umstand, der sie langsam nervte. Vor zwei Wochen hatte sie Bremerhaven Hals über Kopf verlassen und reiste seitdem quer durch Deutschland. Dabei hielt sie sich nie länger als vierundzwanzig Stunden an einem Ort auf. Was aufregend klingen mochte, war in Wirklichkeit verdammt ermüdend. Ich brauche jetzt unbedingt ein Bett.

In einer Ecke saßen zwei ältere Herren mit grauem Bart bei einer Runde Karten. Ihre Hände waren schwielig und rau von der körperlichen Arbeit, von der auch ihre krummen Rücken erzählten. Vor ihnen standen zwei halb leere Weißbiergläser und ihre Unterhaltung beschränkte sich auf unterschiedliche Brummgeräusche. Saijra wandte den Blick ab. Diese beiden waren keine geeigneten Kandidaten.

Am anderen Ende der Theke hing ein Mann um die Vierzig. Sein Kopf lag auf der hölzernen Platte, die fettigen Haare klebten an seinem Schädel. Neben ihm standen mehrere leere Schnapsgläser, aber auch ohne die hätte sie erkannt, dass der Mann vollkommen dicht war. Und so, wie seine Kleidung aussah, war dieser Abend keine Ausnahme bei ihm. Sie verzog das Gesicht. Sie war tief gesunken, aber nicht so tief! In diesem Kaff muss doch noch etwas anderes zu haben sein.

Hinter der Bar klirrte es und Saijras Aufmerksamkeit lag wieder auf dem Wirt. Er bückte sich, um etwas unter der Theke hervor zu holen, wobei sich sein Hemd um den Oberkörper spannte, und die Herzdiebin fasste einen Entschluss. Ja, er hatte eine Freundin, aber sie hatte nicht die Absicht, auf der Straße zu schlafen.

Gerade, als Saijra ihn ansprechen wollte, öffnete sich die Eingangstür mit einem Quietschen. Der Wirt sah auf und nickte dem Neuankömmling grüßend zu. Sie drehte den Kopf und musterte den jungen Mann, der geradewegs auf die Bar zulief und sich zwei Plätze neben sie auf einen Hocker fallen ließ. Das bunte T-Shirt und sein blonder Wuschelkopf erinnerten Saijra an einen Surfer.

»Servus Nick, ein Bier bitte!«

Der Angesprochene zapfte ihm ein Bier und stellte den Krug vor ihm ab. »Hab dich am Samstag vermisst. Wo warst du?«

»Sorry Bro, hatte keine Zeit.« Der Surfertyp zuckte entschuldigend mit den Schultern und nippte an seinem Bier.

Nick deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Bin kurz hinten. Falls was ist, einfach rufen.« Dann trat er durch die Tür in den an die Gaststube angrenzenden Raum.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Saijra die Aura des Surfers. Äußerlich hätte er zwar ein Junge aus Palm Beach sein können, doch seine Stimmung war alles andere als sonnig. Sie seufzte stumm. Etwas Besseres würde sie heute nicht mehr bekommen. Und er hatte keine Freundin. Zumindest keine, die sie gesehen hatte, das genügte ihr.

Sie fing an, ihm Blicke zuzuwerfen. Erst unauffällig, dann ziemlich deutlich. Der Beginn eines Flirts, doch der Surfer nahm keine Notiz von ihr, starrte nur mürrisch in seinen Bierkrug. Saijra verdrehte die Augen. Wie konnte man nur solch einen Tunnelblick haben? Da sie keine Lust hatte, die ganze Nacht hier zu verbringen, rutschte sie kurzerhand auf den Barhocker neben ihn. »Hey! Wie geht’s?«

»Passt schon.« Er hob nicht einmal den Kopf! In einem schweren Olivgrün hing seine Aura lustlos über ihm.

»Ich bin Saskia und du?«, versuchte sie es erneut ausgesprochen fröhlich. Wie immer verwendete sie nicht ihren richtigen Namen.

»Hör mal Saskia«, endlich schaute er sie an, »ich will heute einfach meine Ruhe.«

Zu gern hätte sie ihm den Kopf gewaschen. Da sprach ihn eine heiße, fremde Frau an und er wollte seine Ruhe? Was war das denn für ein Kerl? Doch sie ließ sich nichts anmerken. Zu oft hatte sie Männer dazu gebracht, sie zu begehren. Männer aus den unterschiedlichsten Schichten und Positionen. Er war, weiß Ra nicht der härteste Brocken, die Herzdiebin würde ihn mit Leichtigkeit knacken.

Wenn er nicht in Flirtlaune war, sprang vielleicht sein Beschützerinstinkt an. Kurzerhand wechselte sie ihre Strategie, setzte ein liebliches Lächeln auf und rief ihre Magie, um sie in ihre Stimme zu legen. Laut sagte sie: »Tut mir leid. Es ist nur, ich hatte gehofft, du könntest mir helfen … aber ich verstehe schon.« Ihre Magie flüsterte: Sie ist süß. Und hilflos, du musst sie beschützen. Saijra schlug ihre Augen nieder und wandte sich um, als wolle sie zurück auf ihren Platz wechseln.

»Warte. Ich heiße Jan.«

Saijra hielt in ihrer Bewegung inne und gestattete sich ein zufriedenes Lächeln, ehe sie sich wieder umdrehte. Die Farbe seiner Aura war nun etwas heller. »Hallo Jan.«

»Wie meinst du das, wie soll ich dir denn helfen?« In seinen Augen lag jetzt Interesse, er ließ sogar seinen Krug los. Wie viel so ein bisschen Verführungsmagie doch bewirken kann.

»Das ist mir ziemlich peinlich. Ich wurde hier ausgesetzt.« Saijra sah vorgeblich schüchtern zu Boden, ihre Wangen färbten sich leicht rosig. Und wieder schwang eine Portion Magie in ihren Worten mit: Sie ist hübsch. Ihre langen Haare sind bestimmt ganz weich. Die goldene Magie hüllte ihn ein, mischte sich in sein dunkles Grün und sorgte dafür, dass die Kneipe um ihn herum etwas verblasste, während sie in den Vordergrund seiner Wahrnehmung rückte.

Jan runzelte die Stirn. Seine volle Aufmerksamkeit galt nun ihr. »Wie meinst du das, ausgesetzt?«

Sie tat, als wäre sie verlegen und leckte sich über die Lippen. »Nun, mein Freund oder besser gesagt, mein Ex-Freund, hat mich einfach aus dem Auto geschmissen und ist abgebraust. Und jetzt sitze ich hier in diesem Dorf fest, wo ich niemanden kenne, ohne Geld und ohne Handy – meine Tasche liegt nämlich noch in seinem Auto.«

»Wow, was für ein Arsch! Sorry wegen der Wortwahl, aber das ist ja mal unterste Schublade.« Bestürzung lag in seinem von blonden Locken umrahmten Gesicht.

»Ja, er ist ein Riesenarsch!« Saijra kicherte. »Danke, jetzt kann ich wenigstens wieder lachen!«

Auch Jan lächelte. Sie spürte, wie seine Zuneigung ihr gegenüber weiter stieg. Seine Aura wurde zunehmend glücklicher, keine Spur mehr von der anfänglichen, düsteren Mauer. Die Armes-Mädchen-Masche funktionierte und natürlich ihre Magie. Doch die Herzdiebin war noch nicht zufrieden, sie wollte mehr. Er sollte sie nicht nur sympathisch finden, er sollte sich nach ihr verzehren. Sofort sandte sie ihm eine weitere Welle ihrer Magie und goldene Stränge umschlangen sein Herz. Diese Gefühle, die Jan gerade für sie entwickelte, würden nicht ansatzweise so stark und rein werden wie die von Bruno. Jans Zuneigung basierte zu einem Großteil auf ihrer Magie, sie war mehr oder weniger erzwungen. Diese Gefühle würden der Göttin keine Macht bringen, dazu musste die Liebe freiwillig geschenkt werden. Doch dafür waren sie auch nicht gedacht. Jans Verlangen nach ihr bescherte ihr für die heutige Nacht ein Dach über dem Kopf, mehr nicht. Etwas anderes interessierte sie momentan nicht.

Wüsste jemand, was sie hier tat, hätte er sie dafür vielleicht verurteilt, aber Saijra fühlte sich nicht schlecht. Warum auch? Das waren ihre Fähigkeiten und sie hatte sie bekommen, um sie zu nutzen. Außerdem war dieser junge Mann dank ihr jetzt nicht mehr deprimiert und würde eine unbeschreibliche Nacht haben, vermutlich sogar die Beste seines Lebens.

»Was soll ich jetzt tun?« Sie biss sich auf die Lippen und spielte mit ihren Haaren. Jans Blick fiel sofort auf ihre Brüste, als sie sich ein klein wenig nach vorn beugte. Der Herzdiebin gefiel der Hunger in seinen Augen. Er ist bestimmt sehr beweglich. Eine weitere Böe hypnotisierender Magie hinterließ den Geschmack von Sex auf seiner Zunge, während sie ihre Hand auf sein Knie legte. Ihre Magie flüsterte: Sie ist nicht nur süß, sie ist heiß! Und sie steht auf dich.

»Du kannst mit zu mir kommen, wenn du magst. Morgen früh fahre ich dich in die Stadt. Oder wo auch immer du hin willst.« Aus seiner Stimme triefte förmlich sein Verlangen nach ihr. Seine steigende Erregung spiegelte sich in seiner pulsierenden Aura wieder. Perfekt.

»Oh, das fände ich wirklich groß… Ah!« Saijras Antwort wurde jäh unterbrochen, als jemand sie von hinten packte und etwas in ihren Hals stach. Die Hülle aus Magie, die sie mühsam um ihr Opfer gewebt hatte, brach abrupt zusammen. Jan blinzelte verwirrt, dann starrte er erschrocken über sie hinweg. Auch ohne seinen entsetzen Gesichtsausdruck hätte Saijra gewusst, dass hinter ihr ein riesiger Kerl stand. Große Hände hielten sie fest wie ein Schraubstock. Ein unangenehmes Brennen breitete sich von ihrem Hals über ihren ganzen Körper aus. Sie brachte kein Wort heraus, nur einen erstickten Laut. Ein Betäubungsmittel! Obwohl Saijra durch den göttlichen Teil in ihrem Blut resistenter war als gewöhnliche Menschen, machte sich die Wirkung bei ihr bereits bemerkbar und der saure Geschmack von Panik legte sich auf ihre Zunge.

Gerade als Jan aus seiner Starre erwachte und aufspringen wollte, tauchte ein weiterer Mann auf und hielt ihn auf seinem Platz.

Saijra konnte sich nicht mehr bewegen. Das Mittel entzog ihr die Kontrolle über ihren Körper und ihre Magie. Keine zwei Sekunden, um zu reagieren. Die Männer mussten eine Dosis verwendet haben, die Elefanten umhaute. Die Kneipe verschwamm an den Rändern ihres Sichtfeldes und auch ihr Gehörsinn war beeinträchtigt. Die Stimmen um sie herum waren allesamt gedämpft, mussten in Wirklichkeit aber wohl eher ein wildes Herumbrüllen sein.

Jetzt wurde sie bewegt, hochgehoben. Ihr Kopf fiel kraftlos zur Seite, wodurch der Mann, der Jan in Schach hielt, in ihr verschwommenes Blickfeld geriet. Insbesondere das kohlrabenschwarze Tattoo auf seinem Handrücken stach ihr ins Auge und ihre Kehle wurde so trocken wie die Sahara. Trotz ihrer mittlerweile stark eingeschränkten Wahrnehmung konnte sie den Schakalskopf mit den stechend gelben Augen ganz genau sehen. Anubis. Er hat mich gefunden! Das Letzte, was sie fühlte, war eine kalte Hand, die nach ihrem Herzen griff, dann schaltete das Betäubungsmittel ihr Bewusstsein aus.

***

Mit stechenden Kopfschmerzen erwachte Saijra und sofort erschienen leuchtend gelbe Augen vor ihrem geistigen Auge. Anubis hatte sie! Dieser Gedanke rüttelte ihren Geist endgültig wach. Ihren Körper konnte sie noch nicht wieder bewegen, was wohl der Nachwirkung des Betäubungsmittels geschuldet war. Vorsichtig blinzelnd sah sie sich um. Sie lag auf einem Lederpolster, der Untergrund vibrierte gleichmäßig. Ein Auto. Ein fahrendes Auto. Oder besser gesagt, eine Limousine. Auf der Rückbank war nämlich so viel Platz, dass sie ausgestreckt daliegen konnte. Wobei ihre Position alles andere als bequem war, denn sie lag auf ihren Armen. Als sie versuchte, sie hinter ihrem Rücken hervorzuziehen, stieß sie auf Widerstand. Sie war gefesselt, auch an den Füßen.

Neben ihr saß ein Mann. Sein Hals war ziemlich kurz, sodass es aussah, als hätte er seine Schultern hochgezogen. Allgemein war er sehr bullig und erinnerte Saijra an einen Bären. Vermutlich war er derjenige mit der Spritze gewesen. Saijra fröstelte es.

Die Trennwand zum Fahrer war offen und sie erkannte in ihm den Mann, der Jan festgehalten hatte. Im Vergleich zu dem Bären neben ihr war er ein Spargel. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, sodass sie nur sein Profil betrachten konnte, doch Saijra hätte sein Gesicht als sympathisch beschrieben. Wäre er nicht einer von Anubis‘ Männern und an ihrer Entführung beteiligt.

»Du wachst ja schon auf. Deutlich früher als ich dachte.« Der Grizzly starrte finster auf sie herab. »Aber das ist kein Problem, ich gebe dir einfach noch eine Dosis Schlafmittel.« Schon fummelte er in seiner Tasche nach einer weiteren Spritze.

Saijra wollte zurückweichen, wollte schreien, doch ihr gelang kaum mehr als ein entsetztes Keuchen. Das Betäubungsmittel hielt sich hartnäckig in ihrem Körper.

»Warte! Ich denke, sie hatte genug. Außerdem sind wir bald da und Anubis möchte sicher, dass sie ansprechbar ist.« Der Fahrer musterte sie mit einen Blick in den Rückspiegel, in seinen Augen lag dabei ein seltsamer Ausdruck. War er etwa besorgt? Um sie? Wohl kaum, schließlich war er einer von Anubis‘ Männern. Er kannte ihr Schicksal. Vermutlich sorgte er sich nur darum, sie unversehrt zu seinem Herrn zu bringen, damit dieser sie höchstpersönlich töten konnte.

Ich stehe gleich dem Totengott gegenüber. Bislang war es ihr recht gut gelungen, zu verdrängen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Tod flüchtete. Doch nun holte sie diese Tatsache wie ein Hochgeschwindigkeitszug ein und kalte Angst breitete sich in ihr aus. Stopp! Eine kleine Stimme in ihrem Inneren regte sich und drängte die Furcht entschieden zurück. Sie war eine Tochter Hathors und sie würde nicht aufgeben! Noch hatte sie eine Chance. Ich muss ihnen entkommen, bevor sie mich zu Anubis gebracht haben. Mit dem Totengott konnte sie es nicht aufnehmen, aber gegen diese beiden Männer war sie nicht wehrlos. Selbst mit gefesselten Armen und Beinen. Als Herzdiebin lagen ihre Fähigkeiten schließlich nicht in der Muskelkraft oder im Kampfgeschick, sondern auf mentaler Ebene.

Mit einem neuen Ziel vor Augen schielte Saijra zu dem Muskelpaket neben ihr hoch. Grummelnd verstaute er die Betäubungsspritze wieder in seiner Tasche. Sie weckte ihre Magie und sandte ihm eine vorsichtige Welle. Sieh dir das Mädchen an, wie hübsch sie ist! Ihre Magiefäden prallten an einer harten Mauer ab. Überrascht runzelte sie die Stirn. Menschen besaßen selten eine mentale Schutzmauer. Sie konzentrierte sich auf seine Aura, seine Gefühle. Er empfand treue Ergebenheit für seinen Herrn, Anubis. Stolz, weil er seinen Auftrag so erfolgreich erfüllte. Und Abneigung ihr Gegenüber. Saijra seufzte stumm. Abneigung war schwierig umzuwandeln. Natürlich nicht unmöglich, aber es dauerte. Zeit, die sie nicht hatte.

Also fokussierte sie die Aura des Fahrers. Ein Blau, so klar wie ein See in den Bergen. Auch er verspürte ganz eindeutig tiefe Treue Anubis gegenüber. Zudem bemerkte sie die Sorge, die sie vorhin schon in seinem Blick gesehen hatte, doch sie schien nicht ihm selbst zu gelten. Wieder runzelte sie die Stirn. Wem dann? Seinem Herrn wohl kaum. Niemand sorgte sich um einen Gott. Vielleicht galt sie doch ihr. Falls ja, konnte sie damit arbeiten. Egal, wie gering die Zuneigung eines Menschen zu ihr war, sie konnte sie verstärken. Nur wo nichts war, konnte sie auch nichts tun.

Sie sandte ihren magischen Tastsinn weiter zum Fahrer aus und vernahm das Gefühl einer Verpflichtung oder auch Aufgabe. Aber es war nicht der Auftrag, den er von seinem Herrn bekommen hatte. Sein Gefühl ging tiefer. Eher eine Aufgabe, der er sich selbst verpflichtet sah. Verwirrend.