Die Hexe von Glaustädt - Ernst Eckstein - E-Book

Die Hexe von Glaustädt E-Book

Ernst Eckstein

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Beschreibung

In Ernst Ecksteins Werk 'Die Hexe von Glaustädt' entführt uns der Autor in eine düstere Welt des Aberglaubens und der Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert. Der Roman zeichnet sich durch seinen detaillierten historischen Hintergrund und seinen atmosphärischen Schreibstil aus, der den Leser in die beklemmende Realität jener Zeit eintauchen lässt. Eckstein schafft es meisterhaft, die harten Lebensbedingungen und die Irrationalität der Hexenjagd darzustellen, ohne dabei in Klischees abzurutschen. Das Werk wird somit zu einem fesselnden historischen Roman, der sowohl unterhält als auch zum Nachdenken anregt. Ernst Eckstein, selbst Historiker und Kenner der mittelalterlichen Geschichte, bringt seine akademische Expertise in die Gestaltung von 'Die Hexe von Glaustädt' ein. Sein Interesse an historischen Themen und sein Streben nach Authentizität spiegeln sich in der akribischen Recherche und der detailgenauen Darstellung der Ereignisse wider. Als erfahrener Autor historischer Romane gelingt es Eckstein, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken und dem Leser eine fesselnde Lektüre zu bieten. Für Liebhaber historischer Romane und Leser, die sich für die dunklen Kapitel der Geschichte interessieren, ist 'Die Hexe von Glaustädt' ein absolutes Muss. Eckstein vermag es, die düstere Atmosphäre der Hexenverfolgung mitreißend zu inszenieren und gleichzeitig tiefgründige Einblicke in die menschliche Natur zu geben. Dieses Buch ist nicht nur ein packender Historienroman, sondern auch ein kritischer Blick auf die Gesellschaft und ihre Umgangsweisen mit Andersdenkenden.

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Ernst Eckstein

Die Hexe von Glaustädt

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Am Ufer der Grossach, die das Glaustädter Weichbild nach Süden und Westen zu einfriedigt, standen ums Jahr 1680 vier oder fünf Landhäuser mit schönen baumreichen Zier- und Gemüsegärten. Das kleinste von diesen Landhäusern war seit vorigem Herbst Eigentum des gelehrten Magisters Doktor Franz Engelbert Leuthold, der, aus Glaustädt gebürtig, lange Zeit als Professor der griechischen und lateinischen Sprache an der Hochschule von Wittenberg Ruhm und Ehren gesammelt hatte, bis eine Meinungsverschiedenheit mit zwei ungestümen Kollegen ihm den Wunsch weckte, die neuerdings dornenvolle akademische Lehrthätigkeit aufzugeben und sich zu stillerem Dienste der Musen in seiner alten unvergessenen Heimat ansässig zu machen. Er wohnte jetzt hier mit seiner einzigen Tochter Hildegard und der ehrsamen Wirtschafterin Gertrud Hegreiner, die noch in Wittenberg zu Lebzeiten seiner verstorbenen Frau als Haushelferin bei ihm dienstbar gewesen und sich dann später an der Erziehung des Kindes redlich und mit gutem Erfolge beteiligt hatte.

Es war gegen Ende Mai, zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags. Die braungetäfelte Eckstube des Obergeschosses lag jetzt völlig im Schatten. Auf dem Eichenholzstuhl in der östlichen Fensternische saß die neunzehnjährige Hildegard Leuthold und drehte mit ihren rosigen Fingern den Faden eines lustig schnurrenden Spinnrads. Sie trug ein eng anschließendes hellblaues Wollkleid und eine schmale hellblaue Sammethaube. Unter der Sammethaube quoll reiches, lichtbraunes, welliges Haar hervor, das in zwei langen prächtigen Zöpfen schwer über den Rücken fiel. Glaustädt wußte noch nichts von der phantastischen Unnatur, die jenseit der Reichsgrenze jetzt eben anfing, in turmhohen Frisuren, panzerähnlichen Miedern und bauschigen Reifröcken zu schwelgen. Dank der unnachsichtlich gehandhabten Kleiderordnung des Magistrats herrschte in Glaustädt auf diesem Gebiet ein altfränkischer, konservativer Geist, der unzweifelhaft dem Anmutigen und Malerischen zu gute kam.

Um Hildegard Leuthold herum saßen auf niedrigen Holzschemeln drei Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, zwei freundliche flachsblonde Mädchen und ein starker, pausbackiger Knabe mit schwarzem Kraushaar und schalkhaften Blitzaugen. Hildegard hatte sich in den Familien der armen Kleinbürger und Handwerker, denen sie oft genug Gaben der Mildthätigkeit und Barmherzigkeit austeilte, just diese drei Lieblinge gewählt, um sie aus ganz besonderer Gunst und Freundschaft im Rechnen, Lesen und Schreiben zu unterrichten. Das machte ihr großen Spaß, und die Kleinen quälten sich gern und eifrig, da Fräulein Hildegard niemals in Zorn geriet, wohl aber stets nach Schluß der Lektion eine Geschichte dreingab, wundersam und erbaulich zu hören.

Auch jetzt war sie dabei, den Kindern eine »prachtvolle Mär« zu erzählen und zwar die ewig junge Geschichte von dem verzauberten Dornröschen. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, hatte den Schemel ganz dicht zu dem Fräulein herangerückt und schmiegte sich selbstvergessen und zutraulich an ihr Knie, während Rottmüllers Dorothea, die Hände im Schoß gefaltet, keinen Blick von dem lieblichen Mund verwandte, der so reizvoll und lebenswahr schilderte. Florian, der Sohn des Waldhüters, war vollends im neunten Himmel. Sein hübsches, offenes Gesicht glühte. Er hielt den Rand seiner Schreibtafel krampfhaft umklammert und lauschte wie ein Verzückter.

Als Hildegard schwieg, that er einen beklommenen Atemzug, legte die Tafel weg und sagte mit seltsam bewegter Stimme:

»So Schönes hast du noch nie erzählt. Das ist hundert mal herrlicher als die Geschichte vom wilden Schwan oder vom Däumling.

Dann fuhr er mit ernsthaft wichtiger Miene fort:

»Weißt du auch, was ich jetzt denke? Das Dornröschen muß genau so ausgesehen haben wie du! Die nämlichen langen Zöpfe, das gleiche liebe Gesicht, und so leuchtende Augen!«

»Ach? Leuchten die wirklich?« scherzte das Fräulein und strich dem begeisterten Buben über den Lockenkopf.

»Wundervoll!« beteuerte Florian.

»Nun, das macht wohl die Freude. Ich freue mich nämlich über die Maßen, wenn ihr so aufmerksam zuhört und so verständig lernt. Fahrt nur so fort! Dann erzähl’ ich euch nächstens was ganz Absonderliches, die Geschichte von der Entdeckung Amerikas.

»Die kenn ich!« versetzte Lore, die Tochter des Schuhflickers. »Aber das macht nichts! Wenn du was erzählst, dann klingt das viel schöner als von dem alten Großohm. Der hustet immer und weiß manchmal auch nicht weiter.

Rottmüllers Dorothea und der lebhafte Florian bestürmten jetzt Hildegard mit allerlei Fragen: Wie war das mit den zwölf weisen Frauen? Wohnten die auch in der Stadt, wo der König mit seiner Gemahlin wohnte? Oder lebten sie über den Wolken, wie manchmal die wunderthätigen Feen in andern Geschichten? Gab es denn überhaupt Feen? Der alte Großohm der Schuhflickers-Lore hatte gesagt, das wär’ heidnischer Unsinn und man erzählte das nur zum Spaß, aber Frau Rottmüller, die Mutter der kleinen Dorothea, meinte, dergleichen wäre doch ganz wohl möglich, so gut wie es Hexen und böse Zauberer gäbe … Und das mit dem hundertjährigen Schlaf? Könnte so was in Wirklichkeit vorkommen? Und die dreizehnte Fee? Das war wohl eine richtige Unholdin, die einen Pakt mit dem Teufel hatte?

Hildegard mühte sich, der eifrigen Wißbegier der kleinen Gesellschaft thunlichst gerecht zu werden. Das war nicht ganz leicht. Jede Antwort erzeugte hier eine Gegenfrage, die mitunter auf ein ganz anderes Gebiet übersprang. Hildegard aber verstand es, die wirr durcheinander fliegenden Einfälle immer wieder zu ordnen.

Sie hatte bis jetzt mit kurzen Unterbrechungen weitergesponnen. Nun aber schob sie das Spinnrad beiseite. Die Spindel war voll, und das immer lebhafter werdende Frage- und Antwortspiel mit den Kindern nahm sie ausschließlich in Anspruch. Die Schuhflickerstochter aus der Weylgasse kletterte ihr auf den Schoß und legte ihr zärtlich den rechten Arm um den Hals, was Florian, der Sohn des Waldhüters, von seinem Holzschemel aus nicht ganz ohne Neid beobachtete. Rottmüllers Dorothea hatte sich gleichfalls erhoben und schwatzte nun von den dreien am lautesten.

Mitten in dieses bewegliche Hin und Her trat urplötzlich die kurze, beleibte Gestalt der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Sie trug eine schneeweiße Flügelhaube, die nur einen schmalen Streifen des dünnen Haupthaars freiließ, ein schwarzbraunes, nicht sehr kleidsames Gewand und am Gürtel einen schwerklirrenden Schlüsselring.

»Verzeiht!« sprach sie zu Hildegard. »Viermal hab ich gepocht. Aber die Kinder da machen so einen Sündenlärm! Schlimmer als im Zigeunerlager!«

Die sonst so gutmütige Gertrud Hegreiner warf dem schwatzhaften jungen Volk, das sich so keck und vertraulich zu dem Fräulein herandrängte, einen recht feindseligen Blick zu. Sie konnte die drei nicht leiden. Denn erstens liebte sie selber die Tochter ihres würdigen Brotherrn abgöttisch und witterte mit leichtverletzlicher Eifersucht überall Nebenbuhler. Zweitens war sie der kleinlichen Ansicht, die vornehme Hildegard mit ihrem adligen Auftreten und ihrer glänzenden Bildung vergebe sich was, wenn sie den Kindern so untergeordneter Leute Unterricht im Schreiben und Lesen erteile. Und drittens schien ihr wenigstens Florian, der blitzäugige Bube des Waldhüters, dringend verdächtig, ein Schalk und ein nichtsnutziger Spötter zu sein, der vor dem Anblick der schneeigen Flügelhaube und dem Geklirre des Schlüsselbundes nicht den wünschenswerten Respekt fühlte. Ihr Mißtrauen hatte sich namhaft gesteigert, seit sie letzthin beim Schlafengehen auf der Matratze ihres jungfräulichen Lagers steinharte Erbsen entdeckt hatte, die nur Florian dort heimtückischerweise versteckt haben konnte. Gertrud Hegreiner begriff nicht, daß Hildegard Leuthold gerade an diesem gottlosen Bengel ein so großes Gefallen fand. Er lernte ja leicht, das stand so weit richtig, und behielt sogar die schwerem lateinischen Wörter, die ihn Hildegard neuerdings probeweise gelehrt hatte, aber das wog doch nicht den Mangel an Erziehung und die arge Respektlosigkeit auf, die schon am Ausdruck seines ewig lachenden und manchmal recht perfid blinzelnden Angesichts lag. Bei diesem garstigen Buben konnte sich Gertrud auf noch weit Schlimmeres gefaßt machen, als auf steinharte Erbsen.

Die ehrsame Wirtschafterin hatte also in etwas gereiztem Tone den Sündenlärm der drei Kinder mit dem wüsten Getreibe eines Zigeunerlagers verglichen. Hildegard aber nahm sich sofort ihrer Schützlinge an.

»I, was wollt Ihr?« sagte sie lächelnd. »Daran müßt Ihr Euch halt gewöhnen! Die kleinen Schelme sind hier ja nicht im Kloster! Mich für mein Teil freut’s, wenn sie alles recht lebhaft und frisch auffassen. Und Ihr selbst seid ja doch sonst keine Kopfhängerin!«

»Wohl! Aber alles mit Maß und Ziel! Ich denke so manchmal, ob’s den Herrn Vater nicht stört, wenn er da drüben bei seinen Folianten sitzt?«

»Ach, die Kinderstimmen! Die dringen doch nicht bis hinüber ins Arbeitszimmer! Geht, liebe Gertrud! Ihr habt wohl vergessen, wie laut wir beide zusammen gesungen haben, als ich noch klein war. ‚Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall’ und ‚Brause, du Sturm!’ und zwanzigerlei an einem Vormittag!«

»Ja, damals …«

»Streiten wir nicht! Sagt, was es giebt! Denn Ihr wolltet doch was?«

»Freilich. Die Fronbäuerin ist da, die von Lynndorf. Ihr hättet sie herbestellt. Zwar auf gestern. Aber da konnte sie nicht, wegen der Heuernte.«

»Gut. Laßt sie nur eintreten! Ihr Kinder, lebt denn für heute wohl! Das nächste Mal, wenn ihr hübsch fleißig gewesen seid, erzähl’ ich euch wieder Was!«

Sie schob das Spinnrad mit dem rosenfarbig umbänderten Wocken beiseite, zog jedes der Kinder zu sich heran und küßte es auf die Wange. Als sie den Knaben umschlang, barg er sein aufglühendes Antlitz an ihrer Schulter und raunte voll Zärtlichkeit:

»Ach, du herzige Hildegard! Ich hab’ dich so lieb, ich möchte dich gleich zehntausendmal auf den Mund küssen!«

»Das wär’ wohl ein bißchen viel!« sagte sie freundlich und küßte ihn noch einmal.

Die Kinder, die schon zu Anfang der Unterrichtsstunde gevespert hatten, bekamen noch jedes eine große Glaustädter Rundsemmel mit auf den Weg und wünschten nun auch der alten Wirtschafterin einen glücklichen Abend, wobei Florian eine recht sonderbare Verbeugung machte. Dann schlichen sie leise die Treppe hinunter. Hildegard hatte ihnen das oft genug eingeschärft. Da draußen durften sie weder hart auftreten, noch gar schwatzen und lachen, der Herr Magister studierte! Und sie nahmen gern Rücksicht auf den Vater ihrer geliebten Hildegard, auch ohne daß Gertrud Hegreiner den drohenden Finger zu heben brauchte. Während sie froh und frisch auf die Grossachstraße hinauseilten, nahm die Warschauerin, immer noch etwas verstimmt, ihren Weg nach der Küche und zankte zu ihrer Erleichterung mit der Dienstmagd Therese.

Inzwischen trat die Fronbäuerin von Lynndorf schon knixend zu Hildegard in die Stube. Die etwa dreißigjährige Frau, die aber aussah wie fünfzigjährig, trug die wenig kleidsame Landestracht, den miederartigen Mutzen und die fünf oder sechs übereinandergeschachtelten Faltenröcke, die kaum bis über das Knie reichten.

»Grüß Gott, und da wär’ ich!« sagte die Bäuerin. »Nichts für ungut!«

Sie trippelte vor, beugte sich nochmals tief und wollte Hildegards Hand küssen. Das Fräulein aber entzog sie ihr, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und sagte wohlwollend: »Stürzt Euch nicht weiter in Unkosten Lieselott! Und setzt Euch derweile! Ich hol’ Euch die Sachen!«

Die Bäuerin stammelte etwas wie »Schönsten Dank«, rückte sich einen der Holzschemel zurecht, ließ sich schwerfällig nieder und stützte das Kinn auf die Hand. Ihre Blicke hatten etwas Unruhiges, Angstvolles. Sie seufzte ein paarmal und griff sich dann nach dem Kopf, dessen spärlicher Haarwuchs in der Mitte des Wirbels fast nach Indianerart zusammengeflochten war. Die Glaustädter Volkssprache nannte dies rundliche Flechtwerk das Nest.

Nach kurzer Frist kam das Fräulein zurück. Sie brachte der Fronbäuerin die sich sofort erhob, ein kleines Paket, das in Leinwand geschlagen und mit hellrotem Bande verschnürt war. Das Antlitz Hildegards strahlte, wie sie der Bäuerin das Versprochene behändigte.

»Hier, Lieselott!« sprach sie mit herzgewinnender Freundlichkeit. »Nein, bleibt nur ein Weilchen noch rasten! Der Tag ist warm, und Ihr seid wohl ermüdet. Eh’ Ihr dann geht, eßt Ihr noch drunten am Küchentisch ein Süpplein oder ein Stück Lammbraten vom Mittag. Den Pack hier laßt Ihr hübsch zu, bis Ihr daheim seid. Es sind ein paar Jäckchen darin für Euer Jüngstes – selbst genäht, Lieselott – und ein Sonntagswams für den Großen. Dazu säuberlich eingewickelt etliche Weiß-Pfennige!

»Gott verlohn’s Euch vieltausendmal! stammelte Lieselott. Sie kriegte nun wirklich die Hand des Fräuleins zu fassen und preßte sie ungestüm an die Lippen. Dann seufzte sie wieder und blickte zaghaft zu Boden.

»Was fehlt Euch nur?« frug Hildegard teilnehmend. »Ihr gehabt Euch so merkwürdig, Lieselott!«

»Glaub’s wohl!« versetzte die Bäuerin. »Ist mir ein schöner Schreck in die Glieder gefahren! Seit mein Jörg selig damals vom Baum fiel und das Genick brach, hat’s mich nicht wieder so angepackt und so weidlich geschüttelt!«

»Ihr macht mir ja ordentlich bange. Was gab’s denn?«

»Ach, mein gütiges Fräulein, das ist grausig zu sagen! Gestern beim Heumachen auf der Gusecker Wiese … ich zittere noch, wenn ich nur daran denke. Wir waren zu dreien – die Hampacher Käth’ und ich und der Kleinweiler. Ihr wißt doch, der Kleinweiler, das ist der Ehewirt meiner Muhme.«

»Ja, ja, Ihr habt mir von ihm erzählt.«

»Gut also! Wir drei schafften dort auf der Gusecker Wiese. Und die Hitze war schwer, und wir hatten uns abgeschanzt von früh morgens um drei und waren schier kreuzlahm. Da mag’s ja wohl sein, daß dem Kleinweiler die Geschichte zu sauer ward, noch dazu es ja Fronarbeit war und nicht für ihn selbst. Aber deswegen brauchte er doch nicht … Freilich, das war ja schon längst … Und nun bei diesem verfänglichen Anlaß ist es herausgekommen! Gott der Barmherzige steh’ uns in Gnaden bei und helfe uns allen zu einem seligen Ende! Amen!«

»Ich verstehe Euch nicht. Was that denn der Kleinweiler?« Lieselott blickte verstört auf.

»Gotteslästerliche und sündhafte Reden hat er geführt und schandbar geflucht und wütend hinausgeschrieen: ,Der Teufel hole das Heu!’ Und wie das nun kaum über die Lippen war, da erhob sich ein Windstoß und führte das Heu weit hinweg in den Gusecker Bach, so daß die Hampacher Käth’ und ich dastanden wie vom Donner gerührt. Und war doch kein Wölkchen am Himmel zu sehen, und kein Sturm, weder vorher noch nachher. Da ward uns denn offenbar, daß der Kleinweiler, wie’s schon lang’ im Gerede ist, einen Pakt mit dem Bösen hat. Und diesmal hat ihn der Böse unklug verraten! Das meinte denn auch der Flurhüter, der just des Weges daher kam. Es war wie auf Kommando, der üble Wunsch – und augenblicklich das Heu fort! Der Kleinweiler selbst machte ein stierdummes Gesicht und glotzte uns an wie das leibhaftige böse Gewissen. Und der Flurhüter hat ihn denn richtig beim Glaustädter Malefikantengericht angezeigt. Heute bei grauendem Tag ist der Kleinweiler abgeholt und ins Stockhaus gebracht worden. Ach, mein gütiges Fräulein, ich sag’ Euch, die ganze Nacht über hab’ ich kein Auge zugethan! Wir sind doch mit ihm verschwägert, wenn auch nur weitläufig. So was fällt ja leider Gottes auf alle zurück, die zur Sippschaft gehören. Aber ich hab’ ihm nie recht getraut, dem Kleinweiler! Er war ja fleißig und manches gedieh ihm besser als allen Nachbarn. Jetzt weiß man’s, wem er sein Glück verdankt hat. Gott der Herr bewahre uns vor allen höllischen Anfechtungen.«

Lieselott mußte sich setzen. Die Kniee wankten ihr vor Erregung. Das Antlitz senkend, legte sie ihre bräunlichen Hände fest ineinander und murmelte ein kurzes Gebet.

Hildegard Leuthold war außerordentlich ernst geworden. Im regen Verkehr mit ihrem wackeren, verstandesscharfen und überall klarblickenden Vater hatte sie frühzeitig gelernt, den unseligen Zauberer- und Hexenwahn, der noch immer die Mehrheit der Zeitgenossen beherrschte, für das zu halten, was er in Wirklichkeit war – für ein trauriges Hirngespinst, das mit seinen uralt heidnischen Vorstellungen ebensosehr der gesunden Vernunft widersprach wie den Lehren und Anschauungen eines geläuterten Christentums. Gleichzeitig aber war sie auch zu der Erkenntnis gelangt, daß es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge äußerst gefährlich und überdies nutzlos sei, diese Meinung in Worte zu kleiden zumal hier, unter dem Scepter des Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich, der sich vollständig im Bann dieser verderblichen Zeitkrankheit befand und, von dem Hofmarschall Benno von Treysa und dem Geheimsekretär Schenck von der Wehlen beeinflußt, das Gelübde gethan hatte, das Hexen- und Zauberwesen in seinem Lande um jeden Preis mit Stumpf und Stiel auszurotten. Dies Bestreben des ehrlichen, aber beschränkten Fürsten war seit etwa sechs Monaten für Glaustädt – das größte Gemeinwesen der Landgrafschaft, das die landgräfliche Residenz Lich an Ausdehnung weit übertraf – ganz besonders lebhaft zu Tage getreten. Während bis dahin die einschlägigen Fälle vor dem gewöhnlichen Tribunal, dem Glaustädter Stadtgericht, zur Verhandlung gekommen waren, hatte der Landgraf seit vorigem Spätherbst einen bereits in anderen Staaten vielfach erprobten Hexenverfolger, den weit und breit gefürchteten Balthasar Noß, beauftragt, in Glaustädt einen besonderen Malefikantengerichtshof ins Dasein zu rufen. Dieser Gerichtshof, mit allen erdenklichen Machtvollkommenheiten und Privilegien ausgerüstet, arbeitete so streng und so grausam, daß man nachgerade von einer Art Schreckensherrschaft des Balthasar Noß reden konnte. Jedenfalls war es nicht ratsam, die Maßnahmen und Urteile des Blutgerichtes irgendwie zu bemängeln oder auch nur im allgemeinen die leisesten Zweifel an der Berechtigung des Hexenprozesses zu äußern. Beides hätte unfehlbar die peinlichsten Folgen nach sich gezogen. Man entsetzte sich nur im engsten Kreise, tadelte, wo man der Gleichgesinntheit und der strengsten Verschwiegenheit unbedingt sicher war, und hielt im übrigen an dem Grundsatz fest, im Zwiegespräch mit Fremden und Fernerstehenden die hier einschlägigen Fragen niemals zu streifen.

So unmittelbar wie jetzt war der Irrwahn des Zauber- und Hexenwesens niemals an Hildegard Leuthold herangetreten. Eine Sekunde lang kämpfte sie. Schon lag ihr ein Wort auf der Zunge, das die thörichte Fronbäuerin wahrscheinlich mit zagendem Grausen erfüllt haben würde. Aber zur rechten Zeit noch besann sie sich. Aendern konnte sie an dem Verhängnis, das den Kleinweiler so jählings ereilt hatte, doch nichts. Es wäre sonach der barste Wahnwitz gewesen, diesem abergläubischen Weiblein gegenüber Anschauungen zu offenbaren, die möglicherweise auf dem geradesten Wege vors Tribunal führen konnten. Sie erinnerte sich der Mahnsprüche ihres Vaters, der oft genug am Schluß einer bewegten Erörterung gesagt hattet »Wahre dich, Hildegard, und hüte dir allzeit die Zunge! Noch ist der Tag nicht gekommen, da unsereins frei reden darf, wie’s ihm zu Mute ist! Aber die Morgenröte wird aufdämmern trotz aller Finsternis. Bis dahin heißt es dulden und harren!

»Lieselott,« sagte sie endlich, »Ihr müßt nicht gleich so das Schlimmste denken! Vielleicht stellt sich trotz allem heraus, daß der Kleinweiler in der Hauptsache unschuldig ist. Die Redensart, die er gebraucht hat, widerspricht wohl dem zweiten Gebot, aber, du lieber Himmel, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms … Deshalb muß er noch lange kein Zauberer und Verleugner des Herrn sein. Die Ungeduld und der Zorn reißen den besten Menschen oft hin …«

»Aber das mit dem Windstoß! Das mit dem Windstoß! Ich sag’ Euch, mein herzliebes Fräulein, wie auf Kommando!«

»Ja, das ist wohl befremdlich und mag Euch von Grund auf verblüfft haben. Indessen – wenn sonst nichts wider ihn vorliegt … Der Zufall spielt ja im Leben oft wunderbar. Vielleicht war es auch eine Fügung des Himmels, der Euch und dem Kleinweiler zeigen wollte, solch übles Gefluche sei ihm allwege ein Greuel. Hört nur jetzt beileibe nicht gar zu viel auf das, was die Leute reden! Wenn einer im Unglück ist, nachher giebt’s immer Kluge und Ueberkluge die alles voraus gewußt haben.«

»Das kann ja wohl sein,« versetzte die Fronbäuerin nachdenklich.

»Und wenn Ihr befragt werdet,« fügte das Fräulein hinzu, »dann dürft Ihr erst recht nichts aussagen, was Ihr nicht ganz bestimmt wißt. Haltet nur streng an der einfachen Wahrheit fest und vertraut auf Gott. Wer weiß, wie bald sie den Mann wieder herausgeben? Kopf hoch, Lieselott!«

Hildegard, von dem Bedürfnis gedrängt, der Fronbäuerin etwas Mut einzusprechen, redete eigentlich neben dem Herzen her. Sie glaubte selbst nicht daran, daß der Prozeß vor dem Glaustädter Malefikantengericht die Schuldlosigkeit des verhafteten Bauern ergeben würde. Seit Balthasar Noß hier den Vorsitz führte, war eine Freisprechung oder gar eine Entlassung beim ersten Verhör noch nicht vorgekommen. Die gräßliche Praxis der Folter, die nirgends so zur Vollendung gediehen war wie bei den Hexenprozessen, sorgte dafür, daß die Gepeinigten alles, auch das Absurdeste, eingestanden, was die Blutrichter den unglücklichen Opfern aufhalsten. Und wenn wirklich einmal eine heldenhafte Natur von übermenschlicher Seelenstärke der unsäglichen Qual widerstand, so war es der Teufel, der dem Gemarterten diese Kraft verlieh, und gerade die Standhaftigkeit galt nun als Schuldbeweis. Verurteilt wurde auf jeden Fall, der Bußfertige wie der Unbußfertige, nur mit dem Unterschiede, daß Balthasar Noß die Bußfertigen erst mit dem Schwerte richten und dann verbrennen, die Unbußfertigen aber lebendig dem Holzstoße überantworten oder, wie der fachmännische Ausdruck lautete, einäschern ließ.

Lieselott spürte bei dem freundlichen Zuspruch Hildegards wirklich eine Art von Erleichterung. Man konnte nicht wissen … Gestern freilich hätte sie drauf geschworen … Und das war zu merkwürdig mit dem plötzlich daherbrausenden Windstoß. Indessen, was ein so vornehmes, kluges, gelehrtes Fräulein sagte, das schwebte doch wohl auch nicht so ganz in der Luft. Lieselott wollte jedenfalls abwarten, eh’ sie sich vollständig ihrem Gram überließ. Dazu war immer noch Zeit, und jetzt hatte sie vorläufig auch an sich selber zu denken, an die Schulden, die sie bezahlen, an die Kinder, die sie neu kleiden wollte. Für beides hatte das Fräulein so grundgütig gesorgt. Ach ja, das war ein leibhaftiger Engel, dem man sein Leid nur zu klagen brauchte, dann schaffte sie Abhilfe. Und so einfach war sie dabei, so natürlich und freundschaftlich, als wären die armen Fronbauern von Lynndorf recht ihresgleichen!

»Gott segne Euch!« sagte das Weiblein und nahm ihren Pack unter den Arm. »Auch für die schönen tröstlichen Worte von wegen des Kleinweiler. Und nun will ich Euch weiter nicht aufhalten.«

»Gehabt Euch wohl! Und geht zur Theres’ in die Küche, die weiß schon Bescheid! Auf glückliches Wiedersehen!«

Während die Bäuerin nach dem Erdgeschoß trippelte, um sich vom Küchenmädchen den zugesagten Imbiß reichen zu lassen, stand Hildegard einen Augenblick nachdenklich am Fenster. Vom Turm der alten Marienkirche bliesen die Stadtpfeifer und Zinkenisten jetzt eben in langgezogenen Tönen feierlich den Sechsuhrchoral, die schöne Weise des Lutherschen Kernliedes: »Ein’ feste Burg ist unser Gott.« Das Unheil, das dem fleißigen, braven Kleinweiler widerfahren war, und die gemeinsame Not aller Bürger von Glaustädt, wie sie in diesem einzelnen schier unglaublichen Falle so vorbildlich zum Ausdruck gelangte, hatte das weiche Gemüt des jungen Mädchens schwermütig gestimmt. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an den Jammer einer bedrohlichen Schreckensherrschaft. Das Alltägliche stumpft uns ab. Auch Hildegard Leuthold hing nicht lange den Kopf. Sie war neunzehn Jahre alt und blühend und lebenslustig. Als die Klänge des schönen Chorals verstummt waren, holte sie tief Atem und zuckte die Achseln. Wie Gott will! dachte sie mit der frohen Leichtblütigkeit der Jugend. Und wieder entsann sie sich der Trostesworte ihres geliebten Vaters: »Die Morgenröte wird aufdämmern, trotz aller Finsternis«. Sollte sie sich bis dahin ihr junges Leben vergällen lassen durch Dinge, die sie mit aller Kraft ihres Willens nicht bessern konnte?

2

Inhaltsverzeichnis

Als die Fronbäuerin, die sich1 vom Hausmädchen ihr Stücklein Braten hatte einwickeln lassen, rüstig über die Grossachbrücke dahinschritt, um jenseit des Flusses ihr heimatliches Dorf zu erreichen, nahm Hildegard aus der bläuliche Thonvase am Fensterbrett einige Maiblumen, steckte sie vor den Busen und ging dann hinüber nach dem Studiergemach, wo der weiland kursächsische Hochschullehrer Magister und Doktor Franz Engelbert Leuthold vor seinem wuchtigen Schreibtisch saß und, über ein stattliches Druckwerk in Großquart gebeugt, mit der sonst knirschenden Gänsefeder allerlei wissenschaftliche Auszüge und Notizen schrieb. Es war eine holländische Prachtausgabe des Marcus Valerius Martialis, die von kurzem in Leyden erschienen war und wegen verschiedener textlicher Ungenauigkeiten das kritische Mißvergnügen des Herrn Magisters herausforderte. Er selbst plante für nächstes Jahr eine gereinigte Neuausgabe des geistvollen Epigrammendichters und wollte in seiner lateinischen Vorrede dem wohlmeinenden Leser scharf auseinandersetzen, wie handgreiflich die so prunkvoll auftretende Leydner Ausgabe geirrt und somit eigentlich den Zweck einer derartigen Publikation miserabiliter verfehlt habe.

Hildegard klinkte vorsichtig auf, spähte hinein und wartete ein paar Augenblicke, ob der vertiefte Schreiber da in dem gerundeten Lehnstuhl sich nicht etwa umschauen würde. Da er sich aber nicht rührte, trat sie behutsam näher und fragte mit ihrer helltönigen Schmeichelstimme: »Macht Ihr nicht bald ein Ende, Vater? Der Abend ist herrlich.«

Franz Engelbert Leuthold wandte den Kopf.

»Nein, Kind,« versetzte er freundlich. »Diesmal mußt du dich schon mit der Gertrud Hegreinerin begnügen.«

Hildegard umschlang ihren Vater zärtlich und strich ihm das halb schon ergraute Haar aus der Stirn.

»Wirklich? Hat es denn gar solche Eile mit Eurem garstigen Epigrammendichter, den ein sittsames junges Mädchen nicht einmal lesen darf? Geht! Reißt Euch für heute doch los!«

»Unmöglich, mein Liebling! Ich bin jetzt gerade so mitten drin – und überdies einem Problem auf der Spur – ich sage dir, äußerst merkwürdig! Wenn ich da erst mal den Faden verliere … Was man nicht gleich beim Schopf nimmt, das entschwindet uns oft für immer. Geh’ in den Garten, Liebling! Oder auch meinetwegen ein Stückchen nach Grossheim zu. Die Landstraße ist ja noch leidlich belebt.«

»Wie schade!« rief sie, die Lippen ein wenig aufwerfend. »Ich geh’ nun so über die Maßen gerne mit Euch! Die Gertrud langweilt mich bei all’ ihrer Güte, und das Alleinlaufen … Aber Ihr sollt’s noch einsehn, Vater, Ihr thut Euch zu viel!«

»Ich fürchte das nicht. Diese Ausgabe des Martialis macht mir die größte Freude. Und was der Mensch so mit voller Lust thut, das geht wie von selbst. So, nun laß mich allein! Heut abend plaudern wir noch ein Stündchen. Ich erzähl’ dir dann wieder etwas von der schier ergötzlichen Dummheit meines Leydner Kollegen!«

»Ich freu’ mich darauf,« lachte das junge Mädchen. »Und seid mir nicht böse, wenn ich Euch jetzt in die Quere kam!«

»Böse? Kann man dir böse sein? Das wär’ ja nicht anders, als wollt’ ich dem Sonnenschein zürnen, der mir ins Zimmer lugt! Du hast’s gut gemeint, diesmal wie immer! Uebrigens – laß dich ’mal anschauen! Das blaue Gewand steht dir entzückend. Und hier die Maiblumen! Du hast recht, wenn du dich hübsch machst! Wäre ich ein Jüngling im sechsten Lustrum, und nicht dein alter vierundfünfzigjähriger Vater …«

»Ihr verderbt mich noch!« rief sie errötend. »Also auf Wiedersehn! Das wird wohl heute ein spätes Nachtmahl?«

»Kann sein, Kind! Wartet nur nicht auf mich! Denn, wie gesagt …«

»O, ich warte, und wenn’s bis Neun dauert! Ohne Euch schmeckt mir ja doch kein Bissen! Mag die Gertrud allein essen!«

Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und überließ ihn dann wieder seinem römischen Epigrammatiker. Franz Leuthold blickte ihr glückstrahlenden Auges nach und murmelte traumverloren:

»Ganz die selige Mutter! So lieb, so klug – und so edel, schön an Seele und Leib! Gott der Allgütige nehme sie immerdar in seinen gnädigen Schutz!«

Eine Weile noch sann er. Es war, als ob die Wehmut einer teuren Erinnerung ihn überwältigt hätte. Nur zögernd beugte der ernste, mildfreundliche Kopf mit dem stattlichen dunklen Bart sich über das Buch und das halb schon beschriebene Blatt, bis dann endlich Marcus Valerius Martialis über die weichherzigen Anwandlungen des Augenblickes den Sieg davontrug.

Inzwischen war Hildegard leichten Fußes die breite Holztreppe hinuntergeeilt. Wie sie ins Freie trat, schien sie noch unschlüssig. Der gepflasterte Weg vor dem Hauseingang führte links nach dem Garten, rechts auf die Grossachstraße. Ein schweres schmiedeeisernes Thor schloß hier das Grundstück ab. Nach kurzem Besinnen wandte sich Hildegard rechts und drehte dies Thor in den Angeln.

Die Straße war staubig. Hier und da stiegen im leichten Wind grauqualmende Wirbel empor. Das lockte nicht sehr. Weiter draußen war das vielleicht noch schlimmer.

Eben wollte das Fräulein wieder das Thor schließen und kehrt machen, als ein stattlicher junger Mann in schwarzer Gelehrtentracht des Weges daher kam und mit ehrerbietigem Gruß sein sammetenes Barett lüpfte. Der junge Mann war Doktor Gustav Ambrosius, ein Glaustädter von Geburt wie Hildegards Vater. Im vorigen Jahr, kurz vor der Wiederansiedlung des Magisters, hatte er sich in Glaustädt als Arzt niedergelassen, nachdem er zu Heidelberg und Bologna mit Auszeichnung seine Examina absolviert hatte. Als Sohn einer altangesehnen Familie – von der übrigens außer ihm selbst niemand am Leben war – hatte er bei den sogenannten Geschlechtern Glaustädts, den Patriziern, Ratsherren und Großkaufleuten rasch Eingang gefunden, zumal sich der sechzigjährige Honoratiorenmedicus am Lynndorfer Steinweg mehr und mehr von der Praxis zurückhielt.

Die Beziehung zu Leutholds fußte freilich auf anderer Grundlage. Der erste Stadtpfarrer von Glaustädt, Herr Melchers, ein Jugendfreund des Magisters und gleichzeitig ein guter Bekannter des Hauses Ambrosius, hatte den jungen Arzt aus rein geselligen Gründen bei Franz Engelbert Leuthold eingeführt, weil er voraussetzte, daß die beiden klassisch gebildeten, dabei aber einem heiteren Lebensgenuß keineswegs abholden Männer trotz der Verschiedenheit ihres Alters ganz besonders einander zusagen würden. An den Verkehr mit Hildegard hatte der ernste, oft von weltflüchtigen Anwandlungen heimgesuchte Stadtpfarrer bei dieser Einführung nicht gedacht. Um so angenehmer empfand Doktor Ambrosius die unerwartete reizvolle Zugabe.

Der junge Arzt kam aus dem Nachbarhaus, dem altertümlichen, burgähnlichen Bau mit dem runden Turm und dem stattlichen Wehrgang. Hier wohnte seit etlichen Jahren der Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend, der reichste Mann in der ganzen Landgrafschaft Glaustädt-Lich. Henrich Lotefend hatte sich letzthin ein Fieber geholt, das ihn mehrere Tage bettlägerig machte und anderthalb Wochen hindurch an die Stube fesselte. Jetzt war der Patient wieder so gut wie hergestellt. Doktor Ambrosius hatte ihm nur noch ein paar Verhaltungsmaßregeln für die nächste Zukunft erteilt und dann auf dem rebenumwachsenen Altan einen Krug Aßmannshäuser mit ihm auf sein ferneres Wohlergehen geleert.

Hildegard nahm es nicht unhold auf, daß Doktor Gustav Ambrosius sie ansprach und während der fünf Minuten, die er so plaudernd am Thor verblieb, das von Herrn Lotefend und mancherlei anderes erzählte. Der junge Mann, der niemals die Form verletzte und doch etwas ungewöhnlich Freies und Frisches besaß, war ihr vom ersten Tag an sympathisch gewesen. Und so stand sie ihm freundlich Rede und zierte sich nicht, obschon die rein zufällige Begegnung am Thore leicht von üblen Gevattersleuten hätte mißdeutet und verklatscht werden können.

Endlich sagte sie doch mit artigem Kopfneigen:

»Aber ich halte Euch auf. Eure Zeit ist gemessen …«

»Zu deutsch: Ihr entlaßt mich!« scherzte der Arzt. »Ich muß recht sehr um Entschuldigung bitten. Ich hätte das sehen sollen, Ihr wart im Begriff, einen Gang zu machen.«

»Anfangs, ja,« entgegnete Hildegard. »Ich dachte ein Stücklein hinauszuwandern bis zum Grossheimer Forste. Aber wie ich den Staub sah, hab’ ich mich anders besonnen. Und wenn ich von Eurer gemessenen Zeit sprach, mein’ ich’s im Ernste. Ganz Glaustädt weiß ja, daß Ihr jetzt schier überlastet seid.«

»Freilich. Aber man gönnt sich doch auch bei Gelegenheit einen Ausspann. Nun, der heutige Tag hat allerdings noch mehrfache Anforderungen. Der Fieberfall des Herrn Lotefend ist nicht der einzige. Es liegt so was in der Luft. Darf ich Euch bitten, vielehrsame Jungfrau, mich Eurem werten Herrn Vater freundschaftlichst zu empfehlen? Und nun – ich grüße Euch!«

Er lüpfte von neuem sein dunkles Sammetbarett und bot ihr die Hand. Hildegard Leuthold schlug ohne Zimperlichkeit ein, sagte: »Vergnügten Abend!« und drückte das schmiedeeiserne Thor langsam ins Schloß. Während Ambrosius brennenden Angesichtes stadteinwärts ging, nahm sie ihr blaues Gewand zierlich empor und schritt an der Hausthüre vorbei nach dem Garten.

Dieser Garten, zum Teil aus Nutzbeeten, zum Teil aus Parkanlagen im Stil von Versailles bestehend, umfaßte vier oder fünf Morgen Landes zwischen dem Haus und der Grossach. In seiner Mitte befand sich ein kleines Granitbecken mit zahllosen Goldfischen. Ueber die Hecke am Südrand sah man hinüber in die ähnlich hergerichteten Nachbargärten.

Dort oben auf dem rebenumrankten Altan saß noch immer der steinreiche Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend. Er grüßte herunter. Hildegard Leuthold verneigte sich. Die Leutholds hielten mit Henrich Lotefend und seiner Gattin Mechthildis freundnachbarlichen Verkehr. Hildegard fand den sechsundvierzigjährigen Mann, der so überaus launig von seinen Fahrten und Abenteuern in Frankreich, Italien und Oesterreich zu erzählen wußte, sehr unterhaltsam und fühlte sich von seiner väterlich wohlwollenden Art recht angezogen. Mehr als einmal, wenn sie den Goldfischen Futter gab oder bei ihren Beeten zu thun hatte, war der immer noch stattliche Herr langsam zur Weißdornhecke getreten, hatte ihr eine Weile nachdenklich zugeschaut und dann ein Gespräch mit ihr angeknüpft, in dessen Verlauf sie wohl ihre augenblickliche Arbeit vergaß und zutraulich näher kam. Henrich Lotefend kümmerte sich schon längst nicht mehr um sein großartig blühendes Tuchgeschäft. Er hatte nur noch den Hauptanteil am Erträgnis und lebte im übrigen ganz seinen Liebhabereien, besonders der Alchimie und der Erdkunde. Auch trieb er ausgiebige Blumenzucht, wie er denn überhaupt ein großer Freund der Natur war. Hildegard bedauerte jetzt im stillen daß der lebhafte, warmherzige Mann, der im Winter so eifrig für das Erwachen des Frühlings geschwärmt hatte, bei so herrlichem Maiwetter zur freudlosen Haft in der Krankenstube verurteilt gewesen. Eigentlich mußte sie doch den Aermsten zu seiner Wiedergenesung beglückwünschen. Jetzt eben wollte sie ihm ein artiges Wort hinaufrufen. Aber da war er bereits im Innern des Hauses verschwunden. Nun, dann morgen vielleicht!

Der halb unbewußte Entschluß, den Hildegard Leuthold vorhin schon gefaßt hatte, als sie den wirbelnden Staub der Landstraße wahrnahm, wurde jetzt ohne Verzug ausgeführt. Wenn sie hier auf der Borkenbank saß oder dort unter den Laub-Arkaden, dann konnte sie fest darauf rechnen, daß in kürzester Frist Gertrud Hegreiner mit ihrem rothbraunen Gartenspinnrad neben ihr Platz nehmen und ihr allerlei vorjammern würde über die Ungeschicklichkeit des Hausmädchens Therese oder die jüngsten Streiche des kleinen Florian. Hildegard hatte die brave Wirtschafterin ja herzlich gern, aber seit einiger Zeit war sie gegen den merkwürdigen Hauch von Kleinlichkeit und Poesielosigkeit, den Gertrud ausströmte, empfindlicher als sonst. Sie fühlte bestimmt, Gertrud Hegreiner paßte nicht recht in die Stimmung dieses wonnigen Maiabends.

Hildegard Leuthold schritt also geradeswegs auf das Ufer der Grossach zu. Die schwarzgrün gestrichene Lattenthür öffnend, stieg sie die unregelmäßigen Stufen einer bemoosten Steintreppe hinab. Hier lag an dem eisernen Ringe der Strandmauer ein zierliches Boot. Hildegard zog das Fahrzeug her, sprang elastisch hinein und löste die Kette. Dann ergriff sie die Ruder. Mit sicherer Hand trieb sie die kleine Gondel an den Landhausgärten vorüber, dem Lynndorfer Gehölz zu, wo sich die Grossach, in östlicher Richtung abbiegend, zwischen den hochragenden Stämmen uralter Eichen, Buchen und Linden verlor.

Hildegard schwelgte bei dem geruhigen Gleiten auf den hellblinkenden Flußwellen. Die Häuser da links, vom Goldglanz einer funkelnden Sonne bestrahlt, zogen dahin wie flammende Traumbilder. Hier und dort hing über die leuchtenden Strandmauern ein märchenhaft flimmernder Birkenzweig oder das üppige Blattwerk vorquellender Weinranken, die bis hinab in die Flut tauchten. Aus dem letzten der Gärten scholl fröhlicher Kinderlärm und leise Musik. Dann allmählich ward eine tiefe, heilige Stille ringsum. Es war wie die Vorahnung der nahen Waldeinsamkeit. Und nun legten sich breit die ersten Baumschatten über den Fluß. Der Forst that sich auf mit seinen hehren domartigen Wölbungen. Rechts und links wogten die Binsen oder blühten zu vielen Tausenden die Vergißmeinnichtblumen.

Durch eine Lichtung am Südufer sah man die fernen Ziegel- und Strohdächer von Lynndorf. Bläulicher Rauch kräuselte sich über den Schornsteinen. Das lag so schmuck und traulich im Sonnenschein, als gäbe es dort weder Sorge noch Elend. Hildegard dachte des unglücklichen Fronbauern, der so unerwartet sein Dörfchen am Waldesrand mit dem Kerker des Stockhauses vertauscht hatte. Tiefes Mitleid erfaßte sie und ein bängliches Weh. Dann aber schob sich das hundertjährige Eichengehölz wieder vor … mit Gewalt riß sich ihr starkes Herz von den trüben Gedanken los. Hier draußen herrschte der wahre himmlische Gottesfriede. Fort also mit aller Trübseligkeit! Der Mai war so kurz, und kurz wie der Mai war die Jugend, ja das ganze menschliche Dasein. Vita nostra brevis est – kurz ist unsre Lebenszeit – hieß es in dem schönen Studentenlied, das man dem Vater beim Abschied von Wittenberg unter den Fenstern gesungen. Sie ruderte frisch weiter, doch ohne sich anzustrengen. Das Wasser plätscherte kaum vernehmlich am Kiel, einschläfernd wie ein leise gesummtes Wiegenlied. Die Maiblumen an ihrem Busen dufteten süß, obgleich sie schon etwas die Kelche senkten. Zwei Rehe traten äsend zwischen den Hochstämmen des Ufers hervor. Beim Nahen der Gondel hoben sie langsam die feinen Köpfe und äugten wie neugierig nach dem schönen Mädchen da in dem gleitenden Fahrzeug. Aber sie flüchteten nicht.

Jetzt war Hildegard an die schönste Stelle des ganzen Flußlaufes gelangt. Die Grossach beschrieb hier abermals eine Wendung und sah daher aus wie ein stiller weltabgeschiedener Teich, vom Walde umfriedet wie eine Edelperle von ihrer Muschel. Der Platz lud unwiderstehlich zum Schwärmen und Träumen ein.

Das war heute zum erstenmal, daß Hildegard so weit ins Gehölz vordrang. Ganz hingerissen von diesem wunderherrlichen Bilde, entschloß sie sich, hier eine Weile zu rasten. Sie trieb ihren Kahn mit einem kräftigen Anprall seitwärts, so daß die Kielspitze weit am niedrigen Ufer hinanfuhr. Nachdem sie zum Ueberfluß noch die eiserne Kette um den Strunk einer abgebrochenen Weide geschlungen, streckte sie sich in der vorderen Hälfte der Gondel behaglich aus, legte die Hände unter das blaue Sammethäubchen und überließ sich im Anblick der leise bewegten Wipfel einem unsäglichen Wohlgefühl.

Zehn Minuten hatte sie so geruht, als der gedämpfte Schall heraneilender Schritte sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte. Sie kannte zwar keine Furcht. Wertsachen trug sie nicht bei sich. Ihr einziger Schmuck war die Handvoll Maiblumen, die ihr am Mieder dufteten. Auch galt die Umgebung Glaustädts ja seit Vernichtung der großen Räuberbande im Vogelsberg für vollständig sicher. Dennoch fuhr Hildegard Leuthold zusammen. Es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, wie außerordentlich einsam es hier an den Ufern des Flüßchens war, und wie es doch immerhin möglich blieb, daß irgend ein Landstreicher diese Einsamkeit ausnutzte, um ihr mit einer trotzigen Bettelei aufdringlich zu werden. Die Verbindungsstraße der nächsten Dörfer lag weiter südwärts jenseit der Grossach, die Spaziergänger aber hielten sich mehr nach der Stadt zu, im nördlichen Teil des Gehölzes, wo es gut angelegte Fußwege und ein beliebtes Wirtshaus, die sogenannte Waldschenke, gab.

Hildegard Leuthold hatte sich aufgerichtet, um nötigenfalls rasch die Kahnkette lösen und vom Ufer abstoßen zu können. Da gewahrte sie über dem Erlengebüsch den Kopf und die Brust eines vornehm gekleideten Mannes, den sie sofort als ihren Hausnachbar, den reichen Tuchkramer und Ratsherrn Henrich Lotefend erkannte. Die wohlgewachsene, breitschultrige Gestalt kam weitausschreitend daher und bekundete beim Anblick Hildegards eine freudige Ueberraschung. Lotefend trug ein kostbares violettrotes Wams vom feinsten flandrischen Tuch, mit allerlei modischen Bändern besteckt, dazu Kniehosen von dem nämlichen Stoff und blanke, schnallengeschmückte Halbschuhe. Er verbeugte sich tief, nahm den breitkrämpigen Ratsherrnhut von der Stirn und rief mit gutmütig klingendem Baß:

»Gott sei Dank, daß ich Euch endlich einhole, vielehrsames Fräulein! Von meinem Laboratorium aus gewahrte ich, wie Ihr pfeilschnell dahinfuhrt, konnte Euch aber mit Worten nicht mehr erreichen. So bin ich Euch nachgegangen. Verzeiht, aber Ihr scheint mir unvorsichtig!«

Die Art des Mannes hatte bei dieser Ansprache etwas merkwürdig Gewinnendes und Vertrauenerweckendes.

»Unvorsichtig? Weshalb?« frug Hildegard Leuthold, ein wenig verblüfft.

»Nun, fürchtet Ihr nicht – Ihr, ein zartes und hilfloses Mägdlein – daß irgend ein Strolch und Gaudieb Euch übel zusetzen möchte, wenn Ihr so schutzlos in diese Wildnis hinausrudert? Ich weiß, Ihr liebt diese Strecke, und bisher mocht’ es auch angeh’n. Neuerdings aber zeigt sich in der Gegend von Lynndorf wieder allerlei fahrendes Volk. Zumal eine Rotte Zigeuner. Dergleichen Gesindel ist von unglaublicher Frechheit. Und Ihr, meine junge Freundin, seid nicht bewaffnet wie ich.

Er wies ihr den Griff einer schwedischen Reiterpistole, die er links in der Brusttasche trug.

Hildegard fuhr zusammen. Der Anblick der silberbeschlagenen Schußwaffe wirkte sofort auf ihre Einbildungskraft.

»Im Ernst?« fragte sie stammelnd. »Davon wußte ich nichts.«

»Nun, der Rat macht eben kein Aufhebens davon, da die Spitzbuben noch nicht diesseit der Grossach aufgetaucht sind. Man will die Gemüter in Glaustädt nicht vor der Zeit beunruhigen. Vielleicht auch packt man sie ehestens und schiebt sie ins Dernburgsche ab. Immerhin droht Euch hier unleugbar ernste Gefahr. Bedenkt doch, wie nah’ ’s zum Gebirg ist. Wenn Euch sonst gar nichts geschähe, als daß man Euch fortschleppte, um von Eurem Herrn Vater ein tüchtiges Lösegeld zu erpressen …«

Henrich Lotefend übertrieb. Es hatte sich allerdings letzthin bei Lynndorf und Königslautern ein Trupp Zigeuner gezeigt, aber die Leute hatten den Bauern nur im Vorbeigehen etliche Hühner gestohlen und waren dann aus wohlbegründeter Furcht vor der Strenge der Glaustädter Hermandad weiter gezogen über die nahe Grenze. Nur ein sechzig- bis siebzigjähriger Nachzügler war gestern ertappt worden, wie er den Inhaber eines Gehöfts unweit von Koßwig um einen Trunk anging. Hildegard Leuthold indessen war ängstlich geworden. Seltsame Abenteuer fielen ihr bei, die Gertrud Hegreiner in der Kinderstube zu Wittenberg ihr erzählt hatte, und die lebhafte Phantasie des jungen Mädchens spann sich mit einem Male die buntesten Möglichkeiten zurecht. Es war doch ehrlich und wacker von diesem Herrn Lotefend, daß er sich ihrer Unklugheit so freundschaftlich annahm.

»Wenn ich Euch raten soll,« fuhr der Tuchkramer nach einer Pause fort, »so bedient Ihr Euch jetzt meiner Begleitung.«

»Ja? Wollt Ihr zu mir in den Kahn?«

»Dergleichen darf ich nun leider Gottes nicht wagen. Der Arzt verbietet’s. Doktor Ambrosius hat Euch ja wohl gesagt was ich mir letzthin zugezogen. Ein bösartiges Fieber. Und abends steigen vom Wasser hier allerlei Dünste empor. Denen setzt sich ein eben Geheilter nicht so ungestraft aus. Aber Ihr könntet ja Euern Kahn getrost hier an dem Baum lassen und mit mir zu Fuß gehen. Heimlich entwendet wird Euch das Boot nicht. Das wäre doch keinem zu Nutz’. Der Dieb, der es dann führe, wäre gar leicht gegriffen.«

Der Zufall wollte, daß jetzt ein geller Pfiff durch die Luft scholl, wie wenn aus der Ferne ein Thunichtgut seinem lauernden Spießgefährten ein Zeichen giebt. Es war vielleicht ein harmloser Fuhrknecht unweit der Waldschenke, oder ein Fischer drunten am Einfluß des Glaubaches. Für Hildegard aber entschied dieser Pfiff, der ihr seltsam beängstigend auf die erregten Nerven fiel. Sie nagte ein wenig die Lippe, faßte den Weidenstumpf bei dem obersten Knorren und sprang kurz entschlossen ans Ufer.

»Ich dank’ Euch, Herr Lotefend!« sagte sie atemholend. »Ihr mögt ja schon recht haben; wenn das Schicksal es wollte, wär’ ich da auf dem schmalen Fluß, der nicht einmal tief ist, kaum vor Angriffen sicher. Morgen schick’ ich den Gärtner und lasse das Boot heimholen. Bis dahin ruht’s ja wohl sicher. Aber das ist doch bedauerlich, daß man dies üble Vagantenvolk nicht besser im Zaume hält. Ich rudre so gern!«

»Ist auch ein wundervolles Vergnügen, zumal in der Sommerszeit. Hätt’ ich nicht mein verwünschtes Fieber gehabt …«

»Das nächste Mal fahr’ ich der alten Haardt zu. Da ist man im freien Feld, zwischen den Aeckern und Wiesen.«

»Ihr werdet wohl daran thun. Freilich, so schön wie im Lynndorfer Hochwald ist’s ja da draußen nicht. Aber das Sprichwort hat recht: Besser bewahrt als beklagt.

Hildegard schlang die Kette noch fester und schob dann die Maiblumen zurecht, die sich bei ihrem Bücken ein wenig gelöst hatten. Nun glättete sie ihr lichtblaues Gewand, hob es ein wenig und schickte sich an, dem freundlich dreinschauenden Ratsherrn zu folgen.

3

Inhaltsverzeichnis

Eine Minute lang gingen die Zwei auf dem grasüberwachsenen Uferweg nebeneinander her, ohne zu reden. Hildegard Leuthold schwieg, weil sie ernsthaft darüber nachsann, wie rasch doch in menschlichen Dingen der Umschwung eintrete. Kaum erst die schöne, vertrauensselige Ausfahrt und dann plötzlich das schnöde Gefühl der Unsicherheit und das Bewußtsein, leichtsinnig und thöricht gehandelt zu haben. Henrich Lotefend schwieg, weil ihn die Nähe des herrlichen jungen Mädchens hier in der stillen Waldeinsamkeit unwiderstehlich berauschte. Wenn Hildegard ihn besser beobachtet hätte, sie würde bemerkt haben, wie seine Faust die den langen goldknöpfigen Stock hielten, leise erbebte und nur allmählich fester und sicherer ward.

Nach einer Weile begann Herr Lotefend mit warmer, tieftöniger Stimme:

»Es ist lange schon her, vielehrsame Jungfrau, daß wir beide uns nicht gesehen haben. Ich preise es hoch, daß mich der erste Ausgang alsbald mit Euch, meiner liebwerten Freundin, zusammenführt.«

»Bin ich das wirklich?« fragte das junge Mädchen aufblickend. »Habt Ihr Freundschaft für mich?«

»Aus tiefstem Herzen!« beteuerte Lotefend. »Irgend ein Wesen muß doch der werbliche Mensch haben, dem er in echten selbstloser Teilnahme anhängt.«

»Wie gütig von Euch, daß Ihr mir so verschwenderisch Eure Gunst schenkt! Ich weiß gar nicht, womit ich das alles verdient habe. Indes – auch ich darf Euch bekennen, Ihr seid mir ein werter Freund und Nachbar, dem ich von Grund aus wohl will. Ja, wie soll ich nur sagen …? Ihr habt so eine kurzweilige, frische Art. Nicht so schwer und geschraubt wie andere Männer von Eurer Stellung und Eurem Lebensalter. Ich glaube, das kommt daher, weil Ihr so klug seid und so manches geschaut habt.«

»Ihr schmeichelt mir,« sagte der Ratsherr. »Ich dünke Euch frischer und kraftvoller als andere – nicht, weil ich klüger oder erfahrener bin, sondern weil ich mir allzeit ein warmes, empfängliches Herz bewahrt habe. Die Jugendlichkeit hängt nicht von den Jahren ab. In mir lebt etwas, teure Hildegard, was mit Eurem Wesen verwandt ist. Wenn ich Euch sehe und höre, fühl’ ich mich ganz und gar wie ein junggrüner fünfundzwanzigjähriger Fant. Und – ehrlich gesagt – ich glaube jetzt fast, ich habe mich deshalb so jung erhalten, weil ich doch eigentlich niemals recht jung gewesen bin.«

Hildegard schaute verwundert in sein aufglühendes Antlitz. Er schien ihr seltsam verwandelt. Die schwarzbraunen, langbewimperten Augen sprühten und funkelten.

»Ich verstehe Euch nicht«, sagte sie treuherzig.

Der Ratsherr ließ den Kopf schwer auf die Brust sinken. Bei all seiner echten und tiefen Erregung lag etwas Schauspielerisches in dieser Gebärde, eine Absichtlichkeit, die selbst der ahnungslosen Hildegard fremdartig bedünkte.

»Ja, ja«, sagte er trübselig, »Ihr kennt mich noch nicht. Weder mich, noch mein Schicksal. Ach, was gäb’ ich darum, Euch endlich einmal dies Schicksal erzählen zu dürfen! Wahrheitsgetreu, nicht so wie es die Bosheit der Neidlinge und Verleumder entstellt«.

Der Weg hatte sich einige Ellen weit von dem Flußlauf entfernt. Rechts im Dickicht lag ein gefällter Eichenstamm.

»Ich bin doch etwas ermüdet,« fuhr der Tuchkrämer fort. »So es Euch recht ist, ruh’n wir uns hier ein paar Minuten lang aus. Wir kommen ja immer noch reichlich vor Dunkel heim.

»Wenn Ihr meint …«

»Ich wär’ Euch zu Dank verpflichtet. Das böse Fieber nimmt auch den Rüstigsten mit. Und heut’ ist mein erster Ausgang.«

Sie setzten sich.

»Ja, vielteure Freundin,« hub Lotefend an, »ich muß Euch von neuem betonen, wie es mir wohlthut, endlich einmal wieder Euch nahe zu sein. Ihr habt mich ja schier versterben lassen, ohne Euch um den Siechen zu kümmern.«

»Da irrt Ihr Euch nun. Mehrfach hat man zu Euch hinübergeschickt und sich erkundigt. Auch hörten wir ja von Doktor Ambrosius, daß Ihr nach kurzer Frist außer Gefahr kamt. Uebrigens hätt’ ich Eurer liebwerten Gemahlin gern einmal selbst aufgewartet, aber mein Vater verbot es. Ihm bangte vor der Möglichkeit einer Ansteckung. Ihr wißt ja, wie zärtlich er für sein Kind sorgt!«

»Das bedachte ich nicht. Euer verehrungswürdiger Vater hat recht, wenn er ein solches Kleinod hütet wie seinen Augapfel. Hätt’ ich das Glück, eine Tochter wie Euch zu besitzen oder gar solch’ ein Eheweib, ich wäre genau so.

Schweigend blickte er eine Zeit lang zu Boden, während die staunende Hildegard mit dem halbdürren Laub eines heruntergebrochenen Astes spielte. Dann plötzlich fuhr er mit unheimlich raunender Stimme fort.

»Wie Ihr mich seht, Hildegard, bin ich der trostloseste Mensch unter der Sonne.«

»Sprecht Ihr im Ernste?«

»Wie sonst? Warum fragt Ihr?«

»Nun, bis jetzt hatte ich just den entgegengesetzten Eindruck. Ich sagt’ Euch ja schon vorhin, allezeit fand ich Euch fröhlich und aufgeräumt.«

»Ja, bei Euch, im Haus Eures Herrn Vaters oder sonst in Gesellschaft. Das hindert nicht, daß ich daheim in meinen vier Pfählen tiefunglücklich bin. Teure Hildegard! Ihr seid jung wie ein Maitag, und die Welt steht Euch offen. Ihr ahnt nicht, was das heißen will, ein ödes, verfehltes Leben.«

»Aber ich bitte Euch! Ihr, Ihr hättet Euer Leben verfehlt? Der reichste und angesehenste Kramer von Glaustädt, dem alles auf Erden vollauf nach Wunsch gediehen, der einflußreiche, geachtete Ratsherr …«

»Das Aeußere thut’s nicht allein. Ich gleiche dem Vogel im vergoldeten Käfig. Die innere Qual übersteigt jede Beschreibung.«

Hildegard fühlte sich merkwürdig beklommen. Der Ton, in dem dieser Mann sprach, schien mit voller Naturgewalt aus der Tiefe eines todwunden Herzens zu quellen. Und dennoch, wenn sie erwog, wie daseinsfreudig und kernhaft er sonst gewesen ….

»Aber was fehlt Euch denn?« platzte sie endlich heraus.

»Selbstverschuldetes Elend!« sagte er leise. »Habt Ihr das nie gemerkt, trotz aller Mühe, die ich mir gab, es geheim zu halten? Freilich, Ihr seid erst neunzehnjährig und ahnt noch nichts vom Jammer der Menschheit. Glaubt mir, es ist die Hölle auf Erden, einem Weib anzugehören das man nicht liebt!«

»Ich begreife Euch nicht. Eure Ehe mit Frau Mechthildis wäre nicht glücklich? Aber bis jetzt hörte ich immer das Gegenteil. Und weshalb, ich bitt’ Euch, erzählt Ihr das alles mir, einer Jungfrau, die noch so wenig erfahren ist?«