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Erinnerungen an „Die Heylstraße“ in den 1960er und 1970er Jahren Mit dieser Geschichte reist die am 8. Juli 1960 in Gelnhausen geborene Autorin Carmen Erlenbach, geb. Hitzemann, gedanklich in ihr liebenswertes Dorf von einst. Haus für Haus schreitet sie ab dem ehemaligen Autohaus Geiger mit der damals angegliederten ESSO-Tankstelle an der Gelnhäuser Straße die Heylstraße im Geist ab. Persönliche Erinnerungen kehren zurück – unter anderem an inzwischen verstorbene und noch lebende Altersgenossen, Bauernhöfe, Geschäfte, Fachwerkhäuser, das Backhaus, das Läuthäuschen und viele Vierbeiner, mit denen das Mädel gut Freund war. Aber auch an verschiedene Streiche erinnert sie sich. Carmen Erlenbach war als Tochter von Willi und Irma Hitzemann, die einst in erster Ehe unter dem Nachnamen Ostermann ein Frisörgeschäft in Hailer unterhielt, bis zum 14. März 1979 in der Heylstraße 19 zu Hause. Das Anwesen gehörte damals Lina und Heinrich Weber, die in dem heutigen Wohnzimmer des Elternhauses der Autorin eine Spezerei unterhielten. Vor einigen Jahren ging das Haus in den Besitz ihres Vaters und seiner zweiten Frau Marion über. Willi Hitzemann hat das Anwesen mit dem markanten Torbogen seither liebevoll restauriert. 1993 zog Carmen Erlenbach aus beruflichen Gründen in das Rhein-Main-Gebiet. Dort ist sie seither als freiberufliche Journalistin und Pressefotografin tätig. Ihre neue Wahlheimat ist seit dem 1. April 2000 die Stadt Raunheim in der direkten Einflugschneise des Frankfurter Flughafens. Oft und gerne kehrt sie in die Heylstraße nach Hailer zurück.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Carmen Erlenbach
Die Heylstraße
Mit einhundertdreißig Sachen über die Autobahn – durch Baustellen, vorbei an einem Unfall auf der A3 in Höhe des Frankfurter Flughafens. Mit jedem Meter, den sich die Räder meines Autos drehen, bringen sie mich meinem Dorf ein Stück näher. Überholen und einscheren. Bei Hanau auf die B45. Den Tacho im Auge behalten, maximal hundert Stundenkilometer sind erlaubt bis zum Übergang auf die A66 Richtung Fulda.
Herrschte auf der A3 als zweistärkst befahrener Autobahn in Deutschland noch reger Verkehr, so ist es auf der B45 schon wesentlich ruhiger. Auf der A66 in Richtung Heimat ist fast gar nichts mehr los auf der Fahrbahn. Bei der A66 beginnt für mich die Provinz. Mit jedem Kilometer der insgesamt rund achtzig, die ich zurücklege, fühle ich mich der Heimat ein Stück näher. Dabei schlüpfe ich wie durch eine Tür aus der Rhein-Main-Gegend in eine andere Welt. Eine Welt, die mir einst so vertraut war, in der ich zu Hause war, die sich – wie alles auf Erden – jedoch verändert hat.
Bei Langenselbold tauchen sie auf: Die ersten hohen Weiden entlang des Flüsschens Kinzig, saftige Wiesen und mittendrin ein kleiner Flugplatz. Wenige Meter weiter, an Rothenbergen und Lieblos, vorbei schaue ich rechts auf den mit dunklen Tannen bewachsenen Berg „Heiligkopf“ über Hailer und Meerholz. In den Wiesen rechts der A66 spaziert dann und wann ein Storch. Es ist Glück, einen zu entdecken.
Wieder ein paar Meter weiter erblicke ich links von mir endlich mein Gelnhausen. Dort liegen am Hang mein verschlafenes Fachwerkstädtchen, wo ich geboren bin und die Schule besuchte, die hohe und alles überragende Marienkirche aus rotem Sandstein sowie in der Wiese der kleine Sportflugplatz.
Während sich die Räder meines Autos weiter drehen, schaue ich nach rechts von unten auf mein Dorf Hailer, das auf der anderen Seite des Kinzigtals am Hang liegt. Ich erkenne den Bahnübergang vom Dorf zur Wiese, alte, hohe Pappeln und Weiden sowie die Wege, die ich einst als Kind so gerne mit meinem rot-weißen Fahrrädchen befuhr. Dort pflückte ich für meine Mama stets Blumensträuße und auch gelbe Lilien, die heute noch in den Gräben wachsen. In diesen Wiesen verbrachte ich in meiner verflossenen Jugend so manches Schäferstündchen mit meinem ersten Freund. Bei der Erinnerung daran muss ich grinsen.
Während ich mich der Abfahrt Gelnhausen West nähere, rinnt mir eine Träne über die Wange. Ja, hier war ich einmal zu Hause. Hier sind meine Wurzeln und meine Heimat, von denen mich das Leben getrennt hat. Hier fuhr ich täglich mit dem Bus von Hailer zur Schule nach Gelnhausen und zurück, als die Straße noch anders verlief als heute. Stets machte sich der Busfahrer einen Spaß daraus, rasant in die Kurve zu fahren und die im Omnibus gestandenen Schüler laut schreien zu lassen. Trotz aller Bemühungen konnten sie sich mitunter nicht festhalten und purzelten samt ihrer Schulranzen auf dem Gang des Busses wild durcheinander.
Mit 40 Stundenkilometer nehme ich im dritten Gang die Ausfahrt. Die Autobahn lasse ich hinter mir. Während ich vor der roten Ampel an der Westspange stehe, schlägt mein Herz vor lauter Freude laut und schnell. In mir macht sich Lampenfieber breit, und in meinem Magen und in meinen Händen kribbelt es vor lauter Aufregung.
Noch etwa zwei Kilometer mit siebzig geradeaus, dann durch einen neu gebauten Kreisel, und mein Dorf beginnt. Erinnerungen werden wach, als ich die ersten Häuser am Ortsrand von Hailer sehe. Das schiefe Backsteinhaus rechts neben der Durchgangsstraße K862 der Familie Ehrens steht immer noch. Als ich ein Kind war, hieß es bereits, es stürze bald ein. Doch das Gebäude am Hang hält sich wacker. Noch hundert Meter vorbei an der einstigen Schreinerei Bernges – und dort, wo links früher die ESSO-Tankstelle von Geiger war, rechts ab in die Heylstraße. Dieses Abbiegemanöver bedeutet den Übergang von Asphalt zu blauem und holprigem Basalt, mit dem die Straße gepflastert ist. Mein Auto wird ordentlich durchgerüttelt.
Mein Herz überschlägt sich geradezu vor Freude. Es jauchzt und frohlockt. Noch einmal Hundert Meter, dann kommt mein Auto vor einem Fachwerkhaus mit großem Torbogen aus Sandstein und schwarz gestrichenen Stäben aus Schmiedeeisen vor dem Hof zum Stehen. Ich habe mein Ziel erreicht. Für diesen einen Platz in Hailer (einstige Postleitzahl 6462) in der Heylstraße 19 (früher Hausnummer 2) hat mein Herz unterwegs Luftsprünge absolviert.
Ich bin aufgeregt. Wie positiv sich mein Dorf, das seit dem 1. Juli 1971 Stadtteil von Gelnhausen ist, trotz aller neuzeitlichen Veränderungen doch von dem Rhein-Main-Gebiet unterscheidet, in dem ich seit 1993 lebe. Mit meiner alten Heimat, in der ich nur achtzehneinhalb Jahre verbrachte, verbinden mich mehr Erinnerungen als mit meiner Wahlheimat, in der ich nun fast dreißig Jahre ansässig bin.
Während ich den Tag über auf dem Gelände meines Elternhauses Hitzemann (ehemalige Spezerei Lina und Heinrich Weber – er war im Dorf als „Schmoller“ bekannt) verbringe und Altvertrautes sich meines Gemüts ermächtigt, denke ich zurück an die 1960er und 1970er Jahre. Damals war die Heylstraße mit einem Geschäft am anderen noch der „Broadway von Hailer“.