Die Himmelsstürmerin - Jutta Ditfurth - E-Book

Die Himmelsstürmerin E-Book

Jutta Ditfurth

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Beschreibung

Gertrud Elisabeth Freiin von Beust wächst wohlbehütet im Schloss ihrer Eltern bei Weimar auf. Nichts stört ihre romantische Sicht auf die Welt. Nach ihrer Adoption durch den Herzog von Schleswig-Holstein scheinen schließlich alle Wege für ihren Aufstieg in den europäischen Hochadel und eine sorglose Zukunft geebnet. Doch der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erschüttert die Idylle, und Gertrud gelangt nach Paris, wo sie dem deutschen Deserteur Albert Lauterjung, Messerschleifer und Sozialdemokrat, begegnet. Er bringt ihre Weltanschauung ins Wanken - und erobert ihr Herz. Als die Pariser Commune die alte Ordnung hinwegfegt, muss sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht ... »Ein richtig schöner Roman« Die Welt

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Impressum

eBook-Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2021

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Jutta Ditfurth

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: März 2021

ISBN 978-3-95988-180-7

Über das Buch

Gertrud Elisabeth Freiin von Beust wächst wohlbehütet im Schloss ihrer Eltern bei Weimar auf. Nichts stört ihre romantische Sicht auf die Welt. Nach ihrer Adoption durch den Herzog von Schleswig-Holstein scheinen schließlich alle Wege für ihren Aufstieg in den europäischen Hochadel und eine sorglose Zukunft geebnet. Doch der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erschüttert die Idylle, und Gertrud gelangt nach Paris, wo sie dem deutschen Deserteur Albert Lauterjung, Messerschleifer und Sozialdemokrat, begegnet. Er bringt ihre Weltanschauung ins Wanken - und erobert ihr Herz. Als die Pariser Commune die alte Ordnung hinwegfegt, muss sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht ...

»Ein richtig schöner Roman« (Die Welt)

Jutta Ditfurth

Die Himmelsstürmerin

Roman

Teil 1

Deutsche Zustände

1

Glücksburg,

Anfang September 1870

Sie bog sich nach hinten. Seine Hand hielt ihren Rücken. Ihre Zehenspitzen schwebten über das Parkett. An der Decke des Roten Saals verloren kutschenradgroße Leuchter die Konturen, Tausende von Kristalltropfen funkelten, als flögen sie im Rhythmus der Musik frei durch den Saal. Gobelins und Gemälde lösten sich in Farbflecke auf, während sie an ihnen vorbeitanzte.

»Wie freundlich, dass du mich führen lässt.«

Sie lachte. »Warum sollte es nicht andersherum sein?«

»Du kommst auf sonderbare Ideen!«

»Ich fliege, du lässt mich schon nicht fallen.«

Er wirbelte sie in einer raschen Umdrehung über das Parkett.

Sie schloss die Augen. »Wir sind allein.«

»Wenn wir ein paar Hundert Gäste vergessen.«

»Ich sehe niemanden!«

Er drehte sie mit großen Schritten zu der einen Seite des Saals. Gäste wichen dem stürmischen Paar aus. »Hier sind sie!« Er wirbelte sie im schnellen Dreivierteltakt zur anderen Seite. »Und hier – und hier.«

»Wie hingebungsvoll« und »reizend« hörte er und »Was für ein Paar!«.

»Keiner wagt, uns in die Quere zu tanzen. Da glotzen sie und bewundern das Schönste, das ich je von einer Reise mitbringen konnte. Sieh dir ihre Gesichter an!«

Stattdessen neigte die junge Frau ihren Kopf noch weiter nach hinten, und ihr Blick verlor sich in den Lichtern an der Decke des Saals. Dann zwinkerte sie ihm zu, und beide lachten.

Herzog Karl von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg war soeben siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Er achtete darauf, dass er keinen Bauch bekam und dass seine Oberschenkel durch Fechten und Reiten stramm blieben. Er pflegte seinen Schnurrbart und wusste nicht, dass seine Haut nach frisch geschlagenem Holz roch, was in Gertrud ein Gefühl der Anhänglichkeit auslöste, nicht so kindlich wie gegenüber ihrem Vater, aber auch nicht so bedrohlich aufregend, wie sie sich die Beziehung zu einem Liebhaber vorstellte. Sie erlag dem Irrtum, zwischen ihr und dem Adoptivvater würde es sich um eine auf Dauer unbeschränkt sorglose, ihre Sinne so sanft wie unverfänglich reizende Beziehung handeln.

Die Neunzehnjährige hieß Freiin Gertrud Elisabeth von Beust. Man feierte ihre Adoption durch den Herzog, dessen Geburtstag und den Wiedereinzug in Schloss Glücksburg, das im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 den preußisch-österreichischen Truppen als Hauptquartier gedient hatte und danach vollständig hatte renoviert werden müssen.

»Die Kleine blickt in eine glanzvolle Zukunft«, tuschelte die Grünholzer Familie des neuen Onkels Fritz.

»Sie bekommt allen Schmuck der Herzogin!«, giftete Tante Luise, Äbtissin in Itzehoe und eine Schwester des Herzogs.

Die Verwandten des Herzogs begafften an diesem Abend jeden Tanzschritt der sorglosen Konkurrentin um das Erbe des kinderlosen Karl, als wäre auch ihre winzigste Bewegung nur ein Schachzug auf dem Weg zur umkämpften Beute.

Die Gäste, jetzt zu Beginn des Balles noch steif am Rand der Tanzfläche, umrahmten den Tanz des Paares. Fräcke und pastellfarbene Abendkleider, tiefe Dekolletés, weiße Fliegen und Schärpen, kriegerische Gesichter und Diademe, Schnurrbärte und Ohrgehänge, knochige Glatzen und gepuderte Schultern, steife Manschetten und Rüschen, Lorgnons, Rosen, Siegelringe und Glacéhandschuhe. Uniformen und Orden, wohin man blickte, besonders solche aus dem Krieg von 1864 zwischen Preußen und Österreich auf der einen und Dänemark auf der anderen Seite, in dem Dänemark unterlegen gewesen war und ein Drittel seines Territoriums verloren hatte, darunter auch Glücksburg.

Vor wenigen Tagen, am 4. September 1870, hatten die vereinten deutschen Armeen bei Sedan die französische Armee geschlagen. Frankreichs Kaiser Napoleon III. hatte kapituliert. Dieser grandiose frühe Sieg, samt der Gefangennahme von Hunderttausenden französischer Kriegsgefangener, gab dem Fest in den Augen seiner Gastgeber einen weiteren wundervollen Anlass. Ein Teil des Personals war nur dazu abgestellt, in den Weinkeller hinunter- und wieder heraufzueilen, damit jeder Gast zu jeder Zeit mit echtem französischen Champagner, beschlagnahmt in Frankreich, einen Toast auf den baldigen endgültigen Sieg ausbringen konnte. »Nach Paris!«, prosteten sie triumphierend. »Nach Paris!«

Die an der neutralen Haltung ihres Königshauses orientierte dänische Minderheit am Glücksburger Hof hielt sich zurück. Den Jubel überließ man der preußischen Mehrheit um Herzog Karl.

Die beiden Menschen auf der Tanzfläche gaben sich ausgelassen ihrem Vergnügen hin. Herzogin Wilhelmine Marie von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg stand neben ihrer Hofdame Frau von Hedemann, der ihr Missmut tief in die Mundwinkel eingraviert war. Die Herzogin, zweiundsechzig Jahre alt und damit fünf Jahre älter als der Herzog, verfolgte jede Bewegung des tanzenden Paares. Frau von Hedemann sah, wie angestrengt sich die Herzogin bemühte, ihre Mimik zu disziplinieren. Sie witterte ihre Chance.

»Sie hätten das Recht auf den Eröffnungswalzer gehabt, Hoheit.« Die Hofdame traf einen Ton zwischen Flüstern und Zischen, der im näheren Umkreis der beiden Frauen Aufmerksamkeit erregte.

»Es ist sein Geburtstag«, antwortete die Herzogin steif.

Gertrud lag im Arm ihres Adoptivvaters. Sie war mittelgroß, schmal und tanzte in einer schulterfreien, nilgrünen, rosenübersäten Wolke aus Seide, Spitze und Tüll. Rotblonde Haare, von Martha mühsam aufgetürmt, kringelten sich aus einer sorgfältig gesteckten Ordnung von Nadeln und Kämmen den langen, schmalen Hals entlang. Ihr Gesicht war oval, mit einem schön geschwungenen Mund, einer unauffälligen geraden Nase, grünen Augen und regen dunklen Augenbrauen.

»Besser eine Tochter von einer Reise mitbringen als ein Rennpferd, das sich das Bein bricht.«

»Dreh mich linksherum, sonst fliege ich zum Fenster hinaus bis zur Ostsee!«

»An deinem Tisch stehen die jungen Männer Schlange. Gefällt dir einer?«

»Muss ich mich entscheiden?«

Der Herzog lachte und fasste sie enger. »Verdreh ihnen den Kopf, aber lass dir Zeit. Bleib noch eine Weile bei uns.«

Nach dem Tanz eilte Gertrud hinauf in das zweite Geschoss. Vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers im Westflügel kühlte sie Gesicht und Dekolleté. Martha Blumenstein, ihre Zofe, betupfte Gertruds Nase mit einem Gesichtsleder, damit die Haut nicht glänzte, strich mit einem weichen Quast Körperpuder auf Hals, Schultern und auf den Ansatz der Brüste. Die gleichaltrige braunhaarige Frau legte einen Schal über Gertruds Schultern und ordnete ihre Haare. Martha arbeitete selten, ohne zu plappern.

Gertrud von Beust hatte sie von zu Hause, aus Langenorla, mitgebracht. Manchmal vermisste sie ihre Eltern, wenn sie zwischen den Bällen, der Wildschweinjagd, den Ausflügen nach Berlin, Potsdam und an die Badestrände der Ostsee einen Moment Ruhe fand.

»Der Herzog ist ein gut aussehender Mann. Schade, dass er verheiratet ist.«

»Er ist mein Adoptivvater. Red keinen Unsinn.«

»Die Herzogin schien nicht sehr erfreut.« Martha zupfte an einer Locke, die längst saß. »Ihre Mundwinkel hingen bis zum Kinn.«

Gertrud lächelte. »Dumme Martha. Du siehst Gespenster.« Sie betrachtete sich im Spiegel, skeptisch und zufrieden zugleich. Martha zuckte ungerührt mit den Schultern und hielt den Mund.

Der junge Hedemann, Sohn der Hofdame, hatte sich gleich zweimal in Gertruds Tanzkarte eingetragen. Er hielt sich für einen unwiderstehlichen Helden, seitdem er seinen Kaiser Maximilian in Mexiko überlebt hatte. Gertrud war sich sicher, dass Hedemann aus Mexiko nur deshalb heil wiedergekommen war, weil er sich vor dem Feind versteckt hatte. Sein Tonfall war langweilig, und seine Stimme meckerte wie ein alter Schafbock. Hedemann hatte keinen Krümel Humor und noch weniger Charme. Gertrud strich seinen zweiten Eintrag auf ihrer Tanzkarte durch, was er mit finsterem Blick quittierte.

»Ich muss für Gerechtigkeit sorgen.« Sie zwinkerte einem jungen Vetter des Herzogs zu, dem sie rasch den übernächsten Tanz und die den Ball abschließende Mazurka einräumte.

So setzte Hedemann alles auf Sieg. Mitten in einer Drehung des einzigen Tanzes, den Gertrud ihm gewährt hatte, sank er, seine Chance auf die denkbar schlechteste Weise nutzend, vor ihr auf die Knie und bat sie um ihre Hand. Heiraten wollte dieser Laffe sie? Sie blickte auf einen pomadigen Mittelscheitel und brach in ein so heiteres Gelächter aus, dass nicht ein einziger von mehr als hundert Ballgästen Hedemanns Niederlage übersehen konnte. Man tuschelte, kicherte, vorsichtig noch, denn die Hofdame von Hedemann hatte genug Einfluss, um Verbindungen zu vergiften oder Einladungen zu verschaffen. Nur die wenigen, die sich unabhängig von ihrer Gnade wussten, lachten schallend.

Frau von Hedemann ballte ihre Fäuste vor Wut und fauchte ins Ohr der Herzogin: »Auch diese junge Dame darf einen Kavalier nicht derartig bloßstellen.«

»Er hat sich denkbar töricht angestellt.« Die Herzogin hätte gegen eine Verbindung der neuen Tochter mit dem Sohn der loyalen Hofdame nichts einzuwenden gehabt. Eine rasche Verlobung hätte ihr mehrere Probleme zugleich vom Hals geschafft.

»Wie laut sie lacht! Man merkt, sie kommt vom Land.«

»Wir leben auch auf dem Land, liebe Hedemann.«

»Gewiss, gewiss! Aber der thüringische Adel ist von besonderer – Schlichtheit!«

Die Herzogin fühlte sich stellvertretend für eine Reihe von thüringischen Verwandten leicht gekränkt, dennoch leitete sie die Einflüsterung an ihren Ehemann weiter. Aber der amüsierte sich über die Szene auf dem Parkett. Er mochte weder die Hedemann, die zur dänischen Mitgift seiner Ehefrau gehörte, noch ihren geckenhaften Sohn. An einer allzu baldigen Heirat seines Lieblings hatte er ohnehin kein Interesse.

Der Held von Mexiko erhob sich von der Tanzfläche, wischte sich Staub von den Knien und starrte wütend auf die vergnügte junge Frau. Der Herzog lachte nun so laut, dass er seinen Gästen die letzte Selbstbeherrschung raubte. Aus Kichern wurde Lachen, aus Lachen ein Lärm, der den verschmähten Kavalier aus dem Saal fegte. Nur einige dänische Mitglieder des herzoglichen Hofes, die sich den Hedemanns verpflichtet fühlten, verfolgten die Szene misstrauisch. Frau von Hedemann eilte mit eisigem Gesichtsausdruck ihrem beleidigten Sohn hinterher.

Inmitten eines kleinen Sees an der Flensburger Förde lag das Wasserschloss Glücksburg, ein Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert. Seine Baumeister hatten es auf einen Sockel aus Granit mitten in den Schlossteich gesetzt, zu welchem der frühere Mühlteich aufgestaut worden war. An allen vier Ecken überragte jeweils ein achteckiger Turm den quadratischen Mittelbau. Die weiß getünchten Außenmauern fielen steil ins Wasser hinab. Schloss Glücksburg war nur durch eine Brücke mit den Wirtschaftsgebäuden verbunden, von wo aus eine weitere Brücke in den Park und zur Orangerie, eine dritte ins Dorf und zur Landstraße führte. Wer aus dem Schloss kam und am See entlanggehen wollte, musste demzufolge zwei kleine Brücken überqueren und fand dann den Weg rund um das Ufer, von dem aus man das mächtige weiße Wasserschloss nie aus den Augen verlor.

Der Spätsommerwind ließ die Blätter der einige Hundert Jahre alten Bäume rascheln und bald so heftig rauschen, als drohte ein Sturm. Über den Schlosssee flitzten aufgeregte kleine Wellen, der Mond versilberte ihre Kuppen. Der Weg um den See führte vorüber an Schilf, schlafenden Enten und Vögeln, die aufschreckten, als die beiden vorbeigingen.

»Ich heirate niemanden. Auch Sie nicht! Geben Sie mir meine Hand zurück.«

»Ist der See nicht wunderschön?«

»Ich bin nur wegen des Lichts und der Bäume in romantischer Stimmung. Ihnen nützt das nichts.« Der Vetter des Herzogs gefiel ihr bisher am besten von allen Kavalieren.

»Darf ich?«

»Nicht um meine Schulter.« Sie stolperte und zuckte zusammen. »Ein Stein. Ich lege meine Hand auf Ihren Arm … aber nur für einige Schritte. Es ist stockdunkel unter den Bäumen. Bis auf den Mond, der sieht aus wie ein eingedellter Ball.«

»Gertrud, Sie duften wie …«

»Flieder? Das wäre nicht sehr originell. Etwas fantasievoller wäre eine Orchidee im brasilianischen Dschungel, an einer Stelle, wo noch keiner außer Ihnen je war.«

»Nun bleibt mir nichts mehr«, seufzte der junge Mann, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

Gertrud genoss die verbotene Geste. Die Sitten am Glücksburger Hof waren lockerer als zu Hause. Der junge Offizier, Vetter des Herzogs, musste in den nächsten Tagen zurück nach Frankreich. Das Äußerste, was sich ein Kavalier am Hof in Weimar nach mehreren Begegnungen je gestattet hatte, war, in einer dunklen Schlossecke seine Hand wie unabsichtlich über ihre Hüfte gleiten zu lassen.

»Lassen Sie uns ins Schloss zurückgehen, sonst muss ich Sie noch heiraten.«

»Dann bleiben wir hier!«

Sie lief ihm lachend davon. Er holte sie ein und versprach, zuerst nach den Pferden zu sehen, damit sie nicht zusammen gesehen würden.

Zurück im Schloss suchte sie eine der Garderoben im Erdgeschoss auf, um ihre Haare zu ordnen, bevor sie auf dem Weg nach oben in den Ballsaal neugierigen Blicken begegnete. Im Nebenraum hörte sie Stimmen.

»Was glauben Sie, warum er dieses junge Ding nach Glücksburg geholt hat?«, fragte Frau von Hedemann, hart und schlecht gelaunt.

»Welchen Platz hat die kleine Beust denn jetzt in der dänischen Thronfolge?«

Gertrud zog ihre Hand von der Türklinke.

»Mir kam die Sache auch merkwürdig vor. Aber einen solchen Verdacht?« Diese Stimme kannte sie nicht, sie klang zögernd, unsicher.

»Was soll die arme Herzogin tun? Sie ist kinderlos. Da ist es sein gutes Recht, ein Kind zu adoptieren.« Eine alte Stimme unterstützte die Hedemann.

»Einen Sohn, vielleicht. Aber hier handelt es sich um eine schöne junge Frau …«

»Sie hat eigene Eltern!«

»Was, sie ist keine Waise?«

»Fällt Ihnen immer noch nichts auf?« Frau von Hedemanns Stimme straffte das Durcheinander.

»Ihr Sohn hat sich sehr ungeschickt verhalten, sagen Sie ihm das!«, tönte die alte Stimme.

»Meinen Sie, die Herzogin ahnt nichts?«

»Wovon ahnt sie nichts?«, fragte eine schrille neue Stimme.

Frau von Hedemann beschloss, das Rätsel zu enthüllen: »Dass die junge Beust adoptiert wurde, damit sie ohne Skandal immer in der Nähe des Herzogs sein kann!«

»Sie meinen …? Nein, wie unappetitlich!« Die Zeterstimme war begeistert.

»Warum soll eine Adoptivtochter nicht in der Nähe ihres Vaters sein?« Der Zögerlichen fehlte die Fantasie.

»Meine Beste, haben Sie es immer noch nicht durchschaut?« Frau von Hedemann atmete schwer. »Die Kleine ist die heimliche Mätresse des Herzogs!«

Gertrud klammerte sich an die Gardine. Die unsichtbaren Frauen redeten durcheinander und versicherten sich ihrer Vorahnungen und ihrer Beobachtungen beim Tanz. Eine Teilnehmerin trumpfte mit privaten Informationen auf: »Er hat die kleine Beust schon im letzten Jahr in Bad Ems kennengelernt und heiß umworben. Überall waren sie zusammen, im Casino, beim Abendessen. Sie soll dort sogar einen Ausflug mit ihm gemacht haben, bei dem ihr Vater nicht dabei war, angeblich war er indisponiert. Man hat über sie geredet!«

»Die bedauernswerte Herzogin! Man muss sie schonen.« Die scheinheilige Stimme lauerte darauf, die Neuigkeit in alle Welt zu tragen.

Frau von Hedemann hielt dies für den Zeitpunkt ihres Triumphes. »Ich sage Ihnen, die Herzogin leidet still. Eine echte Dulderin! Sie sollte zurückgehen an den Hof in Kopenhagen. Was für eine Demütigung! Ein so albernes, eitles junges Ding. Haben Sie jetzt verstanden, was mein tapferer Sohn heute Abend versucht hat? Er wollte die Schmach vom Haus des Herzogs nehmen.«

»Oh, wie aufopferungsbereit.« Eine helle Stimme war gerührt.

»Was für ein Held!« Die schüchterne Stimme bebte leicht.

»Ich muss mit der Herzogin reden. Jetzt sofort.« Frau von Hedemanns Stimme vibrierte vor Edelmut. Die Hofdame der Herzogin ließ sich von allen Seiten bewundern. Das war ihr Auftritt. Die Frauen verließen die Garderobe.

Gertrud war in der Kammer bleich in die Knie gesunken und ballte ihre Fäuste, bis sich die Haut über den Knöcheln spannte. Dann stand sie ruckartig auf. Sie holte so tief Luft, als stünde sie im Wald von Langenorla neben ihrem wirklichen Vater und legte auf einen Sechzehnender an. Eine ungeheure Wut trieb sie an. Die junge Frau rannte quer durch die Halle zur zweiten Wendeltreppe und erreichte so das erste Stockwerk vor der feindlichen Meute. Sie eilte in den Saal, sah, wie die Hedemann auf die Herzogin zuging, die Schritte schwer von der Bedeutung ihres selbst erteilten Auftrags. Die Herzogin stand neben dem Herzog am anderen Ende des dreißig Meter langen Saals. Gertrud sichtete den Raum wie ein Schachbrett. Sie raffte grünen Tüll, Seide und Spitze mit beiden Händen und rannte mitten durch den Ballsaal, als jagte sie auf den Wiesen an der Orla den Hunden hinterher. Sie lief schneller über das Parkett, als sie auf ihm getanzt hatte, und rempelte ein tanzendes Paar an.

»Mein Gott, dieser Landadel! Man sieht ja die Knöchel der Kleinen!«, rief eine Berliner Gräfin.

»Warum rennt sie so?«, fragte der Herzog. Er streckte ihr seine Arme entgegen und lächelte. »Ich will eine kleine Rede zu ihren Ehren …« Aber Gertrud ignorierte die Blicke ihrer Tanzpartner, den Charme ihres Begleiters am See, bremste erst vor dem Herzog und der Herzogin und sah dem Adoptivvater nur kurz ins Gesicht, der Herzogin nicht. Ihre Wut half, alles andere auszublenden, sie drehte sich, so dass sie direkt mit Frau von Hedemann konfrontiert war, als diese einige Meter hinter ihr schnaufend ins Ziel lief. Das Herzogpaar im Rücken und sich wie selbstverständlich auf dessen Unterstützung und Autorität verlassend, rief Gertrud: »Sie bösartige, verlogene alte Hexe!«, und schlug der Hedemann mitten ins Gesicht.

Jäh verstummte alles Flüstern, Sprechen und Lachen. In diese Stille hinein sagte Gertrud mit einer Stimme, als kommandierte sie hundert Soldaten: »Nur weil ich Ihren abstoßenden, eitlen Sohn, der sich in Mexiko vor dem Feind versteckt hat, sich hier aber an mich hängt wie ein schleimiger Lurch, den ich kaum abstreifen kann, ohne meine Hände zu waschen … nur weil ich ihn nicht heiraten will, verbreiten Sie verabscheuungswürdige Lügen über mich und meinen Adoptivvater. Meine Eltern werden Sie hinauswerfen!«

Hoch erhobenen Hauptes verließ Gertrud von Beust den Saal, vollkommen überzeugt davon, dass der Herzog die Hedemann nun einer peinlichen Befragung unterziehen und noch in derselben Nacht in einer Kutsche über die Grenze nach Dänemark schaffen lassen würde.

»Was für Lügen?«, stotterte der Herzog und starrte Gertrud hinterher. »Wilhelmine, was meint sie?«

Auf dem Gesicht der Herzogin sammelten sich rote Flecken, die an Kinn und Hals hinunterliefen und sich im Ausschnitt ihres Kleides stauten wie ein Berg Kirschen.

»Warum hast du mir das nicht ersparen können?«, zischte sie ihrem Mann zu und nahm den Arm eines älteren Verwandten, als hätte dieser sie zum Tanz gebeten. Nichts war ihr jetzt wichtiger, als die Form zu wahren. Mit einer Bugwelle von Begleitern verließ währenddessen die Hedemann den Ort, um sich mit einem letzten verächtlichen Blick auf den fassungslosen Herzog dessen Fragen und seinem Zorn zu entziehen.

»Langsam! Eine junge Dame zeigt keine Hast!«, hatte die Pröpstin, Gräfin Zedlitz-Trütschler, im freiadligen Magdalenenstift zu Altenburg gemahnt, als Gertrud fünfzehn Jahre alt gewesen war. »Eine junge Dame, die rennt, ist ordinär!« Gertrud registrierte, wie hinter ihr im Ballsaal die Stille in ein wirres Gesumm aus Stimmen und Spekulationen umschlug. Die Musiker begannen wieder zu spielen. Herzog Papa wird alles in Ordnung bringen. Sie schlug die Saaltür mit aller Kraft zu, was den erstarrten Diener erschütterte und ihn veranlasste, der Ordnung halber die Tür wieder zu öffnen und leise zu schließen.

Wieder rannte Gertrud die breite Wendeltreppe hinauf. »De nouveau cette Beust, cette locomotive, voyez donc, comme elle court!« Schon wieder diese Beust, diese Lokomotive, seht nur, wie sie rennt!, hatte ihr Mademoiselle Guyaz im Stift hinterhergerufen. Gertrud öffnete die Tür zu ihrem privaten Salon. Die scheußlichste Strafe für Fehlverhalten war im Magdalenenstift mise en silence gewesen, vollkommenes Sprechverbot. Auch das Essen am kleinen, niedrigen Katzentisch im Speisesaal war eine bei den Erzieherinnen und der Pröpstin beliebte Züchtigung. Die Mädchen wurden außerdem häufig mit Strafbroschen schikaniert, die sie an sichtbarer Stelle anstecken mussten und auf denen ihre Verstöße gegen die Stiftsordnung notiert waren. Verboten waren beispielsweise nackte Hände ohne Handschuhe. Doch die Mädchen zogen die Handschuhe im Speisesaal heimlich aus, wenn sie in ihnen ekliges Essen verschwinden lassen wollten, und versteckten die nackte Hand dann in den Falten ihrer Kleider.

Gertrud schloss die Tür. Sie lebte nicht mehr im Stift. Hier war jetzt ihr Zuhause und, sooft sie wollte, bei ihren leiblichen Eltern in Langenorla. Der Herzog stand auf ihrer Seite und würde alle in die Schranken weisen. Er liebte sie doch wie seine eigene Tochter.

Gertrud sah sich in ihren Räumen um, ein Salon im Westturm mit einer kleinen Bibliothek, daneben ein Schlafzimmer, großzügig mit italienischen Barockmöbeln eingerichtet. Sie besaß ihr eigenes Schrankbad in einem dritten Raum, in dem sich auch ihre Kleiderschränke befanden, die bereits prall gefüllt waren, als sie zu Beginn des Sommers in Glücksburg eingezogen war.

Was sollte sie ihren Eltern schreiben? Musste ihr Vater in Langenorla nicht annehmen, dass seine Gertrud sich schlecht benommen hatte? Alle waren heute Nacht auf Glücksburg, die Familien der großen Güter aus Schleswig-Holstein, Vertreter des dänischen und des preußischen Königshauses. Jetzt zerrissen sie sich die Mäuler.

Sie stellte sich ans Fenster, hörte das Orchester einen Walzer spielen, der über den See strich. Das Wasser spiegelte die Lichter aus dem Ballsaal tausendfach auf das Schloss zurück. Bis heute war es ihr als die größte Gefahr erschienen, an Langeweile oder Vergnügungen zu ersticken. Auf nichts war sie weniger vorbereitet als auf eine solche Demütigung. Der Boden hatte sich unter ihren Füßen geöffnet. Ihre Ehre war in ein finsteres Loch gestürzt. Nur die Macht des Herzogs war stark genug, sie zu retten, den vertrauten Zustand wiederherzustellen. Er würde bald anklopfen, sie trösten, wahrscheinlich käme er mit der Herzogin, auch sie, die zurückhaltende, würde sie in den Arm nehmen. Beide mussten jetzt erst einmal Ordnung schaffen, die Intrigantin bestrafen, alle aus dem Schloss verweisen, die der Hedemann glaubten. Das dauerte eine Weile. Sie würden gewiss kommen.

Als Gertrud aufwachte, dämmerte es. Über den See huschten die Lichter des Morgens. Keine Musik mehr, ein paar Frösche, frühe Vögel. Niemand war bei ihr gewesen. Auf dem Boden lag eine matte grüne Wolke, nirgendwo eine Martha, die das Kleid aufgeräumt hatte. Ihre Schuhe und Handschuhe lagen herum. Sie trug noch ihre zerdrückte Unterwäsche, und Ösen, Schleifchen und Schnürungen pressten Muster in ihre Haut. Gertrud lief an dem großen Fenster ihres Schlafzimmers auf und ab. Dann ging sie ins Bad, trat an den Waschtisch. Sie goss einen abgestandenen Rest Wasser aus der Porzellankaraffe auf einen Lappen und kühlte ihr Gesicht. Bleich schaute es sie aus dem Spiegel an. Nie zuvor hatte sie so etwas allein entscheiden müssen.

Der Dunst über dem See wich der Sonne, die unverschämt schön aufging. Ihre ersten Strahlen trafen eine alte chinesische Vase, die ihr die Herzogin zum Einzug in Schloss Glücksburg geschenkt hatte. »Für die könntest du dir einige sehr vornehme Kutschen kaufen, liebste Tochter«, hatte Herzogin Wilhelmine, ihre neue Mutter, gesagt.

Keine Kutschen, dachte Gertrud. Sie öffnete das Fenster und ließ das viele Hundert Taler teure Stück zwei Stockwerke tiefer in das Wasser platschen. Das Geräusch gefiel ihr, es irritierte die Frösche, die für einige Minuten ihr Gequake verschluckten. Sie warf zwei Porträts des herzoglichen Paares mit Goldrahmen hinterher, danach einen Lampenfuß aus Meißener Porzellan. Die grüne Wolke, die ihr Ballkleid gewesen war, schwebte seitwärts in die Bäume. Das italienische Porzellanpferd, mit dem der Herzog schon als Kind gespielt hatte, knallte schräg auf eine Mauer und zerbarst.

Martha schlief unter einem blau karierten Federbett in ihrer Kammer am Ende des Flurs. Gertrud zog ihr die Decke weg. Auch die Zofe trug noch die Kleider vom gestrigen Abend, das Dekolleté weit aufgeknöpft, eine Brust entblößt, der Rock zerknittert, überall steckten Strohhalme. Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Ja?«

»Komm, steh auf, wir fahren nach Hause. Wie siehst du aus! Hast du bei den Pferden geschlafen?«

Martha sah an sich hinunter und ordnete rasch ihre Kleidung.

»Mach schon, pack meine Sachen.«

Gertrud flüchtete wie eine Diebin aus dem Schloss, in das sie so festlich aufgenommen worden war. Das Herzogpaar schlief noch. Sie ließ einen der Pferdeknechte anspannen und warf keinen Blick mehr zurück auf die Stätte ihrer Demütigung. Martha nickte in der Kutsche sofort wieder ein. Gertrud trieb den Kutscher an und hätte am liebsten selbst die Zügel genommen. Um sich abzulenken, suchte sie in den Regenwolken über der Flensburger Bucht Gesichter, aber sie fand nur Szenen aus der vergangenen Nacht. Wenige Wochen zuvor war sie am Flensburger Bahnhof mit einer Musikkapelle und Girlanden begrüßt und in einer blumengeschmückten Kutsche nach Glücksburg gebracht worden. Sie schüttelte die Erinnerung ab, kaufte zwei Billets für sich und Martha und bezahlte den Pferdeknecht großzügig. Doch vorher hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, erst einmal im Gasthaus einzukehren und auch später dem Herzog so lange wie möglich nichts zu verraten.

Die Reitgerte traf den Diener am Ohr. »Warum hast du mich nicht sofort geweckt?«

»Die Pferdeknechte haben das Fehlen der Kutsche im Marstall nicht gleich bemerkt, Hoheit!«

»Und die Sachen, die im See schwimmen?«

»Ich schlafe im Stall, verzeihen Sie, Eure Hoheit, verzeihen Sie, Sie sind so spät ins Bett gekommen, da wollte niemand Eure Hoheit wecken.«

»Was geht dich das an?«

Der Diener senkte den Kopf. Der Herzog hieb mit dem Stock gegen eine unschuldige Standuhr und brüllte: »Ist aufgesattelt?«

»Wir haben den Zweispänner …«

»Dein Kopf ist so hohl wie der aller anderen hier! Sie will den Frühzug nehmen, da brauche ich mein Pferd, wenn ich sie einholen will, kein lahmes Coupé, du Dummkopf!«

Auf dem Rumpf des Rappens schäumte weißlicher Schweiß und rann über den Bauch des Tieres, das die Augen verdrehte und schnaubte, als sein Reiter dem verdutzten Wirt des Bahnhofslokals am Flensburger Hafen herrisch die Zügel in die Hand drückte. Der Mann hatte vor der Kneipe in der Sonne gedöst und hielt jetzt verwirrt das erschöpfte Tier am Halfter.

»Meine Tochter! Hat Er meine Tochter gesehen?«

Der Bahnhofsvorsteher verbeugte sich ein ums andere Mal, so dass seine Worte stockend, mal laut, mal leise aus ihm herausstießen. »Gewiss, Hoheit. Sie kam knapp vor der Abfahrt des Neun-Uhr-Zuges nach Rendsburg und hatte noch keine Fahrkarte. Seien Sie unbesorgt, wir haben ihr in allem geholfen, hoffe, ganz zu Ihrer Zufriedenheit.«

Die Stimme des Herzogs verdarb dem Mann für den restlichen Tag die Stimmung. »Wie konnte Er ein unmündiges Mädchen allein in die Eisenbahn steigen lassen?«

Erschrocken hörte der Mann auf, sich zu verbeugen. »Verzeihen Sie, Hoheit, aber es ist nicht unsere Sache, die Tochter des Herzogs an der Reise zu hindern.«

Grußlos ließ der Herzog den Bahnhofsvorsteher stehen. Der sah ihm hinterher, als er die Tür zum Bahnhof aufstieß. Nach ein paar Schritten zögerte der Herzog, drehte sich um und winkte den Mann wieder zu sich. »Dass Er kein Wort darüber verliert. Kein einziges Wort, hörst du? Er will seine Stellung behalten, nehme ich an? Ich habe meiner geliebten Tochter noch ein Geschenk nachtragen wollen. Verstanden?«

Weil der Herzog nicht daran zweifelte, dass der Bahnhofsvorsteher gehorchen würde, wartete er dessen Antwort nicht ab, sondern eilte zornig zurück zu seinem Pferd, dem er einen strammen Ritt zurück nach Glücksburg zuzumuten gedachte. Er hatte eine schriftliche Vereinbarung mit Hermann von Beust, und er würde weder ihm noch dessen Tochter Gertrud erlauben, diesen Vertrag zu brechen.

2

Solingen,

September 1870

»Der Himmel hängt über uns wie eine schwarze Glasglocke.« Albert Lauterjung stand breitbeinig da und neigte seinen Kopf weit hintenüber. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, schlank, kräftig, und tagsüber hätte man seine grauen Augen erkannt und die Farbe seines braunen Haares, das er in dieser Nacht unter eine blaue Kappe gestopft hatte. Sie waren zu fünft unterwegs: Als Letzter lief Baptist Grahe, der vierzehnjährige Lehrling, vor ihm gingen Ernst Kirschbaum und Fritz Witte, beide erfahrene Messerschleifer wie Heinrich Melchior und Albert Lauterjung.

Melchior, der älteste der fünf, war nachts fast blind und prallte gegen Lauterjung, der die Sterne begaffte. Der bullige dreiundfünfzigjährige Melchior trug den Stahl- und Sandstaub von Jahrzehnten in der Lunge und schimpfte schnaufend: »Geh weiter, Träumer! Heute Nacht spazieren wir hier unten herum, nicht auf deiner Milchstraße.«

Albert Lauterjung lachte und lief weiter, nahm aber den Blick nur gelegentlich von den Sternen. Eine Zeit lang stapften die Männer wortlos durch die klare, milde Septembernacht. Der Mann, den sie besuchen wollten, erwartete sie nicht. Er ahnte nicht, dass er am anderen Morgen ein Ausgestoßener sein würde.

Sie verließen Solingen in Richtung Osten, überquerten den Wall und gingen scherzend am lutherischen Pastorat vorbei. Sie stiegen die bewaldete Anhöhe hinauf und wieder hinab und erreichten die Wupper etwa dort, wo der kleine Schaberger Bach in den Fluss mündete. Sie ließen die Grunenberger Fruchtmühle rechts liegen und liefen nach Norden, die Wupper entlang, die ihnen schwarz und undurchdringlich entgegenfloss. Im Mondlicht sah man Schaumkronen und Holzstücke auf dem Wasser treiben.

Albert kannte die Furcht seines Freundes vor Wasser. Er drehte sich um und packte Melchior an den Schultern. »Jetzt fliegst du in die Wupper, Alter.«

Heinrich brüllte, denn er konnte nicht schwimmen. Er war stark, aber wie jedes Gewässer, das größer war als der hölzerne Zuber, in den er sich samstags auf Drängen seiner Frau zwängte, löste so ein Fluss Panik in ihm aus. Finster war die Oberfläche der Wupper, darunter lag gewiss die Hölle oder Fürchterlicheres. Melchior wehrte sich heftig, strampelte und zerrte Albert mit hinunter ins Gras. Der hockte sich Melchior auf den Bauch. Der Belagerte zappelte wie ein Fisch an Land und brüllte: »Du bist halb so alt wie ich, das ist eine Schweinerei! Ich werd dir alle deine Klingen zerschlagen.«

»Dann muss ich dich jetzt doch ersäufen«, antwortete Albert ungerührt.

Für Baptist Grahe, den vierzehnjährigen Schleiferlehrling, sah es aus wie eine richtige Schlägerei. Er sah Ernst Kirschbaum und Fritz Witte hilfesuchend an, aber die grinsten bloß. Sie kannten die beiden. Nach einer Weile des Brüllens, Klatschens und Knurrens, nachdem sich die Freunde ausführlich herumgewälzt und miteinander gerungen hatten, sprang Albert auf und zog Melchior am Arm hoch. Der wischte sich Gras und Erde aus den Haaren und von der Hose.

»Du blödes Riesenrindvieh.« Heinrich knuffte Albert in den Bauch.

»Du hast Gras im Gesicht«, sagte Albert.

»Wo?« Heinrich Melchior fiel wieder darauf herein.

»Da!« Ein derber Nasenstüber trieb ihm Tränen in die Augen.

»Du bist ein alberner Radikaler.«

Albert lachte. »Und du ein wasserscheuer. Beides ist nicht so günstig.«

»Wenn er nicht da ist, gehen wir wieder, oder?« Baptist hatte einen Frosch im Hals.

»Du Böxendrieter, klar ist er da. Wo soll er sonst sein?«, antwortete Albert.

»Hau ab, wenn du die Hosen voll hast!«, schimpfte Fritz.

Baptist stopfte die Fäuste in die Hosentaschen, kniff den Mund zusammen und schwieg.

Eine Viertelstunde später sahen sie den kleinen Schleifkotten von Carl Ern vor sich am Fluss liegen. Alle Fenster waren dunkel. Albert löschte die Petroleumlampe. Heinrich signalisierte ihnen, leise zu sein. Beim Haus angekommen, klopften sie nicht. Heinrich und Albert warfen sich ohne Vorwarnung gegen die Eingangstür. Sie knirschte im Rahmen. Beim dritten Anlauf barst sie.

Der Kotten, ein einfaches, niedriges Fachwerkhaus, bestand aus zwei Werkstatträumen, einer Schlafkammer und einer Wohnküche. Hinter dem Haus, in einem Gemüsegärtchen, befanden sich das Klo und eine Wasserpumpe. Von insgesamt fünf Schleifplätzen hatte Carl Ern drei an andere Schleifer vermietet, die sich keine eigene Werkstatt leisten konnten. An den anderen beiden Arbeitsplätzen arbeiteten er und sein ältester Sohn. Es lag Brennholz herum, außerdem Kartoffeln, Zwiebeln, Schuhe, Brotkrusten. Der Boden war mit Schmer bedeckt, einer Mischung aus Öl, Abrieb und Staub. Ein von Fett und Dreck steifer Stoff trennte die Schlafkammer von der Wohnküche, Albert riss ihn herunter.

Emma Ern lag neben ihrem schnarchenden Mann. Sie durchlebte gerade einen Alptraum, dessen Handlung sich auf einen Schlag änderte. Eben noch wurde sie von einem Wolf über ein Weizenfeld gejagt, jetzt riss vor ihr eine Ackerfurche auf und spuckte unter Feuer und Getöse Abgesandte Satans aus. Als sie mühsam ihre Augen öffnete, waren es sogar fünf Ungeheuer.

Heinrich Melchior hasste die Tonlage ihres Geschreis. »Albert, entweder entfaltest du deinen Charme oder dein Halstuch.«

Albert mochte die ganze Frau nicht. Er band ihr sein Halstuch als Knebel vor den Mund und fesselte ihre Hände an den Bettpfosten. Emma Ern riss die Augen auf und starrte Albert an, ohne ein einziges Mal ihre Lider zu schließen. Sie keuchte, kaute auf dem Knebel und zerrte mit den Armen an den Fesseln. Sie holte mit einem Bein aus und trat ihrem Mann kräftig in den fetten Hintern. Dessen Schnarchen setzte für eine Sekunde aus, dann pfiff und rasselte er wie zuvor.

»Warum wird der nicht wach?«, fragte Albert.

»Grrgghh.«

»Wieder besoffen?«

»Drr xknn ikchzz!« Die Frau starrte Albert an.

»Sie kennt dich?« Heinrich war beunruhigt.

»Es wäre besser für sie, wenn nicht«, antwortete Albert. Die Frau sabberte in den Knebel und schüttelte eifrig verneinend den Kopf.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Baptist Grahe.

»Mit den Füßen ans Bett«, erwiderte Heinrich Melchior.

Auf dem Boden lagen Strohmatten, auf denen die drei Kinder der Erns schliefen. Fritz Witte packte die Matten samt der Kinder, trug sie in die Vorratskammer und schloss die Tür ab. Keines der Kinder wachte auf.

Heinrich hob die Bettdecke über Carl Ern an. »Pfui Teufel, wann hat der sich zum letzten Mal gewaschen?«

Die Frau hatte den Knebel bis zum Kinn heruntergekaut. »Er badet samstags«, maulte sie. »Wärt ihr da gekommen …«

»Samstagnacht haben wir was Schöneres vor. Da tanz ich in der Schützenburg mit einer, die besser riecht«, spottete Albert und knotete ihren Knebel fester. »Und nun halt die Schnauze!«

Carl Ern zuckte zusammen, fuhr hoch und glotzte mit glasigem Blick in die Runde.

»Du hast die Zunft verraten und wieder heimlich mit dem Fabrikanten verhandelt«, sagte Albert.

»Zum Ritual des nächtlichen Orakels gehört, dass der Verräter erfährt, warum ihm was blüht«, erklärte Heinrich dem neugierigen Baptist. »Weißt du denn gar nichts?«

»Ääähh?« Carl Ern wurde langsam wach. Heinrich fesselte seine Füße an das Bettgestell. Baptist sah gespannt Erns Fuß an, der Zeh zuckte. Der Junge fuhr mit einem Finger die Fußsohle entlang und amüsierte sich über Erns Reaktion.

»Wollt ihr Geld?« Die Frau hatte den Knebel wieder aus dem Mund gekaut.

Albert zog sich einen Hocker direkt vor Carl Ern. »Geld? Von euch? Als du arbeitslos warst, haben wir alle fünf Pfennige Umlage, manche sogar zehn und fünfzehn Pfennige pro Woche in eine Kasse gezahlt, obwohl wir nicht zu deiner Schleiferei gehörten. Fast sechs Mark Unterstützung für euch, jede Woche. Von uns. Drei Monate lang. Und du Schwein verrätst uns!«

Emma Ern quakte dazwischen. »Er hat die Zunft nicht …«

»Halt endlich die Klappe, sonst stopf ich dir einen Schuh ins Maul! Wenn sich alle so verhalten wie dieser Idiot, wovon sollen wir künftig leben?« Albert gab das Zeichen.

Carl Ern begriff viel zu spät, was auf ihn zukam.

»Nein!«, brüllte er.

Schleifsteine aus Sandstein mit einem Durchmesser von mehr als zwei Metern wie der von Carl Ern wurden im Solinger Land für die Herstellung feinster Tafelmesser verwendet. Heinrich Melchior zerschnitt den Riemen, der den Schleifstein antrieb. Den schweren Stein hatte Ern vor Jahren nur mit der Hilfe von fünf Männern aufhängen können. Nun schlug ein einziger Mann, Fritz Witte, den Stein herunter. Der donnerte mit einem schweren Schlag auf den Fußboden und ließ ein paar Dielen brechen. Heinrich gab Baptist einen Meißel. Baptist strahlte den Alten an, atmete tief durch und setzte den Meißel an den Schleifstein. Albert holte mit dem Hammer aus und hieb den ersten Spalt in das kostbare Werkzeug.

Ern heulte auf vor Wut. Er versuchte, einen Fuß aus dem Bett zu schwingen. Verschlafen und betrunken wie er war, überblickte er seine Lage nicht, und kippte aus dem Bett, das Kinn und den wabbeligen Bauch vornüber. Seine Füße hingen oben in der Fessel am Bettpfosten, das Nachthemd verrutschte und entblößte seinen bleichen Hintern. Albert grinste und kippte die halb gefüllte Bettpfanne über Ern aus. »Was hat sie für einen hübschen Mann, die Emma Ern.« Die Angesprochene schwieg beleidigt.

»Kappeskopp«, knurrte Heinrich. »Jetzt stinkt’s hier. Hättest du nicht warten können?«

Er nahm eine von Erns Klingen und betrachtete sie, als erwöge er, sie zu kaufen. Der Stahl kam, wie so oft, aus Schweden. Er war in einem Walzwerk zu langen Ruten gewalzt und in einer Schlägerei in messerlange Stücke geschnitten worden. Diese wurden im Feuer geschmiedet, und dann wurde ein Erl herausgeschlagen, jener zehn bis zwölf Zentimeter lange Dorn, der später die Klinge mit dem Griff verband. Gewalzt, geschnitten, geschlagen und gehärtet war die Stahlklinge ein halbfertiges Messer, das die Frauen und Kinder der Schleifer beim Fabrikanten in der Stadt holten und zum Schleifen in die freien Werkstätten der Schleifer an den Bachläufen und der Wupper brachten.

Heinrich schloss die Augen und betastete Erns Werk. Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Scheißklinge. Der Kerl gibt ihr schon beim ersten Schliff einen falschen Schneidwinkel. Wie soll daraus ein feines Tafelmesser werden?« Melchior fuhr mit dem Zeigefinger sanft an der Schneide entlang. »Falsch! Der Winkel ist falsch. So ein Schrudenhängler.«

Zuerst wurde die Rauschicht einer Klinge abgeschliffen. Dafür legte der Schleifer den Rohling auf ein Schleifholz und hielt es gegen den schnell auf ihn zu rotierenden, mit Wasser aus der Wupper gekühlten Schleifstein, einen Stein wie den, den sie soeben zerhauen hatten. Die Schneidseite und der Rücken der Klinge wurden dreimal poliert: grob, fein und klar. Die Schleifer bestrichen kleine rotierende, lederbezogene Holzscheiben mit einem Gemisch aus Schmirgel, Leim und Polierrot. So gaben sie den Klingen ihre unterschiedliche Politur: ordinär, blau oder feinblau. Bei besonders feinen Tafelmessern, wie es die von Ern sein sollten und wie sie von Obrigkeit und Adel gekauft wurden, polierten sie die Klinge noch einmal mit wasserverdünntem Wiener Kalk nach.

Heinrich schimpfte. »Der hält die Klinge im falschen Winkel und mit viel zu großem Druck gegen den Stein. Jämmerliche Arbeit.« Waren die Klingen fertig geschliffen, montierten die Reider, wie die Schleifer eine eigene Zunft von Facharbeitern, die Griffe aus Elfenbein, Perlmutt oder Silber. Später, wieder beim Fabrikanten, wurden die fertigen Messer ein letztes Mal geputzt und verpackt.

Albert beobachtete Heinrich Melchiors Gesichtsausdruck. Der Freund hatte ihn ausgebildet und seine Klingen oft genug auf dieselbe quälende Weise geprüft und verworfen. Fünf Jahre lang. Melchior war der beste Lehrer in ganz Solingen. Albert wusste, dass es Heinrich schwergefallen wäre, zu tun, was sie jetzt zu tun hatten, wenn es sich bei Erns Klingen um beste Solinger Qualität gehandelt hätte.

Die Männer kannten die Schwächen des Materials und wussten, an welcher Stelle die Klingen am leichtesten brachen. Sie zerschlugen jedes einzelne Stück. Lediglich die Ware an den vermieteten Plätzen und das Wasserrad verschonten sie. Die Schleifbrüder konnten nichts für Erns Verrat. Albert zertrat das Schleifholz und zerstörte die Riemenscheiben, die den Schleifstein und die Läuferräder angetrieben hatten. Baptist Grahe riss die Wasserleitung herunter, die das Wasser zur Kühlung des Schleifsteins aus der Wupper geholt hatte, des Schleifsteins, der zerbrochen am Boden lag.

Carl Ern hörte nicht auf zu schreien. Er schwor, sich an ihnen zu rächen.

3

Von Glücksburg nach Langenorla,

September 1870

Gertrud sah sich um. Die erste Klasse der Eisenbahn war viel feiner als die zweite, meilenweit entfernt von der dritten und hatte mit der vierten Klasse nur noch die Reisegeschwindigkeit gemein. Hier in der ersten schienen die Petroleumlampen hell genug, um die Gesichter der Mitreisenden zu erkennen oder in einem Journal zu blättern. Die Sitze waren breit. Heute waren nur sechs von acht Plätzen besetzt. In der zweiten Klasse drängten sich, wenn sie ausgebucht war, vierzehn Fahrgäste in einem einzigen Abteil.

Aber die körperliche Nähe zu vier unbekannten Mitreisenden irritierte Gertrud von Beust. Man stieg an einem Bahnhof in einen Zug hinein zu Wildfremden in einen engen Raum, zu sonderbaren Gesten und Geräuschen. Der Schaffner hatte, wie immer vor der Abfahrt, das Coupé von außen verschlossen, und sie musste sich bis zum nächsten Bahnhof beherrschen, selbst wenn Gerüche und Fremdheit ihr Übelkeit verursachten. Niemand stellte einem in so einem Eisenbahnabteil die anderen Passagiere vor. Sie reiste zum ersten Mal ohne die Begleitung ihres Vaters, nicht des Adoptivvaters, sondern des richtigen, zu dem sie jetzt floh.

Marthas Kopf sackte auf ihre Schulter. Gertrud stieß sie in die Seite. Martha schien das alles nicht zu interessieren, sie war unbefangen wie ein schlecht erzogenes Kind und hätte am liebsten mit allen geplaudert. Sie säße wie üblicherweise in der dritten Klasse, wenn sie nicht als Puffer gegen Mitreisende diente, die sich womöglich neben Gertrud hätten setzen wollen. Dass eine unverheiratete junge Adlige reiste, ohne von einem älteren männlichen Verwandten oder wenigstens von einer älteren Dame beschützt zu werden, war so ungewöhnlich, dass sie dieses peinliche Manko durch besondere Distanz zu mildern hoffte.

Im vergangenen Jahr, als niemand in ihrer Umgebung an einen Krieg gedacht hatte, war Gertrud nach Bad Ems gereist. Sie war auf dem Bahnhof von Gießen den Zug entlang bis zum Ende gegangen und hatte sich die vierte Klasse angesehen. Ihr Vater hatte sie getadelt. Es war nicht standesgemäß, dass eine junge Dame Leute anstarrte, die Wind und Wetter ausgesetzt waren. Sie hatte kein Regendach entdeckt, und der Bahnhofsvorsteher, der meinte, auf sie aufpassen zu müssen, erklärte ihr, dass das Wasser durch Holzritzen im Boden abliefe und man den Leuten mit Strohballen die Fahrt bequemer machte.

»Unsere Pferde reisen komfortabler«, hatte sie kritisiert.

Das missfiel ihrem Vater. »Vergiss nicht, dass die Leute in der vierten Klasse mit derselben Geschwindigkeit reisen wie der Adel! Unser Privileg ist inzwischen sehr eingeschränkt.«

Es war ihr leichtgefallen, die Passagiere in der vierten Klasse zu erkennen. In einen offenen Waggon aus Holz wurden bis zu fünfundvierzig Reisende gestopft. Der Wind hatte ihre Augen rot gefärbt. Kohlenstaub verklebte die Haare und tünchte die Gesichter grau. Mäntel und Röcke waren zerknittert, und das Reisegepäck bestand aus nichts als Tüchern und Obstkisten.

»Kälbertransport«, hatte der Vorsteher gescherzt.

»Martha!« Das Gesicht des Mädchens ruhte schon wieder an ihrer Schulter. Martha murrte im Schlaf und mümmelte mit ihren Lippen. Der Fahrgast, der Gertrud gegenübersaß, ein etwa dreißigjähriger Mann mit schwarzen Haaren, Schnauzbart und hängenden Augenlidern, teuer, aber ein wenig nachlässig gekleidet, beobachtete die beiden Frauen. Gertrud zuckte mit der Schulter, so dass Martha aufschrak, sich aufsetzte, ihre Schläfrigkeit abschüttelte, eine Entschuldigung murmelte und mit halboffenen Augen an Gertrud vorbei aus dem Fenster schaute.

Seitdem sie in Flensburg losgefahren waren, hatte sich Gertrud Elisabeth von Beust nach jedem Umsteigen in jedem neuen Eisenbahncoupé von irgendwem die Frage gefallen lassen müssen, warum ein junges, hübsches Fräulein ohne männlichen Schutz unterwegs war oder nicht wenigstens in Begleitung einer rüstigen Tante. Was ging das diese wildfremden Leute an? In den Augen ihres Vaters lag das wirkliche Problem mit der Eisenbahn darin, dass sich jeder – war sein Portemonnaie nur ordentlich gefüllt – die Gesellschaft des Adels auf engstem Raum erkaufen konnte. Vater Beust war auch unbedingt dagegen, dass Bürgerliche heutzutage Adelsgüter erwerben durften, nur weil es verantwortungslose Familien von Rang gab, die in einer Notlage sogar von Personen Geld annahmen, die keine Standesgenossen waren. Nur Juden durften es nie sein. Zwar steigerte die Nachfrage den Wert des Grundbesitzes, hatte Beust erklärt, aber sobald eine Familie ihr finanzielles Problem geregelt hatte und zurückkaufen wollte, sträubten sich die neuen Besitzer dagegen, die alte natürliche Ordnung wiederherzustellen.

Gertrud lehnte sich an die gepolsterte grüne Rückenlehne, genoss die weichen Armpolster, spielte mit den Fingern im Muster der winzigen Jagdszenen auf dem Stoff und betrachtete die Täfelung der Decke des Coupés: schönes poliertes dunkelrotes Mahagoni, darunter Messingverstrebungen, die über jedem Sitz das Gepäcknetz hielten. Bald war sie zu Hause.

»Darf ich Ihnen einen Apfel anbieten, gnädiges Fräulein?«

Der Schnauzbärtige wagte es schon wieder. Er hatte sich in Halle, der letzten Station vor Weimar, rasch auf den ihr gegenüberliegenden Platz gesetzt, sich verbeugt und breit gelächelt: »Schön, dass wir zusammen reisen!« »Wir fahren nur im selben Zug«, hatte sie geantwortet, demonstrativ den Kopf zum Fenster gedreht und sich seitdem bemüht, seinen Blick zu ignorieren. Der Mann polierte das Obst mit seinem Taschentuch und hielt es ihr hin.

»Nein, wirklich, gnädiges Fräulein, ich habe noch mehr Proviant.«

Sie betonte jede einzelne Silbe: »Nein. Danke.«

Schnurrbart, Pomade, teure Schuhe und eine goldene Uhr, undefinierbarer brauner Anzug. Sie hatte grässlichen Hunger.

In Rendsburg und Neumünster hatten sie den Zug gewechselt, waren am Bahnhof Altona ausgestiegen, von dort in einer Droschke nach Hamburg geruckelt und hatten in Streit’s Hotel übernachtet. Martha hatte vergessen, im Hotel Proviant zu besorgen. Die Bahnstrecke am zweiten Reisetag führte nach Wittenberge, wo sie zum vierten Mal umgestiegen waren. Am späten Abend des zweiten Tages hatten sie Magdeburg erreicht, wo sie erneut übernachten mussten. Gertrud hatte sich mit Geld gut versorgt geglaubt, bis sie feststellte, dass Fahrkarten, Droschken, Bahnhofsgaststätten und Hotels mehr kosteten, als sie geahnt hatte. Das Frühstück in Magdeburg fiel darum karg aus: dünnes Weizenbrot, Pflaumenmus und fader Tee. Am Mittag des dritten Reisetages erreichten sie Halle. Dort wechselten sie in die siebte Eisenbahn seit ihrer Abfahrt aus Flensburg.

Sofern die Depesche, die sie in Hamburg aufgegeben hatte, in Langenorla angekommen war, würde ihr Vater nachmittags am Bahnhof von Weimar warten und viele Fragen haben. Sie war aus Glücksburg weggelaufen. Sie wusste, dass die Adoption für ihn wichtig war. Gerührt lehnte sie sich ans Fenster. Er war so selbstlos, immer wollte er nur ihr Bestes. Als Tochter des Herzogs von Schleswig-Holstein stand ihr ein fester Platz am Potsdamer Hof zu. Würde das jetzt auch noch so sein? Sie verdrängte die Frage. Ihre Füße stießen an den lauwarmen Heizkessel unter dem Sitz, während sie eindöste.

Am anderen Ende des Coupés saß sich ein Ehepaar mittleren Alters gegenüber. Beide trugen teure Kleidung und waren korpulent. In Halle hatten sie schwer schnaufend, als hätten sie ihre Koffer selbst getragen, und misstrauisch kontrolliert, wie die Gepäckträger ihr Gepäck auf dem Dach verstauten. Neben der dicken Ehegattin saß steif und schweigend eine dürre, blasse weibliche Gestalt in schwarzer hochgeknöpfter Kleidung. Der Platz gegenüber von Martha war frei, dann kam der Schnauzbärtige mit den Äpfeln.

Gertrud schreckte aus dem Schlaf hoch und blickte müde aus dem Fenster. Ihr Vater behauptete, dass es eines Tages verschiedene Züge geben würde, schnelle und komfortable für den Adel und die wohlhabenden Bürger und billige, langsamere für das Volk. Er hatte sicher wie immer recht. Aber wo würden diese unterschiedlich schnellen Züge fahren? Wer sollte all diese Gleise bauen?

Die Landschaft war grau und langweilig. Viel lieber war ihr das thüringische Mittelgebirge. Und wenn schon flaches Land, dann wollte sie zumindest Meer, abfallende bunte Wiesen und Sandbuchten wie an der Ostsee. Sie freute sich auf die Berge, auf ihre Mutter, die Schwester, auf die größere Ungezwungenheit als am Glücksburger Hof. Gertrud beobachtete die Grasnarbe am Schienenrand. Nach einer Weile rebellierte ihr Magen und beruhigte sich erst wieder, als sich ihre Augen der Geschwindigkeit von mehr als vierzig Kilometern in der Stunde angepasst hatten, indem sie die Wiesen anschaute und die Bäume an der Landstraße. Man muss anders hinsehen als beim Gehen oder in einer Kutsche, den Blick höher ausrichten, mehr zum Horizont, dachte sie.

Die massige Ehegattin stand auf, lupfte eine der Gardinen und sah hinaus. »Guck mal …«, begann sie. Da schnauzte der Gatte: »Unsereins gafft nicht aus dem Fenster, wir kennen alles.« Die Gemaßregelte plumpste auf ihren Sitz und holte gekränkt ihr Stickzeug aus der Tasche. Eine Weile sagte niemand etwas.

»Ich halte es nicht mehr aus!« Die blasse Dürre sprang auf und zog an der Notbremse. Die Bremsen quietschten. Der Zug ruckte heftig und stand still. Martha, die entspannt geschlafen hatte, flog dem aufdringlichen Schnurrbärtigen auf den Schoß. Gertrud hielt sich am Gepäcknetz fest. Die Dürre hatte all ihre Kraft aufgebracht und rutschte zu Boden. Der fette Gatte, ganz in Broschüren versunken, prallte mit dem Kopf gegen die Coupéwand und sackte dann nach unten, den gewaltigen Bauch in die Luft streckend. Die Gattin stemmte ihre Füße gegen diese Wölbung, konnte aber ihre Taschen, Heftchen, Reisedecke und Stickzeug nicht mehr aufhalten, ehe sie sich auf ihrem Gatten ausbreiteten wie Kunstblumen auf einem prämierten Stier.

Gertrud sah die Dürre empört an. »Warum halten Sie den Zug an?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte die blasse Frau und zupfte an ihrem Spitzenkragen. In den Nachbarwaggons schrien Fahrgäste durcheinander. Der Schaffner hangelte sich hoch zum Trittbrett, fummelte am Schloss, öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Abteil. »Bei Ihnen alles in Ordnung? Wissen Sie, wer die Notbremse betätigt hat?« Das fette Ehepaar schubste ihn beiseite und drängte hinaus auf einen Waldweg.

»Meine Dame, mein Herr … wir fahren gleich weiter!« Der Schaffner klammerte sich an den Haltegriff und starrte ihnen hinterher.

»Diese Dame hat alles durcheinandergebracht«, verriet Gertrud. Der Uniformierte sah die Dürre fragend an. Die spitzte den Mund: »Ich habe ein dringendes Bedürfnis. Und diesem muss Ihre Eisenbahngesellschaft nachkommen.«

»Ich habe auch ein dringendes Bedürfnis, und dem komme ich ganz persönlich nach.« Gertrud wandte sich an den Kontrolleur. »Sie wirft uns hier alle durcheinander, und dann hat sie nicht einmal einen Grund. Es brennt nicht, es regnet nicht durchs Dach, und nur weil diese … Dame ihren Nachmittagstee wünscht, entgleist beinahe der Zug!«

»Na na.« Der Schaffner lächelte Gertrud entzückt an. Sie sah aus wie eine der Frauen auf den Gemälden von Renoir, jenem anrüchigen Maler aus Frankreich, nur war sie nicht so üppig wie dessen Figuren. Auf dem rotblonden Haar der jungen Reisenden steckte ein Samthut, weinrot wie die lange taillierte Jacke über dem gleichfarbigen Kleid. Geübt im Umgang mit skurrilen Reisenden wandte sich der Schaffner der Blassen zu. »Meine Dame, was war das für ein dringendes Bedürfnis?«

Die jedoch wollte ihr Geheimnis nicht lüften. »Das geht Sie nicht das Geringste an. Lassen Sie mich hinaus.«

»Auf unbefugtes Betätigen der Notbremse steht eine Geldstrafe. Ich muss Sie bitten …«

»Wenn Sie mich in eine peinliche Lage bringen wollen: Ich muss meine Hände waschen.«

Dem Schaffner blieb der Mund offen stehen. »Hände waschen? Sie halten einen Zug an, weil Sie Ihre Hände waschen wollen?«

Sie blieb stur. »Ich muss mich jetzt genau in diesem Augenblick frisch machen.«

»Frisch machen?« Der Mann verstummte.

Diese Bauern in Uniform verstehen manchmal rein gar nichts, dachte Gertrud und übersetzte: »Meine Güte, Herr Schaffner. Die Dame möchte die Toilette aufsuchen.« Es erheiterte sie, die Blasse bis zur Schneefarbigkeit erbleichen zu sehen. In der Stimme des Schaffners lag ein Grollen, und er wog jedes Wort sorgfältig ab: »Diese Dame kann am nächsten Bahnhof den Toilettenwagen benutzen.«

Die zweimalige Erwähnung des unaussprechlichen Wortes ließ die bleiche Frau beinahe ohnmächtig werden. Der schnauzbärtige Mann aß seinen vierten Apfel und amüsierte sich.

Der Kontrolleur sagte: »Wir sind bald in Weimar. Würden Sie sich bitte bis dahin noch gedulden?«

»Nachdem alle so unhöflich gewesen sind, will ich nicht mehr aussteigen«, erwiderte sie, setzte sich auf ihren Platz, klemmte ihre Tasche unter den Ellenbogen und zog die Schultern pikiert bis zu den Ohren hoch.

Der Kontrolleur eilte die Waggons entlang und sammelte entlaufene Fahrgäste ein. »Alles einsteigen, wir fahren weiter!«, rief er. Das dicke Ehepaar stand nebeneinander auf der Wiese und sah demonstrativ zum Horizont.

»Alles einsteigen!«, rief der Kontrolleur. Das Paar drehte sich nicht einmal um.

»Alles einsteigen! Auch Sie, meine Dame, mein Herr!«

Die Frau drehte den Kopf: »Wir heißen nicht ›alles‹.« Da nannte der Eisenbahner sie »gnädige Frau« und ihn einen »gnädigen Herrn«, scharwenzelte, machte Bücklinge und hatte Erfolg. Der Zug nahm wieder Fahrt auf. Die Notbremsenzieherin presste die Lippen zusammen. Das dicke Ehepaar versank in Schweigen. Der Zug tuckerte, leicht in der Kurve liegend, an einer Wiese vorbei. An einem Bach erfrischten sich Menschen. Als sie den Zug sahen, rissen sie ihre Münder auf, fuchtelten mit den Armen und rannten ihm, so schnell sie konnten, hinterher. Eine Frau verlor ihren Hut. Einige Männer sprangen am Ende der Eisenbahn in die Holzwaggons. Ein Mann kam mit offenem Mund und halbnacktem Hintern hinter einem Baum vor. Er würde den Zug nicht mehr einholen.

Martha kicherte. »Was machen die da?«

Der Apfelmann nutzte seine Chance. »Das sind Passagiere der dritten und der vierten Klasse. Sie werden bei einem Nothalt nicht gewarnt, wenn es weitergeht. Sie wissen, dass sie den Wagen nur am Bahnhof verlassen dürfen.«

»Und das Geld für die Fahrkarte?«, fragte Martha.

»Ist verloren.«

Gertrud drehte sich nach den Fahrgästen auf der Wiese um, die langsam zurückfielen.

Die Reisegesellschaft schwieg, bis sich der Zug über eine sanfte Anhöhe Weimar näherte. Statt gleichmäßig langsamer zu werden, schrien die Bremsen erneut auf, der Zug schüttelte seinen Inhalt in allen vier Reiseklassen durch und stoppte abrupt. Für einige Minuten war es so still, dass man das andauernde Schnüffeln der blassen Dame hörte.

Der schnauzbärtige Mann öffnete das Fenster. Plötzlich ächzten die Räder, der Zug fuhr wieder an, und er bekam eine Fuhre Qualm ins Gesicht. Er hustete und schloss das Fenster. Der Zug tuckerte ein paar Meter weiter, um dann erneut, immer noch einige Kilometer vor Weimar, in einer langgezogenen Rechtskurve anzuhalten. Diesmal sah der Mann durch das geschlossene Fenster und presste seine Wange an die Scheibe. »Ein Zug kommt uns aus Weimar entgegen, den lässt man wohl vorbeifahren!« Noch einmal ruckte der Waggon.

Martha jammerte, dass ihr gleich übel würde.

Gertrud presste die Nase an das Fenster. »Der Zug ist voller Soldaten, deutscher Soldaten!« Sie staunte. Auf dem Weg von einem Schloss zum nächsten kam sie hier zum ersten Mal mit dem Krieg in Berührung. Sie sah Holzpritschen, fensterlose Waggons, deren Türen einen Spalt offen standen, überall junge Gesichter, Uniformen, Gewehre, Tornister. »Sie sind auf dem Weg nach Frankreich.«

Ihr Reisegefährte öffnete sein Fenster erneut und ließ Martha hinaussehen.

»Du bist hier nicht in der dritten Klasse. Hier winkt man Soldaten nicht einfach hinterher, selbst wenn sie für Deutschland in den Krieg ziehen«, sagte Gertrud.

Martha ließ gekränkt den Arm sinken. »Aber sie singen!«

»Wegen Napoleons Kapitulation«, erwiderte Gertrud ungeduldig und fügte halblaut hinzu: »Der Krieg ist noch nicht vorbei, aber er dauert jetzt nicht mehr lang. Ein Heer, das in nur vierzehn Tagen gegen den Feind mobilisiert werden konnte, kann nicht verlieren.«

»Eine junge Dame, die etwas von Politik versteht.« Der Schnauzbärtige machte ein wohlwollendes Gesicht und sah mit hochgezogenen Brauen auf seine Taschenuhr. »Herr von Bismarck hat den Krieg lang genug geplant. Da kann man wohl annehmen, dass er vorbereitet war.«

Draußen blieb der Zug mit den Soldaten stehen. Einige entdeckten die beiden jungen Frauen am Fenster der Eisenbahn und johlten, winkten und vollführten mimische Kunststückchen. Martha hielt sich nicht länger zurück und warf einem Soldaten eine Kusshand zu, der drehte die Augen zum Himmel, legte beide Hände auf sein Herz und sank in die Arme seiner lachenden Kollegen.

Gertrud ärgerte sich über den fremden Mitreisenden. »Sie vergessen, dass Frankreich uns den Krieg erklärt hat. Was geht es die Franzosen an, ob die Spanier einen Hohenzollernprinzen auf ihren Thron setzen? Prinz Leopold hatte außerdem längst verzichtet.«

»Ich bin anderer Meinung, aber darf ich mich vorstellen?« Er erhob sich, lüftete einen imaginären Hut – der wirkliche lag in der Hutablage – und verbeugte sich: »Sokolowsky. Graf Teodor Sokolowsky aus der Nähe von Krakau.«

»Freiin Gertrud Elisabeth von Beust.« Nun musste sie sich auch noch selbst vorstellen. Ein Pole, natürlich. Immerhin, ein Standesgenosse. »Bismarck wäre dumm gewesen, hätte er nicht die Möglichkeit eingeschlossen, dass Frankreich Krieg will. Selbstverständlich musste er Preußen darauf vorbereiten. Und ist es ihm nicht großartig gelungen, die süddeutschen Länder für uns zu gewinnen?«

»Bismarck wusste seit einem Jahr, dass die Franzosen auf dem spanischen Thron keinen Hohenzollernprinzen dulden würden. Er konnte diese Karte ausspielen, wann immer er wollte. Er hatte den Krieg in der Hand.«

Den Verdacht hatte Onkel Felix vor einigen Wochen auch geäußert. Aber gab sie eine erfolgreiche Bismarcksche List einem Polen gegenüber zu? »Napoleon hätte den Krieg leicht vermeiden können. Wenn er nur gelassen geblieben wäre und sich nicht in die Entscheidung der spanischen Cortes eingemischt hätte.« Sie mochte den süffisanten Gesichtsausdruck dieses Ausländers nicht. Der Zug fuhr langsam wieder an.

»Vielleicht würde es Preußen auch nicht gefallen, an mehreren Grenzen von bonapartistischen Monarchen oder Orleanisten umgeben zu sein?«, fragte er.

So hatte ein dänischer Offizier am Hof in Glücksburg geredet, tief verbittert über die Niederlage seines Landes gegen Preußen. Herzog Karl hatte ihn zurechtgewiesen.

»Gegen die Orleanisten wäre nichts einzuwenden. Aber kaum hat Napoleon kapituliert, terrorisieren irgendwelche Republikaner Paris und rufen die Republik aus. Gefällt Ihnen das besser?«

Sokolowskys Lächeln schwand. »Lächerlich! Eine Republik wäre lächerlich! Keine große Nation kann sich eine solche fürchterliche Unordnung leisten.«

Jetzt hatte sie ihn. »Aber ist die Unordnung nicht typisch für die Franzosen? Sie trinken mittags schon Wein. Dann erklären sie uns den Krieg und kommen nicht voran. Betrachten Sie dagegen unser Kriegsministerium! Man beschlagnahmt alle Züge in Preußen, und zwölf Tage später sind vierhundertzwanzigtausend Mann und eintausendfünfhundert Kanonen auf dem Weg nach Westen. Nach nur drei Wochen sind unsere Armeen mit weit mehr als einer Million Soldaten auf dem Marsch nach Frankreich.«

Jeder in ihrer Verwandtschaft schwärmte von diesem Coup. Sie erinnerte sich vor allem an Gespräche zwischen Onkel Felix und ihrem Vater. Sokolowsky antwortete nicht.

Die Neunzehnjährige fuhr voller Begeisterung fort: »Bismarck hat sehr früh begriffen, wie wichtig die Eisenbahn für das Militär ist. Zwanzigtausend Kilometer Schienen sind in den letzten Jahren fertig gebaut worden. Wessen Idee war das? Bismarcks! Warum beraten ihn Eisenbahningenieure? Wenn sie einen modernen Krieg führen wollen, müssen sie wissen, wie viel Nachschub sie in welcher Zeit wohin verschieben können.« Er schwieg immer noch. Sie freute sich über ihr gutes Gedächtnis.

»Findest du es richtig, Fritz, dass sich junge Damen über Politik äußern?« Die fette Gattin fädelte rosafarbenes Stickgarn in eine Nadel.

»Mmh.« Der Gatte schaute in sein Journal.

Nicht sehr höflich, in der Gegenwart von anderen zu lesen, anstatt sich zu unterhalten, dachte Gertrud und sagte: »Wenn man gar nichts von irgendetwas versteht, sollte man tatsächlich besser schweigen.«

Die Dicke beschloss, die junge Frau zu ignorieren. »Es ist Zauberei, dass man in der Eisenbahn lesen kann, mein Lieber. Ich könnte sogar einen Brief schreiben!«

»Dann tu es doch, meine Liebe«, sagte ihr Gatte und blätterte um. Der Zug fuhr so langsam, dass man ihn zu Fuß hätte überholen können. »An wen willst du überhaupt schreiben?«

»Ich könnte schreiben, an wen ich wollte«, sagte die Gattin.

Der Zug näherte sich Weimar. Wieder kreischten die Bremsen so laut, dass Gertruds Trommelfelle schmerzten. Die Lok spuckte den Dampf stoßweise aus. Der Zug fuhr am Bahnsteig ein und hielt. Von außen schloss der Kontrolleur die Tür zum Coupé auf. Gertrud fischte ihre Tasche aus dem Gepäcknetz. An ihr vorbei schnappte sich die Blasse ein Gepäckstück, floh aus dem Coupé und lief davon, ihr Rücken ein einziger Vorwurf an die Grausamkeit dieser Welt. Draußen hievten Arbeiter unter den Anweisungen des Kontrolleurs das Gepäck vom Dach des Abteils. Die ersten vier Koffer gehörten Gertrud.

»Alles Ihre?«, fragte der Pole.

»Der Rest des Gepäcks wird mir nachgeschickt«, antwortete sie kühl.

»Sieh nur, das feine Leder.« Die dicke Gattin deutete auf Gertruds Koffer.

»Schweig und komm endlich.«

»Nein, sieh doch nur …« Er zog sie davon.

»Wir brauchen einen Gepäckträger, oder zwei.« Gertrud von Beust sah Martha an. Martha begriff nicht, was von ihr erwartet wurde.

»Darf ich helfen?« Sokolowsky lungerte noch immer in ihrer Nähe herum. Was blieb ihr übrig? Der Pole winkte einem der Bahnbeamten, der pfiff zwei Gepäckträger herbei, die das Gepäck auf ihre Karren luden.

Nie zuvor hatte Gertrud in der Bahnhofshalle von Weimar so viele Menschen gesehen. Der Lärm schallte von den Wänden und der Decke zurück. Reisende, Gepäckträger, Bahnhofsbedienstete liefen, riefen, schleppten, rempelten aneinander. Gertrud war erleichtert, dass der Pole neben ihr ging. Sie wollte wissen, was so viele Menschen in den Bahnhof getrieben hatte. Ein Volksfest?

Eine müde Frau mittleren Alters hörte Gertruds Frage. Sie lehnte sich schwitzend an eine Wand, neben sich Taschen und Säcke. »Nee, keen Fest. Jibt nüscht zu feiern, Jnädigste. Det sind Kriegsjefangne. Franzosen, auch ’n paar Dunkle, sogar sehr Dunkle dabei. Sagn Se selbst: Würd ’n zivilisiertes Land solche nach Europa holen? So sind se, die Franzosen! Alle wollen gucken kommen. Und ick blöde Kuh reise an so ’nem Tach durch die Jejend mit mei’m Jemüse. Überall Leichenzüge un Lazarett-Transporte un Jefangnenzüge un allet an halbwüchsjen Männern un Jungs im Krieg und viele dod, wat für ’ne Scheiße.«

Gertrud fand die Litanei faszinierend. »Ist sie betrunken?«, fragte sie leise.

»Nein, sie ist aus Berlin«, antwortete der Pole.

Sokolowsky hielt einen Bahnbeamten an. Der bestätigte die Informationen der Gemüsefrau. Die Weimarer Bevölkerung besichtige französische Kriegsgefangene aus Sedan, die hier umgeladen würden. Ja, den Zug mit unseren Soldaten haben wir absichtlich ausfahren lassen, damit es keine Unruhe … bitte schön, der Herr.

»Sach ick doch.« Die schwitzende Gemüsefrau bückte sich nach ihren Taschen.

»Wo kommen die Gefangenen hin?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Sokolowsky.

»Mein Adoptivvater sagt, in Hamburg habe man Kriegsgefangene auf einen Dampfer der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft geladen und nicht begriffen, warum einige weinten und andere jubelten. Dann fanden sie heraus, dass die Franzosen geglaubt hatten, dass man sie nach Amerika verschiffen wollte.«

Sokolowsky lachte. »Beust ist Ihr Adoptivvater?«

»Mein richtiger Vater.«

»Verwirrend.«