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»Wann und warum hat sich der Adel dem antisemitischen Lager angeschlossen?« Nach dem Mauerfall reist Jutta Ditfurth nach Ostdeutschland und sieht sich mit den Widersprüchen ihrer Herkunft konfrontiert. Sie folgt den Spuren ihres schillernden Urgroßonkels Börries Freiherr von Münchhausen, einem Balladendichter, der ein Freund der Juden zu sein schien - doch dann findet sie einen Brief ... Hinter dem Mythos des 20. Juli 1944 verbirgt sich der besondere Antisemitismus des deutschen Adels im 19. und 20. Jahrhundert. Juden galten in adligen Kreisen oft als »Fremdrassige«, die die adlige »Blutreinheit« bedrohten. Auf den Schlössern und Rittergütern hatten Juden bis 1945 nichts verloren. Sie trugen vermeintlich Schuld an Revolutionen, an Kriegsniederlagen, am Sturz der Monarchie und an der Errichtung der Weimarer Republik. Der Hass auf die Juden wurde schließlich »von allen moralischen Skrupeln befreit«. Jutta Ditfurth erzählt die bewegte Geschichte von Börries Freiherr von Münchhausen. Sein engster Freund war um 1900 der Künstler Ephraim Moses Lilien - bis Münchhausen zum glühenden Antisemiten wurde.
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2013
Jutta Ditfurth
Der Baron, die Juden und die Nazis
Reise in eine Familiengeschichte
Hoffmann und Campe
»Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex posto facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt.«
Max Horkheimer, Theodor Adorno (1959)[1]
1990: Reise in die DDR und in die Familiengeschichte
Was hatte ich hier verloren? Die Maisonne schien auf die Wälder über dem thüringischen Dorf Langenorla, durch dessen Tal die Orla fließt. Anfangs hielt ich ein paar Schritte Abstand zu meiner Mutter, aber das konnte das widersprüchliche Gefühl auch nicht lindern. »Hier« stand früher das Schloss. Ich sah die Überreste einer Kastanienallee, die über den Wallgraben zum Schloss geführt hatte. »Dort« lag das Rittergut und »da oben«, auf einem Hügel am Ende des Dorfes, die Schimmersburg. Es war der Beginn einer langen Reise in die Familiengeschichte, an deren Ende ich Antworten auf Fragen gefunden haben würde, von denen ich jetzt noch nichts wusste.
Abb. 1 Dorf Langenorla (Sachsen-Altenburg), in der Mitte das Beustsche Schloss
Als die deutsch-deutsche Mauer 1989 fiel, starb mein Vater Hoimar von Ditfurth.[2] Damals versprach ich meiner Mutter Heilwig von Ditfurth, sie im Jahr darauf an die Orte ihrer Kindheit und Jugend zu begleiten.[3] Das bereute ich bald, nicht aber, weil ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen mochte oder ihre Kindheitsorte in der DDR lagen. Letzteres machte mich eher neugierig, denn ich kannte die DDR nicht, nur Ostberlin hatte ich viele Jahre zuvor bereist. Während meiner Abiturfahrt 1969 sah ich Brechts HeiligeJohanna der Schlachthöfe im Theater am Schiffbauerdamm und vergaß das Stück nicht mehr.[4]1973 war ich mit Freunden zwei- oder dreimal in Ostberlin spazieren gegangen. Wir hatten in der Karl-Marx-Buchhandlung »Blaue Bände« – so nannten wir die »Gesammelten Werke« von Karl Marx und Friedrich Engels – gekauft und immer um Mitternacht die Hauptstadt der DDR verlassen müssen.
Für die SED war ich später, weil antiautoritär und ökologisch gesinnt, eine Art Alien, die falsche Art Linke. Als ich in den 1970er Jahren in der ersten Anti-AKW-Bewegung aktiv war und gegen Atomprogramme weltweit, in West und Ost, eintrat, galten Leute wie ich den DDR-Oberen als Maschinenstürmer und Fortschrittsfeinde. Ich durfte nie wieder einreisen, nicht einmal, als ich von 1984 bis 1988 Bundesvorsitzende der Grünen war und andere grüne Funktionsträger Erich Honnecker die Aufwartung gemacht hatten.[5] In den Resten meiner kleinen Stasi-»Opfer«-Akte fand ich später einen Auftrag zur Telefonüberwachung und den Hinweis: Dem »Fahndungsobjekt ist bei Rückweisung der Satz ›Ihre Einreise in die DDR ist gegenwärtig nicht erwünscht‹« zu übermitteln. Genau diesen Satz hörte ich bei jedem Einreiseversuch.[6] – Die DDR war im Jahr 1990 für mich ein wirklich fremdes Land.
Dann fiel die deutsch-deutsche Grenze, und ich fuhr im Winter 1989/1990 mit Freunden durch die DDR, um sie, bevor sie verschwand, kennenzulernen. Wir fanden Freunde, beobachteten den frühen Einfall westdeutscher Nazis und von Immobilienhändlern und kauften Kofferräume voller Bücher, die auf den Müll geworfen werden sollten, um Reiseführern Platz zu machen.[7]
Mein Dilemma an diesem Frühsommertag im Mai 1990 lag also nicht an einem Desinteresse an der DDR, sondern vielmehr daran, dass die Kindheitsorte meiner Mutter nicht irgendwelche Wohnungen oder Häuser waren, sondern Schlösser, Rittergüter und Großgrundbesitz. Es war eine Fahrt in die feudale Vergangenheit meiner Familie. Eine Reise, das hoffte ich, zur Klärung der Mythen, mit denen mich vor allem meine älteren weiblichen Verwandten vollgestopft hatten. Ich kannte keine anderen Linken, die in einem ähnlichen Konflikt steckten.
Wenn Mitglieder vormals großgrundbesitzender adliger Familien – der Adel wurde 1919 angeblich abgeschafft – über ihre Herkunftsorte sprechen, sagen sie beispielsweise »Langenorla«. Damit meinen sie nicht das Dorf und die dort lebenden Menschen, sondern ihren (ehemaligen) Besitz. »Langenorla« meint das Schloss, das Rittergut, Wälder, Felder und Wiesen.
Kreuzzüge, Kriege, Enteignung der Bauern und die Ausbeutung der Landarbeiter waren die Grundlage der Herrschaft meiner Vorfahren gewesen, die sie sich durch den Pakt mit den sachsen-altenburgischen Herzögen, den preußischen Königen, dem deutschen Kaiser, der völkischen Bewegung und dem NS-Regime sicherten, bis sie 1945 das Land verlassen mussten und ihr Besitz in der DDR einer Bodenreform unterzogen wurde.
Einer der von Beusts ließ sich auf dem alten Rittergut 1721 von einem italienischen Baumeister das Barockschloss Langenorla bauen, umgeben von einem Wassergraben, der sich aus der Orla speiste. Die Beusts waren die Kirchenpatrone und die Gerichtsherren von Langenorla. Erst im März 1851 wurde als Folge der Revolution von 1848/49 das Patrimonialgericht zu Langenorla aufgelöst und die Gerichtsbarkeit vom Staat übernommen, das heißt an das nahe gelegene herzogliche Kreisamt in Kahla weitergereicht. Das bedeutete zwar, dass mein Ururgroßvater niemanden mehr verurteilen und in die Gefängniszelle im Keller seines Schlosses sperren durfte, aber er behielt das Patronat über Kirche, Pfarrei und Schule. Er entschied, wer Pfarrer wurde, er bestimmte, dass die Schulkinder nicht zu viel lernten.
Im März 1856, meine Urgroßmutter Gertrud war sechs Jahre alt, wurden vierzehn Menschen wegen »einfacher und ausgezeichneter Eigenthumsverbrechen«, verübt auf dem Rittergut Langenorla, vom Herzoglichen Criminalgerichtshof zu Strafen zwischen sechs Tagen und vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt, zwei bis vierzehn Monaten Arbeitshaus und zu vier Monaten bis vier Jahren Zuchthaus. Was hatten sie verbrochen? Sie hatten Hunger und in den Wäldern »gewildert«, und sie hatten sich von den Feldern, die sie für die Beusts beackerten, Klee, Runkeln und Kartoffeln geholt. Holzdiebstahl und Wilderei sind nicht grundlos beliebte Themen in der Literatur sowie den Gerichtsakten des 18. und 19. Jahrhunderts. Auch aus Langenorla wanderten Menschen wegen ihrer erbärmlichen Lebensbedingungen aus.
Es hätte mich bei diesem Rundgang im Mai 1990 nicht überrascht, wären wir aus dem Dorf gejagt worden. Stattdessen wurden wir freundlich empfangen. Der Pfarrer borgte uns das Original der Dorfchronik.[8] Eine Bekannte meiner Mutter aus Kindertagen – »mein Vater war euer Förster« – führte uns zur Dorfkirche und dort hinauf zur Dachkammer. Sie schloss auf, und ich stand vor dem überlebensgroßen Ölbild meiner Urgroßmutter Gertrud Elisabeth Freiin von Beust (1850–1936), neben ihr weitere, etwa siebzehn Ahnenbilder.[9] Gertrud war Hermanns und Marie von Beusts Tochter.[10]
Abb. 2 Gertrud Elisabeth Freiin von Beust, ca. 1867
Im Winter 1948/49 war das Schloss nach ordentlichem deutschen Plan ausgeräumt und abgerissen worden. Es gab damals Auseinandersetzungen um den Abriss, im Ort selbst und zwischen verschiedenen Kulturbehörden, und es gab Pläne für eine andere, soziale Nutzung.[11] Am Ende setzten sich die durch, die das Symbol des Feudalismus beseitigen und Baumaterial für Neubauerngehöfte beschaffen wollten. Anderswo gingen ähnliche Konflikte anders aus. In Schloss Kochberg, wo meine Verwandten von Stein wohnten, rettete ein Major der Roten Armee und Goethe-Bewunderer das frühere Schloss der Charlotte von Stein vor dem Abriss. Schloss Sahlis, das in diesem Buch noch eine Rolle spielt, wurde von der örtlichen KPD-Ortsgruppe geschützt. Beides ist heute ein Tabu.
Vor zweiundvierzig Jahren waren die Bilder meiner Ahnen in diese Dachkammer in Langenorla gestellt worden. »Wir« haben sie für »euch« aufgehoben, sagte die freundliche Frau. Meine Urgroßmutter auf dem Gemälde war jung, rotblond gelockt, trug ein üppiges, hellgrünes Ballkleid und war umrandet von einem voluminösen Goldrahmen. Ich sah die Verfasserin eines rätselhaften Buches meiner Kindheit zum ersten Mal.
Abb. 3 Dorfstraße in Langenorla, 1920er oder 1930er Jahre
Meine Großeltern hatten sich nach ihrer Flucht vor der Roten Armee 1945 aus Vorpommern auf dem von Ditfurth’schen Rittergut Lemmie bei Hannover niedergelassen. Hier hatte ich als Kind fast alle Ferien verbracht. Meine Großmutter Heilwig von Raven fütterte mich mit Mythen, mit adligen Spielregeln für Mädchen und rechter Ideologie. Als ich etwa acht Jahre alt war, gab sie mir ein Buch: die Lebenserinnerungen meiner Urgroßmutter Gertrud von Beust (1850–1936). Es war auf dem »Treck« – ein geheimnisvolles Wort, mit dem ich aufwuchs – »gerettet« worden. Ich las.
Es waren meine ersten Memoiren. Ich staunte, dass ein Leben in ein Buch zu passen schien. Ich war verwirrt. Kriege, adlige Rituale, meine Mutter als Kind, verrückte Verwandte, Liebschaften. Aber warum hatte Urgroßmutter Gertrud die Juden so verabscheut? Wenn ich meine redselige Großmutter danach fragte, verstummte sie. Bestenfalls hörte ich das ewige: »Das war damals so.«
In meiner Familie gab es Restbestände von Nazi-Sprache. Wir Kinder hießen manchmal das »Jungvolk«, das sich amüsierte, oder etwas wurde »bis zur Vergasung« betrieben. Als ich später zum ersten Mal von der Ermordung der europäischen Juden hörte – ich erinnere mich nicht mehr an die Umstände –, beschloss ich, niemanden je »Jude« zu nennen, vor allem keinen Juden, denn sie wollte ich auf keinen Fall kränken. »Jude« war, das schloss ich aus den widersprüchlichen Bemerkungen der Erwachsenen, ein besonders bösartiges Schimpfwort.
Über die Jahre las ich diese Erinnerungen immer mal wieder. Urgroßmutter Gertrud bewunderte ihren großgewachsenen »urgermanischen« Vater Hermann, der in seiner Studienzeit »durch manche Mensur« als »Kampfhahn« bekannt geworden war. Er sei ein »begeisterter Patriot« gewesen, und lange vor Bismarck war »sein Ideal die deutsche Einheit und das Kaisertum«. Das Reich schien ihr bedroht, denn »noch aber saß Barbarossa der Sage nach im Kyffhäuser, und die Raben umkrächzten den Berg – wie heute wieder«[12]. So schrieb sie 1929 und wartete auf einen Führer, der »des Reiches Herrlichkeit« (Friedrich Rückert) wieder herstellen würde. Sie schwärmte von den Zeiten, als »die Leute« noch wussten, wo ihr Platz zu sein hatte, sich demütig den Interessen des Großgrundbesitzers unterwarfen, weil die »Gesinnung des Volkes […] noch nicht durch Fremdrassige vergiftet« war: »In Sachsen-Altenburg durfte kein Jude sich länger als zwölf Stunden aufhalten.«[13]
Als sie dies schrieb, waren der Erste Weltkrieg und die Kolonien verloren, die Novemberrevolution zwar niedergeschlagen, aber der geliebte Kaiser im Exil, der Hofstaat von Sachsen-Altenburg aufgelöst, und meine Urgroßmutter lebte in einer Republik, die sie hasste – der von Weimar.
Der Kleinstaat Sachsen-Altenburg war in das neu gegründete Thüringen überführt worden.[14] Der Adel war mit dem Artikel 109 der Weimarer Reichsverfassung abgeschafft worden, in dem es hieß: »Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden.«
Das Schreckgespenst des Adels, die Französische Revolution, hatte nach 130 Jahren doch noch gesiegt. »Fremdrassige« hatten die Macht übernommen, das war das Synonym für »jüdische Bolschewisten«, denn was gab es Schlimmeres als Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten?
Wo der Feind saß, war ihr früh beigebracht worden. Ihre Großeltern[15] hatten der kleinen Gertrud und ihrer Zwillingsschwester Armgard in den 1850er Jahren beigebracht, die Juden zu verabscheuen. Franz und Charlotte von Holtzendorff nahmen ihre Enkelinnen oft mit nach Bad Kösen. Der »Kuchengarten« war der Sammelplatz der Badegäste, wo beim Nachmittagskaffee Konzerte stattfanden. »Eines Tages wollten schwarzhaarige Kinder mit uns spielen. Instinktiv hielten wir sie für Juden und erklärten ihnen: ›Mit euch spielen wir nicht, denn ihr habt den Herrn Christus gekreuzigt.‹ Sie rannten zu ihrer Mutter, der Frau Kommmerzienrätin Reichenheim aus Berlin, und erzählten ihr, was wir soeben gesagt hatten, doch blieb’s bei unserer Abweisung.«[16] Vermutlich handelte es sich hier um die Ehefrau des Berliner Kaufmanns Leonor Reichenheim (1814–1868). Er war damals Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, später für die Nationalliberale Fraktion im Reichstag des Norddeutschen Bundes.[17]
Über das 18. Jahrhundert schrieb der französische Historiker Léon Poliakov, dass »das Volk der Christen« jederzeit den Juden gegenüber »seinen Gefühlen […] freien Lauf lassen« konnte: »Beim bloßen Anblick von Juden waren Hohngelächter und Geschrei ein alltägliches Spektakel.«[18] Etwa neunzig Jahre bevor das Kind Gertrud jüdische Kinder in Bad Kösen beleidigte, schrieb der Berliner Philosoph Moses Mendelssohn 1780 an einen Freund, er würde ohne Not nicht auf die Straße gehen. In diesem »sogenannten duldsamen Lande« lebe er so »eingeengt, durch wahre Intoleranz so von allen Seiten beschränkt, daß ich meinen Kindern zu Liebe mich den ganzen Tag in einer Seidenfabrik […] einsperren muss«. Wenn er abends mit Frau und Kindern spazieren gehe, frage ihn sein Kind: »Was ruft uns jener Bursche dort nach? Warum werfen sie mit Steinen hinter uns her? Was haben wir ihnen getan?« Und ein anderes Kind sagt: »Ja, lieber Papa […], sie verfolgen uns immer in den Straßen und schimpfen: Juden! Juden! Ist denn dieses so ein Schimpf bei den Leuten, Jude zu sein?« Vater Mendelssohn seufzte dann: »Menschen, Menschen, wohin habt ihr es endlich kommen lassen?«[19] Moses Mendelssohn hat Lessing seinen weisen Nathan (1779) nachempfunden.[20]
Als sie zwölf oder dreizehn Jahre alt waren, steckten die Eltern Beust ihre Zwillingstöchter Gertrud und Armgard ins freiadlige evangelische Magdalenenstift in Altenburg. Das war seit 1705 eine christliche Erziehungsanstalt für adlige Töchter, eine in diesen Kreisen angesehene »Kaderschmiede« für protestantische adlige Mädchen, die hier auf ihre Rolle an einem monarchischen Hof, auf einem Schloss, Rittergut oder, falls sie unverheiratet blieben, in einem Stift vorbereitet wurden.
Wer als Erwachsener andere zu kommandieren hatte, wer Hierarchien nicht in Frage stellen, sondern durchsetzen sollte, musste als Kind gebeugt, wenn nicht sogar gebrochen werden. Eine Generation, der es selbst so ergangen war, tat das der nächsten an. Adlige Jungs wurden ab dem achten Lebensjahr in Kadettenanstalten gesperrt, Mädchen häufig in Stifte. Sosehr Kinder und Jugendliche auch unter dieser Erziehung litten – die noch heute so manchen Feind der antiautoritären Erziehung begeistert –, so sehr musste es ihr Ziel sein, »durchzuhalten«, um der Familie »keine Schande« zu machen und Teil der gesellschaftlichen Elite zu werden. Diese Art der elitären »schwarzen Pädagogik« hat bei denen, die sie deformierte, oft immensen Hass auf Menschen geschürt, die freier, selbstbestimmter und weltoffener leben konnten.
Urgroßmutter Gertrud litt und war doch stolz, diese Zuchtanstalt durchzustehen. Die »Pflichttreue« und den preußischen »Patriotismus« der Pröpstin Elisabeth Gräfin von Zedlitz-Trütschler bewunderte sie später als »soldatisch«. Die Mädchen hatten sich vor der Pröpstin zu verbeugen und ihr Zimmer nur im Rückwärtsgang zu verlassen. Schlafsäle, strenge Kontrolle strikter Tagesabläufe, Verbote bestimmter Bücher, zweimal am Tag Andacht, Bibelstunden, christliche Choräle. Als Strafe gab es Zimmerarrest, Sprechverbot, Katzentisch oder Stockstöße in den Rücken. Den Kindern wurden tagsüber Schandbroschen aus Pappe angesteckt, auf denen ihre »Verbrechen« angeprangert wurden. Christlicher Antijudaismus war Teil des Lehrplans.
Trotz der Französischen Revolution, der »Befreiungskriege« gegen Napoleon und des deutschen Nationalismus war in den 1860er Jahren der Hass auf den französischen »Erbfeind« noch nicht so umfassend, wie er es nach dem Krieg von 1870/71 sein sollte: Die adligen Mädchen im Altenburger Stift hatten Französisch zu sprechen – nach dem Vorbild Friedrichs »des Großen«, der besser Französisch sprach als Deutsch. Die älteren Schülerinnen hatten in den Klassenzimmern aufzupassen, dass kein deutsches Wort gesprochen wurde.
Nur wenige unterwarfen sich alldem nicht und brachen aus, unter ihnen Franziska Gräfin zu Reventlow, die 1887 von ebenjener Pröpstin von Zedlitz-Trütschler wegen widerspenstigen Verhaltens von der Schule verwiesen wurde. Reventlow hat ihre Zeit im Altenburger »Zuchthaus« in ihrem Roman Ellen Olestjerne (1903) verarbeitet.
Auf unserer Reise im Mai 1990 besuchten meine Mutter und ich das Stift, das sie als junges Mädchen von 1941 bis 1942 hatte besuchen müssen. Ziel der kleinen Fluchten meiner Mutter war zu ihrer Internatszeit das nahe gelegene Schloss Windischleuba, wo ihr Großonkel Börries von Münchhausen lebte.[21] Von ihm später mehr.
In den Jahren nach der Schule und vor der Heirat hatte meine Urgroßmutter Gertrud viel Zeit. Kuraufenthalte waren beim Adel sehr beliebt. Kurbäder waren Orte, an denen in Muße die völkische Weltanschaung verfestigt wurde, und mit ihr der Antisemitismus. Gertrud und ihr Vater Hermann kurten zum Beispiel in Bad Ems. Ihre Erinnerung färbte sich später antisemitisch, als sie von mit »verschwenderischem Luxus ausgestatteten Sälen« schrieb, wo das Gold klapperte, der Ruf »Mesdames, faites votre jeu, rien ne va plus va banque!« erscholl und »eine internationale Gesellschaft dem Moloch des Goldes« huldigte.[22] Wer mit wem gesellschaftlich verkehrte und wie viele Heiratskandidaten sie umschwärmten, war Gertruds liebstes Thema. Hier traf sie den König und späteren deutschen Kaiser sowie den künftigen Zaren mit seinem Sohn, dem letzten russischen Zaren.
Abb. 4 Hermann Freiherr von Beust
Bei einem Abendessen im Kurhaus des belgischen Seebads Blankenberge, zwei Jahre vor dem Deutsch-Französischen Krieg, hätten »vornehme Franzosen« gefordert, dass Frankreich beide Ufer des Rheins besitzen müsse. Da stand die siebzehnjährige glühende Nationalistin vom Tisch auf und verteidigte den deutschen Rhein. Auf Französisch sagte sie: »Der Rhein ist ein freier deutscher Strom, nie werden Sie ihn haben, aber wir werden uns das deutsche Elsaß-Lothringen zurückholen«![23] Die französischen Offiziere verließen verärgert das Lokal, und die von allen Seiten gelobte junge Frau verfasste noch am selben Abend ein »feuriges« und schwer nationalistisches Gedicht.[24]
Mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870, den Bismarck so geschickt vom Zaun gebrochen hatte, wurde die deutsche Einheit auf Bergen von Leichen errichtet, auf Massakern an der französischen Zivilbevölkerung, der Belagerung und Aushungerung von Paris, der maßlosen Provokation der Krönung des deutschen Kaisers Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles. Im Zusammenhang mit den Versailler Verträgen von 1919 wird all das auch heute noch selten erwähnt.
Meine kriegsbegeisterte Urgroßmutter Gertrud von Beust wäre am liebsten selbst in die Schlacht gezogen. Gerührt sah sie »all die Lieben gegen den Erbfeind« ziehen, »wie 1813«. Wenn sie schon Frankreich nicht selbst »züchtigen« durfte, machte sie Propaganda. Sie ließ sich von ihrem Kutscher »stundenlang über Stock und Stein in die umliegenden Wald- und anderen Dörfer« fahren und »bettelte für’s Vaterland«. Wo immer sie war, sang sie Die Wacht am Rhein, zum Beispiel beim »Charpie zupfen, wenn an langer Tafel die Töchter des Dorfes sich um mich geschart hatten«[25]. »Charpie« hießen Fäden aus Baumwolle oder Leinen, die zu extrem keimbehafteten Wundverbänden verarbeitet wurden.
Das Lied Die Wacht am Rhein besaß beinahe die Funktion einer Nationalhymne: antifranzösisch, deutschnational und später auch von den Nazis zu gebrauchen. Im Film Casablanca stimmt Wehrmachtsmajor Strasser am Klavier in Rick’s Café Américain Die Wacht am Rhein an, alle deutschen Offiziere erheben sich und singen. Der Antifaschist Victor László, der in Paris den Deutschen noch entkommen ist und in Casablanca auf sein Visum wartet, eilt zur Band und stimmt die Marseillaise an, bei der rasch so viele französische Emigranten und Nazi-Gegner mitsingen, dass sie die Deutschen übertönen.[26]
Bei einem der Kuraufenthalte verguckte sich der neunundfünfzigjährige Herzog Karl von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg (1813–1878) in die junge Frau und wollte sie an seinen Hof in Glücksburg holen. Er drängte, reiste hinterher und beschenkte sie und ihre Eltern so lange, bis er sein Ziel erreicht hatte. Der am wenigsten anrüchige Weg war eine Adoption, das Herzogspaar war kinderlos. Die Adoption wurde am 28. Dezember 1870 von einer »Deputation« des »herzöglichen Gerichtsamts Kahla«, bestehend aus einem Landrichter und einem Notarsadvokaten, im Schloss Langenorla vollzogen, Gertrud, ihre Eltern und der Herzog unterzeichneten den Vertrag, mitten im Krieg.
Warum die Adoption? Für die Beusts ging es um Geld. Der Langenorla’sche Besitz war hoch verschuldet. Die Adoption brachte eine Apanage, viele Geschenke und verhieß ein großes Erbe. Die junge Freiin sollte zur Gräfin von Glücksburg werden. Der Deal war eine Art Aufstieg vom Uradel in den Hochadel, denn Herzog und Herzogin waren mit vielen europäischen Königshäusern eng verwandt.[27]
In den nächsten Jahren lebte sie vorwiegend in Glücksburg. Fünf Monate nach der Adoption reiste sie mit dem Herzog nach Berlin, wo sie im Mai 1871 die erste Reichstagssitzung besuchte. Ihrer Klasse gemäß war sie von August Bebel, dem Handwerker und Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), angewidert, zumal der dort die revolutionäre Pariser Kommune verteidigte, die mit Hilfe der deutschen Armee in diesen Tagen blutig massakriert wurde. Urgroßmutter war empört, dass Bebel »stundenlang« sprechen durfte. Bebel sagte: »Wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich Sie, dass der Kampf nur ein kleines Vorpostengefecht ist, dass die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht, und dass, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang der Schlachtruf des gesamten Proletariats sein wird!«
Meine Urgroßmutter war erleichtert, als sich Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke erhob, verantwortlicher Befehlshaber der deutschen Armeen in Frankreich, seine ganze Rede sei »kurz wie der Hieb mit einem Schlachtschwert!« gewesen, schwärmte sie.[28] Bebels Rede trug ihm die Verschärfung der politischen Verfolgung von Reichskanzler Graf Otto von Bismarck und bald das Zuchthaus ein.
Gertrud von Beust hielt die SPD für undeutsch und jüdisch: »Nach und nach konnte man die Maulwurfsarbeit jener Partei beobachten, deren Väter, die Juden, den germanischen Geist töten, wie der grimme Hagen den arglosen, deutschen Siegfried. Jetzt, im Jahre [19]29, müssen wir durch das kaudinische Joch gehen. Wann wird der Retter kommen? – Meist wurden die großen Männer, die uns Gott gesandt hatte, vom eigenen Volke verkannt. Wieder, wie zu Zeiten Heinrichs IV., werden wir im Büßerhemde nach Canossa gehen, denn das Zentrum, mit jüdischem Geiste durchsetzt, ist das Zünglein an der Wage.«[29]
1872 fuhr sie mit ihrem Beust’schen Vater zur wochenlangen Kur nach Norderney, das sehr in Mode gekommen war. »Dort herrschte ein strenger Kastengeist«, in den größten Saal des Kurhauses durfte nur der Adel. Viele Seebäder an der Nord- und Ostsee brüsteten sich Ende des 19. Jahrhunderts damit, »judenrein« und »national« zu sein, Norderney soll eine Ausnahme gewesen sein.[30] Folgt man aber meiner Urgroßmutter, traf das nicht zu. Sie beobachtete ungerührt, wie unter der Verantwortung des Badekommissars Freiherr von Vincke jüdische Badegäste auf der Insel gedemütigt und drangsaliert wurden: Ein Jude »war dem Damenstrande zu nahe gekommen, da fielen die hünenhaften, riesigen Badefrauen über ihn her und bearbeiteten ihn unbarmherzig mit ihren Fäusten. Er verschwand umgehend aus Norderney.«[31]
Vielleicht entwickelte sich der Antisemitismus auf Norderney langsamer und widersprüchlicher als auf anderen Inseln. Über Borkum hieß es 1925: »Auf der Insel könnte man einen Juden totschlagen, ohne dass ein Hahn krähte.«[32]1878 war auf Norderney in Anwesenheit des preußischen Justizministers die Synagoge eröffnet worden. 1928 feierte sie ihr fünfzigstes Jubiläum, und das Israelitische Familienblatt berichtete, wie gut besucht die Synagoge während der Sommermonate war.[33] Es gab auf Norderney rituelle Speisehäuser und eine koschere Metzgerei, Juden waren in das Wirtschaftsleben integriert.
Norderney galt lange Jahre als »Insel der Toleranz«, was antisemitische Tendenzen und Geschehnisse aber nicht ausschloss. 1923/24 wurde hier eine Ortsgruppe des Stahlhelm-Bundes der Frontsoldaten gegründet, und die Stimmung kippte unaufhaltsam in Richtung mörderischer Judenfeindschaft. Zehn Jahre nachdem meine Urgroßmutter die antisemitischen Aktivitäten des adligen Badekommissars auf Norderney beobachtet hatte, besuchte Theodor Fontane 1882 die Insel. Sein Leben lang wollte er vom preußischen Adel anerkannt werden. Jetzt hatte er einiges an den jüdischen Badegästen auszusetzen und schrieb an seine Frau: »Fatal waren die Juden, ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz« – beide Städte lagen in der preußischen Provinz Posen – »ein Jahr lang Menschen betrogen [und] eklige Geschäfte besorgt hat«, habe kein Recht, »sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren. Wer zur guten Gesellschaft gehört, Jude oder Christ, darf sich auch in der guten Gesellschaft bewegen; wer aber 11 Monate lang Katun abmisst oder Kampfer in alte Pelze packt, hat kein Recht im 12. Monat sich an einen Grafentisch zu setzen.«[34]
Der Sieg über Frankreich, die Unterstützung des unterlegenen Kriegsgegners bei der blutigen Niederschlagung der ersten proletarischen Revolution, der Pariser Kommune im Mai 1871, die Beute in Höhe von 5 Milliarden Goldfrancs, die nach Deutschland flossen und die Gründerjahre befeuerten – alles verschob die Kräfteverhältnisse zugunsten des neuen deutschen Kaiserreichs. Und alles beschleunigte den Hass auf die Juden.
Zu den Besuchern im heimischen Langenorla gehörte beispielsweise Vetter Curt von Knobelsdorff, Offizier, Casino-Direktor in Mainz und Alkoholiker. Später wurde er ein abstinenter, judenfeindlicher evangelischer Missionar und Blaukreuzler. Gertrud fand seine Vorträge »sehr interessant«, vor allem den »über die Vorhersage der französischen Revolution«.[35] Bei den Beusts lebte zeitweilig seine Mutter Auguste von Knobelsdorff, die Witwe jenes Generals, der »im verhängnisvollen Jahre 1848 dem damaligen Prinzen Wilhelm von Preußen«, wenn auch nicht allein, »vor dem Pöbel geschützt und ihm zur Flucht nach England verholfen« hatte.[36] – Im Oktober 1939 wird ein Generalmajor von Knobelsdorf(f) SS-Obersturmbannführer Eichmann helfen, die Juden aus Kattowitz zu deportieren.[37]
Christlicher Mystizismus und Okkultismus waberten durch adlige Köpfe, und die Französische Revolution blieb das große Hassbild der deutschen Rechten als das größtmögliche gottesfeindliche Armageddon: Menschenrechte, die Gottesgesetze ersetzten und die für alle Menschen galten, sogar für den Pöbel, was für ein Graus! Es ging wahrhaft ein Gespenst durch Europa.
Tatsächlich hatte die Französische Revolution, neben so vielem anderen, die Religion zur Privatsache gemacht. Juden mussten sich in Frankreich deshalb nicht durch Übertritt zum Christentum ein »Entréebillet zur europäischen Kultur« (Heinrich Heine) erkaufen, wozu sie in Deutschland und Österreich gezwungen waren und was ihnen meist nicht viel nützte. Sie konnten sogar in höchste Staatsämter vorrücken.
Gertrud verlobte sich mit dem königlich-preußischen Rittmeister Franz von Raven (1846–1900) aus Groß Luckow in der Uckermark. Der Bräutigam war im Elsass bei den deutschen Besatzungstruppen stationiert. Sie kehrte vom Glücksburger Hof nach Langenorla zurück, begleitet von Glückwünschen von und Einladungen an verschiedene monarchische Höfe Europas.[38] So international der europäische Hochadel war, so nationalistisch blieb meine Urgroßmutter. Gertruds Hass auf Frankreich war inzwischen so hysterisch, dass sie »innerlich weinte«, als ihr Bräutigam bei einem seiner Besuche ein Kartenspiel mit dem französischen Namen L’hombre spielen wollte, das eigentlich auch bei den Beusts immer gern gespielt worden war. Aber jetzt bestand sie auf »deutschen Sitten«, Franz beobachtete Gertruds Abscheu gegen das »welsche« Spiel, nahm sie in den Arm, rief »Germania!« und gab nach.[39]
Durch die Beziehungen ihres herzoglichen Adoptivvaters zum Kaiser wurde der Bräutigam nach Kassel »abkommandiert«, zum Inspektionsoffizier befördert und als Reitlehrer des vierzehnjährigen Wilhelm und seines elfjährigen Bruders Heinrich eingestellt.[40] Wilhelm wurde später Kaiser Wilhelm II. Der junge Ehemann musste »wöchentlich mehrere Male die beiden Prinzen im Reiten unterrichten und mit ihnen ausreiten […] Prinz Wilhelm hatte von Geburt an einen kurzen Arm und fiel infolgedessen oft vom Pferde. Daher war dieser Unterricht sehr schwierig. Es wurde als eine Ehrensache betrachtet, die kaiserlichen Prinzen zu unterrichten.« Gertrud klagte über den Geiz des Hofes, weil ihr Mann nach drei Jahren Reitunterricht zum Andenken nur einen »versilberten Zigarrenkasten« und zwei kleine Fotografien der Prinzen bekommen habe. Aber es sei »selbstverständlich« gewesen, dass man sich »opferte«.[41]
Neben der ›Aufopferung‹ war es ein angenehmes Leben. Nachmittags ließ sich Gertrud zu ihrem Mann kutschieren, und sie machte Ausflüge. Das junge Paar verfügte über Personal, der Adel gab Bälle, man spielte Theater und unternahm Pferderennen und Ausflüge. Es gab häufig Urlaub. Ihre ersten Kinder wurden geboren. 1876 nahm Franz von Raven seinen Abschied vom Militär, weil er sich, bevor er das väterliche Gut in Groß Luckow übernahm, zum Landwirt ausbilden lassen musste. Gertrud kurte währenddessen auch einmal im bayerischen Staatsbad Steben, einmal saß ein Kaplan neben ihr, »der mich zum Katholizismus bekehren wollte«. Sie wehrte ihn ab: »Geben Sie sich keine Mühe, Herr Kaplan, mich bekehren Sie nicht. Mein Urahn war der erste, der in Wittenberg zu Luthers Lehre überging.«[42]
Das traf fast zu. Joachim von Beust (1522–1597), Jurist aus alter märkischer Familie, studierte in Leipzig, wo er Martin Luther kennenlernte und zu seiner Lehre konvertierte, früh, aber vermutlich nicht als Erster. Er war der Stammvater aller Beusts, Stammmütter gab es nie. 1550 berief ihn Kurfürst Moritz von Sachsen zum Hofgericht in Wittenberg, und auch andere Kurfürsten machten Beust zu ihrem theologisch-juristischen Berater.[43]
Im Kurfürstentum Sachsen hatten Juden damals keine Durchreiseerlaubnis, der Aufenthalt war ihnen untersagt. Im Kleinstaat Sachsen-Altenburg, wo Hermann von Beust, mein Ururgroßvater, Kammerherr bei Hof und Landtagsabgeordneter für die Ritterschaft war, durften sich Juden noch im 19. Jahrhundert nicht niederlassen und für ihre Durchreise nicht länger als einen Tag benötigen, sonst wurden sie hinausgeprügelt.
Martin Luther und der Adel gehören zusammen. Luther war der Ideologe und Agitator der Obrigkeit, Gegner der Freiheitssehnsucht der Bauern, die ihren letzten großen Aufstand 1525 blutig verloren hatten. Friedrich Engels merkte sarkastisch an, dass es der deutsche Adel vorzog, »lieber unter fürstlicher Oberhoheit die Bauern fernerhin zu exploitieren [auszubeuten], als die Fürsten und Pfaffen durch ein offenes Bündnis mit den emanzipierten Bauern zu stürzen«[44].
Ganz Realpolitiker, schlug Luther sich am Ende auf die Seite der Sieger, der Fürsten. Der Protestantismus diente ihren Interessen. Knapp 400 Jahre sollte es so noch dauern, bis die Herrschaft der adligen Großgrundbesitzer über Leute und Land abgeschafft sein würde. Während Luther sich der christlich-adligen Obrigkeit andiente, hetzte er gegen die Juden, voller Wut auch darüber, dass sie sich von ihm, dem großen Reformator, nicht hatten missionieren lassen. In seinen frühen Jahren hatte er noch bemängelt, dass man von den so »viehisch traktierten« Juden nicht erwarten könne, dass sie sich zum Christentum bekannten. Der ältere Luther marschierte mit ungeheurer Wucht in die Schlacht gegen die Juden.
Es war die Zeit, in der die alten antisemitischen Stigmata – Ritualmord, Hostienschändung, Brunnenvergiftung, Mord an christlichen Kindern – auch von anderen Autoren und Rednern neu belebt wurden. Katholische Orden wie die Dominikaner stachelten den Hass gegen die Juden auf, etwa Jakob von Hochstraten, ein fanatischer Verfechter der Inquisition. Texte wie die des katholischen Theologen Johannes von Eck entstanden, aus denen sich später nicht nur Julius Streicher für seinen Stürmer bediente. Die Juden sollten Zeichen tragen, waren es nicht wert, als Zeuge gegen Christen aufzutreten, sollten kein Gewerbe ausüben dürfen, sich aber zwingen lassen, christliche Predigten anzuhören.
Luther schrieb derb, brutal und von keinerlei Weltläufigkeit angehaucht, wie sie manch klügeren Kopf in den großen Städten Europas beeinflusste. Er lebte »in einer Krähwinkelstadt« und hatte sich dort »in ein enges Gehäuse eingesponnen«, wo er »jedem Klatsch gegen die Juden sein volles Ohr« lieh.[45] Alles missionstaktische Verständnis für die miese Lage der verstockten Juden verflüchtigte sich. Er saugte jeglichen Antisemitismus seiner Zeit begierig auf, reicherte ihn an, um ihn schließlich mit seinen Schmähschriften Über die Lügen der Juden (1542/43)[46] und Vom Schem Hamphoras und vom Geschlechte Christi (1544)[47] hochgiftig konzentriert wieder auszuspeien.
In den Lügen der Juden schrieb er: »Was klagen die Juden über harte Gefangenschaft bei uns, wir Christen sind beinah 300 Jahre lang von ihnen gemartert und verfolgt, daß wir wohl klagen möchten, sie hätten uns Christen gefangen und getötet. Dazu wissen wir noch heutigen Tages nicht, welcher Teufel sie in unser Land gebracht hat. […] Land und Straßen stehen ihnen jetzt offen, mögen sie ziehen in ihr Land, wir wollen gern Geschenke dazu geben, wenn wir ihrer los wären, denn sie sind uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserem Lande sind.«
Fast höhnisch zählte Luther auf, wo und warum die Juden überall vertrieben worden seien.[48] Der »Reformator« machte praktische Vorschläge, wie man gegen die Juden vorgehen könne: Er empfahl, ihre Synagogen zu verbrennen, ihre Bücher zu beschlagnahmen, ihre Gebete zu verbieten, sie zu harter körperlicher Arbeit zu zwingen, die Fürsten sollten sie aus ihren Ländern austreiben und die Obrigkeit und die Pfarrer überall ihre Pflicht gegen die Juden tun und ihre Gemeinden mit giftigem Hass gegen die Juden erfüllen.[49] Wenn ich Gewalt über die Juden hätte, sagte er, würde ich ihre Gelehrten und Besten versammeln und ihnen mit der Androhung, »ihre Zungen hinten am Halse herauszuschneiden, den Beweis auflegen, daß das Christentum nicht einen einzigen Gott, sondern drei Götter lehre«. Wenn die Juden »uns könnten alle töten, so thäten sie es gerne und thun es auch oft, sonderlich die sich vor Ärzte ausgeben«.
Die alten katholischen, oft sophistischen Reden gegen die Juden waren abgenutzt, die Sprache des Begründers des Protestantismus aber war neu, volkstümlich und wirkungsvoll. Robert Schlickewitz: »Die Stimmführer des Katholicismus verlangten von ihnen lediglich Unterwerfung unter die kanonischen Gesetze, gestatteten ihnen aber unter dieser Bedingung den Aufenthalt in den katholischen Ländern. Luther aber verlangte ihre vollständige Ausweisung. Die Päpste ermahnten öfter, die Synagogen zu schonen; der Stifter der Reformation dagegen drang auf deren Entweihung und Zerstörung.« Luther trug »die Schuld daran, daß die protestantischen Fürsten sie bald aus ihren Gebieten verwiesen«.[50]
In seiner Streitschrift Schem Hamphoras verwünschte Luther die Juden noch rasender: »Denn es ist ebenso möglich, die Juden zu bekehren, wie den Teufel zu bekehren. […] Denn ein Jude oder jüdisch Herz ist so stock-, eisen-, teufelshart, dass es mit keiner Weise zu bewegen ist. […] Summa, es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt«.[51] Er veröffentlichte wahnwitzige Phantasien über die Zauberkünste der Juden, über die Verwandlung ihres Kotes und ihres Urins in Scharfsinnigkeit und dergleichen mehr. Hetzbilder, die in der deutschen Romantik wieder auftauchen sollten. Luther nahm Einfluss auf die Entscheidungen in Sachsen, Brandenburg und Schlesien, die Lage der Juden zu verschlechtern. »Er hat in Wahrheit unsere Lage sehr gefährlich gemacht!«, schrieb Josel von Rosenheim (1476–1554), ein berühmter Verteidiger der jüdischen Gemeinden in religiösen und Rechtsfragen seiner Zeit.[52]
»Vor die Entscheidung gestellt«, schreibt Léon Poliakov, »verbündete er [Luther] sich mit den Mächtigen dieser Welt, den Fürsten, da von ihnen die Zukunft der Reformation abhängt. Dadurch wurde die schöne Reinheit seiner Lehre getrübt; auf jeden Fall muss er sich mit all dem in seinem Namen vergossenen Blut und mit all den so begangenen Verbrechen abfinden. […] der inneren Freiheit stellt er die unwandelbare, durch Gott eingesetzte Ordnung der Dinge der Welt entgegen. Die Pflicht zum Gehorsam schiebt sich an die erste Stelle; der Christ muss ein zuverlässiger und gehorsamer Untertan bleiben. So führt […] die totale Freiheit zu einer totalen Verknechtung. Der Erzengel des Aufruhrs wandelt sich in einen verbitterten und despotischen Spießbürger.«[53]
In Preußen setzten sich Reformation und Luthertum durch und damit eine jahrhundertelange Erziehung zu unbedingtem, vermeintlich gottbefohlenem Gehorsam, diese mörderische Seite »deutscher Leitkultur«, die so viele Kinder und junge Leute zerbrach. In Familie und Magdalenenstift streng protestantisch erzogen, betonte die jung verheiratete Gertrud von Beust im bayerischen Kurbad Steben mit dem Hinweis auf die innige Beziehung ihrer Ahnen zum Judenhasser und Fürstenfreund Luther genau diese Wurzel des Antisemitismus.
Mit dem Umzug von 1878 in die Uckermark brach bei Gertrud von Raven-Beust die Schwärmerei für die Mark Brandenburg aus. Mit dem nationalkonservativen Dichter Georg Ludwig Hesekiel rühmte sie die Mark als »Lebensmark des deutschen Volkes« und als die »Wurzel, aus der die Weltenesche Ygdrasil«, ein bis heute in antisemitischen »Neuheiden«-Kreisen verehrter germanenmystischer Kultbaum, »ihre Äste ausbreitet über das ganze deutsche Land. […] Gott schütze Preußen, und lasse es nach seinem Sturze wieder hoch zu Ehren kommen für alle Ewigkeit! […] Hart arbeitet dort der Mensch, Edelmann und Bauer. Für seine Scholle geht er in den Tod und für die Fahne ›Schwarz-Weiß-Rot‹. Du Mark, ich liebe dich, denn meine Augen vater- und mütterlicherseits waren Märker.«
Das junge Paar bewirtschaftete nun Schloss Langenorla. Meine Urgoßmutter Gertrud kommandierte das Personal in ihrem Teil des Betriebs: Haus, Küche, Garten. Ihr Mann war der Herr über Maschinen, Viehwirtschaft, Felder, Wälder, Jagd und Finanzen. Wie so viele Menschen verstand sie die Zeit nicht, in der sie lebte, und nichts von den politischen und ökonomischen Grundlagen ihrer Existenz. Aber sie wusste stets, wer an ökonomischen Krisen schuld war: der Jude.
1811–1815: Adliger Antisemitismus in der Romantik
Woher hatten adlige Menschen wie meine Urgroßmutter ihr Wahnbild über die Juden? In der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts und in der Romantik »geschah die nationale Selbstfindung im Schattenriss des anderen: Man fand über den Umweg eines Feindbildes zu sich selbst.«[54] Schon im 18. Jahrhundert diente der Antisemitismus der Konstruktion der deutschen Nation. Etwa ab 1740 findet sich im »Vaterlandsdiskurs« die Notwendigkeit des Fremden, des Französischen, für die Herausbildung des Eigenen.
Nicht nur für den berühmten romantischen Dichter Ernst Moritz Arndt (»Noch etwas über die Juden«, 1815) waren die Juden ein fremdartiges Volk, vor dessen verderblicher Vermischung der »germanische Stamm« reingehalten zu werden hatte. Ein undeutsches Volk waren sie aus seiner Sicht, dessen jüdischer Charakter dem französischen, slawischen und südeuropäischen nah und sie alle dem deutschen unterlegen waren. Arndt wies den Juden die Rolle einer mit dem französischen Feind verbündeten und deshalb feindlichen Minderheit zu, ein staatsfeindliches Volk in der noch nicht gebildeten Nation. Sie waren für ihn »ein verdorbenes und entartetes Volk«, dem die christliche Religion als »das Ernsteste und Tiefste« fehlte, welche doch »bis in das innerste Getriebe des Staates eindringen« musste.[55]
Einer unserer späteren Ausflüge führte meine Mutter und mich zum Schloss Boitzenburg in der Uckermark. Es liegt auf einer kleinen Insel in einem von Peter Joseph Lenné gestalteten Landschaftspark. Zu DDR-Zeiten war es ein NVA-Erholungsheim, heute beherbergt es ein Hotel. Bis 1945 gehörte es zum Großgrundbesitz der weitverzweigten Familie von Arnim. Irgendwelche Arnims waren weitläufig mit der Familie meiner Mutter verwandt.[56] Es ist überhaupt eher ungewöhnlich, wenn adlige Familien nicht wenigstens weit entfernt miteinander verwandt sind: Wenn sich eine kleine gesellschaftliche Kaste über Jahrhunderte anstrengt, nur innerhalb der eigenen Kreise zu heiraten, kommt eben das dabei heraus. ›Heirate nur in deiner eigenen Kiste‹ lehrten mich als Kind weibliche Verwandte. Es roch nach Tierzucht und Unfreiheit.
Weltsicht und Menschenbild, Selbstverständnis, Sprach- und Feindbilder des Adels waren vom Ende des 18. bis ins 20. Jahrhundert von einer unversöhnlichen Abneigung gegenüber Vorstellungen von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« durchdrungen. Wie konnten Bauern, Tagelöhner, Arbeiter oder gar Juden sich anmaßen, »frei und gleich« sein zu wollen? Von den Frauen gar nicht zu reden.
Des Adels Schreckgespenst waren alle Revolutionen und Revolutionsversuche, ob bürgerliche oder sozialistische, wie die Französische Revolution von 1789, die deutsche von 1848, die Pariser Commune von 1871 oder die Russische Revolution von 1917. Das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war die Schuld der Franzosen. Auch die vielen tapferen Aufstände und Versuche der Errichtung einer französischen Republik im 19. Jahrhundert nährten das deutsche Hassbild vom »Erbfeind Frankreich«.
Das heilige »alte Reich« war morsch geworden und hatte den Folgen des Dreißigjährigen Krieges, dem Erstarken unzähliger Territorialstaaten, dem Ansturm neuer ökonomischer Entwicklungen, die auf technologischem Fortschritt beruhten, revolutionären Ideen und schließlich den Truppen Napoleons nicht standgehalten. Aus Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wurde Franz I. nur von Österreich. Im Rheinbund versammelten sich ab 1806 sechzehn deutsche Fürstentümer – bis 1808 traten weitere deutsche Staaten bei, unter französischem Protektorat. Einige seiner Ideengeber sahen den Rheinbund als den »wahren germanischen Bund«, mit dem das »wiedergeborne Deutschland« seinen Platz neben Österreich und Preußen behaupten sollte. Bayern, Sachsen, Franken, Schwaben, Rheinländer und Westfalen sollten der Kern dieser Wiedergeburt sein. Aber der Rheinbund hielt nur bis 1813.
1810, unter Kaiser Napoleon, erreichten die kriegerischen Handlungen Frankreichs ihren Höhepunkt, und Preußen sah sich weitgehend auf seine ostelbischen Besitztümer zurückgeworfen. Frankreich besetzte die linksrheinischen Gebiete, von Südbaden bis hinauf nach Norden im Department des Bouches de l’Elbe von Oldenburg, Hamburg und Lübeck.[57] Der Code Napoléon, der als »Code civil« (französisches Zivilgesetzbuch) 1804 in Kraft getreten war, galt in den von Frankreich besetzten Gebieten bis 1815.
Für den deutschen Adel waren die späten Kriege von 1813 bis 1815 gegen die napoleonische Armee »Befreiungskriege«. Mit dem Begriff war sowohl die Befreiung von der französischen Besatzung als auch die kriegerische Abwehr neuer demokratischer und bürgerlicher Rechte gemeint. Auch wenn es paradox klingt: Der Sieg des preußisch-russisch-österreichischen Bündnisses über Napoleon war einerseits der Sieg über einen despotischen französischen Kaiser, andererseits aber auch »der Sieg der europäischen Monarchien über die französische Revolution«[58].
Die Befreiung der Menschen von geburts- und berufsständischen Abhängigkeiten und Ungleichheiten, die der Code Napoléon verhieß, beförderte eine Gesetzgebung, welche der Kapitalismus in der endgültigen Ablösung von der Feudalgesellschaft brauchte. Dazu gehörte die formale Gleichheit vor dem Gesetz, Gewerbefreiheit, Abschaffung des Zunftszwangs, Schutz des Privateigentums etc. Diese modernen Rechtsauffassungen förderten die industrielle Entwicklung der Rheinprovinz. Aber der Code Napoléon »hat nicht die moderne bürgerliche Gesellschaft erzeugt. Die im 18. Jahrhundert entstandene, im 19. fortentwickelte bürgerliche Gesellschaft findet vielmehr im Code nur einen gesetzlichen Ausdruck.«[59]
Zweitens attackierte das französische Recht die Interessen, die Macht und das Geburtsvorrecht des Adels, jener herrschenden Klasse, die in den deutschen Ländern noch von keiner Revolution wirklich gefährdet worden war. Jegliche Sehnsucht der Menschen nach »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, und war sie auch noch so verschwommen, war für den deutschen Adel, wie für alle vergleichbar rückständigen Eliten in Europa, das Böse schlechthin.
Während Paris und London als Weltmetropolen mit reaktionären, aber auch mit gebildeten und aufgeklärten Gesellschaftskreisen aufwarten konnten, während der (ambivalente) Fortschritt in den Rheinprovinzen sein Haupt hob, beschreibt Friedrich Engels die preußische Hauptstadt der späten 1840er Jahre aus eigener Anschauung als finstere Provinz: »[…] mit seiner kaum entstehenden Bourgeoisie, seinem maulfrechen, aber tatfeigen, kriechenden Kleinbürgertum, seinen noch total unentwickelten Arbeitern, seinen massenhaften Bürokraten, Adels- und Hofgesindel, seinem ganzen Charakter als bloße ›Residenz‹. Entscheidend aber war: In Berlin herrschte das elende preußische Landrecht.«[60]
Das »elende preußische Landrecht« enthielt Frondienste, Prügel, Pressezensur, Zunftzwang und Festungshaft bei Majestätsbeleidigung. Wem Unrecht geschah, der konnte nur bei der Obrigkeit betteln, ein Klagerecht hatte er nicht. Die überschätzten und verspäteten preußischen Reformen, eine Reaktion auf die Niederlage von 1806 gegen Napoleon, verschlechterten die ökonomische Lage der vermeintlich befreiten und nun in nur neue Abhängigkeiten gebrachten Bauern und Arbeiter. Sie nützten vor allem den Großgrundbesitzern und dem Großhandel.
Mit dem preußischen Edikt von 1812 und unter dem Druck der französischen Entwicklung wurden Juden endlich preußische Staatsbürger – wobei ihnen die Staatsbehörden in Einzelfällen diese Staatsbürgerschaft wieder wegnehmen konnten. Juden durften Land kaufen und mussten Soldaten werden, zu Offizieren aufsteigen durften sie nicht. Sie hatten keine Sondersteuern mehr zu bezahlen. Sie erhielten die Gewerbefreiheit und den – an Bedingungen wie Grundbesitz geknüpften – Zutritt zu städtischen und Universitätsämtern, nicht aber zu höheren Positionen in Verwaltung, Justiz und Militär. All diese Rechte galten ausschließlich für jene Juden, die bereits in Preußen ansässig waren. Für jüdische Deutsche, die aus einem anderen deutschen Kleinstaat einwanderten, galten sie nicht. Sie galten außerdem nur für das Königreich Preußen in seinen Grenzen von 1812, also zum Beispiel nicht im Großherzogtum Posen und nicht in Vorpommern. Dort fielen die Rechte der Juden sogar in vornapoleonische Zeiten zurück.
Die Lockerung der ständisch-absolutistischen Tyrannei bewirkte, wie von der Staatsführung beabsichtigt, eine größere Identifikation der unteren Stände sowie der Juden mit dem preußischen Staat und seinem Krieg gegen Frankreich. Man brauchte schließlich Menschenmaterial für die letzten Feldzüge gegen Napoleon.
In der preußischen Hauptstadt wimmelte es im frühen 19. Jahrhundert von elitären gesellschaftlichen Zirkeln, die sich den Nationalismus, die Romantik und unausgesprochen auch den Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben hatten. Der elitärste und politisch einflussreichste war die Deutsche Tischgesellschaft. Ihre Gründer waren die romantischen Schriftsteller (Ludwig) Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842), die Verfasser der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1806).[61] Achim von Arnim, Sohn eines preußischen Gesandten und Intendanten Friedrichs des Großen, lud zum 18. Januar 1811, dem preußischen Krönungstag, zur Gründung der Deutschen Tischgesellschaft ein, die er in Briefen spaßeshalber auch »eine deutsche Freßgesellschaft« nannte, in der politische Fragen diskutiert werden sollten.
Es war eine ordentliche Angelegenheit samt Mitgliederliste, Statut und Tagesordnung. Die Tischgesellschaft fand sich zweiwöchentlich mittwochs zusammen.[62] Mitglied konnte nur werden, wen zehn Mitglieder der Gesellschaft unterstützten – und wer Christ war. Der Ausschluss von Frauen war so selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung bedurfte.
Jüdische Deutsche, die sich christlich hatten taufen lassen, galten damals in den gebildeten Ständen ohne weiteres als Christen. Aber die Mehrheit der Mitglieder der Deutschen Tischgesellschaft hing halb oder ganz bereits einem »rassischen« Antisemitismus an und schloss auch getaufte Juden rigoros und ausnahmslos aus. Heldenhaft verteidigte Achim von Arnim die christliche Reinheit der Vereinigung. Auch wenn die Juden »100000 Dukaten für die Sprecherwürde« böten, blieben sie »von uns ausgeschlossen«,[63] sagte er.
Gesellige »Gleichheit« herrschte nur zwischen Männern, die von Geburt an christlich zu sein hatten. Unendlich fortschrittlich fühlte man sich, weil man – der Tradition der Aufklärungsgesellschaften folgend – als Mitglieder nicht nur männliche Menschen von hohem, sondern auch niederem Adel aufnahm sowie solche aus dem gehobenen – einflussreichen und/oder wohlhabenden – Bürgertum.[64] Es gab eine Vereinshierarchie (Sprecher, Schreiber, Gesetzgebender Ausschuss), aber entschieden wurde »demokratisch«, das heißt nach dem Mehrheitsprinzip. Innerhalb des Adels galt die Vereinigung auch deshalb als fortschrittlich, und die jungen deutschnationalen Dichter grenzten sich gegen »Philister« und andere konservative Spießbürger ab. Sie ignorierten dabei, um wie viel fortschrittlicher einige der jüdischen Salons gewesen waren.
Die Deutsche Tischgesellschaft war sehr angesehen und die Mitgliedschaft begehrt, obwohl es viele gesellige Vereinigungen in Berlin gab und ihre Mitgliedsbeiträge hoch waren. Das lag daran, dass sich hier die preußische Elite aus Staat, Militär, Wissenschaft und Kunst traf: Kriegs-, Finanz- und Innenminister, Staats- und Regierungsräte, Generäle, Kommandanten, Gesandte, Universitätsrektoren und -professoren, Oberbürgermeister, Großgrundbesitzer, Architekten, Theologen, Dichter. Die Mitgliedergrenze musste sofort auf sechzig Männer erhöht werden, sie stieg weiter, und mitunter musste ein größerer Versammlungsort gefunden werden. 42 von 85 Mitgliedern waren laut Mitgliederliste Adlige.[65]
Zu den heute noch bekannten Namen gehören viele Mitglieder des Hochadels sowie Carl von Clausewitz (1780–1831), preußischer General, Militärtheoretiker und Autor des Buches Vom Kriege (1832); Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), zeitweise Sprecher der Deutschen Tischgesellschaft und Professor und Rektor der Berliner Universität, aus seinen Vorlesungen entstand das antisemitische deutschnationale Werk Reden an die deutsche Nation (1808); Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), Architekt, zuständig für preußische Prachtbauten und Denkmäler, sowie der Judenfeind und Dichter Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), Professor der Theologie und Philosophie.[66]
Die Deutsche Tischgesellschaft ist ein Beleg dafür, dass der Rasse-Antisemitismus bereits in der Emanzipationszeit in den Köpfen der deutschen Elite und vor allem des Adels Einzug gehalten hatte.
Deutschland war wieder einmal spät dran. Mit der Bill of Rights waren die Juden in den USA1776 gleichberechtigte Bürger geworden. Fünfzehn Jahre später wurden sie in der Folge der Revolution in Frankreich »emanzipiert«, das heißt, sie erhielten die vollen Menschen- und Bürgerrechte. In den deutschen Gebieten hatten sie nur dort Rechte unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wo sich der Code Napoléon durchgesetzt hatte. In Preußen blieb der Antisemitismus die Ideologie der herrschenden Kreise.
Die Deutsche Tischgesellschaft verstand sich angesichts autoritärer Verhältnisse samt Zensur als »Ersatzöffentlichkeit«, in der »die Maßnahmen der preußischen Staatsbürokratie besprochen«, »die Liebe zur preußischen Krone und zu Deutschland« gepflegt und »der Haß auf alles Französische unzensiert ausgedrückt werden« konnte.
Achim von Arnim war ein, wenn nicht gar der zentrale Ideologe. Er hielt eine Reihe von Tischreden. Die widerwärtigste trägt den Titel »Über die Kennzeichnung des Judenthums«. Er hielt sie zwischen dem 13. März und Juni 1811.[67] Zu diesem Zeitpunkt war von Arnim, dank enger politischer und privater Beziehungen zum Hof, der Wortlaut des künftigen Juden-Edikts von 1812 bekannt. Hemmungslos wütete er gegen die geplante – begrenzte – Besserstellung der Juden.
Abb. 5 Achim von Arnim, Herr auf Schloss Wiepersdorf, Brandenburg.
Achim von Arnim spuckte in seiner Tischrede alle Hostien- und Ritualmordlegenden, die im Mittelalter zu so fürchterlichen Pogromen gegen die Juden geführt hatten, auf den Tisch der feinen Gesellschaft. Er behauptete, sich davor zu fürchten, dass sich Juden heimlich in die Tischgesellschaft einschmuggelten. Zehn Mitglieder konnten neue Mitglieder aufnehmen. Es brauchten sich also nur zehn Juden zu »verstellen« und Mitglieder zu werden, dann hätten sie den elitären Verein so lange unterwandern können, bis sich an der »Stelle dieser christlichen Tischgesellschaft eine Synagoge« versammelte. Statt des »frohen Gesanges« würde dann jiddisch gebetet, statt der Fasanen würden »Christenkinder« geschlachtet, »statt der grossen Wohltaten«, die man plane, würden »die öffentlichen Brunnen vergiftet« und all die »Missethaten« verübt, um deretwillen man »die Juden in allen Ländern Europens bis aufs Blut geneckt« habe.[68] Womit Achim von Arnim Pogrome rechtfertigte.
Arnim versuchte seinen Tischgenossen klarzumachen – sofern sie es nicht schon wussten –, dass die Juden erfahrene Verschwörer waren. Erst unlängst habe er über die »heimliche Verbindung der Juden zu allerley böser That« in Wien und Frankreich gelesen.[69] Mit ihrer wissenschaftlich leider noch unerforschten Fähigkeit zur Verstellung seien die Juden ungehindert in bedeutende Positionen gelangt und hätten sich in Portugal sogar »mit den ersten Häusern gemischt«, also in den Adel eingeheiratet.[70] – Was für den verschuldeten Achim von Arnim von Schloss Wiepersdorf bei Jüterborg offensichtlich ein Schreckgespenst war. In einzelnen Fällen hatten inzwischen auch in Berlin meist verarmte Adlige wohlhabende, getaufte Jüdinnen geheiratet. – Die Juden hätten sich über all die Jahrhunderte auf heimtückische Weise den Christen geschickt angepasst. Ihre »Neugierde« sei so groß und ihr Geldbeutel so gut gefüllt, dass »sie bey jedem neuen Stücke in dem Schauspiel die besten Logen voraus erkaufen können«. Höhnisch merkte er an: »Muß es sie nicht ärgern daß sie von uns ausgeschlossen sind?«[71]
Arnim lobte die »verständigen Herrscher« des Mittelalters, die den Juden bestimmte auffällige Kleidungsstücke aufgezwungen hatten, um sie von Christen optisch zu unterscheiden. So mussten die Juden »im Jahre 1419 in Frankreich rothe, in Avignon und Rom goldgelbe, im Venetianer Gebiet safrangelbe Hüthe tragen«. An vielen Orten Deutschlands mussten sie »eine messingfarbene Null auf dem Rocke tragen zum Zeichen, dass sie nichts bedeuten für sich, aber durch ihr Geld und ihre Zins sich schnell vergrössern könnten«.[72] Leider seien diese »weise angeordneten Kleiderauszeichnungen« verschwunden. Aber es bestand angesichts des »fröhlichen Aufblühens der Policeywissenschaft« in Preußen die Hoffnung, »auch wieder solch eine Farbenblüthe an den Juden zu erwarten«. Vielleicht würde es genügen, »wenn sie nur ihre rechte und ihre linke Seite in verschiednen Farben trügen, oder wenn ihre Hände reinlich mit Oehlfarbe angestrichen würden um sie beym Geldzählen gleich zu erkennen«.[73]
Die völkischen Nationalkonservativen und die deutschen Faschisten würden sich mehr als hundert Jahre später auch aus diesem Pool der Romantik bedienen. Aber der Weg vom Antisemitismus der Aufklärung über den rassistisch gefärbten romantischen Antisemitismus hin zur Wannseekonferenz war kein unausweichlicher. Max Horkheimer und Theodor Adorno weisen darauf hin: »Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex posto facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt.«[74]
Es gab auch in der Zeit der Romantik »das Gegenteil«, etwa die frühe Arbeiterbewegung, die vom alten christlichen Antijudaismus, der ihr gepredigt worden war, noch einige Ressentiments geerbt hatte, die aber kein vergleichbar geschlossenes, rassistisch und nationalistisch durchdrungenes antisemitisches Weltbild besaß.
Der Gründer der elitären Tischgesellschaft beschrieb in seiner Tischrede über die »Kennzeichen des Judenthums« dann genüsslich ein obszönes Wandgemälde an einem Brückenturm in Frankfurt über den Main nach Sachsenhausen:[75] »Auf einem Mutterschwein, das einen jungen Juden säugt, sitzt rücklings ein Rabbiner« mit Hut und Brille und hält den Schwanz des Schweins »als Zaum in der Hand, ein anderer Jude horcht darunter hinein nach Prophezeihung, während die Jüdin sich an den Hörnern des Sündenbocks hält und von ihm zum Teufel geführt wird«.[76] Das Bild habe, behauptete von Arnim, »so allgemeinen Beyfall« erhalten, dass es »durch zwey Jahrhunderte von den besten Malern Frankfurts immer neu aufgefrischt worden« sei.[77]
Abb. 6 Antijüdisches Fresko im Nordturm der Alten Brücke, Frankfurt/Main (ca. 1500–1801). Oberer Teil: die Simon-von-Trient-Legende vom Blutkult und Ritualmord. Unterer Teil: das Judenschandbild »Judensau « mit obszönen Handlungen und Teufel. Der Rat der Stadt ließ das antisemitische Wandbild immer wieder auffrischen.
Der Gründer der Tischgesellschaft ließ – vielleicht war’s den feinen Manieren geschuldet – Elemente des Bildes aus, die der Frankfurter Lehrer Johann Jakob Schudt, Verfasser antisemitischer Pamphlete, 1714 drastischer beschrieben hatte: »[…] unter diesem Schwein liegt ein junger Jud / der die Zitzen saugt / hinter der Sau liegt ein alter Jud auf den Knien / und läst die Sau den Urin und anders aus dem Affter ihm ins Maul laufen.«[78]
Achim von Arnim, der sich geärgert hatte, dass sich wohlhabende jüdische Berliner im Schauspiel die besten Logen kaufen konnten, schlug vor, das Frankfurter Gemälde auf die Vorhänge des Berliner Schauspiels zu übertragen, wo es »zur Belustigung der Zwischenakte« dienen könne.[79]
Man findet noch heute Dutzende vergleichbarer antisemitischer Hetzbilder an öffentlichen Gebäuden, Kirchen und Schlössern, in den Domen von Köln, Magdeburg und Regensburg und in Kirchen von Ahrweiler bis Zerbst, nur wenige wurden zerstört, viele sogar restauriert.[80]
Der Romantiker erging sich ausführlich über vermeintlich unverkennbare »Kennzeichen« und Gewohnheiten jüdischer Menschen: Sie »spucken noch aus Angewohnheit aus, wenn von Christus die Rede ist«. Sie haben »fast immer etwas über ihre Gesundheit zu klagen«, sie litten, wegen der Hinrichtung Christi, an sonderbaren Erbkrankheiten, und der »Stamm Levi« als der, der »unserm Herrn ins Gesicht gespuckt habe vermöge dafür nicht über ihren Bart zu spucken«. Er kolportierte alte Legenden über grausame Handlungen verschiedener jüdischer Stämme bei der Hinrichtung Christi, wofür diese mit »Hauern« wie »Schweinezähne« bestraft worden seien, mit ihrem »stumpfem Witz«, dem »Grinsen« beim Blick in die Sonne, schlecht sitzender Kleidung und ewig schmutzigen Körpern.[81]
In Frankfurt am Main waren die Juden 1462 auf Anordnung von Kirche und Kaiser aus ihren Wohnhäusern vertrieben und in das enge Ghetto »Judengasse« eingesperrt worden. Statt der anfangs 100 Menschen lebten bald 2000 unter erbärmlichen Bedingungen, bis Napoleon einmarschierte. In Form eines Knittelverses kolportierte Arnim, dass ein Jude sich bei einem Ritterturnier einschlich, um es anzuschauen. Er hatte das Pech, von einem adligen Schuldner erkannt zu werden, und sah sich schnell von wütenden christlichen Rittern umringt, die ihn lynchen wollten. Der Preis für sein Leben war, dem Ritter die Schulden zu erlassen, sich zusammenschlagen und zwangstaufen zu lassen. Da der »Judenschmutz« (Arnim) an der Rattenplage in Frankfurt schuld sein sollte, musste der Mann künftig auf der Main-Brücke jedem für eine tote Ratte einen Heller zahlen. Die Schwänze hatte er als Belege aufzubewahren, die Rattenleichen flogen in den Main.[82]
Achim von Arnim hatte diese Geschichte von seinem Bekannten Anton Kirchner, Prediger an der Frankfurter Paulskirche, übernommen.[83] Er machte aus der ursprünglichen Tanzveranstaltung ein Ritterturnier.[84] Antijüdische Legenden wie diese wurden über die Jahrhunderte weitergegeben.
Arnim behauptete, damit über die gefährliche »Neugierde der Juden« aufzuklären, deren Bestandteil »die Spekulazion«, das »merkantile« Interesse sei, Bekanntschaften zu schließen.[85] So habe sich neulich ein Jude, »der sich ein christliches Gesicht zu traute«, bei einem Ball in Frankfurt eingeschlichen, »welchen die Bürgerschaft dem Fürstprimas gab und wurde halb erschlagen fortgetragen«.[86] Fürstprimas des 1806 gegründeten und 1813 aufgelösten Rheinbundes und Großherzog von Frankfurt war Karl Theodor Anton Maria Reichsfreiherr von Dalberg. Der Vorfall muss sich demzufolge kurz vor Arnims Rede zwischen 1806 und 1811 zugetragen haben.[87]
Falls ein Mitglied der Vereinigung in den Verdacht gerate, dem Judentum anzugehören – das heimliche Einschleichen bleibt seine große Sorge –, schlug er in der Rede »Über die Kennzeichen des Judenthums« vor, »Experimente« mit dem als Juden Verdächtigten und seiner Familie anzustellen. Den Mann trete man so kräftig, dass ihm der Ischiasnerv schmerze, dann »lege man ein Goldstück darauf oder mehrere und die Zuckungen hören auf, bey einem Christen hingegen mehrt sich dabei das Zucken«[88].
Arnim demonstrierte seine Frauenverachtung und ganz besonders seine Verachtung jüdischer Frauen. Jüdinnen, so Arnim, erkenne man schon an der »Lebendigkeit«, »Mohrenartigkeit und Borstigkeit« ihrer Haare.[89] Jüdinnen stänken bekanntermaßen so heftig, dass eine Lilie, die eine Nacht im Bett einer jüdischen Frau gelegen habe, giftig werde.[90] Die Vergewaltigungsphantasie ist offensichtlich, wenn Arnim sagt: »Hat der Verdächtige eine hübsche Frau, so gehe man während der Zeit, die er unter uns verlebt, mit einer Wünschelruthe zu ihr, wie sie die Bergleute zur Entdeckung edler Metalle brauchen, hebt sie sich in ihrer Nähe, so ists gewiß eine verkappte Jüdin. […] Man verfahre dann nach Belieben.«[91]
Arnim steigerte sich fast hysterisch in alle möglichen Experimente, die er selbst gemacht zu haben behauptete: »Auf denn meine Herren, ich habe nach besten Kräften experimentiert, ihnen ist es vielleicht verliehen diesen vielfach untersuchten Gegenstand, der Juden Gestank durch hinlängliche Versuche an Juden, zu erweitern denen die Haut abgezogen ist, ein Präparat, dass ich mir noch nicht verschaffen konnte.«[92]
Als Christ fühlt er sich verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass man bei all diesen Experimenten »Humanität« wahren müsse, weil ja »unzählige Grausamkeiten unter dem Vorwande des christlichen Glaubens gegen dieses unglückliche Volk verübt worden sind«, andererseits sei jetzt aber »beynahe das gesammte Vermögen der Nazionen wieder in der Juden Hände gekommen«. Sie würden von jedem »öffentlichen Unglücke« profitieren und seien »an kein Vaterland« gebunden.[93]
Dann machte der berühmte Dichter von Arnim – Humanität hin oder her – einen grauenhaften Vorschlag. Er regte chemische Experimente an, »mit dem Göttlinger Probierkasten, mit dem chemischen Ofen« etc. Der Göttlinger Probierkasten war ein neuer Experimentierkasten für chemische Analysen. Man sollte versuchen, »den Juden wieder aus seinen Bestandteilen zusammen[zu]setzen«.[94] Arnim sann laut darüber nach, aus welchen Elementen der Jude wohl bestehe.[95] Er bezog sich dabei auf ein Gedicht von Karl Gustav von Brinckmann[96], das dieser 1793 an Alexander von Humboldt geschickt hatte. Arnim spielte also den »witzigen Gedanken« durch, einen Juden »durch chymische Operazionen hervorzubringen«, ihn aus Dreck zusammenzukneten. Alexander von Humboldt hatte sich bei Freund Brinckmann für das »göttliche Gedicht« bedankt und vorgeschlagen, es im berühmten Salon von Henriette Herz vorzulesen. Man brauche allerdings »einen Wagen, denn bei dem Dreck risquirt man daß einem Juden an den Sohlen entstehen«.[97] Was im Übrigen Hannah Arendts Äußerung korrigiert, in jener kurzen Zeitspanne von 1780 bis 1806 sei »der alte Judenhaß wirklich abgetan und der moderne Antisemitismus noch nicht geboren« gewesen.[98] Manchmal stolpern Antijudaismus und Antisemitismus wegen äußerer Bedingungen nur, sie ziehen ihre Spitze zurück, um dann in modernerem, umso wirksameren Gewand neu anzugreifen.