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Für ihren großen Traum setzt Irma alles aufs Spiel ... Der Glanz der Habsburgermonarchie und die Eleganz der klassischen Reitkunst. Wien, 1898. Die junge Irma Rehberger liebt ihren Lipizzaner-Hengst Novio über alles. Als er verkauft werden muss, um das Gestüt ihrer Familie zu retten, bricht für sie eine Welt zusammen. Kurzerhand beschließt sie, ihrem Pferd an die berühmte Spanische Hofreitschule in Wien zu folgen. Verkleidet als Pferdeknecht tritt sie die Ausbildung als Eleve an, hat es ohne adligen Hintergrund allerdings nicht leicht. Durch ihr außergewöhnliches Talent wird schon bald ihr Lehrer Stephan auf sie aufmerksam und fördert sie besonders. Mit der Zeit fühlt Irma sich immer stärker zu ihm hingezogen, doch wenn ihre Tarnung auffliegt, muss sie Novio verlassen. Wie wird Irma sich entscheiden? Folgt sie der Vernunft oder ihrem Herzen? Der erste Band der historischen Saga um die Wiener Hofreitschule. Packend, romantisch und hochemotional erzählt Franziska Stadler von einer jungen Frau, die inmitten einer von Männern dominierenden Welt mutig ihren Weg geht: Schafft sie es, sich als erste Frau an der Spanischen Hofreitschule durchzusetzen? Für Leserinnen von Corina Bomanns ›Die Frauen vom Löwenhof‹ und Rena Rosenthal ›Die Hofgärtnerin‹, sowie für Fans der Serie ›Die Kaiserin‹.
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Wien, 1898. Die junge Irma Rehberger liebt ihren Lipizzaner-Hengst Novio über alles. Als er verkauft werden muss, um das Gestüt ihrer Familie zu retten, bricht für sie eine Welt zusammen. Kurzerhand beschließt sie, ihrem Pferd an die berühmte Spanische Hofreitschule in Wien zu folgen. Verkleidet als Pferdeknecht tritt sie die Ausbildung als Eleve an, hat es ohne adligen Hintergrund allerdings nicht leicht. Durch ihr außergewöhnliches Talent wird schon bald ihr Lehrer Stephan auf sie aufmerksam, zu dem sich Irma immer stärker hingezogen fühlt, und fördert sie besonders. Doch wenn ihre Tarnung auffliegt, muss sie Novio verlassen. Wie wird Irma sich entscheiden? Folgt sie der Vernunft oder ihrem Herzen?
Franziska Stadler
Der Traum von Freiheit
Roman
(reale historische Figuren sind mit * gekennzeichnet)
In der Steiermark
Irma Rehberger, begabte Reiterin auf dem Gestüt ihrer Mutter.
Anton Rehberger, Irmas Zwillingsbruder.
Paul Kendrick, Sohn des Tierarztes und Irmas erste große Liebe.
Marian Pribek, Pferdepfleger auf dem Gestüt Rehberger, in Irma verliebt. Seine Eltern, Milchbauern, bieten Ställe für Zuchthengste an.
Josefine »Fine«, Helferin auf dem Gestüt, Tochter des Stallmeisters Jakob Dellinger und Irmas Freundin.
Juliane Rehberger, Mutter von Irma und Anton.
Großvater Albrecht, der seiner Enkelin Juliane die marode Stuterei in der Steiermark vererbt hat.
Victor Kendrick, Tierarzt und Julianes heimlicher Geliebter.
Fred, der seinen Onkel in Floridsdorf besucht und Irmas Reisegefährte wird.
Und die Lipizzaner Pferde Tardon, Bella und Novio.
In Wien
Stephan Gowalka, Bereiter an der Spanischen Hofreitschule.
Hugo Fabritius, Oberbereiter mit einem dunklen Geheimnis.
Johann von Falkenstein, Eleve, der zum Bereiter ausgebildet wird.
Felix von Korthy, Bereiteranwärter und Sohn eines mächtigen Barons, der als spendabler Förderer der Hofreitschule gilt.
Dr. Ludwig Böhm, Tierarzt an der Hofreitschule und Nachfolger des verstorbenen Dr. Wenzel Eberstorfer.
Der Lockenfranz, Pferdepfleger in der Stallburg und Rosalies Cousin.
Arthur Honzak, schmieriger Vermieter in der Fillgradergasse.
Adele, junge Pferdenärrin.
Mizzi Kaspar*, menschenfreundliche Hauseigentümerin in der Paniglgasse.
Paul Busch*, Direktor des Zirkus Busch im Prater.
Rosalie, Artistin und Pferdeliebhaberin.
… und natürlich:
Kaiser Franz Joseph I.* und seine Frau Elisabeth*, die von allen nur Sisi genannt wird.
August 1898
Novio tänzelte und warf den Kopf, als eine einfahrende Lokomotive ein Pfeifen ausstieß und das Quietschen von Eisen auf Eisen ertönte. Irma neben ihm hielt die Zügel fester und sprach beruhigende Worte, um dem Pferd die Angst zu nehmen. Das Rattern der Räder auf den Schienen, die Dampfwolken, die umherlaufenden Passagiere und Mitarbeiter auf dem Bahnsteig – das alles war neu für den Hengst. Irma hatte Mühe, seinen Fluchtinstinkt zu bändigen und ihn an der Hand zu führen. Es zog ihn auf die Apfelwiesen der Steiermark, aber diese Zeiten waren vorbei. Es gab kein Zurück mehr. Nicht für ihn, nicht für sie.
Die zehn Kilometer vom Gestüt zum Grazer Bahnhof war sie auf ihm geritten. Herrlich, die frische Morgenluft einzuatmen, den Duft von Moos und Wildblumen in der Nase, den Wind um die Ohren, wenn sie ihm die Zügel freigab und er in den Galopp fiel. Den weiten Weg nach Wien hatte sie Novio mit seinen knapp fünf Jahren nicht zumuten wollen, stattdessen die Fahrt mit der Bahn vorgezogen. Er sollte die kaiserlich-königliche Hofburg in bester Verfassung erreichen. Davon hing viel ab.
Sie führte den Hengst unter dem Bahnhofsdach bis zu den im Freien stehenden Waggons für den Vieh- und Gütertransport. Am Billettschalter hatte man ihr den Weg gewiesen.
»Eine Fahrt im Viehwagen und einmal zweite Klasse für Sie?«, hatte die Dame am Schalter gefragt und sie über den Rand ihrer Brille hinweg angesehen.
Irma hatte den Kopf geschüttelt. »Ich fahre bei meinem Pferd mit.«
»Na, wenn’s Spaß macht. Aber der Preis ist derselbe, nicht wahr?«
Nicht jeder hatte Verständnis für das enge Verhältnis, das sie mit dem grauen Lipizzaner Hengst verband. Als könnte sie Novio allein in einem Waggon zurücklassen! Er würde es ihr übel nehmen, wenn sie sich von ihm während dieser Reise trennte. Sie gestand sich ein, dass auch sie sich mit ihm in ihrer Nähe wohler fühlte, sein Schnauben im Ohr, sein warmes Maul an ihrer Schulter. Manchmal ließ sie die Angst vor der Zukunft innerlich frösteln.
Seine Hufe klackten auf den Holzdielen, als sie die Waggons passierten. Die Hänger waren beladen mit Kisten voller Marillen, Äpfel und Birnen, mit Kartoffelsäcken und Kohlköpfen in Körben. In einem stapelten sich Möbel, aus einem anderen glotzten wiederkäuend fünf Milchkühe heraus. Im nächsten drängte sich blökend und den Geruch nach Wollfett verbreitend eine kleine Schafherde, der Schäfer verriegelte soeben die Tür. Endlich erreichte Irma den Wagen mit der Nummer neun, den ihr die Schalterbeamtin genannt hatte. Er war mit Stroh ausgelegt, an einer Wand stand ein Käfig mit flatternden Hühnern. Daneben starrten zwei schwarz-weiße Schafböcke mit geringelten Hörnern wie versteinert Löcher in die Luft. Zwischen dem Vieh fläzte sich ein etwa vierzehnjähriger Junge, die Beine dünn wie Hühnerknochen, die Schieberkappe so tief in die Stirn gezogen, dass man nicht sah, ob er schlief. Irma richtete das Band an ihrer Filzjacke, das quer über ihre Brust verlief. Daran war der Beutel mit ihrem Hab und Gut befestigt. Wäsche, eine zweite Hose, ein Leinenhemd, ein Wollpullover, Kamm, Seife, Zahnbürste. Auch ein paar Bücher hatte sie dabei, darunter ihre liebsten über die Spanische Hofreitschule von Rittmeister Leopold von Heydebrand und eines mit klassischem Pferdewissen aus dem vorigen Jahrhundert vom damaligen Oberbereiter Adam von Weyrother. Beide Schmöker kannte sie in- und auswendig, hatte sich bei jedem Training mit Novio an die Anweisungen gehalten und sie verinnerlicht.
Sie klopfte Novio die Flanke und flüsterte ihm ins Ohr: »Alles gut, wir gehen da jetzt rein. Uns passiert nichts.« Das Pferd schnaubte, bewegte sich nervös. Irma spürte seine Angst vor dem Unbekannten fast körperlich, ein Widerhall ihrer eigenen Gefühle. Sie ließ ihm Zeit, streichelte zärtlich seinen Hals.
Ein Stapfen näherte sich in ihrem Rücken, dann erklang eine heisere Stimme. »So, mal fix hier! Auf geht’s, oder brauchst du eine Extraeinladung, Bursche?«
Es dauerte einen Augenblick, bis Irma begriff, dass der Bahnmitarbeiter mit ihr sprach. Sein Gesicht rahmte ein gewaltiger Backenbart in der Farbe von Salz und Pfeffer. Er besaß ausgeprägte O-Beine, sodass man, wenn er sich nicht rührte, mit Schwung einen Sack Kartoffeln hindurchwerfen könnte. Der Mann entriss ihr die Zügel, um Novio in den Waggon zu zerren. Irma war zu überrumpelt, um sofort zu reagieren. In der nächsten Sekunde fuhr ihr der kalte Schrecken in die Knochen. Novio wieherte und stieg auf die Hinterbeine, bewegte bedrohlich die Vorderhufe, eine Pose, mit der er bereits in seinen Jugendjahren im Gerangel mit den anderen Hengsten auf der Alm seine Überlegenheit ausgespielt hatte. »Ho, ho«, stieß der Stationshelfer aus und wich einen Schritt zurück. Die Panik verzerrte seine Züge.
Irma griff sofort nach dem Zügel und warf dem Bärtigen einen bösen Blick zu. »Wagen Sie es nicht noch einmal, mein Pferd anzufassen«, zischte sie ihn an.
»Das Tier ist ja gemeingefährlich.« Mit einer herrischen Geste wies er in den Waggon. »Los, der Zug fährt gleich ab.« Er sprang den beiden voran hinein und stieß mit der Stiefelspitze gegen die lang ausgestreckten Füße des Jungen, fest genug, dass diesem ein Schmerzensschrei entfuhr.
»Mach dich nicht so breit, du bist hier nicht allein«, schnauzte der Mann ihn an.
Der Bursche zog die Beine an, umschlang seine Knie, Widerwillen und verbissener Trotz lagen um seinen Mund.
Der Bahnmitarbeiter wies auf eine Stange und wandte sich an Irma. »Da bindest du das Pferd an. Setz ihm Scheuklappen auf. Und mach die Leine kurz, dass der nicht wieder durchdreht.«
»Der dreht nur durch, wenn man nicht mit ihm umzugehen versteht. Er muss wissen, was passiert, und er braucht Ansprache.«
»Oh, der feine Herr!«, spottete der Stationshelfer und schwang die krummen Beine mit einer Drehbewegung der Hüfte zurück auf den Bahnsteig. »Dann hoffe ich für dich, dass du genügend Zucker dabeihast, den du ihm während der Fahrt in den Allerwertesten pusten kannst!« Das Lachen klang wie Keuchhusten und verhallte, als er die Eisentür mit Schwung zuwarf und verriegelte.
Seine Schritte entfernten sich. Kurz darauf ertönte eine Signalpfeife, gefolgt von einem Schnaufen und Rattern, als sich die Eisenbahn in Bewegung setzte. Eine Weile blieb Irma neben Novio, hielt ihn umarmt und bot ihm einen von den Apfelschnitzen an, die sie sich vor der Abreise in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie griff sich eine Handvoll Stroh und rieb seinen Körper ab, um ihm das Abschwitzen zu erleichtern.
Hier stand sie mit ihrem Pferd. Im Zug nach Wien. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass sie auf dem Weg in ein neues Leben war. Beklemmung hatte sich in ihrer Brust festgesetzt und hinderte sie seit Tagen am Durchatmen.
Es gab im Waggon nur einen Schlitz, durch den sie die vorbeigleitende Landschaft, geprägt von den grünen Hügeln und Bergen der Steiermark, betrachten konnte. Etwas schmerzte in ihr bei der Vorstellung, dass sie die Heimat, Familie, Freunde zurückließ. Vielleicht für immer. Doch es war ihre eigene Entscheidung.
Novio knabberte an ihrer Mütze. Die Anspannung fiel von ihm ab, denn nun war sie diejenige, die Zuwendung brauchte. Für einen Moment legte sie die Wange an ihn, er stand ruhig und erhaben, als böte er ihr seinen Schutz an.
Sie ließ sich einen Meter von ihrem Pferd entfernt in der mit Stroh ausgelegten Ecke nieder, kreuzte die Beine an den Knöcheln, die Arme über der Brust. Der mitreisende Junge beobachtete sie misstrauisch, eine Braue bis zum Saum der Kappe hochgezogen.
Sie senkte die Lider. Das hielt den Jugendlichen nicht davon ab, sie anzusprechen. »Kräftiges Pferd hast du da. Was ist das für eine Rasse?«
Sie räusperte sich und ermahnte sich selbst, nicht zu spontan zu antworten. Es war wichtig, sich erst einmal auf einen tiefen Klang ihrer Stimme zu konzentrieren. »Ein Lipizzaner.«
Das Lachen des Jungen erinnerte sie an Ziegenmeckern. »Such dir einen anderen Dummen, den du hochnehmen kannst. Lipizzaner sind weiß wie Schnee. Dein Gaul ist grau wie ein Esel.«
»Sie werden im Lauf der Zeit weiß. Manchmal erst nach zehn Jahren. Alle werden schwarzgrau geboren. Novio ist fünf, es dauert, bis er die Farbe wechselt.«
Der Bursche sah nicht überzeugt aus. »Wo willst du mit ihm hin?«
»Ich bringe ihn an die Spanische Hofreitschule. Dort werde ich ihn ausbilden.«
Ihr Reisegefährte stieß einen Pfiff aus. »Dorthin kommen nur die Besten, was man so hört.«
»Er ist einer der Besten«, gab sie zurück. »Und du?« Sie wies auf die Hühner und die Schafböcke. Alle Tiere im Waggon hatten sich mittlerweile an das Scheppern und Ruckeln auf den Schienen gewöhnt. Die Hennen im Käfig plusterten sich auf und drängten sich dicht aneinander, die Schafe schauten umher und kauten Gras aus einem Bündel vor ihnen.
»Mein Onkel gibt seine Heurigenschenke in Floridsdorf auf und wechselt in die Landwirtschaft. Der Vater schickt mich, um ihm dabei zu helfen. Er hat erst fünf Schafe. Die Böcke werden dafür sorgen, dass es bald eine Herde wird. Und die Flattermänner hier«, er wies mit dem Kinn auf den Käfig, »sind der Grundstock für seine Geflügelzucht.«
»Das ist lieb von …« Irma ertappte sich dabei, dass sie in ihren normalen Tonfall verfiel, und korrigierte sich schnell mit männlicher Stimme. »Gute Sache.«
Dem Jungen schienen die unterschiedlichen Tonarten nicht aufzufallen. Oder es war ihm einerlei. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus. »Ich bin Fred.«
Sie packte zu und drückte sie kräftig. »Konrad«, stellte sie sich vor.
Fred zog aus seiner Hemdtasche eine Tabakdose. Er klappte den Deckel auf, griff hinein und steckte sich einen Klumpen in den Mund. Dann hielt er ihr die Dose hin.
Irma wollte höflich ablehnen. Diesmal fiel ihr aber rechtzeitig ein, ihre Rolle zu spielen. Sie stieß ein abfälliges Schnalzen aus. »Bleib mir weg mit deinem Kraut. Wer weiß, was du dir da zusammengeklopft hast.« Sie vermutete, dass dies der Ton war, in dem zwei junge Männer miteinander sprachen, zufällige Reisegefährten. Wahrscheinlich sah sie in Hose mit Hosenträgern, Hemd und Filzjacke, Halbschuhen und Wollsocken, mit den streichholzkurzen weizenblonden Haaren unter der Schirmkappe und den Schmierflecken auf den Wangen jünger aus als die einundzwanzig Jahre, die sie im Frühjahr geworden war. Sonst hätte sich der Knabe respektvoller benommen. Es schadete nichts, ihm gegenüber ein bisschen zu üben, wie sie sich als Konrad verhalten musste, der sie in Wien sein würde.
Es fühlte sich seltsam genug an. Einmal mehr fragte sie sich, ob sie das durchhielt, und rang die aufkommende Panik nieder.
Fred streckte die Füße wieder aus, drückte sich die Kappe bis auf die Nasenwurzel, die passende Position, um die Zeit zu überbrücken, bis sie am Nachmittag die Hauptstadt erreichen würden.
Das gleichmäßige Ruckeln der Eisenbahn ließ Irma in einen Dämmerzustand gleiten, obwohl ein Teil von ihr sprungbereit war, falls Novio sie brauchte. Doch das Pferd stand nun gelassen da, den Kopf gesenkt.
Sie dachte daran, wie sie den Hengst gestern nach ihrem letzten gemeinsamen Ausritt mit ihren Freunden in seinen Stall gebracht und gestriegelt hatte. Ihm gehörte eine Box auf dem Bauernhof der Pribeks, die mit Milchvieh wirtschafteten und selbst zwei friedliche Wallache besaßen, die als Kutschpferde dienten. Der Hof lag einen Kilometer entfernt vom Gestüt Rehberger, das ihre Mutter führte. Novio auf der Stuterei unterzubringen, war seit seiner Geschlechtsreife unmöglich. Der Geruch der weiblichen Pferde, wenn sie im Frühjahr rossig wurden, brachte ihn um den Verstand, ließ ihn um seinen Willen kämpfen und ausbrechen. Die beiden Wallache der Pribeks hingegen beäugten den wilden Hengst nur von der Seite und provozierten ihn nicht.
Irma hatte die Bürste mit gleichmäßigen Strichen über seinen Leib gezogen und ihm von der kommenden großen Reise erzählt, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. Ihre Freunde Marian und Fine, die eigentlich Josefine hieß, folgten ihr in den Stall. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich als Hausmädchen in der Hofburg wohlfühlst«, sagte Fine traurig und nahm sie in den Arm. Irma ließ es zu, genoss die vertraute Berührung der Freundin, ihre knochigen schmalen Schultern, den Duft nach Kamille und Margeriten, der aus ihren zum Kranz gebundenen Kraushaaren aufstieg. »Ich werde dich vermissen!« In ihrem blassen Gesicht traten die Sommersprossen deutlich hervor. Sie sahen aus wie aufgetupft.
»Ich euch doch auch!« Ihr wurde mulmig. Weil es ihr vor dem Abschied graute und weil sie ihre Freunde belog. Sie hatte ihnen diese Geschichte erzählt: Novio würde an der Spanischen Hofreitschule, die ihre Reithalle und Ställe direkt neben der Wiener Hofburg führte, ausgebildet werden. Ein Leben ohne ihr geliebtes Pferd war für Irma undenkbar, und so hatte sie sich um eine Anstellung am kaiserlichen Hof bemüht, um in seiner Nähe sein zu können. Diese Version ihrer Zukunftspläne ersparte ihr viele Rückfragen, obwohl es sie erleichtert hätte, mit ihren Freunden über ihre Ängste zu reden. Sie hatten doch nie Geheimnisse voreinander gehabt! Nun war Irma auf sich allein gestellt. Die vergangenen Nächte hatte sie kaum Schlaf gefunden, war in zermürbenden Grübeleien gefangen und innerlich aufgewühlt.
»Du wirst aber ganz oft schreiben, ja?« Fines Stimme klang hoffnungsvoll.
Tatsächlich hatte sich Irma überlegt, wie sie mit ihren Freunden in Kontakt bleiben konnte. Aber sie hatte keine Lösung gefunden. Sie musste einen radikalen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass ihre Tarnung aufflog. Jeder Brief, den sie an sie schriebe, wäre eine einzige Lüge. »Es tut mir leid, Fine, aber es heißt, ich hätte am Hof wenige freie Minuten. Ich würde, wenn ich ein Stündchen erübrigen kann, an meine Mutter schreiben und Grüße an euch ausrichten lassen. Sie wird euch auf dem Laufenden halten, einverstanden?«
Ihre Mutter hatte sie mit Tränen in den Augen gebeten, dass sie sie an ihrem weiteren Leben teilhaben ließ. Irma hatte ihr angesehen, dass es ihr wehtat, sie ziehen zu lassen. Auch wenn sie nie ein gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten – sie war das einzige Kind, das ihr geblieben war.
Marian musterte sie, und Irma sah die Wärme in seinen regengrauen Augen, die sich nur zeigte, wenn er sie anschaute. Manchmal fragte sie sich, ob er in all den Jahren ihrer Freundschaft gelitten hatte. Irma hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass es für sie nur einen gab: Paul, der es nicht wagen sollte, an diesem letzten gemeinsamen Abend im Stall aufzutauchen. Irmas Herz stolperte, sobald sie an ihn dachte. Ihr Abschied von der Steiermark war vor allem auf Novio zurückzuführen, den sie nicht allein ziehen lassen konnte. Aber er war auch eine Flucht vor Paul, der sie tief verletzt hatte.
Marian zog sie mit einem Arm kurz an sich, darauf bedacht, ihr nicht zu nah zu kommen, als würde er damit eine unsichtbare Grenze durchbrechen. Er war nicht größer als sie, aber stämmig, mit einem leichten Bauchansatz und einem ungebändigten dunklen Lockenkopf. Nun zog er eine Flasche Holunderbeerwein hinter seinem Rücken hervor.
Auf der Holzbank vor dem Stall ließen sie den Wein zum Abschied kreisen, drei junge Erwachsene, die Kindheit und Jugend miteinander verbracht hatten und deren Wege sich trennten.
»Was hast du vor, Marian? Wirst du weiter als Pferdepfleger auf dem Gestüt meiner Mutter arbeiten?«
Er trank einen Schluck aus der Flasche. »Ich kann nichts anderes, und dort ist mir alles vertraut und ans Herz gewachsen. Warum sollte ich fortgehen?« In seinem Ton lag ein an sie gerichteter Vorwurf. Ja, er nahm es ihr übel, dass sie die Heimat verließ, aber sie hatte keine Wahl. Sie alle liebten Pferde, doch was sie mit Novio verband, war mehr.
Vielleicht verstand nur Fine wirklich, warum sie dieses Pferd nicht verlieren wollte. Das entsetzliche Unglück vor fünf Jahren, das sie alle mit einem Schlag hatte erwachsen werden lassen … Manchmal spiegelte sich in Fines Miene Irmas eigene Trauer über den Verlust. Der Schmerz war zu einem Teil von ihnen geworden.
Fine war die Tochter des Stallmeisters Jakob Dellinger, der seit zwei Jahrzehnten bei den Rehbergers arbeitete. »Ich werde auch nicht weggehen«, sagte sie und spielte gedankenversunken mit ein paar Halmen. »Ich wüsste auch gar nicht, wohin.« Fine hatte nichts gelernt, war das Mädchen für alles auf dem Gestüt. Sie hatte diese Liebe erlebt, die böse ausgegangen war, und manchmal fragte sich Irma, ob sie überhaupt noch einmal in der Lage sein würde, sich einem Mann zu öffnen. Keiner verstünde besser als Irma, wenn sie sich für alle Zeiten verschließen würde. Es sei denn, jemand wie Marian, der immer nur für sie, Irma, gebrannt hatte, würde nach ihrem Weggang feststellen, dass Fine mehr zu bieten hatte als geschwisterliche Freundschaft.
Was hier in der Steiermark geschah, läge in Zukunft außerhalb von Irmas Welt. Es zwickte in ihrer Brust bei dem Gedanken, dass sie nicht länger dazugehörte.
Sie hatten alle drei einen Schwips vom Abschiedswein, als sie sich voneinander trennten. Irma überkam ein mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, dass sie am nächsten Tag ein anderer Mensch sein würde. Wenn ihre schulterlangen Haare, die sie meist mit einem Band im Nacken zusammenhielt, zu Boden gefallen waren. Wenn sie ihr königsblaues Lieblingskleid mit dem weit schwingenden Rock und dem Taillengürtel gegen die Männerkluft getauscht und ihr vom kalten Wasser rosiges Gesicht mit Streifen von Schmutz aus dem Kohleofen überzogen hatte.
Wie fassungslos wären ihre Freunde, würden sie sie im Viehwaggon in dieser Aufmachung sehen. Aber sie wussten von nichts, glaubten an die Geschichte von der Anstellung in der Hofburg. Es gab nur einen Menschen, der ihr Geheimnis kannte. Und dabei würde es bleiben, solange sie sich nicht dumm anstellte. Patzer wie in dem Gespräch mit Fred durfte es in Zukunft nicht geben. Andere mochten wacher sein als der Bursche mit den Schafböcken und Schlüsse daraus ziehen, wenn ihre Stimme plötzlich höher klang und man feststellte, dass sie keinen Bartwuchs hatte.
Alle Viertelstunde hielt der Zug in einem Dorf, Menschen strömten hinein und hinaus, Irma wartete mit geschlossenen Augen auf die Weiterfahrt. Dieses ewige Anhalten zerrte mehr an den Nerven als die lange Fahrt, und in dem Waggon stank es inzwischen durchdringend nach Schafsdung und Hühnermist. Am frühen Nachmittag rappelte sich Irma auf und linste durch den Lüftungsschlitz. Da entdeckte sie in der Ferne hinter Wiesen und Weizenäckern Häuseransammlungen. Und da! Der spitze Turm vom Stephansdom! Und das Riesenrad! Wie majestätisch es sämtliche Hausdächer überragte. Irma hatte gelesen, dass es erst im vergangenen Jahr fertiggestellt worden war. Was für ein Moment, dieses imposante Gestell mit den rotierenden Waggons zu sehen. Sie würde jeden Heller sparen, um selbst einmal mitfahren zu können. Wien! »Wir sind gleich da!«, rief sie ein bisschen atemlos. Fred rührte sich und rieb sich verschlafen das Gesicht. Irma fühlte sich wie benommen vom Anblick der Stadt. Ihr neues Zuhause.
»Steigst du auch am Südbahnhof aus?« Skeptisch sah sie auf den Käfig und die Böcke. Kein leichtes Unterfangen für Fred. »Brauchst du Hilfe?« Sie hoffte, dass er ablehnte, sie selbst musste sich auf Novio konzentrieren, aber anbieten wollte sie es ihm zumindest. Es schien ihr unmöglich, dass er allein mit den Tieren weiterzog.
»Zwei meiner Cousins holen mich ab. Sie bringen einen Fuhrwagen mit.«
Eisen auf Eisen kreischte, als die Lokomotive vor der Einfahrt in den Wiener Südbahnhof abbremste. Irma hielt sich dicht an Novio, streichelte seine Nüstern, bot ihm einen weiteren Apfelschnitz an. Endlich stand der Zug, die Tür wurde entriegelt und mit einem Knarzen aufgeschoben. Novio trippelte, warf den Kopf hin und her. Vor der Tür bauten sich zwei Männer mit Stoppelhaaren und Bartflaum auf, Brüder offenbar, deren Muskeln an Armen und Nacken ihre Hemdnähte fast sprengten. Sie sprangen hinein, einer ergriff den Käfig, der zweite die Leinen der Schafböcke, und Fred folgte. Bevor er auf den Bahnsteig hüpfte, drehte er sich um und tippte sich an die Kappe. »Eine feine Zeit in Wien wünsche ich dir und beklag dich nicht, wenn du feststellst, dass man dir mit deinem Klepper einen Bären aufgebunden hat. Nie im Leben ist das ein Lipizzaner.«
Irma schenkte ihm ein Lächeln und errötete in derselben Sekunde tief, als sie bemerkte, dass Freds Lid zuckte. Ein überraschter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Er wollte noch etwas sagen, aber seine Cousins zogen ihn am Ärmel und eilten mit ihm und dem Vieh davon.
Irma sog die Luft ein und presste sich eine Hand vor den Mund. Ihr Lächeln verriet sie. Das hatte sie in Freds Miene gesehen. Sie musste unbedingt ernst bleiben, wenn ihre Tarnung nicht auffliegen sollte. Das hätte sie bedenken müssen! Hoffentlich hatte sie nicht noch mehr außer Acht gelassen, als sie sich ausgemalt hatte, wie sie sich als Mann verhalten musste. Sie richtete das Band ihres Beutels und warf ihn in eine bequemere Position. Dann verließ sie mit Novio den Waggon. Er folgte ihr vertrauensvoll.
Auf sechs Gleisen fuhren Züge in den Bahnhof ein und aus, sie kamen aus Polen, Kroatien und Ungarn, aus Tschechien und Italien. Sie brachten die Menschen, die die Bahnsteige bevölkerten, nach Wien und aus der Stadt hinaus in ihre Heimatländer. Irma fragte sich, wie man bei all diesem Getümmel den Überblick behalten sollte. Lautsprecherdurchsagen dröhnten aus dem Gewölbe. Sie wäre gerne in die prunkvoll wirkende Kassenhalle mit dem hohen Dach, den Oberlichtern und den breiten Fenstern gelaufen, aber mit Novio war sie gezwungen, das Gebäude von außen zu umrunden.
Überwältigt von dem Wirrwarr, fand sie sich auf dem Bahnhofsvorplatz wieder, wo die Kutscher auf Kundschaft warteten. Die Fahrer und ihre Gefährte hießen hier gleichermaßen Fiaker, wie Irma wusste. Menschen hasteten umher, auf den Straßen ratterten Fuhrwerke an ihr vorbei. Händler mit Bauchläden priesen lautstark Souvenirs und Erfrischungen an, ein Straßenmusiker mit Geige und ein Leierkastenmann überboten sich gegenseitig mit ihrem Gedudel. Ein Türke mit Schnabelschuhen und Fez auf dem Kopf versuchte, seine Mosaikbilder zu verkaufen. An der Statue des Markuslöwen hockte ein Mann mit einer Kutte und einem gebogenen Stab neben sich, schnitt sich Scheiben von Speck und Brot ab, als hütete er seine Schafe auf der Weide. Ein Passant mit einem langen Bart, Seidenkaftan und schwarzem Velourshut warf ihm eine Münze hin. Die Menschen waren vielfältig: aufgedunsene weiße Antlitze, asiatische Gesichter mit hohen Wangenknochen, buschige Brauen und gewaltige Schnurrbärte, feine Damen in Nachmittagsrobe, Bäuerinnen in Trachten. Unschlüssig betrachtete Irma das Treiben eine Weile. Bei einer Frau mit einem Bolero und einem Strohhut, die eine Ledermappe unter dem Arm trug, möglicherweise eine Studentin, erkundigte sie sich schließlich, welcher Weg zur Hofburg führte.
»Immer diese Straße entlang«, erwiderte die Dame und klimperte mit den Wimpern, hielt ihren Blick länger als üblich fest. Kokett drehte sie sich so, dass Irma die Schmuckschleife auf dem gepolsterten Hinterteil des Kleides bewundern konnte.
Irma verbeugte sich galant und bedankte sich mit sonorer Stimme, bevor sie sich auf Novio schwang und sich in den Straßenverkehr einfädelte. Hoch zu Ross fühlte sie sich sicherer in der fremden Umgebung. Sie starrte die Häuserfassaden hinauf, die sich dichter drängten, je näher sie der inneren Stadt kam, schaute links und rechts auf der Suche nach Pensionen. Hinter den Dächern ragte die barocke Kuppel der Karlskirche auf, vor ihr erhoben sich die gigantischen Gebäude des Hof-Operntheaters, der Universität, der Palais. Irma hatte viel über Wien gelesen, um vorbereitet zu sein. Aber nun überforderte und überwältigte sie diese ganze Pracht. Sie hatte das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Novio schritt achtsam weiter. Der gleichmäßige Takt seiner Hufe half ihr, sich zu sammeln.
Namen herrschaftlicher Hotels lockten in großen Lettern, aber eine derart luxuriöse Unterkunft wollte sie sich nicht leisten. Ihr erspartes Geld sollte reichen, bis sie die monatliche Vergütung der Reitschule erhielt. Ihr Mut sank, als sie weit und breit keine bescheidene Herberge entdeckte. Möglicherweise musste sie die erste Nacht irgendwo im Freien verbringen. Sie schluckte trocken bei der Vorstellung, und das Bedrohliche der Stadt mit all den fremden Menschen und den Mauern schien näher zu kommen und auf sie einzustürzen.
Der Duft nach fettigem Gebäck und Kaffee hing in der Luft, mischte sich mit dem Aroma von Kastanien und vereinzelten Birken. Das Rumpeln und Rappeln der Räder war allgegenwärtig, dazwischen das Rufen, Lachen und Schimpfen der Passanten. Hinter Irmas Stirn drehte sich etwas wie ein Karussell von all den Sinneseindrücken. Überall in den Parterreräumen hatten Händler und Handwerker ihr Quartier. Sie sah Kleiderläden und Hutmacher, Barbiere und Bonbongeschäfte, eine Schmiede, einen Stellmacherbetrieb und zahlreiche Kaffeehäuser, bis sie den Opernring erreichte und eine atemlose Ehrfurcht sie übermannte im Angesicht der gewaltigen Gebäude, die in den Himmel ragten. Wie unbedeutend sich ein Mensch gegenüber solcher Pracht fühlen konnte.
Auf dieser Ringstraße, die die ganze Stadt umschloss, würde sie sicher kein Bett für die erste Nacht finden.
Die Pferdetramway rumpelte vorbei, die Glöckchen bimmelten, ein Straßenkehrer sammelte dahinter Mist auf und schaufelte ihn in einen Karren. Novio setzte zurück, als die Stadtbahn schnaufend an ihnen vorbeiglitt, vollgestopft mit Menschen, die mit unbewegten Mienen aus den Fenstern schauten. Aus der entgegengesetzten Richtung marschierte eine Gruppe Soldaten im gemessenen Gleichschritt heran, rote Röcke mit Goldsäumen, weiße Lederhosen, Lackreitstiefel und Helme mit wippenden Rossschweifen. Eine der Kaisergarden? Was für wunderschöne Uniformen sie trugen. Irma fühlte sich in ihrer Nähe klein und schäbig, konnte den Blick nicht von ihnen lassen. Gleich dahinter eine weitere Garde – Soldaten mit über die Schulter geworfenen Pantherfellen und federgeschmückten Hüten. Ungarn möglicherweise.
Schwere Viersitzer, leichte Zweisitzer, die vielleicht zum Kaiser fuhren oder von ihm kamen, beherrschten den Verkehr. Dazwischen zockelten die Fiaker mit ihren mit weißen Bändern geschmückten Juckern, wie die eleganten Wagenpferde hießen. Ein Brautpaar thronte in einer offenen Kutsche, sie in einer Wolke aus Tüll verpackt, er mit Zylinder und gewichstem Schnurrbart, Schimmel zogen sie mit wackelnden Köpfen. Wenige Meter hinter ihnen ein vierspänniger Leichenwagen mit einem Sarg voller Blumen. Und überall auf den Bürgersteigen flanierten die Menschen im feinsten Staat oder in eigenwilligen Trachten, in notdürftig geflickten Lumpen und Dienstkleidung. Knaben in Matrosenanzügen, Mädchen mit riesigen Schleifen im Haar, Spazierträumer, geschäftige Hausierer, ein hinkender Bettler, Geschäftsleute mit Aktenkoffern, Studenten mit Büchern in der Hand. Ammen mit russischen Kopftüchern trugen Wiener Kinder auf den Armen, Schüler hüpften von hierhin nach dorthin, und alle plapperten in einem Sprachengemisch. Irma meinte tschechische und ungarische, englische und polnische, portugiesische und italienische Satzfetzen aufzuschnappen, mittendrin ein nicht definierbares Kauderwelsch und der wienerische Singsang. Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, die in dieser Metropole miteinander lebten. Ein Schmelztiegel der Nationen, Generationen und gesellschaftlichen Stände. Irma hatte noch nicht viel gesehen von der Welt, Graz und die Steiermark hatten ihr gereicht, aber ihre Bücherliebe hatte sie in ihrer Fantasie an exotische Orte gebracht. In ihrer Vorstellung gab es kaum eine Stadt, die sich weltbürgerlich mit Wien messen konnte, Paris am ehesten. Irma hoffte inständig, dass es ihr gelingen würde, sich in dieser vibrierenden Märchenstadt einzuleben und nicht darin unterzugehen.
Sie dirigierte Novio in eine seitliche Gasse, in der nur das Hufgeklapper von den Mauern widerhallte, ein immenser Gegensatz zu dem Lärm auf der Ringstraße. Die Fassaden wirkten altersgrau, von den Haustüren bröckelte die Farbe ab, die Fensterrahmen waren morsch, es roch nach Kanal. Eine Magd huschte mit einem Korb über dem Arm in eine Wohnung, ein Hund schnüffelte im Rinnstein, eine Mutter schob mit einer Hand einen sperrigen Kinderwagen, an der anderen hatte sie einen kleinen Jungen, der sich den Rotz an ihrem Rockzipfel abwischte. Aus den geöffneten Fenstern hörte man das Klappern von Geschirr. In einem Schaufenster lagen alte Bücher aus, aus einem Geschäft rollte ein schlaksiger Mann Weinfässer über eine Bretterrampe auf ein Fuhrwerk. Hoch auf Novio sitzend, nickte Irma den Menschen grüßend zu, suchte nach dem Gefühl in sich, angekommen zu sein, doch man musterte sie nur misstrauisch. Sie schaute sich um, ob irgendwo ein Schild auf eine Pension hinwies. Nachdem sie ein paarmal abgebogen war, hatte sie in der Fillgradergasse Glück. Am Fenster einer Wohnung im Parterre hing ein Zettel, auf den jemand krakelig geschrieben hatte: Apartment zu vermieten.
Irma überlegte nicht lange. Wenn sie es richtig überblickte, lag diese Gasse nicht weit von der Hofburg entfernt. Emaillierte Schilder wiesen auf einen Fußweg von zehn Minuten hin. Sie ritt im Schritt mit Novio in einen Durchgang, der in einem mit Unkraut überwucherten Innenhof endete. Dort standen zwei Kutschen, es gab verschnörkelte Eisenstangen zum Anbinden von Pferden und einen Bretterverschlag, der offenbar als Stall diente. Ein etwa zehnjähriges Mädchen mit orangefarbenen Haaren, zu Affenschaukeln geflochten, lugte aus der Tür, eine Striegelbürste in der Hand. Sie trug ein wadenlanges braunes Kleid und eine schmutzig weiße Schürze darüber.
»Grüß Gott«, rief Irma ihr zu und winkte sie heran. »Bist du hier für die Pferde zuständig?«
Das Mädchen hob die Schultern. Ihre Augen hatten die Farbe von Haselnüssen, was wunderbar zu ihren Haaren und den Sommersprossen passte. »Ich komme jeden Tag, weil Pferde meine Freunde sind. Befohlen hat mir das keiner.«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?« Irma kramte in ihrer Hose und zog eine Münze hervor. Sie warf sie ihr mit einem Schnippen zu, sodass sie sich in der Luft drehte. Die Kleine fing sie mit der Linken auf, ohne hinzuschauen. »Passt du auf Novio auf, während ich kurz etwas erledige? Ich will mich da drüben in dem Haus nach dem Apartment erkundigen.«
Das Mädchen schüttelte sich wie vor Ekel. »Beim alten Honzak? Viel Vergnügen.« Sie näherte sich Novio, streichelte seine Nüstern, seine Mähne. »Aber auf deinen Schönen passe ich gern auf.« Ihre Stimme klang sanft.
»Wie heißt du, Mädchen?«
»Adele.«
»Ich verlasse mich auf dich, Adele.« Irma knotete die Zügel an einer Stange fest, klopfte Novios Hals und ging mit weichen Knien auf die Wohnung zu, hinter deren Fenster der Zettel hing. Auf einem Messingschild las sie Arthur Honzak. Nach dem Klopfen hörte sie schlurfende Schritte. Dann öffnete ihr ein pockennarbiger Mann mit ungepflegten grauen Haaren, vielleicht Ende fünfzig. Er stand neben einem abgeschabten Schreibtisch und gaffte sie an. Mehr als drei Dutzend schief aufgehängte, aber offenbar akkurat polierte Kupferstiche mit verschiedenen Stadtmotiven an den Wänden warfen einen rotgoldenen Widerschein auf sein Gesicht.
Irma zuckte zusammen, als ein struppiger Kater zu seinen Füßen sie anfauchte, sich duckte und an ihr vorbei nach draußen hechtete. Sie wich impulsiv zur Seite aus, fing sich aber sofort, schenkte dem Mann ein halbes Grinsen. Achtete darauf, die Stimme zu senken. »Ich interessiere mich für das Apartment, gnädiger Herr. Ist es frei? Kann ich es sehen?«
Honzak stierte sie einen Moment an. Schließlich wies er ruckartig mit dem Kopf hinter sich, um sie zum Eintreten aufzufordern. Der Geruch nach Kohlsuppe und Katzenurin, nach gebratenen Zwiebeln und ungelüfteten Betten nahm ihr fast den Atem, aber sie folgte dem Vermieter eine enge Stiege hinauf, drei Stockwerke hoch. In jeder Etage gingen zwei Türen zu Wohnungen ab, morsches Holz, abblätternde Farbe an den Wänden. Von nirgendwoher vernahm sie einen Mucks, als wären die Bewohner erstarrt. Ob sie durch die Gucklöcher spähten?
An einem Treppenabsatz befand sich ein Fenster, aus dem Irma einen Blick warf. Im Innenhof striegelte das Mädchen Adele Novio mit einer Bürste. Irma lächelte. Eine Pferdenärrin, wie sie selbst eine in dem Alter gewesen war.
»Im zweiten Stock findest du eine Toilette, die du mitbenutzen kannst. Halt sie sauber, Bursche, verstanden?«
Endlich erreichten sie die Tür zum Dachzimmer. Honzak öffnete sie ächzend, um sie hineinzulassen. Der Durchgang war so eng, dass Irma an seinem Bauch vorbeistreifen musste. Sie brachte es mit einem ausholenden Schritt und Widerwillen hinter sich und nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass der Vermieter, um Luft ringend, ein Feixen unterdrückte.
Irma hatte in ihrem Leben kein armseligeres Zimmer gesehen. Es reichte gerade für ein Bett aus Stahlrohren, auf dem eine gefaltete graue Decke und ein Kissen lagen, einen klapperigen Tisch mit einer Nachtkerze, einen Stuhl und eine Kommode. Auf dieser standen eine mit einem Schmutzrand durchzogene Schüssel und ein Wasserkrug. Schummerlicht fiel durch eine Luke, ein dreckverschmiertes Guckloch, durch das man nur ins Grau blickte. Kurz erinnerte sie sich an die weißen Wolkenbäusche über dem sommerblauen Himmel der Steiermark, aber das Bild verwehte.
»Lass die Luke geschlossen. Hier treibt sich viel Gesindel herum, das ehrenwerte Mitbürger überfällt und ausraubt. Die kommen auch über die Dächer, da kennen die nichts. Verstanden?«
Sobald sie sich eingelebt hatte, würde sie sich nach etwas Hellerem, Größerem umschauen. Und nach etwas, bei dem man frische Luft hereinlassen durfte. »Was kostet es, Herr Honzak?«
Honzak verzog den Mund, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Über sein graustoppeliges Kinn zogen sich Runzeln. »Hofrat, wenn’s recht ist«, korrigierte er sie.
Sie konnte sich angesichts der Ärmlichkeit des Wohnhauses kaum vorstellen, dass er einen hohen Posten in der Regierung bekleidet hatte. »Verzeihen Sie, Herr Hofrat.«
Er grunzte und nannte ihr einen Preis, bei dem ihr der Atem stockte. Er bemerkte offenbar ihr Entsetzen, zuckte die Achseln und wandte sich der Stiege zu. »Deine Entscheidung, Bursche. Versuch halt, in Wien was Günstigeres zu ergattern. Viel Erfolg wünsche ich dir. Und komm mir nachher nicht angekrochen. Schleich dich.«
Irma warf den Beutel mit ihren Habseligkeiten aufs Bett und eilte ihm hinterher. »Es ist in Ordnung«, sagte sie schnell. »Ich nehme es.«
»Miete zwei Wochen im Voraus«, erwiderte Honzak und hielt die Hand auf, als sie den Sekretär neben dem Eingangsbereich erreicht hatten.
Irma langte in ihre Hosentasche und zählte ihm die Kronen aufs Tischholz, bevor er ihr den Haustürschlüssel hinhielt. Als sie danach griff, zog er ihn fort und zeigte beim Grinsen große gelbe Zähne. »Keine Weiberbesuche, Bursche, dies ist ein anständiges Haus. Und mach keinen Lärm, wenn du nach acht Uhr heimkommst. Ich gehe früh ins Bett.«
»Ich werde mich danach richten, Herr Hofrat.« Als er einen Moment unaufmerksam war, schnappte sich Irma den Schlüssel, bevor er weitere Spielchen spielen konnte. Sie nickte ihm zu, dann sprang sie die drei Stufen hinab in den Innenhof und stieß die Luft aus, als hätte sie sie zu lang angehalten.
Adele grinste ihr entgegen. »Bei dem willst du bleiben?«
»Erst einmal. Ich brauche ein Dach über dem Kopf.«
»Darf ich mich um dein Pferd kümmern?«
Irma lächelte sie an. »Novio wird woanders untergebracht. Der bekommt ein Luxusplatzerl in der Hofreitschule.«
Adele betrachtete Irma versonnen, als wollte sie sich ihr Gesicht einprägen. »Das hat er verdient. Ich finde ihn königlich«, sagte sie, küsste Novio auf den Hals und sprang zurück in den Stall.
Irma mochte die Kleine. Dennoch würde dies nicht ihre dauerhafte Bleibe in Wien sein. Sobald wie möglich würde sie Honzak, seiner gruseligen Katze und dem Gestank den Rücken kehren.
Trotz der Schäbigkeit ihrer Unterkunft war der Gedanke verlockend, sich auf dem Bett in der Dachstube auszustrecken und Schlaf nachzuholen. Der frühe Aufbruch, die lange Fahrt steckten ihr in den Knochen, die Müdigkeit machte ihre Lider bleiern, ihre Bewegungen träge. Aber in der Hofreitschule rechnete man heute mit ihr, sie würde die Leute nicht gleich am ersten Tag enttäuschen, und dort würde sie Novio besser versorgen können als in dem Innenhof in der Fillgradergasse.
Novio ging im Schritt, Irma im Sattel passte sich seinem Takt an, eine Bewegung, die ihr schon lange in Fleisch und Blut übergegangen war. Reiterin und Pferd, eine Einheit. Sie zog die Zügel, als sie das Halbrund der Hofburg am Michaelerplatz erreichten, betrachtete voller Staunen den majestätischen Eingangsbereich, die hohen Fenster, die Skulpturen. Was für ein Bauwerk! Dahinter verbarg sich das höfische Leben, eine Stadt in der Stadt, wie es hieß, von der aus Franz Joseph I. und seine Gattin Elisabeth, von allen nur Sisi genannt, ihre Regierungsgeschäfte im kaiserlich-königlichen Reich führten. Ein Hochgefühl erfasste Irma und verdrängte die Furcht, hier als unbedeutende Frau vom Land nicht hinzugehören. Ob die Regenten sich in der Schule zeigten? Ob sie dem Kaiserpaar begegnen würde? Zu schade, dass die beiden sie, wenn überhaupt, nicht als Irma, sondern als Konrad kennenlernen würden.
An der Hofreitschule arbeiteten, einer uralten Tradition folgend, ausschließlich Männer mit den Lipizzanern. Nie hatte man gehört, dass eine Frau in den Reihen dieser Experten auftrat. Irma würde der Pferdepfleger sein, den man von seinem begnadeten Tier nicht trennen konnte und dessen Lehre zum Bereiter die Bedingung war, wenn man Novio zum Star der Reitschule küren wollte.
Vor der Hofburg standen aufgereiht Fiaker und Equipagen, mehr als ein Dutzend. Ob die alle den Menschen gehörten, die zur Audienz beim Kaiser geladen waren? Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, diejenigen, die das herrschaftliche Domizil betraten, wirkten blass und nervös, diejenigen, die heraustraten, aufgedreht und erhitzt. Sie sah Generäle in Uniformen, Beamte mit Zweispitz, Frauen mit Witwenschleiern, Bauern in grünen Tiroler Kostümen. Es hieß, der Regent empfange jeden Tag Menschen aus seinem riesigen Reich. Die Verehrung für Franz Joseph war dementsprechend groß, ein fleißiger, sparsamer Herrscher des Volkes, keiner, der die Steuereinnahmen verprasste, in Prunk und Pomp residierte oder zügellose Feste veranstaltete. Irma hatte gelesen, dass die Leute an eine gute Zukunft glaubten und alle bösen Mächte gebannt sahen, solange der alte Kaiser lebte. Irma hatte nie einen Menschen ein schlechtes Wort über ihn verlieren hören. Es schien fast so, als hätte er eine Mauer aus Hochachtung um seine Person gezogen, und dieser Wall schützte auch das Reich. Sie fragte sich, ob sie ihm je gegenüberstehen würde. Bei diesem Gedanken kribbelte es unter ihrer Haut.
Sie nahm allen Mut zusammen, zog die Zügel, drückte Novio ihre Schenkel in die Flanken, sodass er sich nach links begab, wo sie hinter einem Torbogen die Pferdeställe vermutete. Zuerst zog ihr der Geruch in die Nase, dann hörte sie Wiehern und Schnauben.
Schließlich erreichte sie mit Novio den Innenhof der Stallburg, drei Hengste schauten über halbhohe Lattenzauntüren nach draußen, nickten. Novio trat auf der Stelle, sein Kopf ruckte hierhin und dorthin, als versuchte er, genau wie Irma, alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Sie entdeckte Eingänge zu den Pferdeboxen, eine Sattelkammer, einen Flur mit Futtermischungen von Heu und Hafer in Körben. Oberhalb vom Parterre führten über zwei Geschosse Galerien entlang – ein quadratischer Arkadenhof, eines feudalen Hauses würdig. Hinter Säulen reihten sich Türen, vielleicht zu Apartments, Umkleideräumen oder Büros.
Irma glitt aus dem Sattel, führte Novio zu einer Haltestange. Ein freundlicher Hengst mit seelenvollen Samtaugen stupste sie aus seiner Box heraus mit dem Maul an. Sie lächelte, streichelte ihn. Durch die offenen Türen sah sie einen Stallwächter in einem wadenlangen Mantel mit einer Schirmmütze, der mit einem Rechen die Rossäpfel in die Mistkiste kehrte. Er beachtete sie nicht, schien in seine Tätigkeit versunken.
»Was hast du hier zu suchen?« Ein Jugendlicher in schwarzer Anzugjacke mit einer silbernen Knopfreihe und weißen Lederhosen kam auf sie zu, einen Birkenstock lässig und unheilvoll zugleich gegen seine Stulpenstiefel klopfend. Er trug weder den braunen Frack der Bereiter noch den Zweispitz, an dem man erkannte, welchen Rang der Reiter innerhalb der Schule innehatte, sondern eine Kappe. Vermutlich gehörte er zu den Eleven, den Lehrlingen, die darauf hinarbeiteten, zum Bereiteranwärter aufzusteigen. Irma hatte sich vorher über solche Feinheiten schlaugemacht, um gut vorbereitet zu sein. Unter der Mütze wirkten seine Augen jung, aber seine schmalen Lippen drückten Überheblichkeit aus.
»Ich werde erwartet, hoffentlich.« Irma bemühte sich, das instinktive Lächeln zu unterdrücken. Sie nickte ihm zu. »Ich bin Konrad Jankovitz. Ich komme mit meinem Hengst Novio, der die Hofreitschule besuchen soll.«
Der Eleve wandte den Kopf zu Novio, in seinem Gesicht das leuchtende Staunen eines Kindes. Mit wenigen Schritten war er bei ihm. Seine Bewegungen waren elegant, seine Aussprache geschliffen – vermutlich ein Adelsspross. Er ließ Novio an seiner Hand schnuppern und begutachtete ihn eingehend, während er ihn umrundete. »Was für ein herrliches Pferd.« Seine Arroganz war komplett verflogen. »Und jung, höchstens fünf Jahre, schätze ich?« Er sah Irma fragend an.
»Gerade geworden«, antwortete sie.
»Unglaublich, dass er trotz seiner Jugend diese majestätische Eleganz besitzt. Und diese Bemuskelung.« Andächtig streichelte er über Novios Leib. Irma beobachtete ihr Pferd genau, aber der Lipizzaner gab sich diesem Jungen gegenüber gnädig und fraß ihm nun ein Zuckerstück aus der Hand. Sie lächelte verhalten. Ein Moment, in dem es sich richtig anfühlte, dass sie hierhergekommen waren. Hier achtete und liebte man Pferde, das merkte sie in jedem Blick, jeder Geste dieses Schülers. »Wie feinhaarig sein Schweif und die Mähne sind.« Er strich mit den Fingern darüber, Novio stupste ihm mit dem Maul gegen den Hinterkopf. Der Junge lachte. »Mit seinem Charme wird der garantiert mal alle anderen Hengste in den Schatten stellen.«
Irma nickte. »Genau deswegen wurde er hierherbestellt. Und weil seine Wissbegierde und Lernbereitschaft außerordentlich groß sind.«
»Das wird sich erst herausstellen müssen. Ich hoffe, dass man ihn mir zuteilt.« Er schaute Irma an. »Ich bin Johann von Falkenstein, ich habe im Frühjahr meine Ausbildung zum Bereiter angefangen.« Er reichte ihr die Rechte, sie zuckte kurz zusammen, weil er zu fest zudrückte, ein kleiner Machtkampf, den er ihr aufdrängte.
»Er wird dir nicht zugeteilt werden. Er ist mein Pferd. Ich werde ihn selbst trainieren.«
Johann starrte sie perplex an, musterte die geflickten Hosen, die an den Ärmeln fadenscheinige Jacke, das Gesicht mit den Schmutzflecken. »Du willst ein Eleve sein? Das wäre mir neu, dass man … äh … Leute wie dich zur Dressur zulässt. Oder gar zum Bereiter ausbildet.«
Irma zuckte die Schultern. »Es ist, wie es ist. Glaub es oder lass es.«
Johann grinste. »Komm, ich zeig dir unsere Prachtpferde.« Er stiefelte Irma voran in die Ställe, und Irma staunte über die Boxen aus Metallrohren, so blank geputzt, dass man sich darin spiegeln konnte. Manche Hengste zockelten näher heran, um sie zu begutachten, andere zermalmten ihre Haferportion und ließen sich nicht stören. An jeder Box hing eine Tafel mit der Information, welches Futter gegeben wurde. Die einzelnen Tiere schienen individuell gepflegt zu werden. Über allen Boxen standen auf Emailleschildern die klangvollen Doppelnamen der Rassepferde, die auf ihre Eltern zurückzuführen waren. An ihren Hinterbacken und Seiten prangten die Brandzeichen, auf ihre Heimat, das Gestüt Lipica nahe der italienischen Grenze, und ihren Stammbaum verweisend. Adelige Reiter, adelige Pferde. Und dazwischen bald sie, die als Mann verkleidete Frau, die nur ihre Liebe zu diesen Tieren vorzuweisen hatte, und ein Hengst, dessen Blutlinie keiner mehr nachvollziehen konnte.
»Ah, du musst der Bursche aus der Steiermark sein.« Aus der Hofburg kommend schritt ein Mann in den Innenhof zum Stalleingang. Er trug einen Zweispitz mit einer Goldborte, die ihn als Oberbereiter kennzeichnete, und einen zweireihig geknöpften braunen Frack.
Johann begrüßte ihn mit einem Kratzfuß. »Guten Tag, gnädiger Herr.« Irma zischte er aus dem Mundwinkel zu: »Oberbereiter Hugo Fabritius.«
Irma verbeugte sich, eine Hand auf der linken Brustseite. Sie kannte den Namen, weil er derjenige war, der für Novios Berufung an die Spanische Hofreitschule gesorgt hatte. Er hatte ihn in seiner natürlichen Umgebung erlebt und sofort erkannt, was in ihm steckte. Umso erstaunlicher, da Novio keinen Stammbaum besaß. Dass er reinrassig war, stand außer Frage, aber Irma wusste nur die Namen seines Vaters und seiner Mutter, Tardon und Bella. Zweifellos würde dies an der Hofburg Missbilligung auslösen. Die Linien der Lipizzaner waren in der Regel bis zum Beginn der Züchtung zurückzuverfolgen, als sie im sechzehnten Jahrhundert aus der Kreuzung zwischen arabischen Hengsten und starken spanischen Stuten hervorgegangen waren. Irma hatte sich über die Rasse eingehend informiert, hatte Bücher aus der Leihbibliothek in Graz gelesen, um nicht als der Dummerjan aus der Steiermark zu gelten.
Fabritius musterte sie mit skeptischer Miene von der Kappe bis zu den Schuhen. »Hast du es dir also nicht anders überlegt und willst dich den Strapazen des Trainings aussetzen? Bilde dir nicht ein, dass das hier ein Ponyhof ist. Hier wird gearbeitet, und wer faulenzt, fliegt.« Er wanderte um Novio herum, begutachtete ihn anerkennend. »Was für ein schöner Kopf, was für ausgeprägte Muskeln, wir werden viel Freude an deiner Stärke und Ausdauer haben, Novio, wie?« Er klopfte auf seinen Hals, der Hengst trippelte und wieherte. Offenbar gefiel ihm Fabritius weniger als Johann. »Ein kräftiger Körper und ein stolzer Geist sind die besten Voraussetzungen für ein Prunkpferd.«
In Irmas Magen brodelte es. Novio beeindruckte jeden. Gleichzeitig aber wuchs ihre Sorge, ob die Erwartungen an ihn – und damit an sie – nicht zu groß waren. Was würde passieren, wenn sie diese Menschen enttäuschte? Abneigung schlug ihr entgegen. Der Oberbereiter war von Anfang an dagegen gewesen, dass sie ihr Pferd begleitete, hatte Mittel und Wege gesucht, sie von ihm zu trennen, aber das schaffte keiner. Wer Novio wollte, der bekam Irma dazu. Und wenn es sein musste in der Kleidung und mit dem Gebaren eines Konrad Jankovitz. Sie schielte zu Johann, dem nach der Ansprache des Vorgesetzten vor Überraschung der Mund aufgeklappt war. Er hatte offenbar tatsächlich nicht glauben können, dass dieser ärmlich wirkende junge Mann die gleiche Ausbildung wie er selbst erhalten sollte. Wie adrett Johann in seiner Anzugjacke aussah. Ob sie auch so eine bekommen würde? Sie würde sie ein Stück männlicher erscheinen lassen. Und ihr mehr Sicherheit verleihen.
»Novio ist erschöpft von der langen Anreise. Zeigen Sie mir, wo ich ihn unterbringen kann?«, fragte sie höflich.
Fabritius blickte sie durchdringend an. »Du schiebst dein Pferd vor, wenn du faulenzen willst, Junge?« Ob er sich ihren Namen überhaupt gemerkt hatte? Er gab ihr das Gefühl, nicht mehr wert zu sein als der Dreck unter seinem Fingernagel. »Novio lauert doch darauf, sich zu beweisen. Merkst du das nicht? Bist du sicher, dass du das richtige Gespür für ihn hast? Wir …« Er wandte den Kopf in Richtung des Torbogens, durch den ein etwa dreißigjähriger Mann mit langen Schritten trat und auf sie zukam. Unter seinem Zweispitz – die etwas schmalere Goldborte wies ihn als Bereiter aus – kringelten sich braune Locken. Sein Lächeln wirkte gezwungen. Er nickte Johann zu, reichte Fabritius die Hand, dann sah er zu Irma. »Du hast Novio gebracht? Wie war der Weg von Graz hierher?«
Der Erste, der sich erkundigte, wie es ihnen ergangen war. Die anderen beiden hatten nur Interesse an Novios Vorzügen gezeigt. Sie verbot sich ein Lächeln. »Es war ungewohnt. Aber Novio hat sich gut führen lassen.«
»Ich bin Stephan Gowalka«, stellte er sich vor. »Ich werde für dein Pferd zuständig sein. Gut, wenn du dich um seine Pflege kümmerst. Nimmst du eines der Apartments über den Boxen? Dort ist zwar ab den frühen Morgenstunden bei der Reinigung ein höllischer Lärm, aber dafür bist du nah bei deinem Liebling.«
Johann war in Gegenwart der beiden Ranghöheren in Schweigen verfallen. Jetzt meldete er sich zu Wort. »Das wird nicht möglich sein, die sind alle besetzt. Es gibt eine Warteliste von Eleven, die ebenfalls dort einziehen wollen.«
Irma schaute irritiert zwischen den Männern hin und her. »Ich … ich habe eine Unterkunft. Aber … was meinen Sie damit, dass ich die Pflege übernehme? Ich werde zum Bereiter ausgebildet.« Sie richtete sich auf, drückte das Kreuz durch.
Gowalka wechselte einen Blick mit Fabritius, der sich nervös am Kinn kratzte. »Wer bist du, Bursche? Aus welchem Elternhaus stammst du?«
»Ich bin Konrad Jankovitz. Meine Eltern waren Apfelbauern in der Steiermark, die letzten Jahre habe ich auf dem Gestüt Rehberger gearbeitet. Dabei ist eine enge Beziehung zu Novio entstanden.«
»Ja, verstehe, aber das ist kein Grund, dass du hier die Ausbildung antreten darfst. Du gehörst nicht zu der Klientel, aus der wir normalerweise die Eleven auswählen. Hier lernen vor allem jugendliche Adelige den Umgang mit den Pferden.« Trotz seiner ablehnenden Worte musterte er Irma aufgeschlossen. »Du müsstest schon ein Ausnahmetalent sein, um eine Chance zu bekommen.«
Fabritius fand es offenbar an der Zeit, seine Autorität zu demonstrieren. »Tatsächlich war es die Bedingung von Frau Rehberger, dass der Pferdepfleger bei uns ausgebildet wird, wenn sie uns Novio überlässt. Dass das Tier die idealen Voraussetzungen mitbringt, sieht man sofort. Bei Jankovitz bin ich skeptisch. Sollte er nicht geeignet sein, pfeife ich auf alle Vereinbarungen.« Fabritius schien plötzlich von neuer Hoffnung durchdrungen, als erahnte er eine Möglichkeit, den aus seiner Sicht völlig ungeeigneten Bengel loszuwerden.
Er stellte das Abkommen infrage? Damit hatte Irma nicht gerechnet. Er sollte es nicht wagen, sie von Novio zu trennen. Keiner führte ihn sicherer als sie, keinem vertraute er mehr. Sie trat dichter an den Hengst heran, der ihr mit seinem Maul in den Nacken tippte. Er spürte ihre plötzliche Furcht. »Das dürfen Sie nicht«, erwiderte Irma. »Sie hätten Novio nicht bekommen, wenn Sie nicht zugesagt hätten, mich auszubilden. So lautete die Abmachung.«
Fabritius wies mit dem Finger auf sie. »Gewöhn dir einen höflicheren Ton an, Bursche, sonst kannst du gleich den nächsten Zug zurück nehmen. Führ dein Pferd in die Reithalle, und beweise uns, dass du in der Lage bist, es auszubilden.«
Irma wich eingeschüchtert einen Schritt zurück. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie in diesem Ton ansprach. Gowalka tätschelte Novio die Flanke. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine Falte. »Der Junge und das Pferd haben eine lange Reise hinter sich. Wir sollten beiden eine Ruhepause gönnen und uns morgen einen Überblick verschaffen.«
»Sie stellen meine Anweisung infrage?« Fabritius streckte die Brust raus.
Gowalka hob lässig die Brauen. »Ich glaube, dass wir beim Morgentraining den besseren ersten Eindruck bekommen.«
»Und ich glaube das nicht. Wenn das Pferd so ausdauernd und wissbegierig ist, wie ich es einschätze, wird es mit Freude eine Vorführung geben. Es würde lediglich an der Arbeitseinstellung unseres jungen Freundes hier scheitern«, fügte er mit ätzendem Spott hinzu. Fabritius wandte sich an Johann. »Lauf los und hol die anderen. Sie sollen zusehen, wie sich Jankovitz mit seinem Hengst anstellt.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und schritt voran in Richtung der Reithalle. Johann flitzte los wie ein Sprinter nach dem Startschuss, was wenig zu der Würde seiner Erscheinung in der Eleven-Uniform passte.
In Irmas Adern sirrte es. Nach all den Anstrengungen des Tages würde sie tatsächlich noch einmal ihr Bestes geben müssen. Was sollten sie zeigen? Novio beherrschte zahlreiche Übungen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, wandte sich dem Hengst zu, flüsterte ihm ins Ohr. »Ich brauche dich jetzt. Es ist wichtig, dass wir es schaffen.« Novio hob einen Vorderfuß, schüttelte die Mähne, sie hielt ihm ein Stück Apfel vors Maul, berührte sanft seine Nüstern, als er das Obst zermalmte.
»Mach dir keine Sorgen, man wird dir schon nicht den Kopf abreißen«, vernahm sie Stephan Gowalka neben sich. Er war herangetreten, streichelte Novio ebenfalls. Als er die Hand zwischen seine Ohren führen wollte, hielt Irma ihn zurück. »Das mag er nicht, dabei wird er wild. Lieber nur die Seiten streicheln.« Sie nahm den Duft nach einem würzigen Rasierwasser wahr und etwas wie warmes Sandelholz.
Gowalka blickte sie prüfend an. »Du könntest ein bisschen größer und kräftiger sein als Eleve bei uns, aber gut, besser so, als wenn das Pferd unter deinem Gewicht leiden müsste. Die Frage ist nur, ob du stark genug bist, es zu führen.«
»Ich kenne Novio, seit er ein Fohlen war. Ich bin seine Bezugsperson.«
»Bei uns hat jeder Bereiter fünf Hengste. Es gibt nicht die eine untrennbare Einheit. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten.«
»Bei mir und Novio ist es anders«, beharrte Irma und sah ihm fest in die Augen, die von einer ungewöhnlichen Farbe waren, dunkelblau wie ein tiefer Bergsee.
»Dann komm mit, ich zeig dir die Reithalle.«
Gowalka ging voran, Irma folgte ihm mit dem Hengst am Zügel über den Arkadenhof bis zu der schmalen Reitschulgasse und versuchte, ihren Pulsschlag zu beruhigen. Ein Kutscher stoppte seine Pferde, als sie den Pflasterweg überqueren wollten, ein Mann mit einem Karren wartete und ließ ihnen ebenfalls den Vortritt. Durch einen gemauerten Gang, in dem das Hufklappern von den Wänden hallte, erreichten sie ein Tor, das direkt zur lichterfüllten Reitbahn führte. Irma hielt inne, und Stephan Gowalka flüsterte ihr ins Ohr: »Falls du Eindruck schinden möchtest, empfehle ich dir, beim Einreiten deine Mütze zu ziehen. Siehst du da oben die Büste an der gegenüberliegenden Brüstung? Der Gruß gilt dem Bauherrn, Kaiser Karl VI. Damit dankst du ihm für die schönste Reithalle der Welt.«
Die Herrlichkeit des vor mehr als einhundertsechzig Jahren errichteten, in gebrochenem Weiß gehaltenen Gebäudes blendete sie. Überall Säulen und Nischen, die Decke von steinernen Bögen getragen, mit Trophäen geschmückte Balustraden … Sie hatte beeindruckende Bilder in Büchern gesehen. Aber die hatten sie nicht auf dieses erhabene Gefühl vorbereitet. Was für eine Ehre, in einer solchen Halle aufzutreten. Wenn sie es nur auf morgen hätte verschieben können! Aufgewühlt von all den neuen Eindrücken, würde sie sich dennoch keinen Patzer erlauben.
Sie wartete einige Sekunden, schloss die Augen, um sich zu sammeln. Dann nickte sie Gowalka zu und schwang sich in den Sattel. Mit dem Druck ihrer Schenkel signalisierte sie dem Hengst, dass es nun darauf ankam, alles zu geben. Sie beugte sich über ihn, flüsterte ihm ins Ohr: »Du schaffst das.« Im selben Moment breiteten sich in ihr die vertraute Ruhe und Gelassenheit aus, die sie aus dem Zusammenspiel mit Novio kannte.
Der Hallenboden bestand aus Sand und Sägemehl, in gleichmäßigem Muster gerecht. Gegenüber unter dem Geländer hatte auf einem Podium ein Dutzend Männer zwischen zwanzig und sechzig Jahren in der Uniform der Reitschulmitglieder Platz genommen. Fabritius thronte in deren Mitte, die Arme vor der Brust verschränkt, auf dem Gesicht ein sattes Grinsen, als genösse er die Vorstellung, sie mit Novio scheitern zu sehen. Sie traute ihm bereits nach der ersten kurzen Begegnung zu, dass er ihr die Ausbildung zum Bereiter verwehrte, sollte sie an diesem Nachmittag versagen.
Novios Eleganz prägte die ersten Schritte. Irma führte ihn in die Mitte der Halle und zog die Kappe von den Haaren mit Blick auf Kaiser Karl VI. Ein belustigtes Raunen erklang im Publikum. Ob sie es erheiternd fanden, dass sie mit dieser großen Geste begann, oder ob sie sich über ihre struppige blonde Frisur amüsierten, wusste sie nicht. Aber das Getuschel und Gelächter irritierten Novio, der zur Seite ausbrach und ungestüm tänzelte. Sie erschrak, nahm alle Konzentration zusammen, um das Pferd ihrem Willen zu unterwerfen. Er war jung, ungebändigt, eigensinnig, aber jetzt galt es, ihre Anweisungen auszuführen! Das musste Novio spüren! Dass sich das Feixen in Fabritius’ Miene verbreiterte, sah sie aus den Augenwinkeln. Stephan Gowalka hingegen war am Eingangstor stehen geblieben, die Hände hinter dem Rücken, die Züge unbewegt. Der skeptische Ausdruck beider Männer spornte sie genauso an, ihr Bestes zu geben, wie die amüsierte Überheblichkeit der übrigen Zuschauer.
Sie holte Luft, ließ die Energie von ihrem Kopf in ihren Körper fließen, während Novio und sie zu dieser Harmonie fanden, die sie auf den Wiesen der Steiermark perfektioniert hatten. Mit gleichmäßigen, ruhigen, natürlichen Tritten im Trab, ohne Hast vorwärtsstrebend, präsentierte er sich auf einer gedachten Kreislinie als starkes, in sich ruhendes Pferd. Das Gemurmel im Publikum ebbte ab. Irma führte ihn auf die Ecken zu, erfühlte seine Erhabenheit, die Spannung seiner Muskeln an ihren Schenkeln. Beim Durchreiten hielt er das Tempo, wie sie es von ihm verlangte, nahm willig ihre Schenkel- und Zügelhilfen an und fiel in einer geschmeidigen Bewegung flüssig vom Trab in den Galopp. Novio wirkte mit seiner Begabung wie ein Spiegelbild ihrer selbst. Sie lenkte ihn in die Mitte der Reithalle, fokussierte sich auf das, was vor ihnen lag, und signalisierte ihm, achtsam zu sein. Was sie zeigen wollte, war absolut ungewöhnlich für ein Pferd am ersten Tag in der Hofreitschule. Sie hatte diese Übung in ihren Lehrbüchern entdeckt und schnell herausgefunden, dass sie Novio mit seinem angeborenen Drang, den Schwerpunkt auf die Hinterbeine zu legen, wie auf den Leib geschneidert war. Jetzt kam es darauf an, sie zu präsentieren und sich dabei nicht zu blamieren. Ihr Puls rauschte, als sie dem Pferd anzeigte, sich zu versammeln und einen Trab auf der Stelle zu zeigen. Piaffe. Novio gehorchte, zehn, fünfzehn Sekunden lang war die Spannung in der Halle zum Greifen, während man nur das rhythmische Klopfen der Hufe auf dem Sand hörte. Dann brach Novio aus, stieg hoch und trat in die Luft, eine seiner typischen Bewegungen, wenn man ihm zu deutlich zusetzte, aber diese kurze Darbietung hatte ausgereicht, die uniformierten Männer aufspringen zu lassen. Sie verzichteten auf Applaus, weil der Lärm den Hengst weiter aufgebracht hätte, doch Irma erkannte an ihren Mienen, dass sie beeindruckt waren.
Und sie war noch nicht fertig. Als letzte Übung ließ sie Novio eine kurze Strecke in der sogenannten Passage gehen, eine Gangart, die zum Traben gehörte und bei der durch das federnde Abheben der Beinpaare der Eindruck entstand, Pferd und Reiter würden schweben. Irma liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit, das ihr diese Übung vermittelte, und sie erlaubte sich ein winziges Lächeln in Richtung Stephan Gowalka, der alle Skepsis verloren hatte und schmunzelte.
Zum Abschluss glitt sie vom Pferd und verneigte sich vor dem Publikum, während sie Hugo Fabritius ansah. »Ich könnte auch meine Arbeit an der Hand zeigen, wenn mir jemand eine Longe bringen würde.« An einer solchen Übungsleine konnte sie noch stärker verdeutlichen, was Novio bislang gelernt hatte. Sie bemerkte Johann, der breit grinste, die Augen schmal wie Schlitze, den Daumen in die Höhe gereckt. Ihn hatte sie mit ihrer Vorführung überzeugt.
Sie hörte Schritte hinter sich und fühlte in der nächsten Sekunde Gowalkas Rechte auf ihrer Schulter. »Ich denke, du hast eindrücklich genug bewiesen, dass du der richtige Reiter für Novio bist und bereit für die Ausbildung.«
Fabritius erhob sich, das Gesicht von einer ungesunden violetten Farbe. »Habe ich nicht gesagt, dass dein Pferd darauf brennt, sich zu beweisen? Arbeite an deiner Einstellung, Jankovitz, sonst wirst du hier keine Freude haben.«
»Heißt das, ich darf die Ausbildung mit Novio beginnen?«, vergewisserte sich Irma mit Herzklopfen.
»Bis auf Widerruf«, bestimmte Fabritius. »Ich habe dich im Visier, Bursche.« Damit zwängte er sich an den übrigen Zuschauern vorbei und strebte Richtung Ausgang. Dort drehte er sich um. »Und sieh zu, dass du deine speckigen Klamotten verbrennst und dich künftig angemessen zeigst. Dein Aufzug ist eine Beleidigung für diese ehrwürdige Stätte.«
Sie würde sich ein dickeres Fell zulegen müssen. Dies war die Welt von Männern mit Rang und Namen, die Menschen unter ihrem Stand mit Herabwürdigung begegneten.
Ein Kerl mit schmalem Gesicht, pickeligem Kinn und gebogener Nase in der Uniform der Bereiteranwärter erhob sich und wies mit dem Finger auf sie. »Bin ich der Einzige, der gesehen hat, dass das Pferd durchgegangen ist? Jankovitz ist zu schmächtig, um diesen Hengst unter Kontrolle zu bringen. Guckt ihn euch doch an mit den hängenden Schultern. Der übernimmt sich komplett mit dem täglichen Training.«
»Schluss, von Korthy!« Gowalka übertönte das allgemeine Raunen, das erneut aufgekommen war. »Wir werden Jankovitz in unseren Reihen willkommen heißen und ihm eine faire Chance geben.«
»Da kann ja jeder kommen!«, beharrte von Korthy mit verkniffenen Lippen. »Ich hatte den Besuch der Reitschule als Auszeichnung angesehen. Wenn sich Leute wie Jankovitz hier einschleichen …«