Die hohe Kunst des Verzichts - Otfried Höffe - E-Book

Die hohe Kunst des Verzichts E-Book

Otfried Höffe

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Beschreibung

Auch wenn über den Verzicht neuerdings wieder viel geredet und vor allem viel gestritten wird: Es ist erstaunlich, dass er einen derart schlechten Ruf genießt. In der Geschichte der Ethik und in der Tradition der Religionen spielt der Verzicht dagegen eine ganz erhebliche Rolle. Otfried Höffe nimmt jene bemerkenswerten Defizite daher zum Anlass für eine Reihe von geistesgeschichtlichen Rückblicken, um uns an die Bedeutsamkeit und die historische Vielfalt von Formen und Verständnissen der Selbstbeschränkung zu erinnern. Vom Verzichten als Mäßigung der Leidenschaften oder als religiöse Askese über die rechtliche Einschränkung der eigenen Freiheit bis hin zur großen Verzichtsaufgabe, die wir im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht ignorieren dürfen: Die kurze Geschichte des Verzichts zeigt, dass ein gelingendes Leben ohne die hohe Kunst der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht auskommen kann. Die Ausflüge in die Philosophiegeschichte sind daher nicht bloß von historischem Interesse. Otfried Höffe geht es vielmehr um begriffliche Aufklärung – und um die Formulierung einer kleinen Philosophie des Verzichts: Lässt sich der Begriff rehabilitieren und für das gegenwärtige Denken wieder fruchtbar machen?

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Otfried Höffe

Die hohe Kunst des Verzichts

Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung

C.H.Beck

Zum Buch

Auch wenn über den Verzicht neuerdings wieder viel geredet und vor allem viel gestritten wird: Es ist erstaunlich, dass er einen derart schlechten Ruf genießt. In der Geschichte der Ethik und in der Tradition der Religionen spielt der Verzicht dagegen eine ganz erhebliche Rolle. Otfried Höffe nimmt jene bemerkenswerten Defizite daher zum Anlass für eine Reihe von geistesgeschichtlichen Rückblicken, um uns an die Bedeutsamkeit und die historische Vielfalt von Formen und Verständnissen der Selbstbeschränkung zu erinnern.

Vom Verzichten als Mäßigung der Leidenschaften oder als religiöse Askese über die rechtliche Einschränkung der eigenen Freiheit bis hin zur großen Verzichtsaufgabe, die wir im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht ignorieren dürfen: Die kurze Geschichte des Verzichts zeigt, dass ein gelingendes Leben ohne die hohe Kunst der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht auskommen kann. Die Ausflüge in die Philosophiegeschichte sind daher nicht bloß von historischem Interesse. Otfried Höffe geht es vielmehr um begriffliche Aufklärung – und um die Formulierung einer kleinen Philosophie des Verzichts: Lässt sich der Begriff rehabilitieren und für das gegenwärtige Denken wieder fruchtbar machen?

Über den Autor

Otfried Höffe ist Professor em. für Philosophie an der Universität Tübingen, Leiter der dortigen Forschungsstelle Politische Philosophie sowie Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking. Er arbeitet vor allem zur Ethik und politischen Philosophie sowie zu Kant und Aristoteles.

Bei C.H.Beck sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen, darunter: «Immanuel Kant» (⁹2020), «Die hohe Kunst des Alterns» (⁴2019), «Demokratie im Zeitalter der Globalisierung» (²2022), «Kants Kritik der reinen Vernunft» (⁴2004, als Paperback ²2023), «Kleine Geschichte der Philosophie» (⁴2022) und «Kritik der Freiheit» (²2021). Höffe ist Träger des Bayerischen Karl-Vossler-Preises für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.

Inhalt

Vorwort

1. Ein erstes Verzichtsmuster – Freiheitsverzichte um der Freiheit willen: Die Welt des Rechts

Ein neutrales Grundverständnis

Rechtszustand: Elementarer Freiheitsverzicht

Privatrecht: Verzicht auf Rechtsansprüche

Verzicht auf Herrschaft?

Öffentliches Recht: Verzicht auf Privatlegislative, Privatexekutive und Privatjustiz

Strafrecht: Verzicht auf Rache und Verzicht auf das Talionsprinzip

Rechtsexterne Verzichte auf Rache

Erstes Zwischenspiel: Der säkulare Charakter im biblischen Dekalog

2. Ein zweites Verzichtsmuster – Menschsein ermöglichen

Lebenskunst

«Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf»

Drei Kardinaltugenden: Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit

Die vierte Kardinaltugend: Besonnenheit

Kleine Aktualisierung

Freie Mehrleistungen

Zweites Zwischenspiel: Verzichte, wo man sie nicht erwartet

Religiöse und weltanschauliche Toleranz

Die kleine Toleranz: Sich nicht einmischen

Eine unsichtbare Hand

Arbeit

Weitere Verzichte

3. Ein drittes Verzichtsmuster – Menschsein steigern: Lebensideale

«Ein Gärtchen, Feigen, kleiner Käse und dazu drei oder vier Freunde»

Fasten

Sich verleugnen

Aufklärung

Drei Prunkworte: Armut, Demut, Keuschheit

Lebensweisheiten

Drittes Zwischenspiel: Erfüllung durch Verzicht: Hohe Minne

4. Ein viertes Verzichtsmuster – Aktuelle Krisen bewältigen

Finanzkrise

Flüchtlingskrise

Pandemie

Energiekrise

Viertes Zwischenspiel: Unvernünftige Verzichte?

Altersdiskriminierung und Leibfeindlichkeit

Ein Recht auf Faulheit?

Geist des Kapitalismus?

5. Ein fünftes Verzichtsmuster – Den Planeten retten

Wider Panikmache

Nicht unterschlagen: Bevölkerungsexplosion

Überbeanspruchung der Natur

Wem gehören die tropischen Regenwälder?

Klimapolitik 1: Ist dem Menschen eine Herrschaft über die Natur erlaubt?

Klimapolitik 2: Aktuelle Aufgaben

Bilanz – Eine Kunst humanen Verzichts

Literatur

Personenregister

Für Evelyn, mein Vorbild humaner Selbstbeschränkung

Vorwort

Dass der Verzicht, zumal der freiwillige, keinen guten Ruf hat, wird niemand bestreiten. Ein Essay, der sich trotzdem auf das Thema einlässt, muss mit Kopfschütteln rechnen. Er muss sich die Frage gefallen lassen, warum er sich keinem wichtigeren, vor allem keinem attraktiveren Gegenstand zuwendet. Denn warum soll man, zumal nicht bloß in einem Teilbereich, sondern umfassend, sich auf das einlassen, wozu Verzichte auffordern? Warum soll man sich ohne äußeren Zwang einschränken, beispielsweise Konsumverzicht üben, vorzeitig ein Amt aufgeben, einen gegenwärtig drängenden Wunsch nicht erfüllen, also Triebverzichte vornehmen? Oder: Warum soll man dort, wo neuerdings dann doch über Verzichte geredet wird, warum soll man um des Umwelt- und Klimaschutzes willen seine Lebensweise nicht nur ein wenig, sondern tiefgreifend verändern?

Weil diese Rückfragen berechtigt sind, also Zweifel am Wert des Themenfeldes nicht bloß erlaubt sind, sondern sich geradezu aufdrängen, muss, wer sich trotzdem darauf einlässt, die Beweislast übernehmen: Eine Philosophie, auch wenn sie sich kluger- und bescheidenerweise «klein» nennt, beansprucht, jetzt weniger bescheiden, Aufklärung. Sie sucht nämlich das Phänomen des Verzichtens neu zu sehen: umfassender und gründlicher. Überdies soll das Verzichten, neu bewertet, nicht bloß als ungeliebte, sondern als eine in vieler Hinsicht willkommene Praxis eingeschätzt werden.

Zu diesem Zweck sind drei Dinge zu klären: Als erstes suche man die Diskussionsfelder auf, in denen der Verzicht früher positiv bewertet wurde. Als nächstes räume man ein, dass selbst in diesen Bereichen der Verzicht an Reputation verloren hat und forsche nach den Gründen. Schließlich ist zu überlegen, ob für den Bedeutungsverlust nicht nur zeitspezifische, sondern auch allgemeine, im Wesen des Verzichts und in der Natur des Menschen liegende Gründe verantwortlich sind.

Beginnen wir mit der letzten Aufgabe: Dort, wo man jeden Verzicht von sich weist, folgt man, sagen Philosophen, dem Lustprinzip, und stellen die Gegenfrage, warum man sich dem Lustprinzip widersetzen und auf Verzichte, in Sigmund Freuds Begriffen: auf Triebverzichte, einlassen soll. Denn, wie eineinhalb Jahrhunderte zuvor ein englischer Rechts- und Sozialphilosoph, Jeremy Bentham, erklärte, ist der Mensch seiner Natur nach der Herrschaft zweier Herren unterworfen, dem Verlangen nach Lust und dem Drang, Übel, Schmerz und Leid zu vermeiden. Warum also sollte man sich dieser Herrschaft, sofern es überhaupt möglich ist, entziehen wollen?

Das entscheidende Argument gegen Selbstbeschränkungen liegt auf der Hand: Wer sich dem Lustprinzip entgegenstellt, nimmt Mühen auf sich und erfährt Frustration. Verzichte können dem Betreffenden weh, nicht selten bitter weh tun. Selbst in weniger gravierenden Fällen verlangen sie dem Betreffenden zumindest emotionale Kosten ab. Weil man also Verzichte nicht wohlfeil, gewissermaßen umsonst vornehmen kann, sind sie notwendig ungeliebt, häufig genug sogar verhasst.

Wer sich trotzdem auf sie einlässt – und dieser Essay entdeckt zahlreiche Gründe, das zu sollen, selbst es zu wollen –, der braucht zweierlei Fähigkeiten: Er muss weltoffen und klug genug sein, die Gründe einzusehen. Darüber hinaus muss er gegen die Herrschaft des Lustprinzips jene Widerstandsfähigkeit entwickeln, die man heute, da es professioneller klingt, Resilienz nennt. Erst sie macht es nämlich möglich, die als berechtigt eingesehenen Gründe über vielerlei Schwierigkeiten hinweg im tatsächlichen Tun und Lassen anzuerkennen.

Offensichtlich bringen beide Fähigkeiten demjenigen, der sie beherrscht, einen Gewinn, was die Skepsis gegen Verzichte zu übersehen pflegt: Die betreffende Person, entweder eine natürliche Person, der einzelne Mensch, oder eine juristische Person wie ein Staat, nicht zuletzt die Staatengemeinschaft, reift zu dem heran, was man beim einzelnen Menschen eine Persönlichkeit nennt und im Bereich des Politischen eine von Gerechtigkeit und Zukunftsverantwortung geprägte Organisation, schließlich im globalen Maßstab eine für ihren Planeten und deren Zukunft verantwortungsbereite Menschheit.

Aus diesem Grund verdient, wer über beide Fähigkeiten verfügt, eine hohe Wertschätzung. Der, dem sich die nötige Klugheit und Widerstandsfähigkeit zur inneren Haltung verfestigt, gilt zu Recht als vorbildliche Person. Infolgedessen taucht hier eine für Selbstbeschränkungen charakteristische Schwierigkeit auf: Der Verzicht hat den Nachteil, nennen wir ihn seine «dunkle Seite», Opfer zu verlangen, die schmerzlich sein können. Daraus ergibt sich ein Problem, das sich als «Paradox» bezeichnen lässt: Eine ethisch oder politisch bedeutsame Selbstbeschränkung verbindet sich mit einer gewichtigen «dunklen Seite», insofern sie entweder «Unverzichtbares» betrifft oder etwas, das man nicht ohne Mühe oder Schmerz, Reue oder Bedauern unterlassen kann. Verzichten ist daher nicht nur eine hohe Kunst, sondern bedarf auch der Rechtfertigung.

Diese fängt schon mit der Einsicht in die Vorbildlichkeit der genannten Haltungen an. Im Umstand, dass man sich mittels Verzichte zu einer achtenswerten Persönlichkeit entwickelt, liegt ein Vorzug, der als die «helle Seite» des Verzichts einzuschätzen ist. Dieser beginnt vielleicht sogar eine sachliche Stufe früher, nicht erst bei einer Steigerung des Menschseins, sondern schon bei dessen Ermöglichung. Beide Optionen haben nun das genannte Paradox zur Folge:

Die negative, dunkle Seite des Verzichts erweckt den Anschein eines erheblichen Verlusts – und verlangt deshalb aus sich heraus eine positive, helle Seite, die eine höhere Form des Menschseins in Aussicht stellt. Um auf Benthams doppelte Herrschaft zurückzukommen: Im Praktizieren des Verzichts entdeckt der Mensch eine Lust zweiter Stufe, die Lust nämlich, sich nicht ausschließlich der gewöhnlichen Lust zu unterwerfen. Statt Sklave des üblichen Lustverständnisses zu sein, entzieht er sich dessen Herrschaft und erarbeitet sich eine neuartige Herrschaft, die Herrschaft über die bisherige Herrschaft. Wie dies des Näheren geschieht, sucht dieser Essay themen- und facettenreich zu erkunden.

Da also eine genauere Betrachtung des Verzichts nicht nur auf eine dunkle, sondern auch auf eine helle Seite stößt, und da diese sich zudem als die bedeutsamere erweisen wird, stellt sich die Frage, warum dies bislang unbeachtet geblieben, zumindest unterschätzt worden ist. In der Antwort wird sich die Skepsis gegen den Verzicht in ihr Gegenteil verkehren: Nicht mehr der Verzicht, sondern sein vornehmlich schlechter Ruf erscheint als bedenklich.

Bekanntlich spielt der Verzicht teilweise bis heute noch in den Weltreligionen eine erhebliche Rolle. Diesen Sachverhalt kann man zwar mit dem Argument beiseiteschieben, mittlerweile lebten wir in jener weithin säkularen Gesellschaft, die die Religionen zwar toleriert, aber nicht mehr für gesellschaftspolitisch unverzichtbar hält. Obwohl das zutrifft, bleibt die Frage offen, warum selbst die Fachleute für Religion, die Theologen, das Thema meiden, ihm bestenfalls eine höchst geringe Bedeutung zubilligen. Dies ist umso erstaunlicher, als bei der denn doch anerkannten Verzichtsaufgabe, dem Umwelt-, Klima- und Artenschutz, die christlichen Kirchen einen Leitgedanken vertreten, die Bewahrung der Schöpfung, der, nimmt man ihn ernst, die Menschheit zu weitreichenden Verzichten auffordert. In den neueren Nachschlagewerken beider großen Konfessionen sucht man jedenfalls das Stichwort des Verzichts vergeblich. Selbst Umfeldausdrücke wie Askese und Fasten tauchen kaum noch auf.

Nun mag dieses Defizit für die außertheologische, weil säkulare Welt belanglos sein. Wer die Philosophie- und Geistesgeschichte nur ein wenig kennt, weiß aber, dass die befürchtete Vermischung, die «Verunreinigung» mit Religion, keineswegs immer und überall stattgefunden hat. Im Gegenteil spielte der Verzicht in einem zweiten Diskussionsfeld, in rein säkularen Überlegungen der Philosophie, lange Zeit eine positive Rolle. Einen erstaunlichen Gewährsmann, Friedrich Nietzsche, werden wir noch erwähnen. Zunächst genüge der Hinweis auf zwei andere Philosophen, Kant und Hegel, die sich nicht scheuen, den heute meist übel beleumdeten Ausdruck zu verwenden. Von Verzicht sprechen sie zwar selten, überdies in einem für gegenwärtige Leser außergewöhnlichen, gleichwohl aktuellen Zusammenhang.

Im Gegengensatz zu jenen radikalen Moralskeptikern, die es damals wie heute gibt, sucht unser Weltbürger aus Königsberg, Kant, für einen der ihm wichtigsten Gegenstände, das Moralgesetz, die Wirklichkeit nachzuweisen. Ob man an das Verbot von Lüge und Betrug und an das Gebot der Hilfsbereitschaft denkt, der Inbegriff dieser uns allen bekannten und in der Regel von uns auch anerkannten Verbindlichkeiten, eben die Moral, ist keine Illusion, von der wir uns verabschieden müssen. Sie ist kein Wahn, dem die Menschheit törichterweise «seit ewigen Zeiten» erlegen ist und von dem uns eine Aufklärung endlich zu befreien hat. Die Moral ist vielmehr eine Realität, die sich laut Kant auch nachweisen lässt. Für diesen Nachweis, den er in der Tat erbringt, muss er jedoch «auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun» (Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 47). Wie bei einem so großen Denker zu erwarten, begründet Kant die «objektive Realität» des Moralgesetzes mit raffinierten Argumenten. Für sie beansprucht er aber nicht die jeden Widerspruch ausschließende, eben apodiktische Gewissheit. Denn unserem Philosophen zufolge lässt sich die Realität der Moral zwar nachweisen, aber nicht in Form einer objektiven Erkenntnis.

Der andere Philosoph, der aus der schwäbischen Hauptstadt Stuttgart stammende Hegel, behandelt eine weitere Verzichtsart. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes spöttelt er über die Haltung der «Genügsamkeit, die auf die Wissenschaft Verzicht tut». Mit Nachdruck erhebt er für die Philosophie die Gegenforderung, die ohne Frage immer noch aktuell ist, dabei nicht nur von der Philosophie, sondern in allen öffentlichen Debatten anerkannt werden sollte (hier gestrafft): «Die Philosophie muss sich hüten, sich etwas vorzuschwärmen und erbaulich sein zu wollen» (Werke in 20 Bänden, Bd. 3, S. 17).

Auf heute angewandt sollte es in wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen, überdies in öffentlichen Debatten letztlich nicht auf subjektive Vorlieben oder Abneigungen, insbesondere nicht auf ideologische Vorurteile ankommen. Selbst bei so umstrittenen Themen wie der Gentechnik, der Embryonenforschung und der künstlichen Intelligenz oder der Endlagerung von Atommüll, selbst bei der Frage, ob man noch Kohle abbauen und Atomkraftwerke weiter betreiben will, sollten am Ende weder vage Gefühle noch weltanschaulich starre Vorentscheidungen, sondern klare Begriffe, genaue Diagnosen und überzeugende Argumente das letzte Wort haben. Statt die Entscheidungen ziemlich willkürlich zu fällen, sollten die einschlägigen Themen «sine ira et studio», also leidenschaftslos erörtert werden – eine einzige Leidenschaft ausgenommen: unvoreingenommen, objektiv und sachlich vorzugehen.

Bei beiden Denkern, Kant und Hegel, taucht der Verzicht zwar wie angedeutet an prominenter Stelle, im Gesamtwerk aber nicht einmal als ein Nebenthema auf. In den einschlägigen Nachschlagewerken, dem dreibändigen Kant-Lexikon und dem Register zu «Hegels Werke in zwanzig Bänden», findet sich der Ausdruck nicht. Selbst im vielbändigen «Historischen», also der reichen Geschichte gewidmeten «Wörterbuch der Philosophie» mit seinen Tausenden und Abertausenden von Einträgen sucht man das Stichwort «Verzicht» vergeblich – obwohl es, wie angedeutet, in der Geschichte der Philosophie kein unerhebliches Thema war.

Diese Sachlage hat fraglos zum Bedeutungsverlust des Verzichts beigetragen. Um die Bedeutung wiederzugewinnen, stehen wir vor einer dreifachen Aufgabe: Der säkularen Gesellschaft empfiehlt sich, sowohl an die frühere außerreligiöse und außertheologische Bedeutung des Verzichts zu erinnern, als auch zu überlegen, warum er diese Bedeutung verloren hat, schließlich, ob der Versuch, die Bedeutung heute zu erneuern, sinnvoll ist.

Das Themenfeld, das sich dabei auftut, ist nicht bloß weitläufig. Dessen Teilthemen sind auch nicht so gleichartig, dass sich stets dieselben Anforderungen stellen. Daher werden ihnen auch nicht dieselben Arten des Verzichtens gerecht. Je nach Anforderungsprofil des Themas braucht es vielmehr ein anderes Grundmodell, insgesamt also eine Mehrzahl von Verzichtsmustern. In der Wissenschaft spricht man dann zwar lieber von Paradigmen. Einem Essay empfiehlt sich, bei den hinreichend treffenden Ausdrücken der Verzichtsmuster oder Verzichtsmodelle zu bleiben und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zum Leitfaden zu wählen. Dass sich gelegentlich Gemeinsamkeiten zeigen, ist nicht auszuschließen.

Da es sich um Grundmodelle handeln wird, könnte sich im Vorübergehen noch etwas anderes zeigen: dass das Verzichten mit dem Menschsein zusammenhängt, daher über die Grenzen von Kulturen und Epochen hinweg gefordert ist. Diese anthropologische Gemeinsamkeit schließt aber nicht aus, dass die verschiedenen Modelle in einer gewissen Phase der Geistes- und Sozialgeschichte jeweils eine besondere Beachtung gefunden haben.

Um die Aufmerksamkeit für das vernachlässigte Themenfeld des Verzichtens zu wecken, beginnt dieser Essay mit einem Gegenstandsbereich, bei dem kaum jemand an Selbstbeschränkungen denkt, obwohl sie hier elementar und wesentlich sind: Ein erstes, fraglos für unser Leben unerlässliches Verzichtsmuster herrscht in der Kerngrammatik unseres Zusammenlebens, im Recht. Geistesgeschichtlich gesehen befasst sich die zuständige politische Philosophie mit diesem Thema vor allem zu Beginn der Neuzeit.

Auf dieses soziale Themenfeld folgt das persönliche und personale Leben. Ihm liegt ein andersartiges, auch heute noch wichtiges, aber insbesondere in der Antike, mithin vor dem Christentum entwickeltes, im christlichen Mittelalter jedoch fortwirkendes Verzichtsmodell zugrunde. Es ist das einer Tugendtheorie, deren bis heute aktuelle Tragweite man sich allerdings selten bewusst macht: Ohne jene tiefgreifenden Selbsteinschränkungen, die für Tugenden wie die Besonnenheit, die Tapferkeit und die Klugheit unabdingbar sind, wird dem einzelnen Menschen sein Menschsein nicht möglich.

Ein drittes Verzichtsmuster schließt sich daran beinahe nahtlos an. Es bündelt sich in drei «Prunkworten», die man am ehesten mit einer Religion, in unseren Landen also mit dem Christentum verbindet. Erstaunlicherweise ist es aber ein Kritiker der christlichen Moral, der schon erwähnte Friedrich Nietzsche, der dem Verzichtsmodell von Armut, Demut und Keuschheit mit der Einschätzung als Prunkworte einen quasi-aristokratischen Rang verleiht. Die genannten drei Lebensziele ermöglichen, lernen wir bei Nietzsche, aber auch bei anderen Autoren, eine Steigerung des Menschseins.

Vor allem in einer dritten Phase der Geistesgeschichte, nämlich neuerdings, sind zwei weitere Verzichtsmuster gefragt. Dem einen kommt es auf die Bewältigung der jüngsten Krisen, etwa der Finanzkrise, der Flüchtlings- und der Energiekrise, an. Ohne das andere, unser fünftes und letztes Verzichtsmuster schließlich, lässt sich die wohl größte Menschheitsaufgabe unserer Zeit, eine Beendigung der geradezu maßlosen Überbeanspruchung der Natur, nicht bewältigen. Diese Aufgabe ist zwar längst erkannt und anerkannt. Trotz einiger hoffnungsweckender Ansätze ist sie aber noch nicht hinreichend wirksam in Angriff genommen. Müssen wir daher befürchten, die Aufgabe übersteige die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen? Droht also die manchmal beschworene Apokalypse: Ist unser Planet nicht mehr zu retten?

Im Rahmen dieser Erörterungen stellt sich der Essay der oben genannten dreifachen Aufgabe und äußert dazu schon hier, einleitend, eine Vermutung: Zu den Gründen für den Bedeutungsverlust könnte die dunkle Seite des Verzichts gehören, zumal immer dann, wenn sie das Übergewicht erhält. Für die Erneuerung des Verzichts hingegen müsste man eine helle Seite finden und von ihr zeigen, dass bei einem Abwägen mit der dunklen Seite, also bei einer Bilanz ihrer beider Bedeutung, die Pro-Argumente für den Verzicht sich als gewichtiger denn die Contra-Argumente erweisen.

Ein Pro-Argument drängt sich unter den heutigen Bedingungen der Menschheit so stark auf, dass es unverständlich, sogar erschreckend wäre, wenn man es verdrängen würde. Ich meine die angedeutete Hauptaufgabe der Gegenwart, den Raubbau an der Natur und das Überbeanspruchen der Umwelt, einschließlich der Atmosphäre, nicht zuletzt, was wir gern verdrängen, die Bevölkerungsexplosion endlich zu stoppen. Ohne Frage kann die Menschheit diese Verpflichtung nur mittels gewaltiger, geradezu gigantischer Verzichte bewältigen.

Denn wie anders als durch vielfältige tiefgreifende Selbstbeschränkungen lassen sich die im Folgenden exemplarisch genannten Aufgaben bewältigen: Um dem weltweit immer noch zunehmenden Bedarf an Energie, an Süßwasser und an Wohnraum Einhalt zu gebieten, ebenso um die immer noch wachsenden Abfallmengen zu begrenzen, nicht zuletzt um das Vergiften des Bodens, der Gewässer (einschließlich des Grundwassers) und der Luft sowie dem Artensterben ein Ende zu setzen, müssen die bisher in der Welt vorherrschenden Lebensweisen sich radikal und umfassend ändern.

Die einschlägigen Erörterungen dürfen sich nicht mit einer auf die eigene Welt beschränkten Betrachtung zufriedengeben. Denn ob wir wollen oder nicht – wir leben in einem Zeitalter der materiellen und geistigen Globalisierung. Darüber hinaus ist die vielerorts gepflegte moralisierende Gegenwartskritik zu vermeiden. Denn ein Blick in die Vergangenheit zeigt rasch, dass die Behauptung, die Zeitläufte seien schlechter geworden, in den verschiedensten Kulturen schon immer, geradezu zeitlos vertreten wird.

Die folgenden Überlegungen bezwecken in drei Hinsichten Aufklärung. Als erstes fragen sie nach dem anthropologischen Kern: Inwiefern hängen Verzichte und Selbstbeschränkungen mit dem Wesen des Menschen zusammen? Sodann werfen sie den leider ungewohnt gewordenen Blick in die Geschichte. Wer darauf verzichtet wie neuerdings Philipp Lepenies in seiner «Politik aus dem Geiste des Unterlassens» (Verbot und Verzicht, 2022), der verkleinert das Themenfeld und verkürzt die Ursachensuche. Um dem zu entgehen, will ich, selbstverständlich nur exemplarisch, schauen, was hinsichtlich des Verzichtens gleich geblieben ist und was sich verändert hat.

Schließlich geht es um den Sinn der Selbstbeschränkung und ihre Bedeutung unter den heutigen Lebensbedingungen. Dabei sind dominante Diagnosemuster zu überprüfen: Wie weit ist beispielsweise der nicht nur biblische Gedanke verantwortlich, der Mensch solle sich die Erde untertan machen? Wie weit ist einem Eurozentrismus die Schuld zu geben, wie weit dem Neoliberalismus mitsamt seiner Vorliebe für einen ungehemmten Kapitalismus? Wo also ist diesen weit verbreiteten Behauptungen zuzustimmen, wo stoßen sie an Grenzen?

Beiden Traditionen, sowohl der religiösen als auch der säkularen Tradition, ist eines gemeinsam: Sie betrachten die Verzichte vornehmlich vom persönlichen Leben aus. In dem wohl einzigen Gegenstandsbereich, in dem heute noch ohne Vorbehalte über Verzichte diskutiert wird, im Umwelt- und Klimaschutz, kommt es aber in erster Linie auf den kollektiven, letztlich globalen Standpunkt an. Tatsächlich gehören jedoch beide Betrachtungsweisen, der persönliche und der kollektive Standpunkt, zusammen.

Weil sie sich nicht nur ergänzen, sondern häufig auch ineinandergreifen, muss für unser Themenfeld die heute vielzitierte Schlusszeile von Rilkes Gedicht «Archäischer Torso» in beide Richtungen gelesen werden. Die Aufforderung: «Du musst dein Leben ändern» wird die drängenden Aufgaben die Menschheit nur dann bewältigen, wenn sowohl jeder einzelne und jede Gruppe als auch jeder Staat und schließlich die Staatengemeinschaft willens sind, ihr Leben zu ändern.

Aus diesem Grund kommt es meinem Essay auf beide Perspektiven an, auf die mehr persönliche und auf die mehr kollektive Betrachtung. Dabei entdecken wir ein erstaunlich reiches und vielseitiges Themenfeld. Keineswegs nur in gewissen Nischen gefordert, spielen Verzichte sowohl bei Grundfragen als auch im gewöhnlichen Alltag, nicht zuletzt in aktuellen Krisen eine so gewichtige Rolle, dass weder das häufige Verdrängen von Selbstbeschränkungen noch der schlechte Ruf zu verstehen ist. Die Alternative wird in dieser «kleinen Philosophie des Verzichts» versucht: der Entwurf einer hohen, einer humanen Kunst des Verzichtens.

Otfried Höffe München, zum Jahresbeginn 2023