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Clever, witzig und wild: mit ihrem neuen Roman erobert Verena Keßler das Fitnessstudio literarisch und »pusht ihre Hauptfigur bis ans Limit.« (Jessica Lind) Glänzende Spiegel, definierte Körper, legere Flirts am Tresen. Die Protagonistin in Verena Keßlers knalligem Roman liebt ihren neuen Job im MEGA GYM. Es gibt keinen Leistungsdruck, keine Überstunden, dafür liebenswerte Kolleginnen und einen Chef, der stolzer Feminist ist. Alles perfekt, wäre da nicht die klitzekleine Lüge, zu der sie sich im Einstellungsgespräch hat hinreißen lassen. Sie habe kürzlich erst entbunden, hat sie behauptet, und jetzt wollen alle Babyfotos sehen und fragen ständig nach „dem Kleinen“. Doch erst, als Bodybuilderin Vick auftaucht, wird klar, dass ein erfundenes Kind nicht das einzige Geheimnis dieser verschwiegenen Erzählerin ist. Eine Geschichte über Obsession, Ehrgeiz und die selbstzerstörerische Kehrseite schöner Oberflächen.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Glänzende Spiegel, definierte Körper, legere Flirts am Tresen. Die Protagonistin in Verena Keßlers knalligem Roman liebt ihren neuen Job im MEGA GYM. Es gibt keinen Leistungsdruck, keine Überstunden, dafür liebenswerte Kolleginnen und einen Chef, der stolzer Feminist ist. Alles perfekt, wäre da nicht die klitzekleine Lüge, zu der sie sich im Einstellungsgespräch hat hinreißen lassen. Sie habe kürzlich erst entbunden, hat sie behauptet, und jetzt wollen alle Babyfotos sehen und fragen ständig nach »dem Kleinen«. Doch erst, als Bodybuilderin Vick auftaucht, wird klar, dass ein erfundenes Kind nicht das einzige Geheimnis dieser verschwiegenen Erzählerin ist. Eine Geschichte über Obsession, Ehrgeiz und die selbstzerstörerische Kehrseite schöner Oberflächen.
Verena Keßler
Gym
Hanser Berlin
Ich stütze meine Unterarme auf den Edelstahltresen, den Bauch ein wenig eingezogen, den Hintern ein wenig rausgestreckt. Mein Sport-Top hat vorn einen Reißverschluss, ich hab ihn leicht geöffnet, nur so weit, dass es nicht billig wirkt, aber weit genug, weit genug. Durch die getönten Fensterfronten fällt honiggelbes Licht, leise surren die Rudermaschinen, ab und zu klackert ein Gewicht, oder eine Langhantel wird zu schwungvoll abgelegt, hier ein Stöhnen, da ein Schnaufen, ansonsten ist es ruhig, friedlich.
Er ist fertig mit dem Training, tupft sich mit seinem Handtuch den Nacken ab, kommt auf mich zu, lässt sich auf einem der Barhocker nieder, der Atem noch schnell, die Poren offen, der Blick nur kurz auf der Angebotstafel, dann wieder auf mir.
»Machst du mir einen Muscle-Hustle?«, fragt er, mit einer Nonchalance, die nicht verrät, ob er es cool findet, einen Shake mit diesem Namen zu bestellen, oder peinlich.
»Na klar«, sage ich. Warm, anerkennend, fast zwinkernd, aber nur fast.
Dann drehe ich mich um. Das Proteinpulver steht im unteren Schrank, dort, wo ich es extra hingeräumt habe. Ich bücke mich, ohne in die Knie zu gehen, weiß, dass er zusieht, wie mein Hintern sich in der Bewegung rundet, weiß, dass er sich diese langen, gestreckten Beine auf seinen Schultern vorstellt, ein Schweißtropfen, der von seiner Stirn auf meine fällt.
Kleiner Hair Flip, als ich wieder hochkomme, Augenaufschlag.
»Und, war gut heute?«, frage ich, während ich die Sojamilch in den Mixer kippe, das Pulver dazulöffle.
Er lacht. So ein Lachen, das sagen soll, Baby, wir wissen doch beide, was Sache ist. Aber mein Face: Poker. Als er doch noch zu einer Antwort ansetzt, drehe ich den Regler hoch, crushe das Eis, laut und brutal. Schweigen, als ich den fertigen Shake in ein Glas gieße, dickflüssig wechselt er sein Behältnis.
»Lass es dir schmecken«, lächle ich und schiebe ihm seinen Muscle-Hustle über den Tresen.
Er nickt. So ein Nicken, das sagen soll, alles klar, schon verstanden. Sein Adamsapfel hüpft mit jedem Schluck.
Später wische ich die Kondensringe weg, die sein Glas hinterlassen hat, sehe ihm nach, wie er Richtung Umkleide verschwindet, spanne die Bauchmuskeln an, ziehe die Schultern zurück. Nie habe ich einen Job so geliebt wie diesen.
Ferhat hatte sich nichts anmerken lassen. Er saß hinter seinem Schreibtisch, kommentierte weder meine strähnigen Haare noch den muffigen Geruch, der von mir ausging und stellte die üblichen Fragen: Stärken, Schwächen, ob ich mich als Teamplayerin bezeichnen würde und wieso ich auf einmal in die Fitnessbranche wechseln wolle.
Fitness, sagte ich ernst, sei schon immer meine Leidenschaft gewesen. Mein Erdnussflipbauch drückte gegen den Hosenbund, mein Puls war immer noch erhöht — dritter Stock, Treppen. Ferhat nickte, drehte einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern, sagte schließlich: gut, und dann noch mal: gut.
Fallende Stecknadelköpfe, zirpende Grillen.
Ferhat kratzte sich am Hinterkopf, klickte mit dem Kugelschreiber, räusperte sich. Er wolle mir nicht zu nahe treten, druckste er, es sei nur so, also, ich solle ihn nicht falsch verstehen, aber sein Team, das müsse diesen Ort gewissermaßen, nun ja, auch verkörpern, also Fitness und Wellness und Gesundheit und all das auch selbst ausstrahlen. Den Lifestyle leben. Ob ich wüsste, wie er meinte.
Ich ahnte, wie er meinte. Meine Kopfhaut juckte. Zwischen meinen Brüsten sammelte sich Schweiß. Auf einmal hatte ich das Gefühl, nackt zu sein, nur Haut, keine Taschen, keine Ärmel, und da rutschte es mir raus.
»Ich habe gerade erst entbunden.«
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Wir sahen uns an, mein linkes Augenlid zuckte.
Entbunden, hatte ich gesagt, entbunden, nicht: Ich habe vor Kurzem ein Kind bekommen, wie ein normaler Mensch es ausgedrückt hätte. Dazu kam: Es stimmte nicht. Bloß war mir kein anderer Grund eingefallen, warum das mit der Verkörperung gerade nicht hinkam. Und logen nicht alle in Vorstellungsgesprächen?
Mein Kleiner sei drei Monate alt, hörte ich mich weiterreden, der Vater abgehauen, das Elterngeld zu knapp und außerdem wolle ich unbedingt arbeiten, könne es gar nicht abwarten, wieder richtig loszulegen, jetzt, wo die Geburtswunden so gut wie verheilt seien. Geburtswunden? Gerissener Damm, verbeulte Schamlippen — ich suchte in Ferhats Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er sich diese Dinge vorstellte, doch nichts. Kein Zucken um die Mundwinkel, kein Runzeln auf der Stirn. Stattdessen schloss er die Augen. Zwei Sekunden, drei, dreieinhalb, genügend Zeit, um aufzustehen und zu gehen, es woanders zu versuchen. Nur rührte ich mich nicht.
Eine Sache müsse ich über ihn wissen, sagte Ferhat, als er die Augen schließlich wieder öffnete. In seinem Blick flackerte etwas Feierliches. Er richtete sich in seinem Stuhl auf, die breite Brust schwoll an. Mich überkam das Gefühl, einem besonderen Moment beizuwohnen, der Enthüllung eines Denkmals, der Verleihung eines Ordens. Ein Kribbeln durchströmte mich, was musste ich über ihn wissen, was nur, was? Ferhat atmete noch einmal tief ein — und endlich aus:
»Ich bin Feminist.«
Das MEGA GYM war kein Fitnessstudio wie jedes andere, das MEGA GYM war ein Palast aus glänzenden Oberflächen. Auf den eleganten, schwarzen Geräten lag kein Staubkorn, kein Fingerabdruck auf den metallenen Geländern, keine Wollmäuse unter den Bänken, keine Shampoo-Schlieren in den Duschen, keine vollen Mülleimer in den Toiletten. Nur ein sauberes Gym sei ein gutes Gym, sagte Ferhat, als er mich an meinem ersten Arbeitstag herumführte, nur wenn die Leute sich wohlfühlten, kämen sie regelmäßig, nur wenn sie regelmäßig kämen, kündigten sie nicht. Die dunklen Böden reflektierten.
3500 qm auf einer Etage: ein Cardiofloor, ein Kraftfloor, ein Freihantelfloor, zwei große Kursräume, ein Wellnessbereich mit Sauna, großzügige Umkleiden, bodentiefe Fenster und überall Spiegel, Spiegel, Spiegel.
Darin ich: Jogginghose, weites T-Shirt. Ich hatte geduscht, sogar Haare gewaschen, ein bisschen Concealer, ein bisschen Rouge. Ich sah ganz normal aus, unauffällig, eine gewöhnliche Frau, die einer gewöhnlichen Arbeit nachging, um das Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Warum denn nicht.
Der Tresen war das Herzstück des Gyms, sein Zentrum. Von hier aus konnte man alles sehen und wurde von allen gesehen. Mein Job war es, Smoothies und Proteinshakes zu mixen, isotonische Getränke kalt zu stellen, Riegel herauszugeben, Lieferungen entgegenzunehmen, Obst und Gemüse klein zu schneiden, den Geschirrspüler ein- und auszuräumen und die Edelstahlfläche streifenfrei zu halten. Die Aufgaben waren klar und einfach, ich musste sie nur erledigen, musste bloß da sein und machen. Es gab keine Probleme zu lösen und keine Ziele zu erreichen.
*
»Und was hast du vorher so gemacht?«
Millis Pferdeschwanz wippte, als sei er an einer Sprungfeder befestigt. Sie war einen Kopf kleiner als ich und trug ein eng anliegendes Set aus roten Leggings und passendem Top. Ich schätzte sie auf ungefähr achtzehn, was bedeutete, dass sie halb so alt war wie ich.
»Ach«, sagte ich. »Verschiedenes.«
Nicken, Wippen, Strahlen.
»Cool!«
Sie selbst habe gerade ihre Ausbildung zur Fitnesskauffrau begonnen, könne sich vorstellen, später mal ein eigenes Studio zu eröffnen, aber eigentlich sei das MEGA GYM schon perfekt und Ferhat wirklich ein mega Chef.
Ihre Wangen leuchteten kurz in der Farbe ihres Outfits auf, ein sehnsüchtiges, beinahe herzförmiges Glühen.
Mäuschen, wollte ich sagen, ließ es aber bleiben.
Ich war niemand, der Mäuschen sagte.
*
Es war ungewohnt, wieder den ganzen Tag unter Menschen zu sein, ich hatte vergessen, wie sehr man sich dafür zusammenreißen musste. Ständig verspürte ich den Drang, mich an Stellen zu kratzen, an denen man sich in der Öffentlichkeit nicht berührte, und musste aufpassen, mir beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten. Besonders intensiv schien sich allerdings keiner für mich zu interessieren. Die meisten Mitglieder nickten bloß knapp, wenn sie am Tresen vorbeigingen, und ich nickte zurück, Sport frei, Petri Heil, alles Gute. Hatte jemand eine Frage oder wollte etwas bestellen, übernahm Milli, zwischendurch lernte sie mich an. Sixpack on the Beach, so hieß der Shake des Monats, er war im Angebot, nur 2 Euro 80. Frische Mango, frische Ananas, frische Maracujas, dazu zwei volle Messlöffel Tropical-Flavour-Eiweißpulver, 300 ml Wasser, rein in den Mixer, Knopf drücken und fertig. »Willst du probieren?«, fragte Milli und verteilte das Ergebnis auf zwei Gläser. Cin cin. Es schmeckte wie Capri-Sonne mit Mehlschwitze. »Bisschen Nachgeschmack ist immer«, sagte sie entschuldigend und sog an ihrem Strohhalm. »Aber sonst ganz lecker, oder?«
*
Was mir schwerfiel, war das Stehen. Jahrelang hatte mein Körper vor allem gesessen, er war ein Bürokörper, ein U-Bahn-Körper, ein Couchkörper. Aber hinter dem Tresen gab es keinen Stuhl, und so ging ich alle halbe Stunde auf Toilette, um wenigstens für ein paar Minuten an die Schwerkraft abgeben zu können. Neben dem Waschbecken brannte eine in braunes Glas gefasste Duftkerze, Green Basilicum: »Step inside a greenhouse filled with fresh plants and herbs.« Aus den Lautsprecherboxen dudelte sanfter Pop, Spotify-Playlist, Great Female Artists. Ich zog die Füße auf den Klodeckel, lehnte mich an den Spülkasten, schloss die Augen und zählte langsam bis hundert.
Ich kann verstehen, dass du jetzt enttäuscht bist.
Bitte nimm es nicht persönlich.
Vielleicht machst du mal ein paar Tage frei?
Wrrrusch. Die Klospülung stürzte in meine Gedanken und riss alles mit sich, ich hatte sie aus Versehen mit den Schulterblättern betätigt.
*
Wenn gerade nichts zu tun sei, sagte Ferhat, könne ich ein bisschen putzen. Da fände sich immer was. Zum Beispiel die Regale hier, die müssten täglich feucht abgewischt werden, sonst sähe das schnell schmuddelig aus. Er fuhr mit dem Finger über das Regalbrett, auf dem die POWER-MAXXX-Pulver zum Verkauf standen, und hielt ihn mir hin. Es klebte kein Staub daran. Ich nickte, dann räumte ich die erstaunlich leichten Plastikdosen aus dem Regal, wischte das saubere Brett noch sauberer, stellte die Dosen wieder zurück und drehte die Schriftzüge akkurat nach vorn. Es gab Sinnloseres.
*
Ich sammelte Gläser ein, wischte Tische ab, stellte die Spülmaschine an, hörte sie gluckern und rauschen, räumte sie aus, dachte an früher, als ich meine Kaffeetassen nach Feierabend einfach in die Büroküche gestellt hatte. Nicht in den Geschirrspüler, sondern auf die Arbeitsfläche. Wir alle hatten das so gemacht, hätten nie einen Finger gekrümmt für etwas, das nicht als billable hour eingetragen werden konnte.
*
Die Metallstrohhalme mussten von Hand gereinigt werden. Es gab kleine Bürstchen dafür, sie passten genau hinein. Seite an Seite standen Milli und ich am Spülbecken, schoben die Bürstchen in die schmalen Röhrchen, drehten sie, schrubbten rauf und runter, zogen die Bürstchen wieder heraus, ließen noch einmal frisches Wasser durchlaufen und legten die sauberen Röhrchen dann auf ein Geschirrtuch zum Trocknen, Seite an Seite.
»Und, ist es schwer?«
Schwer, wieso schwer? Das ging doch ganz leicht von der Hand hier, Milli, rein, raus, Micky Maus, ein bisschen stumpf vielleicht, aber schwer?
»Ich meine, du warst ja noch nicht so oft von deinem Kleinen getrennt, oder? So den ganzen Tag?«
Ach das.
Ja, ja, das war schwer.
Unheimlich schwer.
»Ferhat hat erzählt, dass der Vater, also …, dass du alleinerziehend …?«
Sie drehte den Kopf zu mir, Kuhaugen, Comictränen.
»Ich wollte nur sagen«, sagte sie und legte mir ihre spülschaumfeuchte Hand auf den Arm. »Du bist echt ne starke Frau.«
Ich könne übrigens gern in seinem Büro abpumpen, sagte Ferhat, als er am Tresen vorbeischaute, um zu sehen, wie es so lief. Da hätte ich ein wenig Privatsphäre, ich solle nur Bescheid geben, dann räume er das Feld, das sei wirklich kein Problem, im Gegenteil, es sei ihm ein Anliegen, mich zu unterstützen.
Blut in meinen Schläfen, Schweiß auf meinen Handflächen.
»Toll!«, sagte ich. »Super! Klasse! Danke dir! Milch!«
Ich schnipste mit beiden Händen, richtete meine Zeigefinger pistolenartig auf Ferhat, dann tat sich unter mir ein Loch auf, und ich verschwand in meine 20-Minuten-Pause.
Auf der Straße vor dem Gym zögerte ich. Vielleicht war das hier doch zu kompliziert. Ich hatte mich beworben, weil ich einen Job brauchte, Ferhat erstaunlich viel zahlte und der Stadtteil, in dem sich das MEGA GYM befand, für niemanden eine Rolle spielte, den ich kannte. Jetzt war ich plötzlich Mutter. Musste Nahrung für mein Kind produzieren. Vermutlich täglich. Was für ein Aufwand. Was für ein Schwachsinn. Tickte ich eigentlich noch ganz sauber? Es war nicht zu spät, um die Sache abzubrechen, sagte ich mir. Ich könnte einfach gehen, jetzt sofort, Ferhat würde schon merken, dass ich weg war, würde vielleicht ein paarmal versuchen, mich anzurufen, aber mein Handy wäre aus, und schließlich würde er aufgeben, den Vertrag als aufgelöst betrachten, und übrig bliebe nur eine Anekdote. Der Entschluss war gefasst. Da entdeckte ich die Apotheke auf der anderen Straßenseite. Im Schaufenster ein großer Pappstorch mit Sprechblase: »Alles für Mami und Kind!«
*
Ferhats Büro befand sich in einem schwarz lackierten Container, er lag leicht erhöht, man musste ein paar Stufen hinaufsteigen. Von seinem Schreibtisch aus hatte er den Freihantelbereich und, wie mir erst bewusst wurde, auch den Tresen im Blick. Er zeigte mir, in welche Ecke ich mich setzen musste, damit ich von unten nicht zu sehen war, dann sagte er, ich solle mir Zeit lassen, und zog behutsam die Tür hinter sich zu.
»Pro Brust 15 Minuten, so Pi mal Daumen«, hatte die Apothekerin gesagt, als sie mir ausführlich die Anwendung der elektrischen Doppelpumpe erklärt hatte, und dass es natürlich von Frau zu Frau verschieden sei. »Ist ja schließlich keine Fabrik, die Sie da vor sich hertragen, nicht wahr?«
Ich sah auf die Uhr, die über der Bürotür hing, folgte dem Zeiger, dem Ticken und Tacken, drehte Däumchen, wippte mit dem Fuß, kaute auf der Unterlippe und dachte schließlich:
Was soll’s.
Das Gummi der Saugnäpfe fühlte sich kalt und fremd an auf meiner nackten Haut, technisch. Als ich die Pumpe einschaltete, kitzelte es erst, dann spürte ich, wie meine Nippel angesaugt wurden, und konnte zusehen, wie sie sich aufstellten. Zwei scheue Tiere, die aus dem Winterschlaf erwachten.
Johannis hatte ich immer daran erinnern müssen, meine Brüste miteinzubeziehen. Er hätte sie sonst einfach vergessen, hielt sich generell nicht lange oberhalb meines Bauchnabels auf, wollte zum Wesentlichen kommen, zum Punkt, auf direktem Weg. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob es daran lag, dass seine Mutter ihn gestillt hatte, bis er dreieinhalb war. Nicht er hatte mir das erzählt, sondern sie, gleich bei unserem ersten Treffen. Er habe eben danach verlangt, so erklärte sie es lapidar. Am selben Abend lag ich neben ihm im Bett und bekam das Bild nicht aus dem Kopf, der kleine Johannis, der nach der Brust seiner Mutter verlangte, sprechend. Als ich meiner eigenen Mutter davon erzählte, schüttelte sie bloß den Kopf. »Manche Frauen«, sagte sie, das war’s. Manche Frauen.
*
»Wow!«, entfuhr es Milli, als ich, vor dem Kühlschrank hockend, zwei volle 300-ml-Fläschchen ins untere Fach räumte. »Hätte gar nicht gedacht, dass da so viel rauskommt!«
Ich sah zu ihr auf, legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen. Das Milchpulver hatte ich noch schnell bei Rossmann gekauft und direkt an der Geschenkpapierstation mit Wasser angemischt. Hatte ich eine absurde Menge hergestellt?
»Ich meine«, stammelte Milli jetzt, »so groß sehen deine Brüste gar nicht aus. Also nicht so prall. Du weißt schon, nicht so muttibusenmäßig.«
Die Hände auf die Knie gestützt, stemmte ich mich hoch.
Nicht so prall? Ich zeig dir gleich, was nicht so prall ist, mit dem Gesicht auf dem Tresen ist nicht so prall. Ein kurzes Zucken durchfuhr mich, dann war es wieder vorbei.
»Ach«, sagte ich und winkte ab, die Geste einer erfahrenen Mutter, die sich von den Sperenzchen der Natur schon lange nicht mehr aus dem Konzept bringen ließ. »Das ist jeden Tag unterschiedlich.«
»Echt?«, fragte Milli, sichtlich erleichtert, dass ich so entspannt auf ihre ungeschickte Wortwahl reagiert hatte. »Voll verrückt!«
Wir lachten beide, hahaha, ja verrückte Welt, große Hupen, kleine Hupen, und mitten in unser Gelächter hinein stellte sie die nächste Frage: »Wie heißt dein Kleiner eigentlich?«
Meinegütewasdennnoch.
Ja, wie hieß der?
Ein Name, irgendein Name.
Es musste nicht der schönste der Welt sein, andere nannten ihr Kind Rumble Honey oder Slim Easy, sag einfach irgendwas, du darfst nicht darüber nachdenken, das ist verdächtig, du musst antworten, jetzt:
»Ferhat«, sagte ich.
»Nä!«, rief Milli aus, keine Spur von Misstrauen in ihrem Gesicht. »Lustig.«
Ich stellte mir ein Baby mit Ferhats Kopf vor:
Brille, Bart, Glatze.
Ihr Hintern sah obszön aus, ein fester, gigantischer Pfirsich. Der Stoff ihrer Leggings spannte sich straff über beide Pohälften und verschwand dann mit der Naht tief in der Ritze.
Sie saß auf einem der Barhocker am Tresen und wischte auf ihrem Handy herum, als ich aus dem Lager zurückkam. »Du bist neu«, sagte sie, musterte mich kurz, dann fiel ihr Blick zurück auf den Bildschirm. »Hast du Instagram? Du kannst mir folgen.«
@ijustwannaswet, so hieß Swetlanas Account. Laut ihrer Bio war sie Aerobic, Fitness & Dance Instructor und gab unter anderem Kurse im MEGA GYM. Auf ihren Bildern war überwiegend ihre Rückseite zu sehen, fast schien es, als gehörte das Profil ihrem Po. Die wenigen Beiträge, die sie von vorne zeigten, ließen erahnen, warum: Etwas stimmte nicht mit ihrem Gesicht, etwas war leicht verschoben und machte es unansehnlich. Es löste nicht ein, was ihr so mühsam geformter Körper versprach. Sie hatte nur wenige tausend Follower, und es schien nicht so, als stünde ihr Durchbruch kurz bevor. Natürlich folgte ich ihr.
*
Es wummerte aus dem Kursraum.
Bebte zu mir rüber.
Hämmerte in mich hinein.
Durch die Glaswand konnte ich zusehen, wie Swetlana auf der Stelle marschierte, hoch die Beine, Knie zur Brust, und alle machten es ihr nach, linkszwodreivier, linkszwodreivier.
Die Gläser klirrten im Schrank.
Das Besteck schepperte in der Schublade.
Die Riegel hüpften auf dem Tresen.
»Ist immer so, wenn Swetlana hier ist«, sagte Milli und schob den Mixer, der vom Bass gefährlich nah an die Kante der Arbeitsfläche getrieben worden war, zurück nach hinten.
»Sie hat jedes Lied in irgendeiner Hyper-hyper-Techno-Version und dreht die Anlage immer voll auf.«
Aus dem Kursraum war jetzt Applaus zu hören. Ich sah rüber, auch Swetlana klatschte, die Hände hoch über dem Kopf, aber sie lächelte nicht, schaute stattdessen mit leerem Ausdruck in die Gruppe. Nach und nach kamen die Teilnehmerinnen heraus, verschmierte Wimperntusche, glitzernder Schweiß auf Stirn und Armen, feuchte Haarsträhnen, die an dunkelroten Wangen klebten. Nur Swetlana sah genauso aus wie vorher. Als wäre sie gerade erst aus der Umkleide gekommen, setzte sie sich wieder auf den Barhocker, holte ihr Handy aus der aufgenähten Tasche ihrer Leggings und scrollte einfach weiter.
*
Der Rest meiner Schicht verlief ruhig. Während Milli ihre Runde über die Fläche drehte, um zu sehen, ob jemand Hilfestellung bei einer Übung brauchte, starrte ich auf einen der beiden stummgeschalteten Fernseher. Es lief ZDF, irgendeine Soap, wenn ich mich anstrengte, konnte ich die Untertitel mitlesen. Ein junges Liebespaar ahnte nicht, dass es sich bei ihnen eigentlich um Halbgeschwister handelte, einzig die Mutter des Mädchens wusste, dass ihr Seitensprung vor zwanzig Jahren verhängnisvolle Folgen hatte. Als sie den Vater der beiden mit der Wahrheit konfrontierte, gefror sein Gesicht zu einer entsetzten Fratze. Schnitt zu Bruder und Schwester, die sich nackt und leidenschaftlich in der Kajüte eines Segelboots wälzten. Da kam Milli von ihrer Runde zurück, stellte sich zu mir und seufzte: »An manchen Tagen ist echt langweilig leider.«
Das MEGA GYM öffnete um halb sieben, »für die High-Performer«, wie Ferhat sagte, und tatsächlich gab es ein gutes Dutzend Mitglieder, die regelmäßig um diese Uhrzeit trainierten, überwiegend junge Männer, deren Kaumuskeln sich deutlich abzeichneten. An ihren Handgelenken blitzten die Apple-Watches, in ihren Ohren die AirPods, und ab und zu fingen sie wie aus dem Nichts an zu telefonieren, bestätigten Termine und gaben Feedback, danke dir, Steffi, das wär alles, bis gleich. In den ersten Wochen war ich noch in Sorge, es könnte sich unter ihnen doch jemand befinden, der mich erkannte. Aber schon bald stellte ich fest, dass es nicht meine Branche war, die sich hier aufhielt.
Gegen zehn kamen die Rentner. Ich fragte mich, wie Ferhat es geschafft hatte, so viele von ihnen als Mitglieder zu gewinnen, ob er mit Rabattaktionen in der EINKAUFAKTUELL geworben oder Flyer vor Seniorenheimen verteilt hatte, aber der Vormittag gehörte ihnen. Sie spazierten gemächlich auf den Laufbändern, lasen ihre Zeitung auf der Hantelbank, tranken in Ruhe Smoothies und blockierten derweil die Geräte mit ihren Handtüchern. Einige aber waren auch überraschend fit: einmal beobachtete ich, wie eine mindestens Achtzigjährige zehn Klimmzüge hintereinander machte. Als sie fertig war, wischte sie sich die Hände an der Hose ab und sah sich triumphierend um, aber außer mir hatte es niemand gesehen.
Nach ihrem Training saunierten die Rentner ausgiebig. Zwischendurch kamen sie nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Wellnessbereich und bedienten sich am gratis Zitronen-Limetten-Wasser. Begegneten sie dabei Ferhat, verwickelten sie ihn sogleich in einen Plausch, und Ferhat ließ sich gern darauf ein, kannte sie alle beim Vornamen, schäkerte und scherzte mit ihnen herum — Mensch, Walter, na, einmal garkochen, oder was? —, und dann lachten sie beide, und Ferhat klopfte Walter auf die runzelige, nackte Schulter.
Meine Mittagspausen verbrachte ich jetzt täglich mit der Milchpumpe in Ferhats Büro. Am Schreibtisch zu essen, war mir vertraut, ungewohnt war nur, dabei keinen Stress zu haben, nicht zu schlingen, während ich über der Tastatur hing, sondern in Ruhe kauen zu können. Das Anmischen des Pulvers sparte ich mir inzwischen. Ich hatte immer dieselben Fläschchen dabei (vier Stück mit unterschiedlichen Füllständen), räumte zwei davon nach dem Mittag für alle sichtbar in den Kühlschrank, nahm sie am Ende meiner Schicht mit nach Hause und brachte sie am nächsten Tag in meiner Tasche versteckt wieder mit. Erst wenn der Inhalt eine gelbliche Farbe annahm, tauschte ich ihn aus. Nur das Beste für mein Baby.
An den frühen Nachmittagen war nie viel los. Ein paar vereinzelte Studenten, Freelancer, Arbeitslose, Leute, die unregelmäßig kamen und nach einer kurzen Einheit auf dem Crosstrainer die drei Geräte bemühten, von denen sie wussten, wie sie funktionierten. Erst gegen 17