Die Humanisierung der Organisation - Kai Matthiesen - E-Book

Die Humanisierung der Organisation E-Book

Kai Matthiesen

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  • Herausgeber: Vahlen
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Für Menschen, die unter Organisationen leiden, sie lästig finden oder einfach besser verstehen wollen.

Zu den Missverständnissen, die das Dasein in Organisationen unnötig schwer machen, gehört die Annahme, Kern und Kernproblem einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten. Diese Unterstellung macht den Einzelnen zum Puffer, der genötigt wird, jedes Organisationsversagen aufzufangen – eine Aufgabe, an der man nur scheitern kann. Statt das Verhalten der Einzelnen heroisch zu glorifizieren oder therapeutisch zu problematisieren, interessieren uns die Verhältnisse, in denen sich dieses Verhalten abspielt.

Dieses Buch richtet den Blick deshalb auf die Funktionslogiken der Organisation. Statt die Menschen mit Coachings und Identifikationsappellen zu bearbeiten, um sie an die Bedürfnisse der Organisation anzupassen, wäre es hilfreich, die Organisationsstrukturen an die Bedürfnisse ihrer Mitglieder und der Arbeitsabläufe anzupassen.

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Zum Inhalt:

»Die individuelle Persönlichkeit erscheint somit als Auffangvorrichtung für organisatorisch ungelöste - vielleicht auch unlösbare - Probleme; oder anders formuliert: sie kann in gewissen Grenzen durch bessere Organisation entlastet werden.« Niklas Luhmann, 1966

Kai Matthiesen Judith Muster Peter Laudenbach

Die Humanisierung der Organisation

WIE MAN DEM MENSCHEN GERECHT WIRD, INDEM MAN DEN GROSSTEIL SEINES WESENS IGNORIERT

Verlag Franz Vahlen München

4 Inhalt

EINLEITUNG MENSCHEN UND MITGLIEDER

Die Organisation, das unbekannte Wesen

ERSTER TEIL

DIE ORGANISATION UND IHRE MITGLIEDER

Der ganze Mensch und andere Irrtümer

Warum Organisationsmitglieder etwas anderes als Menschen sind – und weshalb das nicht unmenschlich ist

Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht

Weshalb Organisationen Fehler lieber bei ihren Mitgliedern suchen als bei sich selbst

Psychologisierung: Tut mir leid, es liegt an dir!

Moralisierung: Du musst es nur wollen!

Überdehnung formaler Pflichten: Sie schaffen das!

Mein Verhalten, die Verhältnisse und ich

Wie Verhalten Erwartungen formt – und wie die Verhältnisse das Verhalten prägen

Verhalten formt Erwartungen

Aber die Verhältnisse bestimmen das Verhalten

Anstrengende Charaktere und wie man sie unschädlich macht

5Das ging an deine Privatadresse

Wenn Freunde und Familienangehörige eine Organisation prägen, kann es kompliziert werden

Grenzgröße 34 und die Kumpel-GmbH: Wenn Gruppen Organisationen bilden

Es bleibt in der Familie

Papa, ich kann das allein. Ich bin 60.

Harmonie wird überschätzt

Weshalb Spannungen in der Organisation unvermeidlich, sinnvoll und notwendig sind

Funktionaler Einsatz von Spannung: Kollege Wadenbeißer

Dysfunktionale Spannungen: Wer nicht weiterweiß, wird laut

Spannungen nutzen

ZWEITER TEIL

DIE MITGLIEDER UND IHRE ORGANISATION

Das Wechselspiel von Formalität und Informalität

Wie die Organisation ihre Regeln durchsetzt – und weshalb Regeln nicht alles regeln

Unfälle sind verboten: Wie in einer Gießerei Regelwerk und Alltagspraxis auseinanderklaffen

Regeln, die nicht durchgesetzt werden (können), erodieren

Gegen marode Anlagen und unzumutbare Arbeitsbedingungen hilft kein Handbuch

Ich sehe was, das du nicht siehst: Die Blindheit der Formalität

6Nicht einhaltbare Regeln

Wie die Formalität zum Erpressungsinstrument, zum Selbstzweck oder zum Sargnagel der Organisation wird

Regeln brauchen Ausnahmen: Gleiches Recht für alle gelingt nicht immer

Überregulierung: Wenn die Prozess-Absicherung zur Blockade führt

Kontroll-Rituale: Wenn Regeleinhaltung zum Selbstzweck wird

Brauchbare Illegalität

Wieso jede Organisation Mitglieder braucht, die sich nicht immer an die Regeln halten

Unleash the dragon: Wenn brauchbare Illegalität den Laden übernimmt

Erst ignorieren, dann durchregieren – das funktioniert nicht

Nichts geht mehr: Wenn die Blockade zum Dauerzustand wird

Elementare Verhaltensweisen

Wie in der Gesellschaft geläufiges Verhalten in die Organisation schwappt

Cliquenbildung mit gegrillter Pferdewurst: Persönlich bekannt werden

Überstunden dank Streuselkuchen: Achtung erweisen

Nach Feierabend: Hilfe leisten

7Streitet euch!

Weshalb es anstrengend, aber notwendig ist, die Widersprüche der Arbeitsteilung auszubalancieren

Der schielende Vorstand: Bearbeitung der Widersprüche in Gremien

Harmonie-Fiktion: »One Company«

Einer für alles: Zweckdominanz

So wird’s gemacht: Integration durch Programme

Vertrau mir: Integration durch Personen

Superman wohnt hier nicht mehr

Weshalb Führung überall und nicht nur in der Hierarchie stattfindet

Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten

Von der Meeting-Manege zum Entscheidungsautomaten

Führung ohne Einflussmittel – die Fallen der Selbstorganisation

Interaktion: Lass uns drüber reden

Wieso sich nicht alles durch offene Gespräche lösen lässt – und vieles dadurch erst recht kompliziert wird

Holacracy: Unfälle im Kreisverkehr

Die Kosten der ungeregelten Interaktion

8Das Theater der Organisation (und die Organisation des Theaters)

Wieso Büros, Werkhallen und Konferenzräume Bühnen sind (und Bühnen Organisationen)

Was nicht passt, wird passend gemacht: Gewindebohrer

Method-Acting: Wer bin ich?

Fassadenarbeiten

Wieso die Schauseite glänzen muss – und was dabei schiefgehen kann

Managementmoden als Schauseite

Schauseitenpflege als Managementmode

Fehlerkultur als Show: Fuckup Nights

Besuch in Kafkas Schloss

Weshalb manche Desaster-Organisationen nicht zu ändern sind – und man sie nur resigniert ertragen oder verlassen kann

(KEIN) ENDE

Die Humanisierung der Organisation

Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert

Literatur

Making Of

9EINLEITUNG MENSCHEN UND MITGLIEDER

Die Kommunistische Partei Chinas, Kindergärten, Automobilhersteller, Amnesty International, die Universität Bielefeld, das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch, Staatstheater und psychiatrische Anstalten haben mindestens eine Gemeinsamkeit. Es handelt sich um Organisationen. Das unterscheidet sie von Familien, Partys, Gottesdiensten, der Bevölkerung Kaliforniens, Urlaubsflirts, Therapie-Sitzungen oder Demonstrationen.

Im Gegensatz zu Partys, Ehen oder Therapie-Sitzungen haben Organisationen keine Verwendung für den »ganzen Menschen«. Mit ihren Gefühlen, Anerkennungsbedürfnissen und Launen würden Menschen jede Organisation heillos überfordern. Organisationen benötigen Organisationsmitglieder, keine Menschen. Und umgekehrt: Je weniger ein Unternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als »ganze Menschen« adressiert, desto besser für die Mitarbeiter (als Menschen wie als Mitarbeiter). Die Unterscheidung zwischen dem Mitglied der Organisation und dem »ganzen Menschen« entlastet beide Seiten, die Organisation und ihre Mitglieder, von Überbeanspruchung, Rollenkonflikten und Grenzverletzungen.

Ein weitverbreitetes Missverständnis macht das Dasein in Unternehmen, Universitäten, NGOs und anderen Organisationen 10unnötig schwierig. Es ist die Annahme, Kern und Kernproblem einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten. Diese Unterstellung macht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfällig für die Personalisierung von Organisationsproblemen und andere Grenzüberschreitungen. Aufseiten der Organisation sorgt das für blinde Flecken der Selbstbeobachtung. Statt die Defizite in ihrer eigenen Struktur zu erkennen (und nach Möglichkeit zu beheben), macht sie ihre Mitglieder zum Puffer, der jedes Organisationsversagen auffangen soll.

Weil diese Problemverschiebung die Arbeit der Organisationsverantwortlichen scheinbar erleichtert, erfreut sie sich immer noch großer Beliebtheit. Sichtbar wird das zum Beispiel in der beliebten Phrase, Mitarbeitende brauchten nur »das richtige Mindset«. Die Funktion solcher Aufforderungen ist durchsichtig: Damit drücken sich Organisationsverantwortliche vor ihrer eigentlichen Aufgabe, die Arbeit der Mitarbeitenden gut zu organisieren. Die Formulierung ist nicht zufällig so vage: »Richtig« ist im gewünschten »Mindset« jeweils, was die Defizite der Organisation kompensiert – und das kann sich von Situation zu Situation ändern.

Organisationen nutzen zahlreiche Wege, um ihre Probleme zulasten ihrer Mitglieder zu personalisieren. Das geschieht auf allen Hierarchieebenen. Führungskräfte werden gern mit der Aufforderung behelligt, eine Transformation durch vorbildliches Verhalten zu führen, zu stabilisieren und zu legitimieren. Appelle an die intrinsische Motivation können alle Mitarbeiter belästigen, etwa wenn eine Purpose Driven Organization (oder das, was der Vorstand dafür hält) ausgerufen wird.

An der Anforderung, die Probleme der Organisation mit persönlichem Engagement zu lösen, können ihre Mitglieder 11nur scheitern. Die Schuld dafür sucht die Organisation dann natürlich nicht bei den eigenen Strukturen, sondern wieder bei ihren Mitgliedern, die die Werte noch nicht durchdrungen, ihr »Mindset« nicht hinreichend an den Bedürfnissen der Organisation ausgerichtet haben, sich nicht in jeder Hinsicht vorbildlich verhalten oder nicht leidenschaftlich genug für die gute Sache brennen. Also: Ab in den nächsten Motivations-Workshop! Das behebt zwar keine Organisationsprobleme, hilft aber dabei, sie zu kaschieren und die Verantwortung zu verschieben. Erfahrene Organisationsprofis, an denen auf diese Weise herumgezerrt wird, entwickeln schon aus Gründen der Selbstachtung und des Selbstschutzes Strategien des Zynismus, mit deren Hilfe sie die Übergriffigkeiten der Personalisierung an sich abperlen lassen.

Wir wollen mit diesem Buch dazu beitragen, diese Spiele besser zu verstehen und die durch sie ausgelöste Abwärtsspirale zu durchbrechen. Statt das Verhalten des Einzelnen heroisch zu glorifizieren oder therapeutisch zu problematisieren, interessieren uns die Verhältnisse, in denen sich dieses Verhalten abspielt. Deshalb schlagen wir vor, nicht die Personen und ihre möglichen Motive oder Defekte, sondern die Eigenlogiken der Organisation in den Blick zu nehmen. Es geht also, mit einer Formulierung des Soziologen Erving Goffman, »nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen« (Goffman 1986, 9).

Organisationen steht ein einzigartiges Instrument zur Verhaltenssteuerung ihrer Mitglieder zur Verfügung. Indem sie die Mitgliedschaft in der Organisation an die Einhaltung ihrer formalen Verhaltenserwartungen knüpfen, sorgen sie für die notwendige Klarheit: Man weiß, was im 12Rahmen der Organisation verlangt wird. Wer Mitglied eines Schachclubs werden will, sollte Schach spielen. Mitglieder einer Punk-Band sollten sich für die Darbietung von Punk-Musik interessieren und keine Scheu vor Konzertauftritten haben. Wer Mitglied der SPD bleiben will, sollte nicht öffentlich politische Forderungen etwa der AfD vertreten. Wer einen Arbeitsvertrag unterschreibt, sollte bereit sein zu arbeiten. Formale Mitgliedschaftsbedingungen, wie sie in Arbeitsverträgen, Parteisatzungen oder Vereinsstatuten fixiert sind, definieren die formalen Verhaltenserwartungen der Organisation. Im Umkehrschluss signalisieren sie allerdings auch, was die Organisation nichts angeht: alles, was nicht in den Mitgliedschaftsbedingungen formalisiert ist. Und das ist sehr vieles. Zu den nicht im Arbeitsvertrag fixierten Mitgliedschaftsbedingungen zählen in der Regel zum Beispiel politische Orientierungen, Ausgeh- und Ernährungsgewohnheiten, die Beziehung zu den Eltern, die Konsultation von Paartherapeuten oder der private CO2-Abdruck. Der Schachclub oder die SPD müssen nicht wissen, welche Musik man hört, die Punkband kann Schachkenntnisse ignorieren.

Die Mitglieder erfüllen die formalen Erwartungen der Organisation nicht zwangsläufig mit Begeisterung, selbstloser Hingabe und glühender Identifikation. Ein Kosten-Nutzen-Kalkül genügt: »In formale Organisationen treten die Mitglieder (…) in der Regel aus wohlerwogenen Gründen wegen spezieller Zwecke und Leistungen ein. Sie wissen sich und die anderen Mitglieder nur partiell engagiert« (Luhmann 1964, 345). Das nur partielle Engagement verfolgt bestimmte Zwecke (zum Beispiel, mit Berufsarbeit Geld zu verdienen) und erbringt im Gegenzug entsprechende Leistungen (zum Beispiel, den Arbeitsvertrag zu 13erfüllen). Ein darüber hinaus gehendes Engagement kann die Organisation von ihren Mitgliedern nicht erwarten. Ein Schachclub verlangt von seinen Mitgliedern keine militärischen Kampfeinsätze. Die Bundeswehr fordert von Offiziersanwärtern keine Kenntnisse der Hauptwerke Immanuel Kants. Philosophie-Professorinnen müssen bei ihrer Berufung keinen Führerschein vorweisen. Ein Chemiekonzern interessiert sich bei der Einstellung von Ingenieurinnen oder Juristen nicht dafür, ob sie die volle Distanz des Ironman schaffen oder gute Tango-Tänzer sind. Schachclubs, Bundeswehr, Universitäten oder Chemiekonzerne können ihre Mitglieder nicht zur Wertschätzung abstrakter Kunst, regelmäßigen Besuchen des Clubs Berghain oder zu monogamer Eheführung verpflichten. Damit würden sie die engen Grenzen der an die Mitgliedschaft geknüpften Verhaltenserwartungen ihrer nur »partiell engagierten« Mitglieder erheblich überdehnen.

Es ist eine Errungenschaft der Moderne, dass »totale Institutionen«, wie sie der Soziologe Erving Goffman (Goffman 1973) beschrieben hat, heute Randphänomene sind. Ihr Zugriff auf die ganze Person hat im normalen Arbeitsleben nichts verloren. Man findet sie in modernen Gesellschaften fast nur noch in Klöstern, also Überbleibseln der Vormoderne, im Zugriff auf Insassen (nicht auf Mitarbeiter) spezieller Einrichtungen wie psychiatrische Anstalten, oder in pathologischen Formen, etwa bei Sekten, radikalpolitischen Gruppen oder Terrororganisationen (und, wenn man den Klagen unzufriedener Theaterbeschäftigter glauben darf, an sehr schlecht geführten deutschen Stadttheatern). Wer nicht in der Psychiatrie sitzt, in ein Jesuiten-Kloster eingetreten ist, »operierender Thetan« bei Scientology werden will oder einem Al-Qaida-Kommandanten 14gehorchen muss, hat keinen Grund, sich solche Übergriffe gefallen zu lassen.

Dass der »ganze Mensch« im Arbeitsvertrag nicht vorkommt, hat gute Gründe: Er geht die Organisation nichts an. Das ist eine gute Nachricht für Menschen, die in Organisationen arbeiten. Diese Nachricht ist das Thema dieses Buches. Es möchte Orientierungshilfen zum besseren Überleben im Dickicht der Organisationen liefern. Die gut organisierte Organisation entlastet ihre Mitglieder, statt sie als menschliche Puffer zu verschleißen.

15DIE ORGANISATION, DAS UNBEKANNTE WESEN

Wir geben zunächst einen Überblick auf unsere Arbeitsweise und darauf, welche Begriffe, Theorieinstrumente und Beobachtungen wir bei unserer Analyse der Organisation und ihrer Paradoxien verwenden. Der erste Teil des Buches widmet sich der Problemdiagnose: Wir blicken auf den Grenzverlauf und die hilfreiche Unterscheidung zwischen Mensch und Organisationsmitglied – und auf die Missverständnisse, Übergriffe und Konflikte bei Organisationspraktiken, die diese Unterscheidung nicht zur Kenntnis nehmen. Der zweite Teil zeigt, wie Organisationen auf den Versuch (oder die Versuchung) verzichten, Organisationsmitglieder als »ganze Menschen« zu beanspruchen.

Statt den Menschen für den Quell allen Organisationsübels zu halten und entsprechend zu bearbeiten, plädieren wir für die Konzentration auf die Organisation und ihre Struktur, für die Anerkennung ihrer Eigenlogiken und die reflektierte Beobachtung der beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen der eingesetzten Mittel. Es klingt für viele Organisationsgeschädigte vielleicht vermessen und utopisch – aber es wäre keine schlechte Idee, wenn die Organisation ihre Strukturen nach den (Funktions-)Bedürfnissen ihrer Mitglieder ausrichtet, statt sie 16als menschliche Auffangbecken und Kompensationspuffer der Organisationsdefizite zu missbrauchen.

Damit möchten wir eine praktische Handreichung anbieten: Ein organisationssoziologisch aufgeklärtes Verständnis der Organisation kann ihren Mitgliedern helfen, besser zu verstehen, wie die Organisation funktioniert und was sie von ihnen erwarten darf (und was sie nicht erwarten sollte). Organisationsverantwortlichen eröffnet es Gestaltungsperspektiven, die der Organisation wie ihren Mitgliedern zugutekommen. Das nüchterne, also auf die jeweiligen Funktionen konzentrierte Verständnis des Organisationsgeschehens und der Differenz zu Familien, Freundschaften oder Glaubensgemeinschaften kann das Dasein in der Organisation deutlich erleichtern. Das gilt unabhängig von Branche und Hierarchieebene und davon, ob dieses Dasein in Startups, Vorstandsbüros, Schulen, der Stresszone des Mittelmanagements, in Theatern, den Bürotrakten der Verwaltung oder in einer Fabrik stattfindet. Deshalb richtet sich unser Buch an Chefinnen und Fabrikarbeiter, an Verwaltungsfachkräfte, Vorstände, Chefredakteure, Personalverantwortliche und andere Organisationsmitglieder. Also an alle. Denn die Erfolgsgeschichte des sehr speziellen sozialen Systems der Organisation in der modernen Gesellschaft bedeutet, dass soziale Teilhabe, etwa im Arbeitsleben, häufig in Form von Organisationsmitgliedschaften stattfindet.

Wir nehmen die Frustration ernst, die schlechte Organisation zwangsläufig produziert. Aber wir interessieren uns weniger für die üblichen Feindbilder und Frontbildungen (»Meine Leute ziehen einfach nicht mit«, »Die da oben wissen nicht, was bei uns los ist«, »Deutschland hat ein Motivationsproblem«, »Es fehlt an Unternehmertum«) als für die befreiende Wirkung des klaren Blicks.

17Zu unserer Arbeitsweise: Wir entwickeln unsere Diagnosen in der Begegnung mit konkreten Organisationen und verwenden immer wieder Fallbeispiele. Weil wir die Namen der jeweiligen Unternehmen oft aus Diskretionsgründen (zum Beispiel weil wir als Berater für sie gearbeitet haben) nicht nennen können, haben wir sie anonymisiert. Es handelt sich immer um reale Unternehmen, Institutionen, Verwaltungen und andere Organisationen, die wir in den vergangenen Jahren als Beraterin und Berater, Wissenschaftlerin oder als Journalist kennengelernt haben.

Wenn im Folgenden von »wir« die Rede ist, sind bei Forschungs- und Beratungsprojekten in der Regel Judith Muster und Kai Matthiesen von Metaplan gemeint. Gelegentlich stammen die Unternehmens-Beobachtungen auch aus Peter Laudenbachs journalistischer Arbeit. Immer wieder sind wir in der Organisationsbeobachtung nicht nur Berater, Soziologin oder Journalist, sondern auch Feldforschende, Ethnologen oder Theaterbesuchende, die über das Theater der Organisation in Meetings, Budgetverhandlungen, Jahresgesprächen, Coachings und anderen Schaukämpfen staunen. Erstaunlich häufig sind wir Kafka-Lesende, die Labyrinthe, widersprüchliche Signale, undurchschaubare Machtverhältnisse und rätselhafte Regeln fasziniert in Chefetagen und Bürotrakten beobachten.

Zur Empirie des Einzelfalls: Der Schriftsteller und Filmregisseur Alexander Kluge spielt in seinen Filmen und Büchern gern mit Fakten und Fiktionen: Man kann nie sicher sein, was real und was frei erfunden ist. Seine Erklärung für diese Erzählstrategie ist so verblüffend wie die Vorgänge, von denen er berichtet: »Wenn Ihnen in meinen Büchern etwas so absurd und befremdlich vorkommt, dass Sie es für pure Fiktion halten, beruht es garantiert auf 18Tatsachen. Die wirklich erstaunlichen Merkwürdigkeiten kann man sich nicht ausdenken« (Kluge 2005). Das gilt auch für die im Folgenden verwendeten Organisationsskizzen. Möglicherweise glauben Lesende in unseren Beispielen den Konzern, die Behörde, die Universität zu erkennen, in denen sie arbeiten. Das kann ein Irrtum sein. Viele der von uns beobachteten Muster wiederholen sich in Variationen in zahlreichen Organisationen. Die beschriebenen Unternehmen stehen hier als Beispiele. Die entsprechenden Organisationslogiken sind unabhängig von den jeweiligen Besonderheiten wirksam. Ein Beispiel: Nach der Entlassung eines Direktors der Weltbank unter etwas dubiosen Begründungen hat der Organisationssoziologe Stefan Kühl, einer unserer Metaplan-Kollegen, in Artikeln für die »taz« und die »Zeit« die Organisationsdynamiken und Strukturen beschrieben, die nach seiner Analyse dort wirksam waren (Kühl 2007 und 2007a). Die Entlassung folgte einem häufig zu beobachtenden Muster (wir beschreiben es im Kapitel → Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht): die Zurechnung eines Organisationsversagens auf eine Person. Nachdem die Artikel erschienen waren, erhielt Kühl Mails von Weltbank-Mitarbeitern, die wissen wollten, wer seine Quellen seien und woher er die internen Informationen habe. Ihm standen ausschließlich öffentlich zugängliche Informationen zur Verfügung. Aber er kannte die Ausweichmanöver, mit denen sich Organisationen durch Personalisierung davor schützen, ihre selbst verursachten Probleme als solche zu erkennen.

Um Phänomene wie solche Ausweichmanöver genauer und in all ihrer Widersprüchlichkeit zu beobachten und zu verstehen, welche Funktionen sie erfüllen, arbeiten wir mit dem Analyse-Instrumentarium der Organisationssoziologie. 19Dabei greifen wir vor allem auf die Begriffe und Theoriefiguren zurück, die der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch »Funktionen und Folgen formaler Organisation« (Luhmann 1964) entwickelt hat. Es ist nicht unser Ehrgeiz, damit zur wissenschaftlichen Forschung oder zur umfangreichen Luhmann-Sekundärliteratur beizutragen. Wir benutzen Luhmanns Theorie-Werkzeug eher so, wie man Brillen oder Röntgengeräte zu Hilfe nimmt: um besser zu sehen. Luhmanns »Funktionen und Folgen formaler Organisation« ist ein erstaunliches (und erstaunlich unbekanntes) Buch. In der Luhmann-Rezeption »spielt es (…) immer noch nicht die Rolle, die ihm gebührt«, stellt der Soziologe und Luhmann-Kenner André Kieserling merklich irritiert fest (Kieserling 2012, 134). Luhmanns Frühwerk, seine erste größere Veröffentlichung und Ertrag seiner Studien in Harvard bei Talcott Parsons wie der Jahre teilnehmender Beobachtung als Verwaltungsjurist, ist jenseits der Fachwissenschaft ein ungehobener Schatz. Jahrzehnte nach seinem Erscheinen konstatierte Günther Ortmann, einer der wichtigsten deutschen Organisationsforscher, dass Luhmann hier bereits 1964 »viele heutzutage zu großer Prominenz gelangte organisationstheoretische Ideen« entwickelt und vorweggenommen habe (Ortmann 2003, 238). Vielen dieser Ideen und Begriffe werden der Leserin, dem Leser, auf den folgenden Seiten begegnen.

Weshalb dieser Theorie-Aufwand? Weil, zumindest laut Immanuel Kant, Anschauung ohne Begriff blind bleibt (umgekehrt bleiben Begriffe ohne Anschauung leer – deshalb arbeiten wir immer wieder mit Fallbeispielen). Mit der Brille von Luhmanns Begriffen und Theoriefiguren sieht man klarer und vor allem: anders. Sie erlauben es, das bunte Organisationsgeschehen unter überraschenden, oft 20genug irritationsreichen Perspektiven zu beobachten. Das rückt das scheinbar Vertraute in die Distanz und erlaubt es, eine weitverbreitete Erkenntnisblockade »unbegriffener Unmittelbarkeit« (Hegel 1807, 34f.) zu vermeiden. Eine berühmte, schon etwas ältere Formulierung beschreibt die Falle der auch in Organisationen und ihrer Beobachtung häufig anzutreffenden unbegriffenen Unmittelbarkeit so: »Das Bekannte überhaupt, ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt voraussetzen und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle« (Hegel 1807, 35). Ein Hin-und-her-Reden im Bekannten ist mithilfe von Luhmanns Theorie-Brille nicht zu befürchten.

Wir erheben nicht den Anspruch, mit diesem Buch eine abgeschlossene Theorie der Organisation vorzulegen. Aber wir hoffen, dass wir dazu beitragen, das erstaunlich trickreiche Innenleben von Organisation mit ihren Spannungen und Konfliktlinien, ihre Funktionslogiken und deren Folgen besser zu verstehen.

21Die Organisation ist eine alte Bekannte. Dass wir sie schon so lange kennen, heißt nicht, dass wir sie immer durchschauen. Mithilfe der Organisationssoziologie lässt sie sich zumindest aus etwas anderen Perspektiven beobachten. Das führt zu neuen Fragen. Zum Beispiel: Welche Funktion hat das gelegentlich befremdlich und erratisch anmutende Verhalten ihrer Mitglieder? Wenn es nicht komplett irrational ist – für welches Problem soll es dann die Lösung sein, und welche Probleme zeigt es an? Und: Ließen sich für diese Probleme auch andere, vielleicht weniger belastende Lösungen finden?

22ERSTER TEIL

23DIE ORGANISATION UND IHRE MITGLIEDER

25DER GANZE MENSCH UND ANDERE IRRTÜMER

WARUM ORGANISATIONSMITGLIEDER ETWAS ANDERES ALS MENSCHEN SIND - UND WESHALB DAS NICHT UNMENSCHLICH IST

Der Unterscheidung zwischen dem »ganzen Menschen« und dem Organisationsmitglied ist auf den ersten Blick irritierend, schon weil Organisationsmitglieder in der Regel Menschen sind. Es lohnt sich, diese Unterscheidung etwas genauer zu betrachten. Sie ist neben dem hierarchischen Aufbau und der Zweckorientierung das wichtigste Kennzeichen des sehr speziellen sozialen Gebildes Organisation.

Wenn Menschen regelmäßig Zeit miteinander verbringen, kann es sich auch um einen Nachtclub, eine Familie, Kleingartennachbarn, einen Gottesdienst oder um Zufall handeln. Sie machen miteinander, was man in Nachtclubs, Familien, Kleingärten, Gottesdiensten oder bei Zufallsbegegnungen halt so macht. Verbringen sie diese Zeit allerdings im Rahmen einer Organisation miteinander, geschieht das unter Bedingungen der formalen Regeln der Organisation. Das hat Folgen: Diese Menschen handeln nicht als Privatpersonen oder »ganze Menschen«, sondern als Organisationsmitglieder (die nebenbei und informal auch noch 26über die lästige oder hilfreiche Eigenschaft verfügen, Menschen zu sein).