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Ein Mann Mitte fünfzig, geschieden, arbeitslos und krank, beschließt, sein Leben zu beenden. Methode, Ort und Zeitpunkt hat er bereits festgelegt. Bei seinem letzten Gelegenheitsjob, einer Wohnungsräumung, findet er ein Tagebuch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Durch Zufall entdeckt er darin eine mit Geheimtinte verfasste Hypothese. Dass dabei das Weltall eine Rolle spielt, ist das Einzige, was er begreift. Nach und nach kommt er jedoch weiteren Zusammenhängen auf die Spur. Gleichzeitig wird er von eigenartigen Träumen über die Geschehnisse aus jener Zeit heimgesucht.
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Gedanken
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Er stand an einer Straße, die sich an einem steilen Küstengebirge entlangschlängelte. Weit unten rauschten die Wellen. Es war angenehm warm, vom Meer her blies ihm jedoch ein erfrischender Wind entgegen. Die Sonne stand bereits tief über dem Meer und würde wohl bald hinter dem Horizont verschwinden.
»Steig ein«, forderte ihn jemand auf.
Er drehte sich um. Da parkte ein Gefährt am Straßenrand. Es war offen und erinnerte ihn an ein Cabriolet. Allerdings hatte es weder Räder noch ein Steuerrad. Ein niedliches Wesen mit einem auffallend großen Kopf und riesigen ausdrucksstarken grünen Augen saß darin. Es ähnelte den Figuren aus den Manga-Geschichten, den japanischen Comics, mit ihren übergroßen Augen. Er konnte es keinem Geschlecht zuordnen, aus einem ihm unerklärlichen Grund war es ihm jedoch vertraut. Ohne zu zögern, stieg er ein und ließ sich in einen bequemen Sitz sinken. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und folgte der kurvigen Straße. Lautlos beschleunigte es auf eine beachtliche Geschwindigkeit. Der Blick auf das raue Meer war spektakulär.
»Schau mal«, sagte das Wesen und machte ihn auf ein paar riesige Fische aufmerksam, die weiter draußen aus dem Meer schossen und hohe Luftsprünge vollbrachten. Ihm fiel auf, dass es nicht sprach, sondern offenbar ohne Stimme kommunizierte.
»Wow«, antwortete er erstaunt. Einige der Fische mussten bestimmt über zwanzig Meter lang sein. »Was sind das für riesige Fische?«
»Sprungfische.«
»Treffender Name. Sind das Raubfische?«
»Du meinst Fleischfresser? Nein, die gibt es hier seit Millionen von Jahren nicht mehr.«
»Wie bitte? Es gibt hier keine Raubtiere?«
»Ja, die sind alle ausgestorben.«
»Wieso denn? Gab es einen Meteoriteneinschlag?«
Das Wesen lächelte. »Nein. Über die Jahrmillionen nahm die Population aller Spezies stetig ab, so dass nach und nach die Nahrungsgrundlage der Prädatoren wegfiel. Schließlich sind sie entweder ausgestorben oder passten sich an.«
»Einige wurden zu Pflanzenfressern?«
»Genau, so auch der Vorfahre des Sprungfischs.«
Sie bogen von der Straße ab und hielten an einem Aussichtspunkt an. Die Stelle lag mehrere hundert Meter über dem tosenden Meer, dessen Wellen bestimmt bis zu zwanzig, dreißig Meter Höhe erreichten. Er wagte gar nicht sich vorzustellen, was geschehen könnte, wenn die Bremsen ihres Gefährts versagen würden.
»Keine Angst, mein Fahrzeug könnte auch über dem Meer schweben, ohne abzustürzen«, beruhigte ihn das Wesen.
»Kannst du meine Gedanken lesen?«
»Kann ich.«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Yasi.«
»Äh, ist das ein weiblicher …«
»Nein«, unterbrach es ihn. »Es ist weder noch.«
»Ehm, ich wollte nicht …«
»Das muss dir nicht peinlich sein. Schau mal die Sprungfische da draußen. Sie bekommen alle zehn Jahre ein Junges. Dieses Jahr ist es wieder soweit. Deshalb vollführen sie vor der Küste Freudensprünge. Sie teilen uns damit das freudige Ereignis mit.«
»Ein Weibchen bekommt bloß alle zehn Jahre ein Junges?«
»Nein, nicht ein Junges je Weibchen. Ein Junges alle zehn Jahre – insgesamt.«
»Bloß ein Nachkomme alle zehn Jahre für die gesamte Population? Dann sind sie bestimmt vom Aussterben bedroht.«
Yasi lächelte wieder. »Überhaupt nicht. In den Meeren leben etwa dreitausend Sprungfische. Die Anzahl ist seit Jahrtausenden konstant. Alle zehn Jahre stirbt einer und alle zehn Jahre kommt ein Junges dazu.«
»Das ist ja unglaublich!«
»Nein, das ist normal. Bei den meisten Tierarten funktioniert die Reproduktion ähnlich.«
»Und wie läuft das bei euch mit dem Nachwuchs?«
»Vergleichbar, nur dass es bei uns schon seit Ewigkeiten keine Geschlechter mehr gibt.«
Er schaute Yasi verblüfft an. »Es gibt weder Mann noch Frau? Wie bekommt ihr dann Nachwuchs?«
Es grinste. »Biologisch können wir keinen Nachwuchs bekommen. Sobald jemand unsere Gemeinschaft verlässt, stößt ein neues Individuum dazu.«
»Und wie soll das gehen ohne Biologie? Empfängt ihr ein Kind vom Heiligen Geist?«
Yasi musste lachen. »Unser Körper wird ganz einfach künstlich erzeugt.«
»Ganz einfach … Bedeutet das, ihr habt keinen Sex?«
»Sofern du einen triebgesteuerten Geschlechtsverkehr meinst, trifft das zu. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nie verlieben oder keine Zärtlichkeiten austauschen.«
Er versuchte sich vorzustellen, wie Yasi und seine Artgenossen wohl Zärtlichkeiten austauschten, entschloss sich jedoch, das Thema zu wechseln, bevor es seine Gedanken kommentieren würde.
»Äh, die Sprungfische leben anscheinend ziemlich lange. Wie lange lebt ihr denn?«
»Im Durchschnitt etwa hunderttausend Jahre, aber die Streuung ist sehr hoch. Es gibt einige, die bereits nach fünfzigtausend Jahren gehen, andere erst nach zweihunderttausend oder mehr.«
»Hunderttausend Jahre, wie schaffen das eure Körper?«
»Da ist kein Problem, die sind für eine solche Zeitspanne ausgelegt.«
»Gibt es hier denn genug Nahrung für euch und die Sprungfische?«
»Natürlich. Neben uns gibt es noch Tausende weitere Spezies. Die Pflanzen, die hier überall gedeihen, bieten mehr als genug Nahrung für alle.«
»Somit isst auch du kein Fleisch?«
»Selbstverständlich nicht!«, antwortete es entsetzt, während das Cabrio wieder losfuhr und durch eine enge S-Kurve manövrierte. »Jedes Individuum hier hat ein Recht auf ein glückliches, erfülltes und langes Leben.«
Yasi blickte ihn mit seinen großen Augen auffordernd an. »Willst du dir noch weitere Gedanken über unser Leben hier machen? Ich lasse es dich sogleich wissen, falls diese nicht zutreffen.«
Genau wie es mir Aron empfohlen hat, ging es ihm durch den Kopf.
»Aron?«
»Ein Freund«, bemerkte er, während er bereits seinen Gedanken nachging. Okay, hier gibt es bestimmt schon mal keine narzisstischen und gewalttätigen Arschlöcher, folgerte er.
Yasi lächelte, widersprach aber nicht.
Der Mann jenseits von fünfzig, der den Weg entlangging, welcher die sanierungsbedürftige Großüberbauung »Glückfeld West« mit der nahen Bushaltestelle verband, war hager und hatte dunkle Augenringe. Seine vollen und nur an wenigen Stellen ergrauten braunen Haare waren das Einzige, was an ihm gesund wirkte.
Ein Pensionär aus seiner Nachbarschaft knöpfte sich gerade einen Jungen vor, der auf dem Gehweg mit seinem Fußball jonglierte.
»Musst du nicht zur Schule?«
»Doch, aber am Montag beginnt der Unterricht erst um viertel nach acht«, entgegnete der Junge verunsichert.
»Ach so. Spiel doch anderswo Fußball, hier stehst du allen im Weg! «
Der Junge ergriff seinen Ball und lief bedrückt davon.
»Irgendwo müssen die Kinder doch spielen«, sagte er zum Pensionär.
»Die sollen sich auf dem Spielplatz austoben. Hier blockieren sie den Durchgang und verursachen bloß Lärm und Ärger. Irgendjemand muss diesen Migranten Anstand beibringen.«
Einen kurzen Moment lang wollte er entgegnen, dass er gegenüber dem Kind doch etwas nachsichtig sein soll. Er beließ es aber bei einem wortlosen Kopfschütteln.
An der Haltestelle stand bereits ein Bus zur Abfahrt bereit. Er setzte sich auf einen Fensterplatz. Die morgendliche Junisonne schien ihm ins Gesicht.
Der Alte war mit seinem Frust nicht allein, überlegte er. Lärm, Sachbeschädigung und Diebstahl sorgten in der Gegend regelmäßig für Konflikte. Nicht selten musste die Polizei eingreifen. Diejenigen, welche es sich leisten konnten, waren schon lange weggezogen. Zurück blieben die Minderbemittelten, zu denen er sich selbst zählte. Einige Politiker aus dem rechten Spektrum behaupteten, das Viertel entwickle sich zu einem sozialen Brennpunkt.
Die Fahrt führte an weiteren nicht minder trostlosen Überbauungen vorbei. Mit einem bitteren Grinsen erinnerte er sich an die geräumige helle Vierzimmerwohnung in einem Neubauviertel, wo er einst mit seiner heutigen Exfrau und seinen beiden Töchtern gelebt hatte. Er verdrängte seine Gedanken daran. Bei der Haltestelle »Businesspark« musste er auf eine andere Buslinie wechseln. Zahlreiche Bürogebäude mit Niederlassungen von namhaften Firmen erstreckten sich in dieser Gegend über mehrere Häuserblocks. Bei einigen der Unternehmen hatte er sich erfolglos auf einen Bürojob beworben.
»Wir warten scheinbar auf denselben Bus«, riss ihn ein jüngerer Mann, dem seine Laufbahn als Drogenabhängiger gut anzusehen war, aus seinen Gedanken. Sie hatten schon zwei oder dreimal zusammengearbeitet. Er hieß Fredi, hatte eine große Zahnlücke und schulterlange ungepflegte blonde Haare. Nach eigenen Aussagen war er seit zwei Jahren clean.
»Ja, offensichtlich«, antwortete er wenig begeistert.
»Wie sieht es mit deiner Jobsuche aus?«, fragte Fredi. »Bisher kein Erfolg.«
»Scheiße!«
»Nein, das ist die Realität. In meinem Alter will dich keiner mehr. Damit muss ich leben.«
»Also ich finde es skandalös, wie diese kapitalistischen Arschlöcher mit uns umgehen. Wenn du älter wirst, bekommst du einen Tritt in den Arsch und wenn du sonst mal Probleme hattest, wie ich, dann kriegst du sowieso nie mehr einen Job.«
Er nickte nur. Ihr Bus hielt an und sie stiegen ein.
»Weißt du, um was für einen Auftrag es heute geht?«. Es war ein Versuch, das Thema zu wechseln, denn er hatte keine Lust, sich mit ihm über ihr vermasseltes Leben zu unterhalten.
»Mike hat mir gesagt, es gehe um die Wohnung einer verstorbenen alten Frau. Sie habe sich nach einem schweren Sturz nicht mehr erholt und sei schließlich vor ein paar Wochen im Spital gestorben. Der Klassiker.«
»Okay, dann werden wir vermutlich heute noch fertig damit.«
»Ja, davon gehe ich aus.« Fredi ging in den hinteren Bereich und ließ sich auf einen freien Sitzplatz niedergleiten.
Er blieb stehen und war froh, dass die Unterhaltung vorerst beendet war. Auf dem Infobildschirm im Bus erschien die Meldung, dass eine Bahnstrecke wegen eines Personenunfalls unterbrochen und für die Weiterreise ab dem Hauptbahnhof mit Verspätungen zu rechnen sei.
Früher hatte er Berichte über Personenunfälle bei der Bahn höchstens schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Vielleicht fragte er sich beiläufig, was das für arme Schweine sein mussten, die so einen Ausweg wählten. Heute hatte er für sie volles Verständnis. Es war einfach die sicherste und schnellste Methode, um so ein Schlamassel zu beenden.
Inzwischen war der Bus in einer gepflegten Wohngegend auf der anderen Seite der Stadt angekommen. Reihen von großzügigen Mehrfamilienhäusern, erbaut in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, prägten das Stadtviertel. Er hatte mal gelesen, dass die Häuser in einer Mischform des neuen Bauens und des Art déco erstellt wurden. Die meisten Bauten hatten eine blass-rote Fassade und wiesen zahlreiche Vorsprünge, Rundungen, Zierelemente und großzügige Balkone auf.
Fredi kam nach vorne und drückte die Haltetaste.
»An der Nächsten müssen wir aussteigen«, sagte er. »Kennst du die Adresse? Ich habe sie vergessen.«
»Alpenblickstraße fünf. Nach der Bushaltestelle müssen wir für etwa hundert Meter der Straße folgen und nach einer Bäckerei rechts abbiegen.«
Der Pritschenwagen des Entrümpelungsservices stand bereits vor dem Wohnhaus.
»Hallo ihr beiden«, begrüßte sie Mike, ein beleibter bärtiger Mann um die vierzig. »Ihr könnt gleich rauf in die Wohnung im dritten Stock rechts. Sepp und Giovanni, unsere Senioren, sind bereits da. Die restlichen Kollegen kommen sicher auch gleich. Ich warte inzwischen auf den Lastwagen mit der Mulde.«
»Wird gemacht, Chef«, erwiderte Fredi grinsend und schritt durch die geöffnete Eingangstüre. Er folgte ihm. Die Eingangshalle war hoch und geräumig. Eine bereite Steintreppe sowie ein Lift führten in die oberen Etagen. Das Wohnhaus wurde dereinst für eine bessergestellte Bürgerschicht erstellt und zweifellos lagen die Mieten auch heute noch im gehobenen Bereich, vermutete er, während sie keuchend die dritte Etage erreichten. Sepp und Giovanni, beide im Rentenalter, waren gerade in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
»Schon letztes Jahr war es extrem trocken und nun wüten schon seit Tagen verheerende Waldbrände! Alfredo, mio cugino, äh mein Cousin aus Sicilia, hat schon die Hälfte seiner Olivenbäume verloren, Mamma mia!«, wetterte Giovanni, ein kleiner kräftiger Mann mit unübersehbar süditalienischen Wurzeln.
»Aber nicht nur das Klima spielt verrückt, nein. Überall brodelt es und es ist nur eine Frage der Zeit, bis verheerende Kriege ausbrechen. Schau doch was im Nahen Osten, in Russland, Iran, Afghanistan und sogar in den USA alles schiefläuft. Wie soll das alles ausgehen? Wo sollen all die Flüchtlinge hin?«, fragte Sepp rhetorisch. Er war groß gewachsen, hatte eine Glatze und wirkte für sein Alter erstaunlich athletisch.
»Und ich frage mich, was soll mal werden aus unseren Bambini, Kindern und Enkeln?«, fügte Giovanni mit einer theatralischen Handbewegung an.
»Hallo zusammen! Wo sollen wir anfangen?«, unterbrach Fredi die beiden.
»Äh, fangt doch mit dem Kleinkram an, das da überall rumsteht«, erwiderte Sepp und zeigte auf die unzähligen kleinen Figürchen, Puppen und Vasen, die in einer Wohnwand aus Buchenholz aufgestellt waren. »Packt das Zeugs in die Kisten für den Shop. Dazu noch das Geschirr und Besteck aus der Wohnwand und der Küche. Vielleicht lässt sich davon noch was verwerten.«
Er nickte. Die gemeinnützige Organisation, für die sie arbeiteten, würde die noch verwertbaren Utensilien an bedürftige Menschen weitergeben oder in ihrem Secondhand-Shop günstig verkaufen. Er hatte da selbst ein paar Dinge erworben und war auf einen Aufruf auf dem Anschlagbrett aufmerksam geworden, mit dem Helfer für Wohnungsräumungen gesucht wurden.
Die Wohnung erinnerte ihn an die seiner Eltern, welche vor bald zehn Jahren gestorben waren. Auf dem Mosaikparkett im Wohnzimmer lag ein rot-schwarz gemusterter Kurzflorteppich. Gestickte Deckchen verzierten die altmodische Polstergarnitur aus braunem Velourstoff und einige Regale in der Wohnwand. Eine stehengebliebene Pendeluhr an der Wand zeigte viertel nach zwei an. Daneben hing eine eingerahmte Porträtfotografie eines jungen Mannes. Die Aufnahme war bereits älteren Datums, wahrscheinlich aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren. Viellicht war es der längst verstorbene Ehemann.