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Tauchen Sie ein in eine Welt voller Magie, Geheimnisse und unvergesslicher Charaktere – "Die in der Stille wandelt" entführt in eine packende Fantasygeschichte, die alpenländische Kultur mit Action, Romantik und einem Hauch von Humor verbindet. Lumielle, eine junge „sichtige“ Frau, wird verwundet und ihrer Erinnerungen beraubt in der Stadt der Eleven gefunden, deren Bewohner niemals auslernen. Als Sichtige ist sie in der Lage, ihre eigenen Gefühle und die anderer Menschen vergestalticht wahrzunehmen, das heißt, in Form von oft skurrilen Figuren zu sehen oder in Form von Stimmen aus Nebeln zu hören. Doch hinter dieser Gabe verbirgt sich eine tragische Vergangenheit, vor der sie ihr treuer Begleiter, der freche, aber liebevolle Windreiter, zu schützen versucht. Erst in der Geborgenheit, die ihr die Stadt bietet, wagt Lumielle es, ihre Erinnerungen zurückzuholen. Doch mit jeder Erinnerung, die sie wiedererlangt, verdichtet sich das Geflecht aus Intrigen, Verrat und schicksalhaften Begegnungen. Als die „Salige Frau“, eine geheimnisvolle Gestalt aus Lumielles Vergangenheit, in ihren Träumen erscheint, wird ihr klar, dass sie eine Aufgabe von unermesslicher Bedeutung hat: Sie muss das Phylakterium, ein Artefakt von großer Macht, finden und das Licht, das ewiges Leben schenkt, in Sicherheit bringen. Denn Eusebius, der Anführer einer extremistischen Sekte namens GeFreNo, hat es auf das Licht abgesehen, das ewiges Leben verspricht, da seine eigene Lebenszeit zu enden droht. Mit seiner fanatischen Anhängerschaft hat er ein grausames Regime errichtet, das Angst und Unterdrückung verbreitet. Doch Lumielle ist bereit, sich ihm entgegenzustellen – auch wenn sie dafür alles riskieren muss. Eine Reise voller Gefahren und außergewöhnlicher Gefährten erwartet Sie. Von einem geheimnisumwobenen Fuchsgeist über einen verführerischen, listigen Faun bis hin zu einer entstellten Nonne und einer Nymphenfreundin – jede Begegnung bringt Lumielle näher an ihr Ziel, aber auch näher an die dunklen Geheimnisse ihrer eigenen Vergangenheit. Zwischen atemberaubenden Berglandschaften, finsteren Klostern und den tiefen Wasseradern der Welt entfaltet sich ein Abenteuer, das mitreißt und berührt. Doch es geht nicht nur um das Licht, sondern auch um die Kraft der Liebe und die Stärke, über sich selbst hinauszuwachsen. Lumielle verliebt sich in Firmian, einen Mann, der ihren Mut bewundert, aber mit ihrer Andersartigkeit zu kämpfen hat. Ihre Beziehung wird auf eine harte Probe gestellt, doch als Firmian selbstlos sein Leben riskiert, zeigt sich, wie stark Liebe sein kann – sogar im Angesicht des Todes. "Die in der Stille wandelt" ist mehr als nur eine Fantasygeschichte. Es ist eine Einladung, sich mit der Macht von Glauben, Ideologien und persönlicher Verantwortung auseinanderzusetzen – und gleichzeitig ein Abenteuer, das Sie bis zur letzten Seite nicht loslassen wird. Mit Lumielle reisen Sie durch die Abgründe der Menschlichkeit und erfahren, wie Hoffnung und Mut auch in der dunkelsten Stunde bestehen können.
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Seitenzahl: 899
Veröffentlichungsjahr: 2024
Widmung
Ich widme dieses Buch der Nachtschwester, die mich - fast Kind noch und mit schwerer Lungenentzündung im Krankenhaus liegend - um fünf Uhr in der Früh weckte, mich wusch und mit frischer Wäsche versorgte. Danach rieb sie meinen Rücken mit Franzbranntwein ein. Sie tat das, obwohl es nicht ihre Aufgabe war und das Einreiben mit Franzbranntwein sicherlich nicht auf ärztliches Anraten hin geschehen war. Sie tat es aus purer Sorge um mich.
Weiters widme ich dieses Buch der Reinigungsfrau im Krankenhaus dieser großen Stadt, die auf der Säuglings-Intensivstation putzte. Die ältere Frau mit dem dunkelblonden Dutt, die unbeachtet von den Menschen in ihrer Umgebung werkte, hat mir und meinem Kind mit der akribischen Hingabe ihres Tuns ein großes Geschenk bereitet.
Die Unbedankten, jene, die im Stillen tun, ohne eine Gegenleistung für ihr Tun zu erwarten, das sind die wahren Held*innen!
Manuela K.
Die in der Stille wandelt
© 2024 Manuela K.
Covergrafik von: Dieter Kühl
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, postalisch zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland und per E-Mail unter [email protected].
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Triggerwarnung
1 Das Gift aus dem Norden
2 In der Stadt der ewig Lernenden
3 Homöomorph
4 Die Entblößung
5 Der Hohe Rat
6 Die erzwungene Entblätterung seines Antlitzes
7 Luxus im Wald
8 Ein Flug und drei nebelige Schwestern
9 Die Trud, die sie an ihre Pflicht erinnert
10 Des Reiters bitteres Geschenk
11 Wo sie hingehört, ins wässrige Heim
12 Das Wachsen der kleinen Hoffnung
13 Halvor I
14 Die Jagd auf das Mädchen
15 Die fehlende Logik im System
16 Häscher Mädchen finden
17 Der Entschluss des schweren Herzens
18 Gefasste Entschlüsse
19 Die aufgeblähte Macht der Angst
20 Waldfest
21 Der Tod eines wahren Freundes
22 Andere
23 Liebe, oder doch eher nicht
24 Der Kränkung bitterer Geschmack
25 Die Herren des Salzes
26 Eine große Liebe, die es eigentlich nicht geben Dürfte
27 Die gescheiterte Taktik der kleinen Schritte
28 Brennende Bücher
29 Die Klarheit aus windigem Rohr
30 Durch die Stollen
31 Spuren in anderer Leben
32 Saliges Rätsel
33 Häscher Mädchen fangen
34 Gefangen im Konvent
35 Der Tod in winterweißen Hosen
36 Das System GeFreNo
37 Der Hinweg
38 Der Eine
39 Hände
40 Ins Grünenthal
41 Vogelfrei
42 Das harte Brot der Erinnerungen
43 Aus des Jägers Sicht
44 Der Brüder schwerer Weg ins Ungewisse
45 Zur Jagd geblasen
46 Wo die Geier wohnen
47 Die Entscheidung
48 Die Suche und das Finden
49 Tragik seines Lebens
50 Die Erinnerungen einer anderen Frau
51 Das Versteck unter der Sonne
52 Der Plan, den es nicht gibt
53 Das geheime Abkommen
54 Ist der Gegner zu stark, ist Flucht ein Weg
55 Eine, die dir unterlegen ist oder vorgibt, es zu sein
56 Klösterliche Liebe
57 Der Täuschung Enttarnung und der stille, schnelle Tod
58 Kaidan, der Hinweg
59 Der Namenlose, der über den Ursprung des Lebens erzählt
60 Des Glühens Vergehen
61 Klösterlicher Befreiungskuss
62 Der höchste Berg
63 Die, die im Stillen wandelt
64 Der Einsamkeit Verstehen
65 Die Entscheidung
66 Ewig ist die Zeit für diejenigen, die lieben
67 Des Todes Rivale
68 Das getrennte Ganze
69 Dort, wo es hingehört
70 In Sicherheit
71 Der drei Schwestern Erlösung
72 Ins neue, alte Leben
73 Der schwerste Abschied
74 Des Endes Anfang
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Urheberrechte
1 Das Gift aus dem Norden
74 Des Endes Anfang
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Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Themen, die auf manche Leser*innen verstörend wirken können.
Zum einen könnten sich Personen, die sich der Institution „Kirche“ zugehörig fühlen, negativ dargestellt sehen.
Zum anderen wird der Tod als junger, attraktiver Mann dargestellt, was auf manche anziehend wirken könnte. Liebe Leser*innen, bitte bedenkt, dass die Figur des Todes lediglich der Fantasie der Autorin entspringt und keineswegs der Wirklichkeit.
Des Weiteren werden physische sowie psychische Misshandlungen beschrieben.
1 Das Gift aus dem Norden
„Wo sie wohl herkommen mag?“, fragte Matthias, weil ihm sonst nichts Besseres einfiel. Der Hütebub hatte sie zum Fundort geholt. Er war mit den ihm anvertrauten Kühen unterwegs, um sie auf die Weiden im Osten zu treiben, als er die Leiche der jungen Frau unterm Wegkreuz fand. Eigentlich hatte der Bub nur die alte Theresia, von allen Tresl genannt, holen wollen, aber ihr Sohn Matthias, der schnell begriffen hatte, dass die Lage ernst war, so schnell wie der Hütebub angelaufen gekommen war, hatte sie begleitet. Der alten Tresl vertraute der Hütebub, hatte sie den Einfältigen bereits mehr als einmal vor den unwillkürlichen Schlägen seines Stiefvaters beschützt und ihn neben guten Worten mit einem Stück Brot oder gar einem Krapfen1 bedacht. Nun grinste er sie aus fast zahnlosem Mund – Hinterlassenschaft schwerer Misshandlungen – mit einer Mischung aus Stolz und Unsicherheit an. Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten beachtete Tresl ihn nicht.
Zusammengekrümmt lag sie da, die junge Frau, offensichtlich war sie erstochen worden. Die Frage ihres Sohnes nach der Herkunft der Toten hatte Tresl wütend gemacht. „Du fragst tatsächlich, wo sie herkommt!“, warf sie ihrem Sohn streng entgegen: „Als ob das wichtig wäre. Sie ist nicht die Gesuchte, das weißt du so gut wie ich. Die Feindin, wie ihr sie nennt, hat dunkles Haar, ist groß und kräftig. Diese da …“, sie deutete mit dem Kinn auf die tote junge Frau, „… ist klein und zierlich, außerdem ist ihr Haar rötlich.“
„Mutter, bitte. Jemand hat sich geirrt, er hat sie für die Feindin gehalten und diese muss unschädlich gemacht werden. Sie hat Kräfte, die des Teufels sind, sie gefährdet unsere Organisation, indem sie die Menschen vom richtigen Weg abbringt. Du weißt, nur die wenigsten sind dazu auserkoren, in das Himmelreich zu gelangen. Nur jene, die ihr Leben in Gottes Sinne leben, die keusch und bescheiden sind und ohne Fragen zu stellen helfen und …“
„Mutter, bitte, Mutter, bitte!“, unterbrach sie ihn unwirsch, indem sie ihn nachäffte. „Ich bin alt, ich habe keine Zeit mehr für dieses Gift, das du und die anderen hier im Grünenthal2 verbreitet. Hat dich deine Gruppe gelehrt, aufzuhören, logisch zu denken?“ Mit dem Ausdruck „deine Gruppe“ meinte Tresl die Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Geeinten Freien des Nordens, im Volksmund auch GeFreNo genannt, die im Grünenthal, in dem Matthias und seine Mutter ihr Leben fristeten, die höchste Zahl an Bekennenden aufwies.
Wäre es nicht ihr eigener Sohn gewesen, hätte sie eine Gegenrede nicht gewagt, war doch Widerspruch zu den Lehren GeFreNos in der Zwischenzeit streng untersagt, doch Tresl war in Rage.
Der Hütebub, der die Wut der Alten wahrgenommen hatte, wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. „Soll ich die richtigen Antworten geben?“, fragte sie. Ihr Sohn blickte betreten zu Boden. So also fuhr die Alte fort: „Also gut – ich nehme das als ein Ja“, sagte sie: „Also – wie nanntest du es? Keuschheit und Demut, höchste Tugenden GeFreNos, waren nicht die Motive, die bei diesem Mord eine Rolle gespielt haben, die Blutflecke auf ihrem Schoß sprechen eine ganz andere Sprache. Und ohne zu fragen geholfen hat man ihr wohl auch nicht und geirrt hat man sich schon gar nicht!“
Mittlerweile zitterte sie vor Wut. Es war nicht die erste Leiche, die im Tal gefunden wurde, es war eine von vielen. „Sieh dir ihr linkes Handgelenk an, der Distelfink fehlt, ihrer Kleidung nach zu urteilen kommt sie von weit her. Alles deutet darauf hin, dass sie keine Anhängerin von GeFreNo war und vielleicht auch keine werden wollte. Sie war eine Ungläubige und damit eine für euch Wertlose. Und der Mörder? Wird wohl wieder nicht geahndet werden, wird wieder ungeschoren davonkommen, hat ja nur vollendet, was sowieso unausweichlich war, eine Ungläubige der Verdammnis zuzuführen, so wie es für sie vorgesehen ist, und das unter dem Vorwand, es könnte die Gesuchte sein!“
„Mutter. Nicht wir sind es, die zu richten haben. Derjenige, der sie getötet hat, wird seine Gründe gehabt haben, er wird seine gerechte Strafe am Tag des Jüngsten Gerichts erfahren, deshalb maße ich mir nicht an, darüber zu richten. ‚Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du anderer, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor dem Richterstuhl Christi dargestellt werden‘3, so steht es in der Bibel und daran halten wir uns auch!“, sprach er, diesmal war seine Stimme von Entschlossenheit geprägt.
Er hob die linke Hand an seine Stirn und entblößte, wie zur Bekräftigung des Gesagten, das Abbild eines Distelfinken, das an der hellen Innenseite des Handgelenkes mit einem heißen Eisen eingebrannt worden war. Der Distelfink war das Kennzeichen der Anhänger von GeFreNo. Tresl wusste, was das Entblößen des Distelfinks bedeutete: Der Vogel stellt – so die Interpretation von GeFreNo-Anhängern – das christliche Symbol der Leidensgeschichte Jesu dar und soll daran erinnern, dass auch Jesus im Leben gelitten hat, bevor er auferstanden und ins ewige Leben gegangen ist. Die gewählte Körperstelle, die blasse Hinterseite des Handgelenks, war dabei nicht zufällig gewählt. An dieser Stelle fühlt man den Herzschlag, wenn man zwei Finger auf eine bestimmte Stelle legt, man spürt das Leben. Nur ein leidvolles, gottesfürchtiges Leben – so die Interpretation der Anhänger – führt ins ewige Licht, in die ewige Glückseligkeit, der Weg dorthin ist steinig und schwer, leidvoll, ähnlich dem Leid, das Jesus in seinen letzten Tagen ertragen musste. Die Anhänger halten das Symbol des Distelfinks hoch, um damit zu sagen: „Ich leide, so wie Jesus gelitten hat, um dann ins ewige Leben zu gehen, um dort meine gerechte Belohnung zu erhalten. Nur jenen, die im Leben leiden, wird das sorgenfreie Leben im Jenseits zuteil.“
Tresl schaute ihren Sohn – in fassungslose Wut versunken – an, sagte aber nichts dazu. „Gift, reines Gift, das aus ihm spricht“, dachte sie, und Bilder von diesem einen Tag, der das Leben für alle im Grünenthal so gravierend ändern sollte, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf.
Damals war sie noch ein Kind von etwa fünf Jahren gewesen, als sie mit ihrem geliebten Großvater, einem Mann mit von jahrelanger, harter Arbeit gebeugtem Rücken, ein paar unwillige Kühe in den Stall zum Melken getrieben hatte. Tresls ununterbrochen schnatternde Erzählungen über Riesenfische, die sie mit wild übertriebenen Gesten unterstrichen hatte, waren vom wohlwollenden Lächeln des Großvaters begleitet worden. Die Geschichte von den riesigen Fischen, die Tresl gerade dabei gewesen war, zu erzählen, hatte ihren Ursprung in einem Buch, das einst durch einen durchreisenden Mönch in Familienbesitz gelangt war. Dieses Buch war in fremder Sprache geschrieben, niemand verstand den Inhalt, aber es war voll mit Zeichnungen unbekannter Tiere – riesigen Fischen und Schlangen, Pferden mit unglaublich langen Hälsen, Menschenähnlichen mit schwarzem Fell, die auf Bäumen lebten – und ähnlichen seltsamen Wesen. Und immer dann, wenn Tresl traurig oder müde gewesen war, hatte ihr Großvater dieses eine Buch genommen, hatte sich eine Zeichnung herausgesucht und sie für Tresl in eine spannende Geschichte gepackt.
Tresl schluckte, als sie daran dachte, denn der Besitz von Büchern, ausgenommen der Bibel, ist mittlerweile streng verboten und schon vor Jahren unter strenge Strafe gestellt worden.
Sie war es gewesen, an diesem einen Tag auf den Almwiesen des Grünenthals, die die Gruppe als erste erblickt hatte. Gut ein Dutzend waren es gewesen, in graue Kutten gekleidete Männer, Frauen und Kinder. Jemanden mit dieser Aufmachung hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Die Frauen, auch die zwei kleinen Mädchen, die an den Händen ihrer Mütter geführt worden waren und mit leerem Blick in ein imaginäres Loch gestarrt hatten, hatten ihr Haar streng zurückgebunden und mit einer Art enganliegender Haube bedeckt, die Männer hatten kurz geschorenes Haar gehabt.
Mit einer Mischung aus Erstaunen, Angst und Vorsicht war Tresl abrupt stehen geblieben. „Was ist, Tresl?“, hatte ihr Großvater gefragt, weil er – in die andere Richtung schauend – die Gruppe noch nicht bemerkt hatte. Sie hatte sich nicht gerührt. Verwundert war der Großvater dem Blick seiner Enkelin gefolgt.
„Was wollt ihr denn hier?“, hatte er die Gruppe verwundert gefragt, nur um dann lachend hinzuzufügen: „Bisschen früh seid ihr dran für den Übergang, wir haben noch nicht geerntet, wir können euch noch nichts geben.“ Er hatte keine andere Erklärung gehabt, als dass es sich um Korrnr4 – fahrendes Volk, besitzlose Handwerker, Musiker, Reisende, und manchmal fand sich auch ein Dieb darunter, die jedes Jahr im späten Herbst durch das Grünenthal in den Süden, in wärmere Gefilde zogen – handelte. Doch Tresl hatte der Unsicherheit seiner Stimme entnommen, dass er nicht imstande gewesen war, die Fremden richtig einzuordnen. Wie hatte das sein können – ein Mann, der sonst immer alles gewusst hatte, selbst, dass in salzigem Wasser Riesenfische schwammen?
Einer der grau gekleideten Männer war lächelnd aus der Gruppe hervorgetreten und hatte seine Handflächen dargeboten, indem er die Hände mit abgewinkelten Armen seitlich bis Schulterhöhe anhoben hatte. Kurz zuerst gegen Himmel blickend, hatte er sich dann dem Großvater zugewendet, die kleine Tresl hatte er nicht beachtet. Doch diese hatte ihn genau beobachtet, schlaues Kind, das sie gewesen war, sie hatte damals verstanden, was der Mann mit dieser Geste veranschaulichen wollte, nämlich dass von ihm, dem gottesfürchtigen Mann, keine Gefahr ausgehen würde.
„Guter Mann, wir sind keine Korrnr“, hatte der Fremde mit dialektgefärbter Sprache gesagt. „Wir nennen uns die Geeinten Freien des Nordens und wir wollen nichts von euch, im Gegenteil! Wir sind gekommen, um euch etwas zu bringen, das Wertvollste, was es gibt auf dieser Welt. Wir bringen euch die Erleuchtung zum Weg des ewigen Lebens!“
Wie ein Blitz war es Tresl nach diesem Satz durch Mark und Bein gefahren. Den Inhalt hatte sie damals wohl noch nicht verstanden, aber des Mannes Stimme und die Art, wie er das, was er sagte, vorgetragen hatte, hatten für sie nichts demütig Gütiges ausgestrahlt. Für sie waren seine Worte getränkt mit etwas bis zum Tode Unerbittlichem. Panisch schreiend war sie zum Großvater gelaufen, um dessen Hand zu fassen. Sie hatte gespürt, dass seine Hand zitterte, und dennoch hatte er die ihre beschwichtigend gedrückt.
Viel Wasser ist seither den Grünenthalbach, der vom weit hinten im Thal liegenden Grünensee gespeist wurde und in das angrenzende Virgis Tal floss, geronnen. Tresl ist eine alte Frau geworden, das Tal ihrer Kindheit existierte nicht mehr. Die Männer der Gruppe hatten damals fast umgehend damit angefangen, ähnlich wie es die strengen Priester in den Kirchen und Klöstern taten, zu predigen und ihre Lehren zu verkünden.
Unermüdlich bläuten sie den Bewohnern des Tals Tugenden wie Armut, das Teilen von Hab und Gut, Demut, Keuschheit, unbegrenzte Nächstenliebe, vor allem aber bedingungslosen Glauben und Gehorsam Gott gegenüber, der nicht hinterfragt werden durfte, ein. Dabei hielten sie sich exakt an das geschriebene Wort der Heiligen Bibel. Die Bibel, das wahre Buch, das einzige Buch, alle anderen Bücher wurden als Gotteslästerung abgetan und vernichtet. Heilige wurden nicht verehrt, an Gott alleine richteten sie ihr Tun.
„Die Unterbelichteten“ hatte man sie am Anfang noch verächtlich genannt, in Anspielung auf die „Erleuchtung“, die stets im Mittelpunkt ihrer Reden stand. Verspottet hatte man sie. Doch mit den Jahren gewann GeFreNo immer mehr Anhänger. Es waren zuerst die Besitzlosen, Mägde oder Knechte, Menschen, denen es trotz harter Arbeit unmöglich war, ein Stück Land oder eine kleine Hütte ihr Eigen zu nennen, die als Erste übersprangen. Denn anders als die Priester in den Kirchen und Klöstern, die mit moralisch hoch erhobenem Zeigefinger vor allem ermahnten, selbst aber in geschützten Mauern in Saus und Braus hausten, lebten die Geeinten Freien des Nordens ihre Tugenden, vor allem ihre Armut, indem sie alles, was sie hatten, auch teilten. Sie schenkten Brot, kleideten sich in einfachen Kutten, häuften keine Habseligkeiten an und lebten selbst bescheiden.
Mit der Anzahl der Anhänger GeFreNos wuchs der Druck auf jene, die sich den vorgeschriebenen Tugenden der Gruppe nicht unterwerfen mochten, beispielsweise die vielen Bauern im Tal. Diese – so die Interpretation der GeFreNos – hatten mehr, als Gott es für sie eigentlich vorsah. Man hörte von Raubüberfällen und Morden – gerechtfertigt durch die angeblich mangelnde Gottesfürchtigkeit der Habenden.
Tresl wurde aus ihren Gedanken gerissen. Mittlerweile waren auch andere auf die Ermordete aufmerksam geworden. Eine junge Magd spuckte vor der Leiche, der Gottlosen, aus, nur um dann rasch rechtfertigend das Abbild des Distelfinks auf dem Inneren ihres Handgelenks zu zeigen, indem sie ihre Hand hob und an die Stirn führte, um das Abbild so für andere sichtbar zu machen. Die Magd wollte mit dieser Geste zeigen, dass sie zur Gruppe GeFreNos gehörte und für andere lediglich Verachtung übrighatte. Matthias wies sie mit sanften Worten halbherzig zurecht.
Aber genau Szenen wie diese bereiteten der alten Tresl Sorgen. „Es wird ernst“, dachte sie: „Sie fangen an, nicht nur sich selbst völlig willenlos dem Regelwerk von GeFreNo zu unterwerfen, sie verlangen diese Unterwerfung auch von anderen – und das mit Vehemenz, die bis zum Tod geht!“
1 Krapfen: Schmalzgebäck, Teigstücke, die ihn Fett frittiert werden
2 Das „Thal“ im „Grünenthal“ wird nach der alten, nicht mehr gebräuchlichen Schreibweise mit „h“ geschrieben
3 Römer, 14:10
4 Korrnr (auch Karrner, Landgeher oder Jenische) – von „Karrenzieher“: Familien aus sozial niedrigen Schichten, die mit ihren Karren durchs Land zogen und sich durch Hausieren und durch Handwerkstätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienten
2 In der Stadt der ewig Lernenden
„Blöder Trottel!“, murmelte Lumielle und strich sich eine Strähne ihres krausen, dunklen Haares aus dem Gesicht. Sie war gerade dabei, auf dem Boden kniend den Fußboden in der Bibliothek fertig zu schrubben, und machte das, ihrer Wut im Bauch entsprechend, mit ordentlicher Kraft.
„Alles Abfall und dreckig hier, selbst die Dienstbotin passt zum Hausherrn. Alles Müll, ganz besonders die Schriftstücke hier am Boden“, äffte sie Alluanen, einen der Zahlenkunde-Obergelehrten, nach, der diese abfälligen Bemerkungen über sie und den Haushalt, in dem sie lebte, fallen gelassen hatte. „Also, sowas von arrogant war der, der Depp5!“
„Ich bin nicht die Verärgerung. Ich bin die Kränkung“, unterbrach Lumielles Kränkung, eine ältere, hagere Frau, der jungen Frau Tätigkeit. Lumielle nickte ihr kurz zu, um ihr zu zeigen, dass sie sie ernst nahm. Kränkungen musste man immer ernst nehmen, sonst können sie unangenehm wachsen, ja, alles andere geradezu vergiften, das hatte sie schon mehr als einmal erleben müssen.
Lumielle nahm Gefühle anders wahr, als dies normale Menschen taten. Sie konnte ihre Gefühle und die Gefühle anderer in Form von Figuren sehen oder akustisch, meistens in Form von Stimmen aus Nebeln, vernehmen. Dabei hatten diese Figuren oft bizarre Stimmen – manchmal kräftig laut, manchmal leise und quietschend – oder skurrile Formen, wie soeben die Kränkung in Form einer alten, hageren Frau aufgetreten war. War ein Gefühl sehr stark, zeigte es sich oft über Wochen oder sogar Monate. Nicht selten kam es vor, dass es im Laufe der Zeit seine Form änderte, kleiner wurde oder sich mächtig aufplusterte oder eines Tages ganz verschwunden war.
Bei den Eleven, der Stadt der ewig Lernenden, wie sie genannt wurde und wo Lumielle lebte, hatte sie jedoch wenig Gelegenheit ihre Gabe auszuleben. Eleven schienen gegen ihre Fähigkeit weitgehend immun zu sein.
„Nun ja, es stimmt ja wirklich, ein wenig mehr könntest du schon auf dein Äußeres achten, so wie es junge Frauen in deinem Alter eben tun. Sieh nur, du bist ganz verstaubt und schmutzig. Wenn ich ehrlich bin, und warum sollte ich das nicht sein, könntest du wirklich eine Waschung in den Badehallen vertragen. Lavendel könnte ich empfehlen, übrigens der Lieblingsduft des Schmieds, den du so magst“, hauchte die männliche, aber dennoch hohe Stimme, die Lumielle begleitete, seit sie sich erinnern konnte, spöttisch. Es war ihr bislang nicht gelungen, die Stimme einer Figur zuzuordnen. Die junge Frau erhob sich seufzend, um sich ihre großgewachsene, schlanke Gestalt in einer der Scheiben der hohen, geöffneten Fenster in der Bibliothek zu betrachten, und musste zugeben, dass sie tatsächlich etwas verwahrlost aussah. Die sonst helle, fast weiße Haut ihrer langen, sehnigen Arme war, ebenso wie ihre Kleidung, schmutzig, die zarte Haut ihres Gesichtes durch die Anstrengung und das Ärgernis des eben Erlebten arg gerötet, so, wie sie sich immer rötete, wenn sie sich anstrengte oder ärgerte. Das Haarband hatte sich gelöst, weshalb ihr Haar in alle Richtungen wild abstand.
„Ich arbeite den ganzen Tag hart, wie du weißt, und das macht eben schmutzig“, antwortete sie der Stimme. „Pinkowsky hat seine Bücher seit Jahrzehnten nicht mehr entstaubt und systematisch geordnet. Ich möchte seine Arbeiten so präsentieren, dass sie für andere verwertbar sind, und dafür sorgen, dass er endlich die Anerkennung bekommt, die er verdient hat“, fügte sie rechtfertigend hinzu und vermied es tunlichst, auf die freche Bemerkung in Bezug auf den Lavendelduft und den benachbarten Schmied einzugehen.
„Jetzt kennen wir uns schon so vielen Jahren und du bist noch immer nicht ehrlich zu mir. Dir geht es nicht primär um deinen Brotgeber Pinkowsky, obwohl ich weiß, du magst ihn. Es geht dir doch vor allem um dich, du möchtest dich bewähren. Du als stinknormaler Mensch möchtest dir einen Platz in der Stadt der Eleven erarbeiten, und Pinkowsky ist dein Schlüssel dazu!“, säuselte es und etwas blies ihre sanft kühle Luft ins Gesicht.
Die Stimme, bzw. das, was sich dahinter verbarg, hatte recht, Lumielle wusste das. Sie setzte sich mitten unter die ungeordneten Bücher, Schriftrollen und losen Blätter und schaute sich um. „Ah, ein Platz unter den Eleven, den ewig Lernenden, das wäre doch was“, seufzte ihre Sehnsucht, die sich ihr als junge Frau, die theatralisch die Augen gen Himmel hob, neben sie gesetzt hatte. „Der ist doch für sie nicht erreichbar. Vor allem, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, was soeben passiert ist, vor allem aber: Warum sollten sich die Eleven eine Menschin aufhalsen, von der nicht einmal sie sagen kann, woher sie kommt?“, widersprach ihr Realitätssinn, ein älterer Herr mit Backenbart.
Die Worte ihres Realitätssinns ließen sie die Zeit bei den Eleven noch einmal gedanklich Revue passieren, und sie fing dabei mit dem soeben Erlebten an: Eine Gruppe Obergelehrter hatte Pinkowsky und ihr einen Besuch abgestattet. Pinkowsky war ein alter Mann, ein Mathematiker, bei dem Lumielle lebte. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Regale zu reinigen und die Bücher und Schriftrollen, in die er Tag und Nacht seine Nase steckte, neu zu sortieren. Als sie gerade dabei gewesen war, die letzten Schriftrollen und Bücher eines Themengebietes, nämlich die „3-dimensionale Mannigfaltigkeit“, auf einen Stapel abzulegen, um sie daraufhin in ein sauberes Regal zu legen, war die Gruppe der Zahlenkunde-Obergelehrten eingetroffen – unangekündigt. Pinkowsky hatte gerade überlegt, ob er die Unterlagen oft oder weniger oft brauchte, dementsprechend hätten sie weiter unten oder weiter oben in die enorm hohen Regale gelegt werden sollen, schließlich war er alt, selbst für einen Eleven, und konnte nicht mehr gut auf hohe Leitern steigen. Es herrschte große Unordnung, weil Pinkowsky der Meinung gewesen war, er bräuchte alles immer greifbar, und er sich nicht entscheiden mochte.
Es galt als große Ehre, von Obergelehrten aufgesucht zu werden, das wusste Lumielle, die seit mehreren Monaten in der weit von jeglichen Menschenansammlungen liegenden Stadt der Eleven am dicht bewaldeten Hügel lebte, inzwischen. Man hatte ihr erzählt, dass die elevsche Erkenntnis – ein immerwährender Weg, auf dem man nie ein Ziel erreicht – auf drei Grundpfeilern stand. Neben dem Zahlenkunde-Pfeiler gab es den Sprach-Pfeiler, der unter anderem die Zweige Literatur und Philosophie beinhaltete, sowie den Figural-Pfeiler mit dem Teilgebiet der Architektur als größten Zweig, dessen Erkenntnisse sich in den wunderschönen, kunstvollen Bauten der Stadt aus Holz und Stein widerspiegelten. Jeder einzelne der drei Grundpfeiler war in verschiedene Teilbereiche aufgegliedert, jedem Teilbereich standen Obergelehrte vor. Es kam jedoch vor, dass Teilbereiche, konnten sie nicht belegt werden und nichts zur allgemeinen Erkenntnis beitragen, aufgelöst oder nicht mehr weiterverfolgt wurden. So einem Teilbereich war einst Lumielles Hausherr, Pinkowsky, als Obergelehrter vorgestanden. Er forschte an den mathematischen Eigenschaften von Figuren und galt einst als eines der größten Talente seiner Zeit, konnte den anderen aber nicht vermitteln, was genau er wirklich tat. Der Alte galt als Eigenbrötler, den die Außenwelt kaum interessierte, insbesondere, seit seine Frau verstorben war. Tag für Tag saß er über seinen Schriften, las, rechnete, überlegte, fluchte, lachte, runzelte die Stirn, je nachdem, was seine Arbeit gerade mit sich brachte.
Ein Obergelehrter eines mathematischen Zweiges, Alluanen, ein grantiger Mann, hatte seinen Unmut gegenüber Pinkowkys Lehren und ihre Anwesenheit als Menschin in der Elevenstadt mit der Aussage kundgetan, die Lumielle so sehr gekränkt hatte: „Alles dreckig hier …“
„Das wird schon. Sie muss doch zuerst reinigen, bevor sie einordnet. Lumielle wird ihre Arbeit gut machen, davon bin ich überzeugt. Manches ist eben komplexer, als es scheint, du als Zahlenkundiger müsstest das wissen“, hatte Gibral, der Oberste der Zahlenkundigen, angemerkt und Lumielle gutmeinend zugezwinkert.
Gibral hatte ihr schon des Öfteren geholfen. Er war bei den Menschen aufgewachsen, so hatten es ihr die Eleven im Heilhaus erzählt. Er war es auch, der sich um sie gekümmert hatte, als sie mehr tot als lebendig dort gelegen war. Ganz klar war ihr nicht, warum ihr der Halbelev mit der eleganten Hakennase immer unter die Arme gegriffen hatte. „Vielleicht“, so dachte sie sich: „Vielleicht denkt er, menschliches Blut verpflichtet?“
Gibral hatte sie gefragt, ob sie bei Pinkowsky leben wollte. Der Alte hatte sich in den letzten Jahren immer mehr in sein großes, zunehmend herunterkommendes Haus, das in einem Wäldchen nah am rauschenden Bach stand, zurückgezogen und lebte dort unter fragwürdigen hygienischen Umständen. Unter den Eleven, die auf Sauberkeit und Stil sehr viel Wert legten, galt das als abstoßend. Es war klar, dass der alte Mann Hilfe gebraucht hatte.
Hatte sie zuerst noch gezögert, Gibrals Vorschlag, sich um den Alten zu kümmern, anzunehmen, war ihr im Laufe der Zeit bewusst geworden, wie sehr sie das Zusammensein mit dem uralten Eleven genoss. Außenstehenden mag das seltsame Gespann eigenartig vorgekommen sein, aber Lumielle waren die Vorurteile der anderen Bewohner einerlei. Sie war fleißig, half dem Alten, wo es ging, und sie tat es gerne.
Offenbar hatte ihr Pinkowsky das gegeben, was sie am dringendsten gebraucht hatte: Zeit und Beschäftigung. Aber vor allem: Er hatte nie Fragen gestellt, dabei wären so viele Fragen zu stellen gewesen, vor allem jene, wer sie war, woher sie kam und wie sie überhaupt in die Stadt, die strenger Bewachung unterlag, gelangt war.
Körperlich verwundet und ohne Bewusstsein hatte man sie vor drei Sommern mitten am Hauptplatz am Brunnen gefunden und konnte sich nicht erklären, und Lumielle konnte es auch nicht, wie sie dorthin gekommen war. Lumielles Auftauchen in der Elevenstadt lag nach wie vor in der Ratlosigkeit Dunkel.
Sie wusste lediglich, dass sie auf hartem Stein, der Körper unendlich schwer und nass, aufgewacht war und benommen ihren Kopf gehoben und die Augen kurz geöffnet hatte. Sie sah eine Frau, eine Elevin, die ängstlich, aber wild entschlossen, einen Stock aus Holz gegen sie gerichtet hatte, so, als ob von der am Boden Liegenden Gefahr ausginge. Dann hatte sie noch den Soldaten, der eilig herangelaufen gekommen war, und den lauten Ton eines Horns wahrgenommen, bevor ihr Kopf auf den Stein zurückgeprallt war und sie wieder das Bewusstsein verloren hatte.
Aufgewacht war sie in einem hellen Raum in einem Haus mit hohen, sonnendurchfluteten Zimmern, das Heilhaus, wie sich später herausgestellt hatte. Dazumal war sie nicht fähig gewesen, zu sprechen. Sie hatte damals keine Gefühlsregung zulassen können. Wochenlang war sie dagelegen und hatte lediglich in die Luft gestarrt.
Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, konnte sie nur sagen, dass ihr Kopf so voll und gleichzeitig doch völlig leer gewesen war. Es schien, als ob kaum Kraft, kaum Wille fürs Leben da gewesen wäre. Das Wenige, was sie untertags an Kraft hatte sammeln können, war ihr in der Nacht wieder geraubt worden. Alpträume hatten sie in der Nacht laut schreien lassen, bis sie das Bewusstsein als Retterin in allerhöchster Not wieder in die kalte Nacht gespuckt hatte. Schreckliche Träume waren das gewesen: Sie war nackt auf eine Art Kreuz gebunden. Sie sah sich, wie sie sich ihr selbst näherte, ein Messer in der Hand. Eine derbe Hand stach zu, kaltes Wasser wurde über sie gegossen. Sobald sie die Augen geöffnet hatte, war die Wehrlosigkeit wie Nebel in silbernem Licht zerflossen, doch die Angst vor ihr war bis heute an Lumielles Seite geblieben.
Gibral hatte oft bei ihr am Kopfende gesessen und ihr sanfte Geschichten über die Stadt erzählt. Und tatsächlich – nach ein paar Wochen hatte der Schrecken der Angstträume langsam nachgelassen. Die Gebeutelte hatte sich erholt, kleine, zarte Annäherungen waren es zuerst gewesen – ein „Danke“, wenn ihr jemand Suppe brachte, ein angedeutetes Lächeln.
Und dann, eines Tages, war er vor ihr gestanden, ihr eigener Überlebenstrieb. Er war ihr als alter, zäher Mann mit wettergegerbter, braungebrannter Haut, unrasiert, mit weißem, strubbeligem Haar erschienen. Er hatte so ausgesehen, als ob er im Laufe seines Lebens die höchsten Berge bestiegen hätte. Grantig war er gewesen und hatte nicht lange gefackelt. Ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben, hatte er sie energisch an den Schultern gepackt und sie lange kräftig durchgeschüttelt. Seine sehnigen Hände waren dabei angespannt, das Gesicht war vor Wut verzerrt. Schließlich hatte er von ihr abgelassen und war wortlos verschwunden.
Daraufhin war Lumielle aufgestanden und hatte sich selbst angezogen. Eine der jüngeren Elevinnen, die ihr gerade etwas zum Trinken bringen hatte wollen, hatte einen Schrei getan, als sie zur Tür hereingekommen war und gesehen hatte, wie Lumielle sich gemüht hatte, ihr krauses Haar mit einem Kamm zu bändigen.
Von da an war es Lumielle mit jedem Tag ein kleines Stück besser gegangen. Doch mit ihrer Gesundung waren auch die Befragungen in Bezug auf ihre Herkunft intensiver geworden. Selbstverständlich hatte man wissen wollen, woher sie kam und warum sie hier war. Sie hatte freundlichen, weniger freundlichen, verärgerten, überheblichen Eleven gegenübergesessen, viele davon mit skeptischen, ungläubigen Gesichtern oder mit hämischem Grinsen, manche mit echtem, manche mit unehrlichem Verständnis für ihre Situation. Fragen wie: „Woher kommst du?“, „Wie bist du hergekommen?“, „Bist du von jemandem beauftragt worden?“, „Woher kommen deine Verletzungen?“ waren nicht einmal, sondern Hunderte Male gestellt worden. Doch sooft ihr diese Fragen auch gestellt worden waren, auf keine hatte Lumielle eine Antwort gehabt.
5 Depp: einfältiger, ungeschickter, wenig intelligenter Mensch
3 Homöomorph
Man hatte sie daraufhin in das einfache Haus einer alten Elevin namens Gertrude, das etwas abgelegen von den anderen, kunstvoll gestalteten Häusern am Fuße des bewaldeten Hügels lag, auf dem die Elevenstadt erbaut worden war, gebracht.
Gertrude wurde von den Einwohnern der Stadt „Trudl“ genannt. Ihren Namen so abschätzig zu verunglimpfen hatte einen Grund: Trudl kümmerte sich um jene, die bei den Eleven kein großes Ansehen genossen. Um Menschen wie Lumielle – oder noch schlimmer, um sogenannte Bälger, das war der Ausdruck für unerwünschte Kinder, meistens handelte es sich dabei um Halbeleven. Wesen, die aus kürzeren oder längeren Liaisonen mit Menschen, den als gefühlskalt geltenden Nymphen oder, am schlimmsten, mit verführerischen, zügellosen Faunen hervorgegangen sind. Selbst unter den Eleven, die sonst nicht für Tratsch und ungeprüftes Gerede anfällig waren, rankten sich allerlei wilde Geschichten um letztere.
„Einmal musste ich, äh, habe ich einen großgezogen, einen Faun. Einen männlichen Faun, denn alle Faune sind männlich, ein paar Jahre hat er hier gelebt, bevor er sich in den Wald verzogen hat …“, hatte Trudl Lumielle einmal mit zusammengepressten Lippen erzählt. Offensichtlich war die Erinnerung an den Faun nicht gerade positiv besetzt gewesen. Lumielle, deren Fantasie über die Fortpflanzung der angeblich ausschließlich männlichen Faune gerade bunte Blüten getrieben hatte, wurde durch Trudls harte Worte über Faune aus ihrem Spiel mit der Fantasie gerissen. „… sehr klug, den Eleven um nichts nachstehend, obwohl das viele in der Stadt nicht wahrhaben wollen. Obwohl - verschlagen, das sind sie, nur einem verpflichtet, der Lust, der körperlichen und der materiellen. Ich kann mich noch an seine hinterhältigen Augen erinnern …“, hatte Trudl sich angewidert geschüttelt und war dann daran gegangen, ihren neuesten Schützling, eine Eleven-Nymphe namens Anastaxia, zu versorgen. Anastaxias Mutter oder Vater, so genau wusste man das nicht, war nymphischen Ursprungs, und das hinterließ Spuren in Anastaxias Wesen und Aussehen. Das Mädchen war kleinwüchsig, hatte ein schelmisches Aussehen, ungewöhnlich große, dunkelgrüne Augen mit geschlitzten Pupillen und langes, braunrotes, wild gelocktes Haar. Ihre kleinen Zähnchen waren scharf zugespitzt. So wild wie ihr Haar war auch ihr Charakter. Schrift und Zahlen konnte man ihr nur schwer vermitteln. Nachdem sich ihre Lehrer und Lehrerinnen nach einiger Zeit geweigert hatten, sie zu unterrichten, wurde sie von Trudl selbst mit viel Geduld in Schreiben und Rechnen unterwiesen – mit mäßigem Erfolg. Anastaxia liebte das Wasser und Lumielle ging oft mit ihr zum Plantschen an den abgelegenen Teich im alten Wald, sie fühlte sich dem Halbnymphenmädchen sehr verbunden, wusste sie doch, dass auch Anastaxia sich in der Stadt fremd fühlte.
Mehr als ein Jahr hatte Lumielle bei Trudl verbracht und dabei das Nötigste, das man wissen muss, um unter den Eleven bestehen zu können, gelernt. Ihr wurde beigebracht, wie man elevische Speisen zubereitete, wie frisches Gemüse haltbar gemacht wurde, indem man es in großen Tontöpfen fermentierte, wie man Obst und Pilze trocknete oder Fleisch einsalzte. Außerdem lernte sie die Zubereitung duftender Seifen oder Schmieren und Salben aus verschiedenen Kräutern. Lumielle hatte schnell gelernt und sich geschickt angestellt – und dennoch: Glücklich war sie bei Trudl nicht gewesen. Zu sehr hatte diese Lumielle stets zu verstehen gegeben, dass sie als Mensch nicht zu den Eleven gehörte und auch nie dazugehören würde.
Gibral musste ihr Unglück gespürt haben, und obgleich sich weder Gibral noch Lumielle sicher waren, ob ein Leben bei Pinkowsky für Lumielle vorteilhafter wäre, hatte sie sein Angebot, für den alten, schrulligen Mann zu sorgen, angenommen. Und bereits nach ein paar Tagen hatte sie gewusst, dass diese Umgebung für sie die richtige war.
Pinkowsky hatte nie etwas von Lumielle verlangt, keine Gespräche, keine gespielten Gefühle. Und sie hatte nie etwas von ihm verlangt. Oft hatten sie ganze Tage schweigend nebeneinander verbracht, er selbst beim Essen vertieft in seine Schriften, sie arbeitend in der Küche oder in seinen Gemächern, versunken in der wohltuenden Leere ihrer Tage. An guten Tagen hatte sich der alte Kauz manchmal ein gut gemeintes „Schmeckt gut“ abgerungen, Lumielle hatte aber immer gewusst, dass es ihn Überwindung gekostet haben musste.
Sie hatte diese kleinen Bemühungen Pinkowskys als Geschenk mit Dankbarkeit entgegengenommen. Und eines Tages war es nicht mehr die Dankbarkeit gewesen, die neben ihr bei Tisch saß, eines Tages hatte die Zuneigung in Form eines kleinen Kindes neben ihr gesessen. Und sie hatte das Kleine gefüttert, indem sie besonders viel Zeit und Mühe verwendet hatte, um den Haushalt zu führen. Stets hatte sie das frischeste Gemüse und die gereiftesten Früchte gekauft und die Räume besonders gut sauber gehalten. Und als Pinkowsky eines Tages, den langen Bart gestutzt, frisch gewaschen und in frischen Kleidern, vor ihr am Tisch gesessen hatte, wusste sie, dass auch sie in ihm etwas bewirkt haben musste.
Diese kleinen, auf echter Zuneigung basierenden Gesten des gegenseitigen Gebens und Nehmens hatten sie auf befremdliche Art befreit. Ihre Alpträume hatten sich ausgedünnt, ihre Lust, nach draußen zu gehen, war gewachsen, war ihr doch stets ein wohliger Platz in Pinkowskys Haus sicher gewesen. „Wie ein Vogel, der ein Nest hat, an dem er sich immer wieder einfindet“, hatte „die Stimme“ manchmal wohlwollend angemerkt.
In Pinkowskys Haus befand sich auch eine große Bibliothek, in der der Hausherr auch arbeitete. Keine finstere, düstere Bibliothek, sondern eine sonnendurchflutete, mit hohen Decken, die mit kunstvoll geschnitzten und bemalten Balken aus Holz gestützt wurden. Noch heute konnte Lumielle den Raum nicht betreten, ohne dass sich die Ehrfurcht ob der Schönheit an ihre Seite stellte. Die Böden waren mit geometrisch angelegten Fliesen in Weiß und Grün gehaltenen Farbtönen ausgestattet. Auf den in den holzvertäfelten Wänden integrierten Holzbänken lagen vergilbte Polster, denen man die einstige Schönheit noch ansah, doch die meisten davon waren mit Pinkowskys Papieren übersät. Große, bunte Butzenscheiben zierten hohe, schmale Fenster. Die oberen Fensterläden ließen sich über Hebel öffnen, sodass der so entstandene Luftzug stets frische Luft vom nahegelegenen Wald in die Räume blies. Waren die Fenster geöffnet, konnte man den unweit fließenden Bach und die Hammerschläge des Schmieds (der, der angeblich Lavendelduft liebte und den Lumielle sehr mochte) hören. Das Grün der Butzenscheiben verschmolz dann mit dem üppigen Grün der großen Bäume draußen. Gegen Abend flutete die untergehende Sonne den großen Saal, der dann nur noch aus Farben bestand. Zu dieser Bei Sonnenuntergang mochte Lumielle die Bibliothek am liebsten und hatte dann oft das Gefühl, sie bade in Farben.
Eine rundum satte Stimmung überkam sie dann an diesen Abenden – in Licht getauchte Zufriedenheit. An diesen lauen Sommertagen saß sie nach getaner Arbeit noch oft auf dem wundbaren Balkon aus dunklem Holz und hörte einfach nur dem Rauschen des den bewaldeten Hügel hinunterlaufenden Baches zu – ohne zu denken, ohne zu reden. Der Wind strich sanft über ihre Wangen. „Fühlt sich so Glück an?“, fragte sie „die Stimme“ dann. „Ich glaube schon“, antwortete man ihr um dann wieder gemeinsam in das tiefe Schweigen zu gleiten. Der abendliche Südwind trug die Stimme schlussendlich wie jeden Abend mit sich fort.
Und dann war der eine Abend gekommen, an dem Lumielle und Pinkowsky ihr Abendmahl fast beendet hatten und sich der Alte plötzlich räuspernd zu einer Bitte durchgerungen hatte. Er hatte Lumielle vorgeschlagen, ihm zu helfen, das in der Bibliothek vorherrschende Chaos zu beseitigen. In den hohen Holzregalen hatten dazumal überall alte Schriften von Gelehrten, die sich mit vollgeschriebenen Schriftstücken von Pinkowsky vermischt hatten, unsystematisch herumgelegen. Einige Blätter hatten lose am Boden gelegen, die unteren Regale waren vollgestopft gewesen, die oberen waren praktisch leer. Das Chaos in dieser Bibliothek war selbst Pinkowsky zu viel geworden, den man manchmal verzweifelt vor sich hin fluchen gehört hatte, wenn ein Schriftstück, das er dringend gebraucht hätte, sich wieder einmal nicht auffinden hatte lassen.
Lumielle, die sich nach einer Aufgabe jenseits von Kochen und Putzen gesehnt hatte, hatte ohne zu zögern eingewilligt, doch weder ihr noch ihm waren in dieser Anfangsphase die Konsequenzen und die Dauer des Projektes bewusst gewesen. Denn um ordnen zu können, war es nötig, Lumielle in einem ersten Schritt in Pinkowskys Arbeit einzuweisen, sodass sie sich einen Überblick über seine Arbeiten verschaffen konnte, schließlich musste sie jedes Schriftstück, bevor sie es säubern und nach einem bestimmten System in die Regale einräumen und katalogisieren konnte, zuerst verstehen. Und genau diese Notwendigkeit des Verstehens hatte eine weitere Tür zwischen den beiden geöffnet. Plötzlich hatten sie Gesprächsstoff gehabt. Von Interesse getrieben waren die Gespräche bald über das notwendige Grundverständnis des Einordnens hinausgegangen. Pinkowsky hatte sich dabei als geduldiger Lehrer und Lumielle sich als eifrige Schülerin erwiesen. Ihr war gewahr gewesen, dass sie mehr Mühe damit hatte, etwas zu behalten, als die Eleven, die schon seit frühen Kindertagen an das Lernen gewöhnt waren. Des Lesens und Schreibens zwar mächtig, hatte es an erweitertem Grundwissen in Bezug auf die Mathematik über die Grundrechnungsarten hinaus weit gefehlt.
Jedenfalls waren ab dem Zeitpunkt der Aufnahme der Arbeit die Abendessen keineswegs mehr so ruhig, wie sie einst gewesen waren. Stille und Langeweile waren angeregten Gesprächen über Formen und Formeln, über verschiedenste Arten von Berechnungen, über Sinnhaftigkeit mathematischer Verfahren und vielem mehr gewichen.
Der Pinkowsky’sche Unterricht hatte sich bald nicht mehr nur auf das Abendessen und auf einfache Themengebiete erstreckt, sondern hatte bereits am Vormittag begonnen, nachdem Lumielle die nötigste Arbeit verrichtet hatte: „Werter Herr Pinkowsky, was bedeutet hämäo…, homeo…, homomorph?“, hatte sie beispielsweise gefragt, während sie ratlos auf ein beschriebenes Blatt Papier gestarrt hatte. „Du meinst homöomorph? Das ist nicht so einfach zu erklären, dazu musst du vieles wissen, was du jetzt noch nicht weißt. Du musst wissen, was ‚Mengen‘ und ‚Schnittmengen‘ sind, was man unter ‚Abbildungen‘ oder ‚Vektorräumen‘ versteht.“ Und Pinkowsky hatte sie ihr beschrieben, Mengen und Schnittmengen, Vektorräume, Funktionen. Zuerst hatte Lumielle gedacht, sie könne sich das alles nie merken, aber Neugierde und Hartnäckigkeit und Talent – ein kleines, feingliedriges Mädchen mit zarten Händen – hatten sich zu ihr gesellt und waren ihr nicht mehr von der Seite gewichen. Und ganz langsam hatten sich Fortschritte eingestellt. Die ihr beigebrachten mathematischen Zeichen und Berechnungen waren ihr immer leichter von der Hand gegangen. Zwar hatte sie bis zu jenem Tag mit dem unerfreulichen Zusammentreffen mit den Obergelehrten noch immer nicht verstanden, was homöomorph genau bedeutet, aber sie war auf dem besten Weg dazu.
„Die Stimme“ hatte sich oft bitterlich bei ihr beschwert: „Warum machst du das?“, hatte sie dann gefragt, „Wozu musst du so viel lernen, wen interessiert, was hämomomorph bedeutet?“, fragte sie dann genervt, wenn Lumielle begeistert von ihrem neu erlernten Fachwissen erzählt hatte. „Es heißt homöomorph und es ist für mich wichtig. Es erklärt die stetig …“, hatte sie zu erklären versucht, doch die Stimme hatte sofort Einspruch erhoben, indem sie widersprach: „Hör auf! Da wird einem ja stetig übel. Ich steige jetzt lieber stetig in den Himmel, du Langweilerin, dann kannst du mir nicht stetig auf die Nerven gehen“, hatte sie erbost ausgerufen und hatte sich vom Wind wegtragen lassen.
Und eben, mitten in dieser für sie so bereichernden Arbeit, in diesem Prozess des Lernens, des Entstaubens, der Systematisierung, in diesem Bemühen, ein System zu finden, das Ordnung in das Chaos der Bibliothek bringen sollte – und auch irgendwie in ihr eigenes Leben –, hatte die Gruppe der Zahlenkunde-Obergelehrten die gemeinsame Eintracht zwischen Pinkowsky und Lumielle empfindlich gestört.
„Alles Abfall und dreckig hier, selbst die Dienstbotin, …“
Nachdem sich Lumielle, immer noch mitten in der Unordnung in der Bibliothek sitzend, die letzten Jahre bei Pinkowsky in Erinnerung gerufen hatte – was nicht schwer war, andere Erinnerungen hatte sie ja nicht –, erhob sie sich energisch. Ihr Stolz half ihr dabei, indem er ihr stützend auf den unteren Rücken griff, worauf sich ihr Körper straffte. Sie stand auf, um nach Pinkowsky zu sehen. Er saß mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl im hinteren Teil der Bibliothek. Der einst so gefeierte Zahlenkundler saß nun gebrochen an seinem Tisch und starrte ins Leere, und Lumielle konnte weder für ihn noch für sich selbst etwas tun.
4 Die Entblößung
Lumielle nahm sich fest vor, am nächsten Tag zu Gibral, dem Obersten der Zahlenkundigen, zu gehen, um sich für die Unordnung zu entschuldigen. Sie hatte Angst, aufgrund des Vorfalls die Elevenstadt verlassen zu müssen. Leider behielt ihre Angst diesmal recht (worauf sie Lumielle die Zunge zeigte). Am späteren Nachmittag – sie war gerade dabei, für Pinkowsky und sich Suppe und Brennnesseltee zuzubereiten – klopfte es an der Tür, und ein Bote erschien. Er bat Lumielle mitzukommen.
„So muss sich eine Kuh auf dem Weg zur Schlachtbank fühlen“, sagte sie. „Sei nicht dumm, du bist erstens keine Kuh und wirst zweitens nicht umgebracht werden. Hoffe ich jedenfalls!“, meinte die Stimme, die Lumielle etwas aufheitern wollte.
Zu ihrer Überraschung wurde sie wieder in das mit hellen Steinfliesen ausgestattete Heilhaus geführt. In einem größeren Raum, der mit Sitzmöbeln aus hellem Holz, hohen Fenstern mit schweren Vorhängen ausgestattet war, saß Gibral auf einem Stuhl.
„Ah, Lumielle. Schön, dich zu sehen. Darf ich dir den Werten Herren Adorno vorstellen?“ Erst jetzt bemerkte Lumielle einen alten Eleven, der, gebeugt auf einen Stock gestützt, neben einem der Regale stand und die dort stehenden Bücher begutachtete. Sein langer, dunkelgrüner Samtmantel schliff an der Vorderseite am Boden über die Fliesen, wenn er sich bewegte. Uralt musste er sein, viel älter noch als Pinkowsky.
Die Angesprochene verbeugte sich, so wie es ihr Trudl beigebracht hatte: Der hierarchisch unterhalb Stehende hat sich vor dem hierarchisch oberhalb Stehenden zuerst zu verbeugen, die Jungen zuerst vor den Alten. Der Alte sah sie aus furchigem Gesicht ernst an, sagte aber nichts.
„Lumielle, so haben wir sie genannt – abgeleitet vom Wort ‚Licht‘“, erklärte Gibral dem Alten: „Weil jeder bereits die Hoffnung aufgegeben hatte, sie könne jemals wieder aus ihrem tiefen Loch des Schmerzes herauskommen, doch sie schaffte es, ihr Licht zu finden und sich wieder zu erheben!“
Der Alte nickte, hörte aber nicht auf, Lumielle eingehend zu betrachten, schließlich sagte er: „Dem Körper scheint nichts zu fehlen, ihre Augen sind wach, ihre Haut ist rosig.“ „Es ist nicht der Körper, es ist der Geist, der uns Sorgen bereitet. Sie sagt, sie könne sich an nichts mehr erinnern, möglicherweise kannst du – der, der die Wahrheit in anderen findet – ihr helfen“, ersuchte Gibral den Alten, um dann fortzufahren: „Es wäre in ihrem und in unserem Sinne. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, wie wir mit ihr umgehen sollen. Manche glauben, sie könnte eine Spionin oder sonst etwas sein, vor allem auch deshalb, weil wir nicht genau wissen, wie sie hierher, mitten in die Stadt, kommen konnte, ohne den Wachen aufgefallen zu sein.“
Der Alte nickte neuerlich, ohne den Blick von Lumielle abzuwenden. Das Unbehagen stellte sich neben sie und wurde zunehmend größer. „Sie reden über dich wie über ein Ding, nicht wie über einen Menschen“, raunte es Lumielle das zu, was dieser ohnehin schon klar war. „Ich will in Ruhe gelassen werden. Für alle Zeiten möchte ich bei Pinkowsky bleiben“, raunzte die gestörte Gemütlichkeit. Lumielle schüttelte beide ihrer Figuren ab.
Gibral wandte sich schließlich doch Lumielle direkt zu: „Vertraust du mir?“, fragte er und schaute sie dabei ernst an. „Vorsicht!“, rief die Angst, rot aufgebläht: „Was, wenn er dir schaden möchte?“ Lumielle blickte Gibral an. „Bislang hat Gibral dir immer geholfen. Du weißt, dass er oft an deinem Bett gesessen hat. Du stehst in seiner Schuld, schließlich haben die Bewohner der Stadt das Recht, zu wissen, woher du kommst und wer du bist. Und auch für dich ist es Zeit, mehr über dich zu erfahren. Du kannst ihm vertrauen!“, legte ihr die eigene Intelligenz nahe, meinte mit „ihm“ aber nicht Gibral, sondern Lumielles Selbstschutz, den sie, als sie sich umdrehte, als großen, kräftigen jungen Mann hinter sich stehen sah. „Ich lasse nicht zu, dass du dir selbst schadest! Nicht mehr!“, sagte er zu ihr mit fester Stimme. Lumielle wollte eigentlich wissen, was ihr Selbstschutz mit „nicht mehr“ gemeint haben könnte, doch als sie bemerkte, dass Adorno sie mit scharfen, zusammengekniffenen Augen ansah, so, als ob er direkt in ihr Inneres sehen wollte, nickte sie Gibral zu und gab somit ihr Einverständnis.
Der Alte hieß sie auf einen Stuhl zu setzen und nahm schwerfällig ihr gegenüber Platz. Mühsam holte er aus einem seiner zahlreichen Taschen eine Art Pendel mit einem Anhänger aus schwarzem Metall, in den ein heller Stein, ähnlich dem von milchigem Glas, eingesetzt worden war, hervor und hielt ihn knapp vor ihr Gesicht. „Folge ihm mit den Augen“, befahl er ihr, und sie tat, wie ihr geheißen. Fremde Worte in tiefer Stimme drangen an ihr Ohr. Und gerade, als Lumielles Misstrauen: „Der spinnt doch, der Alte!“, schrie, fiel Lumielle in eine Finsternis, und die Worte Adornos rückten in weite Ferne.
Mit einem Mal umschloss sie kaltes, dunkles Wasser. Gurgeln. Luftblasen. Die Arme eines anderen Körpers, eines kalten, kräftigen Körpers, eines Körpers mit glatter Haut, viel glatter als die Haut von Menschen oder Eleven, hatten sie unter den Armbeugen gefasst und zogen sie mit sich. Sie konnte nichts sehen, aber es mussten mehr als zwei Arme sein.
Dann, ein kaum wahrnehmbarer Lichteinfall von oben, der langsam intensiver wurde. Langes Haar, das durchs Wasser glitt und sich Schwimmbewegungen und den dadurch entstandenen Strudeln im Wasser anpasste. Lumielle erkannte Hände, deren Finger mit Schwimmhäuten verbunden waren und bläulich schimmernde, schuppige Haut. Der Lichtstrahl wurde kräftiger, das Dunkel des Wassers wandelte sich in helleres Blaugrau. Lumielle hob ihre Hand und sah feine Fäden ihres eigenen Blutes, die sich im Wasser langsam auflösten, bevor sie weiter nach oben gezogen wurde. Schon bald würden sie die Wasseroberfläche erreicht haben. Und dann plötzlich - ein Gesicht, dem eines Menschen ähnlich, aber mit Augen eines Salamanders, rotes, langes Haar schwebte darum herum. Es verzerrte sich zu einem Lächeln, der Mund gab dabei spitze Zähne preis, und Lumielles Herz hüpfte vor Erleichterung. Sie kannte das Wesen.
In ihren Erinnerungen erreichte sie die Wasseroberfläche nicht, denn mit einem Male durchdrang sie kaltes Licht, silbernes, kaltes Licht, das sie nach oben zog. Sie war nicht mehr im Wasser, sie flog körperlos über einen Berggipfel, ein Wesen, das sich nicht zeigen mochte, an ihrer Seite und … plötzlich fiel sie in eine tiefe Leere.
Das Orange der untergehenden Sonne, die den Besprechungsraum der Heiler dominierte, durchbrach die schwarze Leere ihrer Erinnerungen, und ihr wurde plötzlich wieder gewahr, wo sie sich befand. Ihr gegenüber saß immer noch Adorno, daneben Gibral, die Stirn in besorgte Falten gelegt, den Körper angespannt, so, als wäre er jederzeit bereit, ihr mit einem Sprung Hilfe zukommen zu lassen. Adorno ließ das Pendel langsam sinken.
Im Raum herrschte Stille, keiner sagte etwas. Lumielle wusste nicht, wie lange sie auf dem Stuhl im Raum gesessen hatte. „Lumielle, schön, dass du wieder bei uns bist“, sagte Gibral schließlich sichtlich erleichtert.
„Du wolltest wissen, wie sie hergekommen ist? Die Nymphen haben sie gebracht. Ohne Zweifel“, stellte Adorno bestimmt fest. Gibral machte ein überraschtes Gesicht: „Die Nymphen? Bist du dir sicher? Wie sollen sie das gemacht haben?“ „Woher soll ich das wissen?“, fuhr ihn Adorno an und klopfte verärgert mit seinem Stock auf den Steinboden: „Ich sagte: ‚ohne Zweifel‘“, fügte er ob Gibrals Bedenken missgestimmt hinzu.
„Uns war bislang nicht bekannt, dass die Nymphen ohne Hindernis in der Stadt ein- oder ausmarschieren können, sie könnten ja alles Mögliche mitgehen lassen“, murmelte Gibral in Gedanken versunken nach einiger Zeit. „Sie sind auch nicht marschiert, sondern geschwommen, und nachweislich haben sie nichts mitgehen lassen, sondern sie haben etwas gebracht, das Mädchen nämlich.“ Adorno zeigte mit seinem Stab auf die noch immer im Stuhl sitzende Lumielle, die selbst Zweifel am Wahrheitsgehalt der eben wahrgenommenen Erinnerungen hatte. „Waren es am Ende nur Trugbilder?“, flüsterte ihr ihr eigener Zweifel ins Ohr. Lumielle wusste wenig über Nymphen, lediglich Anastaxia war ihr bekannt.
Der uralte Mann lenkte Lumielles Aufmerksamkeit wieder auf sich: „Über unterirdische Wasseradern haben sie sie gebracht, sie ist mit Nymphen gekommen!“, wiederholte er in barschem Tonfall. „Über Wasseradern? Wie sollen sie Lumielle transportiert haben? Sie ist ein Mensch, sie braucht Luft zum Atmen, und außerdem …“ Gibral wurde neuerlich jäh von Adorno unterbrochen: „Ich irre mich nicht, das habe ich noch nie! Menschen sind leicht zu durchschauen, viel leichter als Eleven, das weiß auch sie, nicht wahr?“, sagte er mit zusammengekniffenen Augen zu Lumielle gerichtet, und diese errötete. „Er weiß es, er weiß es! Er weiß, dass du Figuren wahrnehmen kannst!“, riefen Intelligenz und Panik gemeinsam.