Die Insel des zweiten Lebens - Dirk C. Wessel - E-Book

Die Insel des zweiten Lebens E-Book

Dirk C. Wessel

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem vermissten Passagierflugzeug läßt der Autor den Leser immer wieder zwischen dem geheimnisvollen, tropischen Fernen Osten und dem eher biederen Deutschland pendeln. Leider muß Kriminalkommissar Lehn dann aber am eigenen Leib erfahren, daß das Traumbild vom tropischen Fernen Osten trügerisch ist. Er wird nicht nur mit der Vergangenheit des japanischen Südseekommandos im Zweiten Weltkrieg konfrontiert, sondern auch mit chinesischen Triaden und den Terroristen auf Mindanao, die ihm erheblich zusetzen. Der einzige Traum, der Bestand hat, ist Maja Wong, Corporal der Armee von Singapur.

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Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

KAPITEL 1

„Da gehört noch ein ordentlicher Schuss Chilisauce dran!“, meinte Jack Mc. Farlain, als er das Essen probierte, welches die Kellnerin ihm gebracht hatte. Jack Mc. Farlain hatte sich an diesem Abend des 30. April für in Knoblauchöl gebratene Garnelen mit Basmati-Reis und einem thailändischen Algensalat als Dressing entschieden.

„Nur zu. Dein Magen-Darm-Trakt wird es dir danken“, antwortete Mike Gray augenzwinkernd, der ihm an dem kleinen Tisch im Restaurant Punggol Inn gegenübersaß. Mike Gray hatte sich mit gegrillten Calamares begnügt.

Das Punggol Inn war ein beliebtes Ausflugsziel im Norden Singapurs. Ursprünglich eine einfache Bretterbude, an einem Creek gelegen, hatte es sich in den letzten Jahren etwas vergrößert, aber dabei nicht seinen Charme verloren. Ein Charme, der darin bestand, dass die Terrasse direkt über dem Creek gebaut war und man so über dem trüb dahinfließenden Wasser zu schweben schien. Mit Blick auf den Dschungel am gegenüberliegenden Ufer und der damit einhergehenden Kakophonie der Geräusche des anbrechenden Abends. Beherrscht von dem Geschrei der Fledermäuse, die die Jagd auf Myriaden von Mücken eröffneten.

Die Atmosphäre war wie in einem Schauspiel oder einer Oper. Faszinierend und berauschend zugleich.

Das spürten auch Jack Mc. Farlain und Mike Gray. Sie waren ein Paar. Sie machten kein Geheimnis aus ihrer Homosexualität, versuchten aber, es nicht gerade an die große Glocke zu hängen, denn hier in Singapur wurden solche Verbindungen nicht gern gesehen, aber noch geduldet. Begonnen hatte ihre Beziehung in Kuala Lumpur. Sie waren beide Stewards bei Malaysian Airways gewesen und hatten sich an ihrem Arbeitsplatz kennen und lieben gelernt. Damals vor sechs Jahren hatte es als Abenteuer begonnen, dann war es wie ein Rausch gewesen und sie hatten schnell gespürt, dass es mehr war. Spontan waren sie damals nach Macao geflogen, um zu heiraten, denn auch in Malaysia war eine gleichgeschlechtliche Verbindung nicht gerade angesagt. Ein Jahr später hatten sie dann in Singapur bei Air Cathay angeheuert und etwas später sich endgültig für die Tropen entschieden und dem verregneten England für immer den Rücken gekehrt.

Dieser Abend des 1. Mai im Punggol Inn war für sie der letzte freie Abend für gute zwei Wochen. Ihr Arbeitgeber, Air Cathay, hatte sie für mehrere Flüge eingeteilt. Am nächsten Tag sollte es losgehen mit dem Flug AC404 nach Frankfurt.

Das war auch der Grund, warum sie kaum Alkohol getrunken hatten, als sie gegen 21 Uhr das Punggol Inn verlassen hatten, um mit ihrem Mini nach Hause zu fahren. Jetzt um 21 Uhr war es schon stockdunkel. Sie hatten noch eine knappe Stunde Fahrt bis nach Hause vor sich.

Gleich nach ihrer Heirat hatten sie ihre Ersparnisse zusammengeworfen und sich ein winziges altes Haus auf dem oberen Teil der Bukit Timah Road gekauft. Ihr ganzer Stolz. Nicht nur, dass es für Singapur eine geschichtsträchtige Adresse war, denn immerhin war die Bukit Timah Road eine der ältesten und vor allem die längste Straße Singapurs, die in Richtung der Grenze mit Malaysia führte. Mit dem kleinen Garten war das Haus ein Idyll, in welches sie sich nach den anstrengenden Flügen zurückzogen.

An diesem Abend war die Rückfahrt schnell gegangen. Es hatte kaum Verkehr geherrscht. Gegen 22 Uhr hatten sie die Bukit Timah Road erreicht. Dann waren sie auch schon angekommen. Mike Gray war ausgestiegen, um das Gartentor zu öffnen, damit Jack den Mini rückwärts hereinfahren konnte.

Als das vollbracht war, hatte Jack das Autolicht ausgeschaltet. Was bedeutete, dass sie sich plötzlich in absoluter Dunkelheit wiedergefunden hatten, an die sich ihre Augen erst langsam gewöhnen mussten. Die Zikaden fingen wieder ihr Zirpen an, als die schützende Dunkelheit sie umfing.

Doch das Idyll der Tropennacht war endlich. Mc. Farlain hatte die Bewegung in der Dunkelheit nicht gesehen, aber wohl erahnt. Instinktiv hatte er die Gefahr gespürt, die von dieser Bewegung ausging. Aber seine abwehrende Reaktion war schon zu spät gekommen. Ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand hatte ihn zu Boden gehen lassen. Dann hatte er das Bewusstsein verloren.

Mike Gray hatte noch versucht, um Hilfe zu schreien, aber er hatte keinen Laut mehr aus seiner Kehle herausbekommen.

„Du ruhig“, hatte eine Stimme in chinesischem Slang neben ihm gezischt. Da sich Mikes Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte er eine Gestalt gesehen. Aber mehr auch nicht.

„Du mitkommen“, hatte die Stimme wieder gezischt.

Die Gestalt hatte Mike Gray zu einem Toyota Pick-up dirigiert, der auf der Straße parkte.

„Wir müssen morgen ganz früh zum Dienst“, hatte Mike Gray versucht die Gestalt in ein Gespräch zu verwickeln.

„Wir werden Ersatz finden“, hatte die Gestalt geantwortet und hinzugefügt: „Jetzt einsteigen!“

Mike Gray war hinten in den Toyota eingestiegen.

Sein Peiniger legte ihm eine Handschelle an und schloss die andere an der Nackenstütze des Fahrersitzes an.

Für einige Minuten hatte Mike Gray alleine auf der Rückbank des Toyotas gesessen. Dann waren die Peiniger zu zweit wiedergekommen und hatten einen Körper auf die Ladefläche des Pick-Ups gewuchtet.

KAPITEL 2

Am nächsten Abend, es war der des 1. Mai, herrschte ein ganz normaler Betrieb auf dem Changi Airport, dem Eingangstor nach Singapur. Dem am besten funktionierenden Flughafen in ganz Asien. So hatte eine internationale Jury den Flughafen zum besten Airport im letzten Jahr gekürt.

Und das entsprach auch der Realität. Changi Airport hatte Bangkok als Drehscheibe in Südostasien längst abgelöst. Changi Airport war neben seiner Funktion als Knotenpunkt für tausende von Flugpassagieren auch ein Schaufenster von Singapur und des Kapitalismus. In gefühlten kilometerlangen Gängen verkörperten die unzähligen Läden, Boutiquen, Restaurants und Schnellimbisse das liberale Lebensgefühl und den Wohlstand Singapurs.

Menschen aus der ganzen Welt kamen hier an, stiegen um oder besuchten Singapur. Es war hochgradig international. Dabei war alles sauber und gut organisiert. Mit einem Wort: perfekt. Vielleicht etwas zu sauber, zu perfekt. Fast etwas steril.

Um 20:15 Uhr kam über Lautsprecher die Ansage, dass das Gate A33 für den Flug AC404 nach Frankfurt geöffnet sei. Air Cathay bitte die Passagiere, umgehend mit dem „Boarding“ zu beginnen.

Wie üblich bildete sich schnell eine Schlange vor dem Gate, denn es gab immer Fluggäste, die aus welchen Gründen auch immer so schnell wie möglich einsteigen wollten. Aber es gab auch andere, die sich mit dem Boarding Zeit ließen, um noch ein wenig zu flanieren oder vor dem Flug noch einmal die Toilette aufzusuchen, die geräumiger als jene an Bord des Flugzeugs war.

Das Boarding des Flugs AC404 brachte keine außergewöhnlichen Vorkommnisse. Die chinesischen Bodenstewardessen von Air Cathay hatten ihr zauberhaftestes Lächeln aufgesetzt und wünschten jedem der eincheckenden Passagiere einen guten Flug und happy Landing.

Um 22:16 Uhr dockte die Maschine vom Finger ab. Der Pilot hatte vom Tower die Anweisung bekommen, sich für den „Take Off“ auf der Startbahn zwei, hinter einer Maschine von Garuda Airways einzureihen.

Um 22:32 Uhr hob der Flug AC404 in Richtung Nord-West ab.

Der diensthabende Fluglotse Koo Siang vom Changi Airport Tower glich noch einmal die Flugroute mit Flug AC404 ab. Er erwähnte das Funkfeuer von Butterworth. Dann sollte es weitergehen in Richtung Penang, bevor der Pilot nach Nord-West über den Golf von Bengalen abdrehen sollte. Danach würde die Maschine von der thailändischen Funkstation auf Phuket Island übernommen.

Der Pilot des Fluges AC404 dankte Koo Siang und bestätigte, alles verstanden zu haben. Er würde sich dann gegen 23:30 Uhr noch einmal abmelden.

Koo Siang übergab später den Flug AC404 an die Kollegen in Penang und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Er hatte bald Feierabend. Noch zehn Maschinen musste er abfertigen.

Gegen 23 Uhr übergab Koo Siang seinen Arbeitsplatz an James Chew, der die Nachtschicht antrat.

Zu diesem Zeitpunkt überflog AC404 ungefähr 400 Kilometer weiter nördlich das Funkfeuer von Butterworth und kurze Zeit später die Flugkontrolle auf Penang Island. Wie üblich verabschiedete sich der Pilot von AC404 nur kurz bei dem Fluglotsen auf Penang, da der Flug nun in Kürze von der thailändischen Flugkontrolle auf Phuket Island übernommen würde.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Kurz nach Mitternacht versuchte die thailändische Funküberwachung auf Phuket Island in Kontakt mit dem avisierten Flug AC404 zu kommen.

Doch der Flug Air Cathay 404 antwortete nicht mehr.

Eine Spur nervöser werdend, begann der thailändische Fluglotse seine Instrumente zu überprüfen. Aber soweit er in der Kürze feststellen konnte, arbeiteten alle Instrumente reibungslos. Dennoch entschloss sich der Fluglotse noch etwas zu warten, denn es war schon des Öfteren vorgekommen, dass die Piloten sich nicht sofort in dem neuen Funkraum anmeldeten, so dass es zwischen zwei Funkräumen immer eine gewisse Grauzone gab, in der die Maschinen unbeobachtet waren.

Aber nachdem zehn Minuten vergangen waren und sich AC404 noch immer nicht gemeldet hatte, griff der thailändische Fluglotse zum Telefon, um Alarm auszulösen. Minuten später informierte er seine Kollegen in Penang über die aktuelle Situation.

Kurz vor 1 Uhr erreichte dann der Alarmruf den Tower von Changi Airport. James Chew nahm den Anruf entgegen. Er war ein erfahrener Fluglotse und handelte sofort nach Vorschrift, welche Schritte in einem derartigen Fall unternommen werden mussten. Als Erstes informierte er seinen Chef Kenneth W. Lee, dem Changi Airport unterstand. Erstaunlich schnell erschien dieser im Tower.

Fünf Minuten nach ein Uhr war allen Beteiligten im Tower klar, dass irgendetwas auf dem Flug AC404 vorgefallen war, denn eine kurze Überprüfung der Transpondersignale hatte ergeben, dass diese kurz nach Überfliegen von Penang aufgehört hatten zu senden.

„Abgestürzt in den Golf von Bengalen“, murmelte James Chew erschüttert vor sich hin.

„Oder der Transponder wurde abgeschaltet“, stellte Kenneth Lee nachdenklich fest.

Chew blickte seinen Chef erstaunt an. „Und warum abgeschaltet?“, fragte er.

Kenneth Lee zuckte mit den Achseln. „Was weiß ich?“, antwortete er gereizt und fügte dann etwas ruhiger hinzu: „Sie haben recht. Erst einmal müssen wir von einem Absturz ausgehen. Wir müssen eine Suchaktion veranlassen. Aber dafür brauche ich das O.K. des Innenministeriums.“ Noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, griff er zum Telefon und wählte eine geheime Nummer und verlangte nach Andrew Sim.

Es war jetzt 1:30 Uhr.

Der Notdienst im Innenministerium spürte den Leiter des Krisenstabs eine gute Viertelstunde später im „Blue Parrot“ auf. Ein Club, der zurzeit total angesagt war. Andrew Sim ließ es sich dort gerade mit ein paar Freunden aus Shanghai, den dazugehörigen Social Escorts und einigen Flaschen französischen Cognacs gut ergehen. Eine Drei-Mann-Band spielte dezent Südstaatenmusik.

Da Andrew Sim einen Teil seiner Karriere der Tatsache zu verdanken hatte, dass er Unmengen von Alkohol, ohne Ausfallerscheinungen zu haben, vertragen konnte, fiel sein überhöhter Alkoholspiegel nicht sonderlich auf, als er kurz nach 2 Uhr nachts Changi Airport erreichte.

Unterschwellig spürte er sogar die Anspannung, die im Tower herrschte, als er den rundum verglasten Raum betrat.

Kenneth Lee begrüßte seinen Vorgesetzten mit der gebotenen asiatischen Höflichkeit, kam dann aber doch verdächtig schnell zur Sache, was wohl dem Ernst der Lage geschuldet war.

„Der Flug nach Frankfurt mit dem Kürzel AC 404 meldet sich nicht mehr.“

Andrew Sim, der Chef des Geheimdienstes und damit auch Leiter des Krisenstabes war, nuschelte ein paar Worte und versuchte dabei seinen Atem so an dem Flughafenleiter vorbei zu lenken, dass dieser nicht sofort seine Cognacfahne bemerkte.

Dieser bemerkte aber die Fahne nicht oder gab sich jedenfalls aus Höflichkeit den Anschein, sie nicht zu bemerken. Vielleicht war er auch zu aufgeregt, als er fortfuhr: „AC 404 hat sich in Penang abgemeldet, aber sich bei den Thais auf Phuket nicht angemeldet.“

„Wie lange ist das her, dass wir keine Meldung mehr von diesem Flug haben?“, fragte Andrew Sim, der jetzt wegen der Notsituation seine Fahne vergessen zu haben schien und seine Frage energisch artikulierte.

„Fast zwei Stunden“, antwortete Kenneth Lee.

„Und was bedeutet das nach Ihrer Meinung?“, fragte Sim leise, aber mit einem autoritären Unterton, der den Flughafendirektor daran erinnerte, mit wem er es zu tun hatte.

Kenneth Lee dachte einen Moment nach, bevor er antwortete: „Da weder unser Tower noch Penang noch die Thais einen Funkkontakt zum Cockpit von AC 404 aufbauen können und dazu noch keine Transpondersignale mehr empfangen werden, müssen wir von einem Unglücksfall ausgehen.“ Lee machte eine kurze Pause, als wolle er noch etwas hinzufügen.

„Oder?“, unterbrach ihn Andrew Sim. Sprechen Sie aus, was Sie sagen wollen.“

„Oder der Pilot will nicht antworten und hat den Transponder ausgeschaltet.“

„Was bedeuten würde?“, hakte Andrew Sim nach.

„Eigentlich ergibt das keinen Sinn. Es gibt für einen Flugzeugführer keinen Grund, den Transponder auszuschalten. Es sei denn, er wird dazu gezwungen.“

„Also denken Sie an eine Entführung?“

Kenneth Lee zuckte mit den Schultern. „Im Augenblick ist alles möglich. Wir versuchen zurzeit herauszufinden, ob das ACARS-System (Aircraft Communications adressing and recording system) auch keine Signale mehr abgibt.“

„Was ist das für ein System?“, fragte Andrew Sim, dem diese Details nicht geläufig waren.

„ACARS übermittelt alle dreißig Minuten über Funk ein Datenpaket über technische Einzelheiten des Fluges. Also über die Leistung der Triebwerke, Geschwindigkeit, Flughöhe, Spritverbrauch und so weiter.“

„An wen werden diese Daten übermittelt?“

„An den Hersteller des Flugzeugs oder an die Operationszentrale der jeweiligen Fluggesellschaft“, sagte Kenneth Lee. „Wir versuchen Seattle zu erreichen. Aber Sie wissen, der Zeitunterschied macht uns Schwierigkeiten.“

Andrew Sim wollte wissen, wann man mit einer Antwort rechne.

„Stündlich“, antwortete Lee.

„Zu lange“, entschied Andrew Sim. „Lassen Sie die Vorbereitungen zu einer Rettungsaktion anlaufen! Wir müssen annehmen, dass Flug AC404 in Schwierigkeiten oder sogar abgestürzt ist! Also informieren Sie die verantwortlichen Rettungsstellen in Malaysia und Thailand, damit von dort Rettungsmaßnahmen eingeleitet werden! Und sichern Sie den Kollegen unsere volle Unterstützung zu! Und natürlich unseren Dank“, fügte er gequält grinsend hinzu.

„Eine Rettungsaktion im gesamten Golf von Bengalen?“, fragte Kenneth Lee ungläubig, dem der Ernst der Lage erst jetzt richtig klar wurde.

„Ja, wo denn sonst?“, entgegnete Sim und ordnete an: „Wir sehen uns um 6 Uhr wieder. Dann berufe ich die nächste Krisensitzung ein.“

KAPITEL 3

Kurz nach 6 Uhr verdrängte das Morgenlicht relativ schnell die letzten Reste der Nacht. Am Himmel über Changi Airport war schon der Beginn des Sonnenaufgangs zu erahnen. Aber die Umrisse der Umgebung waren noch schwarz. Da man die Fenster des Konferenzraums weit geöffnet hatte, um von der Kühle der Nacht zu profitieren, waren die ersten Rufe einiger Muezzins zu hören, die die islamische Minderheit der Republik zum Morgengebet aufforderten.

Im Konferenzraum im dritten Obergeschoss des Hauptgebäudes herrschte eine aufgeregte, aber auch beklemmende Atmosphäre. Die Frühschicht des Flughafen-Managements hatte sich versammelt, nur ungefähr ahnend, was eigentlich vorgefallen war. Langsam erschienen auch einige Fluglotsen der Nachtschicht.

Andrew Sim und Kenneth Lee waren hereingekommen und hatten ein kleines Podium erklommen, welches an der Stirnseite des Konferenzraumes aufgebaut war. Nur Andrew Sim setzte sich auf einen der Stühle. Kenneth Lee griff zum Mikrofon.

„Meine Herren“, begann er, „ich kann Ihnen mitteilen, dass die Suchaktion nach AC404 vor zwei Stunden angelaufen ist. Allerdings haben wir vor einigen Minuten eine Nachricht hereinbekommen, dass eine thailändische Radarstation ein unbekanntes Flugzeug in der Nähe der Grenze zu Kambodscha geortet haben will. Das stellt unsere Rettungsmaßnahmen in Frage. Angenommen, das ist unser Flug AC404, müsste der Pilot kurz nach Überfliegen des Funkfeuers von Penang anstatt nach Westen in die entgegengesetzte Richtung nach Osten abgedreht haben.“ Er machte eine Pause. Dann fragte er etwas ratlos in Richtung der Anwesenden: „Was sollen wir tun? Im Golf von Bengalen weitersuchen oder die Suche abbrechen, bis diese Radarmeldung überprüft ist?“

„Was sagt der Transponder?“, fragte einer der neu Hinzugekommenen.

Kenneth Lee wiederholte, dass der Transponder seit 2 Uhr nachts nicht mehr sende und ACARS wahrscheinlich auch nicht.

Andrew Sim hatte sich erhoben und trat zu Lee ans Mikrofon. „Eine Frage an die Techniker unter Ihnen. Könnte es sein, dass Transponder und ACARS durch einen technischen Defekt deaktiviert werden? Ich denke da an ein Feuer in der Maschine. Vielleicht unter dem Cockpit?“

Ein Mann erhob sich, um besser verstanden zu werden. „Ein Feuer unter dem Cockpit hätte den unmittelbaren Absturz zur Folge. Wenn wir jetzt von den Thais hören, dass die Maschine noch bis Kambodscha weitergeflogen ist, müssen wir davon ausgehen, dass der Transponder nicht durch einen Defekt zerstört, sondern per Hand bewusst ausgeschaltet wurde. Schaltet man Transponder und ACARS aus, reißt die Verbindung zwischen Boden und Flugzeug ab.“

„Wir müssen uns also die Frage stellen, ob das jemand wollte.“

Kenneth Lee fügte hinzu, dass wegen der Schwierigkeiten, das ACARS-System abzustellen, vorrangig die Piloten in Frage kämen.

„Sind die Piloten schon überprüft?“, fragte Sim in den Raum.

Der Fluglotse James Chew, der von der Nachtschicht gekommen war, erhob sich in der ersten Reihe. Er stellte sich kurz vor, als der diensthabende Fluglotse, bevor er auf Andrew Sims Frage einging: „Der Chefpilot des Flugs AC404 ist ein erfahrener Mann. Schon dreißig Jahre bei der Fluglinie. Über den Co-Piloten ist weniger bekannt. Aber nichts, was gegen ihn spricht. Merkwürdig ist allerdings, dass das Flugzeug in einem Augenblick verschwindet, in dem die Maschine den einen Flugüberwachungsraum verlässt, um in den neuen Raum zu fliegen. In diesem Fall von Malaysia nach Thailand. Angenommen, jemand will ein Flugzeug verschwinden lassen, ist der Übergang zwischen zwei Flugüberwachungszonen gut gewählt.“

„Wie oft kommt es vor, dass sich Flugzeuge nicht melden?“, wollte Andrew Sim wissen.

James Chew antwortete, dass es sicherlich manchmal zu Verzögerungen komme, denn die Piloten müssten zwischen zwei Flugüberwachungszonen einige Handgriffe machen, wie beispielsweise die Frequenzen ändern. Aber es dürfte sich schlimmstenfalls nur um Minuten handeln.

„Danke für Ihren Bericht“, sagte Kenneth Lee.

James Chew ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen.

Kenneth Lee fuhr fort: „Ich glaube, wir kommen so nicht weiter. Wir sollten erst einmal die Fakten prüfen, auf die wir in diesem Moment Zugriff haben. Die erste Frage ist immer nach einem möglichen technischen Defekt. Wer ist von der Technik im Raum?“

In der zweiten Reihe erhob sich ein Mann und stellte sich als Ong Hua Seng von der Technik vor.

Kenneth Lee forderte von ihm einen kurzen Bericht über den Zustand der Maschine.

Ong setzte gerade an, seinen Bericht auf Chinesisch zu geben, wurde aber von Andrew Sim mit dem Hinweis unterbrochen, sich des Englischen zu bedienen.

Das fiel Ong nicht leicht. Aber am Ende seines Berichts war allen Anwesenden klar, dass die Maschine technisch wohl in Ordnung war.

„Was sagt das schon?“, meinte Andrew Sim. „Selbst die besten Maschinen können versagen. Denken wir nur an den Air-France-Flug, der auf dem Weg von Rio nach Paris verloren ging.“

Die Diskussion verlor sich in Einzelheiten. Schließlich sagte Andrew Sim, er und Kenneth Lee müssten in einer Stunde zum Rapport beim Innenminister.

Zu diesem Zeitpunkt, es war jetzt kurz vor 9 Uhr, waren in Singapur die ersten Zeitungen mit dem Aufmacher erschienen, dass Flug AC404 sich nicht mehr meldete.

Im Innenministerium hatte sich das auch herumgesprochen. Eine gewisse Hektik war unübersehbar. Der Konferenzsaal, in den der Innenminister gebeten hatte, war gut gefüllt, als Leow Kim Liat, Innenminister der Republik Singapur, den Raum betrat. Allein die Teilnehmerliste des Treffens zeigte, wie ernst man den Vorfall mit AC404 einstufte. Denn das Bild von einem modernen, sicheren und sauberen Singapur war in Gefahr. Was man absolut nicht brauchte, waren Probleme dieser Art. Man hatte schon genug Probleme.

Unter anderen waren anwesend: der Innenminister, sein Sicherheitschef und gleichzeitig Chef des Geheimdienstes Andrew Sim, Kenneth W. Lee, der Chef von Changi Airport, Sean Wong, der erste Assistent von Sim, des Weiteren der Staatssekretär für Transport und Gesundheit sowie der Sicherheitsberater des Präsidenten Donald Wong. Allein die Tatsache der Gegenwart von Donald Wong zeigte, wie hoch das Geschehen auf Regierungsebene aufgehängt war.

Sim eröffnete die Konferenz, indem er kurz die Meldungen aktualisierte. Man habe Nachricht von Boeing in Seattle, dass das ACARS-System ungefähr zeitgleich mit dem Transpondersystem aufgehört habe zu senden. Die Radarüberwachung in Thailand habe die Meldung bestätigt, dass eine unbekannte Maschine in Richtung Osten, das heißt in Richtung Kambodscha und Vietnam, geflogen sei. Wenn diese Maschine mit Flug AC404 identisch sei, könne man davon ausgehen, dass die Maschine nicht im Golf von Bengalen abgestürzt sei. Dann müsse man in alle Himmelsrichtungen ermitteln.

Der Sicherheitsberater des Präsidenten wollte wissen, was Kenneth Lee mit dieser Bemerkung, man müsse in alle Himmelsrichtungen ermitteln, sagen wolle.

Kenneth Lee antwortete, er meine damit, dass alles in Frage komme. Natürlich an erster Stelle ein Absturz, aber auch beispielsweise eine Suizid-Absicht des Piloten oder Co-Piloten, eine Entführung, ein Unfall innerhalb der Maschine, welcher nicht unmittelbar einen Absturz zur Folge gehabt hätte.

Donald Wong hatte wissen wollen, woran er dabei denke.

Eine Möglichkeit, hatte Kenneth Lee geantwortet, sei beispielsweise eine gerissene Treibstoffleitung, wodurch Dämpfe hätten freigesetzt werden können und Mannschaft und Passagiere das Bewusstsein verloren haben könnten.

„Unsere Flugzeuge sind heute eine Ansammlung von tausenden Schaltungen, Leitungen, Modulen und technischen Raffinessen, die wir Laien nicht mehr überblicken. Ist auch nur eine Kleinigkeit davon defekt, kann es zur Katastrophe führen. Und das ist nur die technische Seite. Hinzu kommen die menschlichen Gefahren, die von Passagieren und auch der Crew ausgehen. So ist es eigentlich ein Wunder, dass überhaupt noch eine Maschine glücklich landet.“

Kenneth Lee machte eine kurze Pause. Dann sagte er: „Das meinte ich mit meiner Bemerkung, dass wir in alle Himmelsrichtungen ermitteln müssen.“

Diese Bemerkung war der Startschuss zu allerlei Theorien. Die Versammelten diskutierten über die Möglichkeit, dass einer der Piloten die Sauerstoffzufuhr abgestellt haben könnte, wodurch alle Passagiere getötet worden seien. Die Maschine könnte entführt worden sein, um irgendwo zu landen. Aber wo? Vielleicht waren Terroristen am Werk gewesen? Oder Cyber-Terroristen, die das Navigationssystem der Maschine gehackt hatten und so den Absturz herbeigeführt hatten?

Andrew Sim, der erkannte, dass die Verschwörungstheorien ins Kraut schossen, versuchte die Diskussion wieder in den Griff zu bekommen.

„Meine Herren“, sagte er energisch. „Es hat doch keinen Sinn, immer neue Theorien aufzustellen. Lassen Sie uns schrittweise Punkt für Punkt abarbeiten, was geschehen sein könnte. Ich glaube, Kenneth Lee ist der geeignete Mann dafür, die Diskussion zu leiten.“

Kenneth Lee erhob sich und baute sich an der Stirnseite des Raumes auf. „In der Geschichte der Luftfahrt“, begann er, „gibt es kein vergleichbares Ereignis. Wir haben hier einen Flug, der möglicherweise weitergeflogen ist, obwohl er keine Signale mehr abgibt. So etwas gab es noch nie. Noch nie verschwand eine große Maschine ohne Zurücklassung irgendeiner Spur. Vielleicht fliegt die Maschine in diesem Augenblick immer noch. Sprit hat sie genug. Bis uns kein Absturz gemeldet wird, können, ja müssen wir zwingend davon ausgehen, dass die Maschine noch in der Luft ist. Zwar sind Flugzeuge immer wieder verschwunden, doch nie mit so vielen Passagieren. Nehmen wir als gegeben an, dass die Maschine nach Abschaltung der Funksysteme noch weitergeflogen ist, müssen wir von einer Entführung ausgehen. Die Konsequenz ist, dass wir es mit einem oder mehreren Entführern zu tun haben. Aus dem Kreis der Passagiere oder auch der Crew.

Da wir irgendwo mit unseren Nachforschungen beginnen müssen, sollten wir uns als Erstes die Passagierliste vornehmen ...“

„... um wen zu suchen?“, unterbrach ihn Donald Wong.

Kenneth Lee ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nachdenklich fuhr er fort: „... um einen Passagier herauszufiltern, der nicht in das Raster des Geschäftsmannes, des Touristen, des Normalbürgers fällt, der mit gutem Grund von Singapur nach Frankfurt fliegt.“

„Und wie wollen Sie das machen? Schließlich waren sicherlich eine Vielzahl von Nationalitäten an Bord?“, hakte Donald Wong nach.

Kenneth Lee sagte, man werde die Staaten beziehungsweise deren Polizeiorgane um Überprüfung der Personen bitten, die an Bord von Flug AC404 waren. Das werde zwar einige Tage dauern, aber dann wisse man, woran man sei. Parallel werde man die Mannschaft überprüfen, was wesentlich leichter sei, da viele mit Sicherheit aus der Region stammten.

„Ich könnte das Außenministerium anweisen, den Kontakt mit den Nationen herzustellen, die Passagiere an Bord haben“, schlug Donald Wong vor.

Kenneth Lee winkte mit den Worten ab, er habe schon einen Blick auf die Liste geworfen. Es seien hauptsächlich Passagiere aus Singapur, sehr viele Deutsche, einige Chinesen und Japaner sowie jeweils wenige aus anderen europäischen und asiatischen Nationen. Mit allen Nationen habe man aber auf Polizeiebene eine gute Zusammenarbeit.

Andrew Sim mischte sich in den Dialog zwischen Kenneth Lee und Donald Wong mit den Worten ein: Übrigens habe man schon in den vergangenen Stunden eine Kurzprüfung der Mannschaft vorgenommen. Der Pilot und sein Co-Pilot zeigten keine Auffälligkeiten. Anders sei dies bei zwei Stewards. Nach den Protokollen hatten sich zwei von den eingeteilten Stewards nicht zum Dienst gemeldet und mussten Hals über Kopf durch zwei Ersatzstewards ersetzt werden. Da das häufig vorkomme, sei daran noch nichts Auffälliges. Etwas seltsam sei allein, dass sich der Angestellte von Air Cathay, der diesen Austausch vorgenommen habe, krankgemeldet habe, aber an seiner Hausadresse nicht anzutreffen sei. Man versuche noch immer ihn zu finden.

„Müssen wir uns in diesem Punkt Sorgen machen?“, fragte Donald Wong.

Kenneth Lee antwortete: „In gewisser Weise sollten wir uns schon Sorgen machen. Denn die Stewards unterliegen nicht den gleichen Sicherheitsstandards wie das fliegende Personal. Haben aber Zugang zum Cockpit, zumal einer der Stewards ins Cockpit muss, wenn Pilot oder Co-Pilot das Cockpit verlässt, um beispielsweise die Toilette aufzusuchen. Seltsam kommt hinzu, dass der Angestellte, der die Ersatzstewards eingeteilt hat, nicht aufzufinden ist.“

„Das ist ja gar nicht schön“, murmelte Donald Wong.

„Wir sollten die Geschichte mit den Ersatzstewards jetzt noch nicht zu hoch aufhängen. Solange wir das Flugzeug nicht gefunden haben, ist alles möglich. Der Start liegt jetzt zwölf Stunden zurück. Noch reicht für Flug AC404 der Sprit. Noch könnte die Maschine in der Luft sein. Aber nicht mehr lange.“

KAPITEL 4

Auch auf St. Pauli, dem Vergnügungsviertel von Hamburg, war an diesem 4. Mai das Verschwinden von Flug AC404 bekannt geworden. An den Zeitungsständen fragte die BILD-Zeitung auf Seite eins mit dem Aufmacher:

„Warum antwortet Flug AC404 nicht mehr?“

Um dann aber im folgenden Text die Frage einzugrenzen:

„Absturz oder Entführung?“

Offensichtlich hatten die Reporter der Zeitung noch keine Antwort auf diese Frage, denn es folgten nur einige belanglose Passagen über die Fluggesellschaft, einige Details der Boeing 777 sowie ein nichts sagendes Interview mit einem Rentner, der früher Pilot gewesen war.

Aber für die Menschen hier auf St. Pauli war Singapur auch weit weg. Und dass der Flug als Ziel Frankfurt hatte, berührte letztlich auch nur wenige von ihnen, zumal am Abend am Millerntor St. Pauli auf Freiburg traf.

Schon nachmittags begann das Leben auf St. Pauli zu pulsieren. Die ersten Trauben von Fußballfans zogen grölend, aber friedlich über die Reeperbahn und versuchten sich auf den Abend mit Flensburger Pils und Jägermeister einzustimmen.

Derweil schien in der Bodmereigasse zwischen Hans-Albers-Platz und Bernhard-Nocht-Straße eine Polizeiaktion zu laufen. Mehrere Streifenwagen waren ziemlich abenteuerlich am Straßenrand abgestellt. In diesen Hintergassen von St. Pauli hätte ein Polizeieinsatz auch niemanden erstaunt, denn die Bodmereigasse entsprach dem Eindruck, wie sich der Normalbürger eine Gegend vorstellt, in der man garantiert niedergeschlagen, ausgeraubt und als Frau vergewaltigt wird.

Aber der Eindruck einer Polizeiaktion täuschte. Im Gegenteil. Es gab einen Geburtstag zu feiern. Kriminalhauptkommissar Harry Lehn hatte anlässlich seines 41. Geburtstages zu einem Umtrunk nach Dienstschluss gebeten. Das entsprach zwar nur der halben Wahrheit, denn erstens war Lehns Geburtstag im Januar gewesen, der Umtrunk im Januar hatte aber ausfallen müssen, weil Sturmtief „Eleonore“ damals den gesamten Hafen geflutet und mehrere Sonderschichten der Polizei erforderlich gemacht hatte. Und somit die kleine Feier im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen war. So war der Umtrunk in den Mai verlegt worden. Zweitens war die Einladung „nach Dienstschluss“ auch nur die halbe Wahrheit. Richtig war, dass der Umtrunk eine Stunde in die Arbeitszeit fiel, aber wegen des Spiels von Pauli gegen Freiburg mit Einverständnis von Polizeirat Stahmer vorverlegt worden war.

Harry Lehn hatte um 17 Uhr in die Bar „Zum Blauen Papagei“ zum Umtrunk für Kollegen und Weggefährten gebeten. Es gab Bier, Korn und Schnittchen. Der Blaue Papagei war eine der nicht so bekannten Adressen auf dem Kiez. Aber der erste Eindruck war nicht schlecht. Ein schmiedeeisernes Schild mit einem blauen Papagei baumelte über dem Eingang. Das Schild bewegte sich ein wenig in der leichten Brise, die von der nahen Elbe heraufstrich. Allein dieses Schild war wie aus der Zeit gefallen, aber es war noch ein Beweis für das echte St. Pauli.

Betrat man die Bar, so empfing den Gast eine gemütliche Atmosphäre. Einige undefinierbare Grünpflanzen rankten sich innen an den Sprossenfenstern empor, was der Bar einen Hauch von Tropischem verlieh. Dieser durchaus positive Eindruck wurde durch eine Neonröhre in Frage gestellt, deren übertriebene blaue Farbe wohl eine Hommage an den blauen Papagei sein sollte, der der Bar den Namen gegeben hatte.

Aber alles in allem war es ein ehrlicher Laden. Das war nicht immer so gewesen, denn unter dem Vorbesitzer hatte die Bar einen eher zweifelhaften Ruf genossen. Aber das war eine andere Geschichte.

So hatte sich Kriminalhauptkommissar Lehn für den „Blauen Papagei“ entschieden, um Kollegen und Weggefährten zu seinem Geburtstagsumtrunk einzuladen. Harry Lehn war in Kollegenkreisen beliebt, und so waren alle, die es halbwegs mit ihrem Dienst vereinbaren konnten, gekommen, um auf sein Wohl anzustoßen. An erster Stelle sein Assistent Kommissar Leo Perner. Dann die Hauptkommissare Brandauer, Sturm und Koslowski. Ja selbst sein unmittelbarer Vorgesetzter Polizeirat Stahmer war gekommen, was Lehn besonders freute.

Auch viele der sogenannten Wegfährten waren erschienen, wie Anwälte, Sozialarbeiter, der Leiter des Bezirksamts, der Pastor von St. Gertrud, der Pfarrer von St. Joseph, aber auch einige von der anderen Seite.

Aber das war immer Lehns Stärke gewesen, das Gespräch mit der anderen Seite nicht abreißen zu lassen. So hatte auch an diesem Nachmittag Millionen-Paul im Blauen Papagei vorbeigeschaut. Ein irrer Typ. Ein übler Betrüger, ein Spezialist für Schneeballsysteme, aber auch ein Mensch. Lehn freute sich, dass er gekommen war. Vor einigen Monaten hatte er Millionen-Paul in einer Kaschemme getroffen. Im Gespräch hatte er mit Absicht erwähnt, dass eine arme Kiez-Familie am Zirkusweg in Not sei, weil ihr Kind in Amerika am Herz operiert werden musste, die AOK aber die Zahlung abgelehnt hatte. Zwei Tage später hatte die Familie zwei Lufthansa-Tickets Hamburg-Frankfurt-New York anonym mit der Post bekommen. Dazu noch einen Bankscheck, mit dessen Betrag man zwei Herzen operiert haben könnte.

So war es eben auf St. Pauli. Es war ein Geben und Nehmen. Die Gefahr für einen Polizeibeamten bestand allein darin, das „Geben“ und „Nehmen“ in einer gesunden Balance zu halten.

Lehns Nähe zu dieser Grauzone war vielleicht auch einer der Gründe, dass er schon länger auf die Beförderung zum Polizeirat wartete. Aber auch das war wiederum eine andere Geschichte.

Heute, hier im Blauen Papagei war die Stimmung gut. Nach einer knappen Stunde waren die Schnittchen alle und der Konsum von Bier hielt sich auch in Grenzen, weil viele noch im Dienst waren und auf Cola umgestiegen waren. Nach einer guten Stunde leerte sich die Bar langsam. Bevor Polizeirat Stahmer aufbrach, nahm er Lehn mit der Bemerkung zur Seite, Lehn müsse noch einmal im Präsidium vorbeischauen, um einen dringenden Fall mit ihm zu besprechen. Auf Lehns Einwand, er habe Alkohol getrunken, fragte Stahmer: „Viel?“

„Angemessen“, antwortete Lehn ehrlich.

„Kommen Sie trotzdem!“, sagte Stahmer mit einem Grinsen. „Ich brauche Sie, weil Sie Englisch sprechen. Und übrigens Brandauer und Koslowski auch.“

Er war schon in der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. „Auch Perner soll kommen. Wir treffen uns um 20 Uhr im Konferenzraum 101.“

Lehn wollte seinen Chef noch fragen, was vorgefallen war, denn immerhin hatte Stahmer soeben fast alle Kommissare der Abteilung LKA 71, Deliktübergreifende Ermittlung, ins Präsidium einbestellt. Aber Stahmer hatte bereits den Blauen Papagei verlassen.

Lehn fragte Perner und Brandauer, ob sie den Grund der Besprechung kennten. Aber das Ergebnis war nur kollektives Achselzucken.

KAPITEL 5

So hatten sich Brandauer, Koslowski, Perner und Lehn kurz vor 20 Uhr im Konferenzraum 101 des Präsidiums eingefunden. Ihre Stimmung war durchwachsen, denn diese Besprechung bedeutete, dass wieder einmal ihr Feierabend flöten war und es noch keineswegs sicher war, dass ihnen die Überstunden gutgeschrieben wurden.

Polizeirat Stahmer betrat eine Minute nach 20 Uhr den Raum und übergab jedem der Anwesenden eine dünne Akte mit den Worten: „Das haben wir heute Nachmittag vom Bundeskriminalamt bekommen und die wiederum von ganz oben in Berlin.“

Bevor Lehn die Akte geöffnet hatte, witzelte er: „Hat jemand bei der Merkel in der Uckermark eingebrochen und den Sauer entführt?“

„Lehn, Lehn, Lehn“, stöhnte Stahmer. „Wenn Sie nicht heute uns im Blauen Papagei freigehalten hätten, würde ich Sie jetzt wegen dieser Bemerkung bezüglich unserer Kanzlerin tadeln. Aber so tue ich so, als hätte ich es nicht gehört!“ Ohne Übergang fuhr er fort: „Aber wenn die Herren einen Blick in das Dossier geworfen haben, werden Sie erkennen, dass es vielleicht auch um eine Entführung geht. Leider ist alles noch in englischer Sprache, weil wir für eine Übersetzung keine Zeit hatten. Aber da Ihnen das Englische nicht fremd ist, werden Sie auf einen Blick erkennen, dass die Regierung der Republik Singapur uns bittet, bei der Aufklärung des Schicksals des Flugs AC404 zu helfen.“

Brandauer wollte wissen, wie das denn von Hamburg aus zu bewerkstelligen sei.

„Die Dienststellen in Singapur schwimmen völlig, was den Grund des Verschwindens der Boeing anbetrifft“, antwortete Stahmer. „Alles ist möglich: Unfall, Entführung oder Suizid des Piloten. Wie es aussieht, nimmt man jedoch eine Entführung an. Da die Maschine nach Frankfurt flog und somit viele Deutsche an Bord waren, soll das Bundeskriminalamt das Umfeld der in Deutschland wohnhaften Passagiere eruieren. Was die Adressen hier im Umkreis von Hamburg betrifft, hat das BKA diese Bitte an das LKA Hamburg weitergegeben. Überprüft werden soll, ob sich im Umfeld der Passagiere Hinweise auf einen verbrecherischen oder eventuell auch terroristischen Hintergrund ergeben. Im Anhang des Dossiers finden Sie einmal die Liste aller Passagiere und im zweiten Teil die Namen und Adressen der Passagiere im Umkreis von Hamburg, die wir überprüfen sollen.“

Lehn schlug die letzte Seite auf. Er überschlug die Namen. Es waren zwölf Personen plus Adressen. Er ging die Namen kurz durch. Sie sagten ihm nichts.

Stahmer unterbrach seine Gedanken. „Bei zwölf Passagieren entfallen vier auf jeden von Ihnen. Gehen Sie gleich morgen früh mit der nötigen Zurückhaltung und vor allem mit dem nötigen Taktgefühl ans Werk, denn die Angehörigen werden überaus beunruhigt sein, weil sie wahrscheinlich von der Fluggesellschaft parallel informiert sind, dass es bei dem Flug Probleme gibt.“

Stahmer machte eine Pause. Dann fragte er kurz, ob es noch Fragen gebe.

Kriminalhauptkommissar Koslowski hatte noch eine Frage: Ob es denn einen gezielten Verdacht gebe?

Stahmer verneinte das. Da man nichts wisse, müsse eben alles hinterfragt werden. Es könne beispielsweise sein, dass man einen Passagier hatte umbringen wollen. Vielleicht wollte sich ein Passagier auch selbst umbringen. Aber es komme auch ein Selbstmordattentäter in Frage. Eben alles. Der gesamte Horizont des Verbrechens.

Mit diesen Worten war die Besprechung beendet. Stahmer wünschte einen guten Abend und verließ den Raum.

KAPITEL 6

Der kleine Polizeiposten war nicht leicht zu finden. Er lag etwas versteckt am Ufer des Selat Johor, dem Creek, der die natürliche Grenze zwischen Singapur und Malaysia bildet. Rund um den Polizeiposten war ein Rest von Dschungel geblieben, der noch nicht dem Bauboom zum Opfer gefallen war. Grund war vielleicht auch der schwammige Untergrund, der sich teilweise mit Mangroven abwechselte.

Ein kilometerlanger Sandweg, der kurvenreich und holprig war, verband den Polizeiposten mit der Straße, die von Singapur Centrum nach Lim Chu Kang führte.

Die Aufgabe der in dem Polizeiposten stationierten dreiköpfigen Besatzung war, mögliche Grenzgänger aufzubringen, die schwarz von Malaysia herüberkamen. Dies war per Boot oder schwimmend möglich. Schwimmend war es nicht zu empfehlen, da sich in dem brackigen Wasser des Creeks die Krokodile nur so tummelten. Versucht wurde es aber immer wieder, was den Polizisten die traurige Aufgabe einbrachte, die Opfer der Krokodile aus dem Creek zu bergen. Dazu benutzten sie ein kleines Motorboot.

Wong Li, der Leiter des Polizeipostens, stand an diesem Morgen des 5. Mai auf dem Steg vor der kleinen Station, der einige Meter in den Creek ragte, um einen Liegeplatz für das Motorboot zu haben. Er liebte diesen Ort am Morgen, wenn man besonders intensiv die Geräusche des Dschungels hinter ihm und am gegenüberliegenden Ufer wahrnehmen konnte. Heute war Wong Li allerdings ein wenig abgelenkt, denn er wartete auf das Polizeiboot, welches von einer Patrouillenfahrt zurückerwartet wurde. Über sein Mobiltelefon war er schon informiert worden, dass die Kollegen wieder einmal eine traurige Fracht mitbrachten. Eine Leiche, die sie auf der Höhe des Poyan Reservoirs aus dem Creek gezogen hatten. Eine Leiche, die schon stark von Krokodilen angefressen war.

Schließlich machte das Boot an dem kleinen Steg fest. Für Wong Li war der Tote kein schöner Anblick, aber er war es gewohnt. Nur die Kleidung des Toten hatte überhaupt dafür gesorgt, dass noch größere Teile des Körpers erkennbar waren.

Zu dritt legten sie den Toten auf den Steg.

Bei genauerem Hinsehen wurde ihnen klar, dass es sich um einen Weißen handelte. Das machte die Sache nicht einfacher. Tote Asiaten waren immer Flüchtlinge oder Schmuggler, nach deren Schicksal niemand fragte. Aber bei Europäern oder gar Amerikanern war alles komplizierter, zumal wenn es sich um Touristen handelte. Dann gab es Fragen über Fragen. Die Botschaften wurden eingeschaltet. Die Republik Singapur sah es nicht gerne, wenn Ausländer in ihrem Hoheitsbereich von Krokodilen gefressen wurden.

Diese Gedanken gingen Wong Li durch den Kopf, während sein Untergebener die Taschen des Toten untersuchte. Aus der Hosentasche der Leiche förderte er einen kleinen Fisch, aber auch einen Ausweis zu Tage. Er gab ihn Wong Li. Es war ein Berechtigungsausweis für einen Parkplatz, Der Ausweis war auf den Namen Jack Mc. Farlain, Angestellter bei Air Cathay, ausgestellt.

Bei Wong Li schrillten augenblicklich die Alarmglocken. Waren nicht alle Zeitungen Singapurs voll von dem Verschwinden dieser 777 von Air Cathay?

Schneller als sonst ging er über den Steg zu der kleinen Polizeistation zurück, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner vorgesetzten Dienststelle. Es meldete sich Officer Lew Kim Siang.

Erstaunlich kurz und präzise schilderte Wong Li den Fund der Leiche und erwähnte am Schluss, dass man einen Ausweis auf den Namen Jack Mc. Farlain gefunden habe. Der Mann, ein Weißer, sei offenbar Angestellter bei Air Cathay. Er meine, so betonte Wong Li, dass er diesen Umstand sofort habe melden müssen. Denn die Presse sei ja voll von Air Cathay.

Die Pause, die entstanden war, bevor Lew Kim Siang antwortete, zeigte Wong Li, dass er richtig gehandelt hatte.

Dann kam ein zögerliches „Sind Sie sicher?“.

„Ja, Sir!“, antwortete Wong Li bestimmt.

Lew Kim Siang dankte ihm für die Meldung. Er werde sofort die Information an den Krisenstab weiterleiten.

Was denn mit der Leiche geschehen solle, fragte Wong Li.

„Erst einmal liegen lassen und nichts verändern“, war die Antwort. Man werde so schnell wie möglich zurückrufen. Damit war das Gespräch beendet.

„Man wird zurückrufen“, murmelte Wong Li vor sich hin. Aber wann? „Liegenlassen!“ Und das bei 35° Celsius. Der Gestank würde die Polizeistation und die Umgebung verpesten! Typische Antwort eines Bürohengstes, der in seinem Aircon-Büro saß und auf seine Pensionierung wartete.

Umso erstaunter war Wong Li, als schon nach fünf Minuten das Telefon klingelte. Ein völlig aufgeregter Lew Kim Siang informierte ihn, dass Andrew Sim, Leiter des Krisenstabs, persönlich kommen werde, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Er solle nichts an der Leiche verändern. Im Übrigen sei Andrew Sim schon unterwegs.

Namentlich war dem Polizeibeamten Andrew Sim bekannt. Er galt als einer von ganz oben. Wenn so einer persönlich kam, war Land unter. Mit für ihn ungewöhnlicher Schnelligkeit begann Wong Li, die kleine Wachstube auf Vordermann zu bringen, was gar nicht so leicht war, denn der kleine Polizeiposten am Creek hatte schon Ewigkeiten keinen hohen Besuch geschweige denn einen Besen gesehen.

Die Aufräumarbeiten waren noch lange nicht abgeschlossen, als Wong Li schon das Jaulen von Polizeiwagen hörte, die sich über den Sandweg näherten. Er stand auf und trat vor die Tür. Die zuckenden Blaulichter waren schon zu sehen. Die Sirenen schwollen zu einem infernalischen Lärm an und brachten die Geräusche des Dschungels zum Schweigen. Es war, als sei die Natur für Augenblicke in Deckung gegangen, um der Staatsgewalt ihr Vorrecht nicht streitig zu machen. Es war gespenstisch.

Andrew Sim kam offensichtlich mit großem Gefolge. Mindestens neun Männer in dunklen Anzügen stiegen aus den drei Polizeilimousinen. Wong Li wurde immer aufgeregter, denn er wusste, was es bedeutete, wenn die Obrigkeit in Singapur alarmiert war. Dann ging man besser auf Tauchstation. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Andrew Sim ließ sich kurz von Wong Li Bericht erstatten. Dann ließ er sich die Leiche zeigen. Der Anblick des von Krokodilen angefressenen Körpers war ekelhaft. Andrew Sim wurde übel. Er wandte sich ab und ging in die Station zurück. Nachdem er kurz die Toilette aufgesucht hatte, ließ er sich den Ausweis des Toten zeigen.

Wong Li meinte gehört zu haben, wie Andrew Sim einem seiner Begleiter zugeflüstert hatte, das sehe alles nicht gut aus.

Dann ordnete er laut an, die Leiche sofort in die Pathologie des Mount Elisabeth Hospitals zu überführen, um die genaue Todesursache festzustellen.