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Eine überstürzte Flucht vom Mars, ein neuartiger Raketentreibstoff in den Händen einer fremden Macht, außerirdische Invasoren übernehmen die Energieinfrastruktur einer ganzen Region, eine Revolution erschüttert New York … In fünf Science-Fiction-Erzählungen unterlegt Willy Ley die spannungsgeladenen Handlungen mit wissenschaftlichen Fakten. Die Storys erschienen zwischen 1930 und 1940 in verschiedenen Magazinen und liegen hier weltweit erstmals gesammelt auf Deutsch vor. Eine ausführliche Biografie des Autors ergänzt diese Ausgabe.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Willy Ley: Die Invasion und andere Science-Fiction-Geschichten
Deutsche Erstausgabe, Oktober 2024
Die ursprünglich auf Deutsch erschienenen Texte von Willy Ley wurden an die neue Rechtschreibung angepasst.
Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.com] und Hardy Kettlitz
Umschlagabbildung unter Verwendung des Titelbilds von Howard V. Brown für ASTOUNDING STORIES, Februar 1937
Fotos im Nachwort: Xenia Ley Parker
Redaktion: Wolfgang Both und Ralf Neukirchen
Korrektur: Steffi Herrmann
Alle Rechte vorbehalten
Memoranda Verlag
Hardy Kettlitz
Ilsenhof 12 | 12053 Berlin
Kontakt: [email protected]
www.memoranda.eu
www.facebook.com/MemorandaVerlag
ISBN 978-3-911391-02-3 (Klappenbroschur)
ISBN 978-3-911391-03-0 (E-Book)
Inhalt
Vorwort
Willy Ley: Science fiction in USA
(erschienen in DER ABEND, Spätausgabe des VORWÄRTS am 16. Juli 1930)
1000 Meter unter dem Nordpol
(erschienen in DAS MAGAZIN, 1931, Nr. 82, S. 5992–5997)
Am Perihel
(»At the the Perihelion« erschienen in ASTOUNDING STORIES, Februar 1937, S. 41–76, illustriert von Elliott Dold, Jr.)
Willy Ley: Zur Theorie und Praxis der modernen Flüssigkeitsrakete
(Auszug aus Artikel erschienen in TECHNIK FÜR ALLE, Stuttgart 24, 1933)
Orbit XXIII-H
(erschienen in ASTOUNDING SCIENCE FICTION, September 1938, S. 17–56, illustriert von Elliott Dold, Jr.)
200 Jahre auf der Suche nach einer Insel
(erschienen in DIE GLOCKE vom 25. April 1937)
Nebel
(»Fog« erschienen in ASTOUNDING SCIENCE FICTION, Dezember 1940, S. 80–102, illustriert von Charles Schneeman)
Die Invasion
(The Invasion erschienen in SUPER SCIENCE STORIES, September 1940, S. 25–35, illustriert von Leo Morey)
Willy Ley – Berliner, Raketenpionier, Weltraumhistoriker
von Wolfgang Both
Vorwort
Diese Sammlung vereinigt fünf Science-Fiction-Erzählungen von Willy Ley, die alle unter seinem Pseudonym Robert Willey veröffentlicht wurden. Seine lebenslange Liebe zur Science Fiction wird durch den Artikel im sozialdemokratischen VORWÄRTS von 1930 deutlich. Er brachte als Erster diesen Begriff nach Deutschland. Nach seinem Roman Die Starfield Company, der 1929 in einigen Tageszeitungen als Fortsetzungsroman erschien, wegen der Weltwirtschaftskrise aber nicht in Buchform herauskam[1], sind dies weitere literarische Arbeiten des bekannten Raumfahrtchronisten. Die Geschichten waren über zehn Jahre verteilt in verschiedenen Magazinen zu lesen. Die erste, noch auf deutsch, in DAS MAGAZIN. Hier geht Ley einem seiner Lieblingsthemen, der versunkenen Welt der Saurier, nach. Schon als Schüler war er begeisterter Besucher des nahe gelegenen Museums für Naturkunde in der Berliner Invalidenstraße. Zu seinen Studienfächern gehörten dann Zoologie und Paläontologie.
Die folgenden vier Geschichten erschienen in amerikanischen Pulp-Magazinen. Ley war im Frühjahr 1935 aus Deutschland in die USA emigriert. Zwar hatte er bereits in der Schule Englischunterricht gehabt. Aber sein Schulenglisch besserte er nun durch Kinobesuche auf. Als Immigrant suchte er nach Möglichkeiten, sein Einkommen zu verbessern. Mit Übersetzungen hielt er sich über Wasser, hatte aber viel Konkurrenz. Mit dem Verfassen von Geschichten und Fachartikeln erschloss er sich eine bessere Quelle. Bereits in seiner Zeit auf dem Berliner Raketenflugplatz hatte er in Briefen an SF-Magazine von den Fortschritten in der Raketenentwicklung berichtet. An diese Kontakte konnte er nun anknüpfen.
Die Story »Am Perihel« ist nicht nur ein Weltraumabenteuer. Sie ist auch eine Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in der Sowjetunion unter Stalin. Auf der einen Seite spielt er hier seine Kenntnisse zur Raumfahrtmechanik aus. Auf der anderen Seite demaskiert er stalinistischen Terror ohne Rücksicht auf Opfer.
Die längere Erzählung »Orbit XXII-H« bietet uns einen Blick in seine Arbeitsweise. Hier sind ein kurzer Abschnitt aus einem Fachartikel sowie ein Zeitungsartikel zur Entdeckungsgeschichte der Erde beigefügt. Die vorgelagerte Information zur Raketengleichung stellt den physikalisch-technischen Hintergrund seiner Geschichte dar. Ein neuartiger Raketentreibstoff mit einem hohen Impuls bietet die Möglichkeit für schnellere und weitere Reisen im Sonnensystem. In der technischen Skizze ist eine Art Ionentriebwerk enthalten, in dem Quecksilbertröpfchen in einem elektrischen Feld beschleunigt werden. Dies ist wohl die erste literarische Darstellung eines solchen Aggregats. Beeindruckend sind seine Schilderungen des Sonnenaufgangs hinter der Erde und des Saturnaufgangs über seinem Mond Titan. Die Geschichte über die Entdeckung einer Insel nutzt er in seiner Erzählung, um einen abgelegenen Handlungsort zu gestalten.
In der Geschichte »Nebel« verarbeitet er seine Erfahrungen mit den vielen Attentaten und Putschversuchen in der jungen Weimarer Republik. Als Jugendlicher erlebte er nicht nur die Novemberrevolution 1918, sondern auch den Kapp-Putsch, den Hamburger Aufstand und den Hitler-Putsch. Attentate und Straßenkämpfe waren Teil dieser unruhigen Zeit. Diese Verhältnisse finden wir in dieser Geschichte wieder, ergänzt um das SF-Element eines Funkwellen-Blockadeschirms.
In »Die Invasion« muss sich die Menschheit eines scheinbar übermächtigen, rücksichtslosen und emotionslosen außerirdischen Eindringlings erwehren. Fremde Raumschiffe zapfen die Energie eines Wasserkraftwerks an einem Staudamm an und widerstehen allen Angriffsversuchen. Erst menschliche List kann die Feinde besiegen. Die 1940 erschienene Story ist auch als patriotischer Beitrag zur Motivierung des Wehrwillens in den USA zu sehen.
Eine Biografie des Autors schließt die Sammlung ab. Sie geht natürlich über die Arbeit des SF-Schriftstellers hinaus, beschreibt seinen Lebens- und Schaffensweg, der in Berlin begann und in New York endete. Der Science Fiction und der Raumfahrt war er ein Leben lang verbunden. Das belegt unter anderem seine fast zwanzigjährige Kolumne in GALAXY. Zwei Mal wurde er mit dem ›Hugo Award‹ ausgezeichnet. Die Raumfahrtcommunity würdigte ihn unter anderem mit der Benennung eines Kraters auf dem Mond.
Mit dieser Ausgabe liegen erstmals alle SF-Storys von Robert Willey auf deutsch vor.
Herausgeber und Verleger danken seiner Tochter Xenia Ley Parker für die Genehmigung der deutschen Übersetzungen.
Wolfgang Both — Berlin, Weihnachten 2023
[1] Eine Buchausgabe erfolgte erstmals 2011 im Shayol Verlag, Berlin.
Science fiction in USA
Aus Amerika will wieder einmal etwas Neues nach Europa kommen. Nach Jazz, Keep Smiling und Sex-Appeal ist Science-Fiction der amerikanische Begriff, der nun auch Europa erobern möchte, und wer will nach den Erfolgen der genannten Schlagworte mit Bestimmtheit sagen, dass sich Europa der Science Fiction verschließen wird?
Was Science Fiction bedeutet? Glatt übersetzen, mit ein oder zwei deutschen Worten, lässt sich das nicht, denn es ist ja ein neu geprägtes Wort, das die Amerikaner selbst ihren Lesern zunächst noch kommentieren müssen, und zwar mit den Worten »Prophetic Fiction is the Mother of scientific Fact«, zu deutsch etwa: »die prophetische Annahme ist die Mutter der wissenschaftlichen Tat«.
Es handelt sich gewissermaßen um ein Spiel zwischen einer Reihe bestimmter Schriftsteller und dem Publikum. Die Autoren schreiben Wonder Stories (Wundergeschichten), und die Leser geben in einer ausgedehnten Spalte »The Reader Speaks« (der Leser spricht) ihre Meinung dazu. Das Wort »Wunder« hat dabei aber die Bedeutung des wissenschaftlichen oder technischen Wunders, einer Fahrt zur Venus, dem Einfall der Bewohner eines fremden Weltkörpers auf die Erde mit all seinen Folgen, Verwandlung eines Metalls, Bau einer neuen gigantischen Wolkenkratzerstadt, Entdeckung einer Strahlenart, die mikroskopische Urtierchen zu Riesengröße anwachsen lässt.
Das Haupterfordernis dieser Geschichten ist zunächst dem Leser »thrill« zu geben, ein gewisses angenehm aufreizendes Gruseln, das zweite Erfordernis ist dabei, dass sich wissenschaftlich gegen die Möglichkeit dieser Erkenntnisse nichts sagen lässt, wenn man die Voraussetzungen des Autors anerkennt. Wenn da zum Beispiel ein Autor eine Geschichte wie »Das geheimnisvolle Metall« schreibt, in der durch Anwendung einer neuen Strahlenart Gold in ein minderwertiges Metall verwandelt wird – ein Geisteskranker, der der Entdecker dieser Strahlen ist, will damit das Gold und gleichzeitig das Verbrechen aus der Welt schaffen –, so erhebt sich eine rege Diskussion darüber, ob durch das Auslöschen allen Goldes auf der Erde wirklich die Verhältnisse der Menschen gebessert werden würden. Es wird debattiert, ob man einfach das neue minderwertige Metall an die Stelle des Goldes setzen oder ob man Platin oder Radium oder Elektrizität oder was sonst als neuen Wertmesser einführen würde.
Denn solche Strahlen sind zwar unbekannt, aber man hat keinen Grund, ihre Existenz zu leugnen.
Würde ein Schriftsteller aber etwa sich die Aufgabe stellen, von den Abwehrmaßnahmen der Menschheit gegen eine neue Eiszeit zu erzählen und diese Eiszeit entstehen lassen, indem alle Vulkane plötzlich Eis statt Feuer speien, dann würde man diese Geschichte gar nicht erst drucken. Neben dem Redakteur, der die Geschichten ohne »thrill« ausscheidet, wacht nämlich eine ganze Reihe von Wissenschaftlern verschiedener Gebiete über die andere Seite der Sache.
Seit etwa einem Jahr ist dies Spiel von einem geschäftstüchtigen Verleger, der von den Wandlungen des Publikumsinteresses keine Ahnung hatte, organisiert worden. Hugo Gernsback in New York hatte alle Bestrebungen dieser Art in drei riesigen Magazinen zusammengefasst: den Science Wonder Stories, den Air Wonder Stories und Science Wonder Quarterly – illustrierte Magazine vom Format eines ausgewachsenen Geschäftsbriefbogens und von 100 Seiten durchschnittlicher Stärke. Gernsback bringt zu den Leserdiskussionen um vorliegende Geschichten noch etwas Neues. Ihm fällt irgendetwas Unglaubliches ein, sein Zeichner wird instruiert, zeichnet die Sache hübsch anschaulich und bunt auf, das Bild wird das Titelblatt des neuen Magazins – und nun, Leser, schreibe die beste Geschichte um dieses Bild, dann wird sie gedruckt, dein Bild und Lebenslauf mit Adresse dazu, und 300 $ sind dir sicher. Und die Leser machen mit Begeisterung mit, zunächst wegen des Dollarsegens, denn 300 $ sind auch drüben viel Geld für den Durchschnittsbürger, dann aber auch, weil es augenscheinlich viel Spaß macht. Es macht auch viel Spaß nachher zu sehen, welche Gedanken ein und dasselbe Bild in den verschiedenen Gehirnen ausgelöst haben. Da war zum Beispiel ein Titelblatt, das zwei riesige quallenartige Scheiben mit Fangarmen zeigte, und an diesen Fangarmen hingen der Eiffelturm und das Woolworth Building. Jeder der vier Preisträger hatte eine ganz andere Idee dazu. Der eine schilderte das schreckliche Erlebnis des Überfalls der Marsbewohner als Traum, der zweite berichtete, er habe das am Fernseher des Rundfunks gesehen und sei zu Tode erschrocken, bis plötzlich der Ansager ihn belehrte: »Sie sahen einen Abschnitt aus dem neuen deutschen Film ›Räuber aus dem Weltenraum‹. Der Film läuft ab morgen da und da in New York, und wir sind sicher, er wird Ihnen gefallen.« Der dritte schildert das Ganze aus der Perspektive des Jahres 3000, inzwischen sei die Erde durch giftige Rieseninsekten unbewohnbar geworden, die Menschheit sei zur Venus geflüchtet und habe nun den Wunsch gehabt, sich ihre berühmtesten Bauwerke von der Erde als Andenken zu holen. Beim vierten wird die ganze Geschichte dann zur gegenwärtigen Tatsache.
Natürlich lässt sich der Gebrauch der Science Fiction ganz nach Belieben abwandeln. Irgendwo hinten zwischen den Inseraten steht eine Tabelle: »Wie weit ist der Mond von der Erde entfernt? Was wissen Sie von den Atomen? Wie sah der Brontosaurus aus? Welches Atomgewicht hat Sauerstoff?« Und am Schluss dieser Tabelle steht: »Wenn Sie alle Geschichten dieses Magazins aufmerksam gelesen haben, können Sie diese Fragen beantworten. Wenn Sie es nicht getan haben, dann schlagen Sie noch mal auf Seite …«
Für uns ist das sympathischste mit an der Science Fiction, dass sich die Leiter dieser Magazine nicht auf amerikanische Schriftsteller allein beschränken, sondern eifrig in Europa und insbesondere Deutschland Ausschau halten, was sich hier Brauchbares bietet. Deutsche Autoren wie Otto Willi Gail werden übersetzt, mit Artikeln kommen auch Hans Dominik, Max Valier und andere zu Wort. Unnötig zu sagen, dass auch zwischen der New Yorker Gernsback-Edition und dem Berliner Verein für Raumschiffahrt, dessen Ziele neuerdings mehr konkret und ernsthafter sind, Freundschaft besteht. Auf jeden Fall scheint sich hier eine ziemlich neue literarische Erscheinung energisch anzubahnen, der phantastische wissenschaftliche Roman nicht als gelegentlicher amüsanter und nicht ganz für voll genommener Außenseiter der übrigen Unterhaltungsliteratur, sondern als kräftiger selbstständiger Literaturzweig, getragen vom begeisterten Interesse eines ausgedehnten Publikums.
1000 Meter unter dem Nordpol
1.
»Der rechte Motor klopft!«, schrie der Pilot am linken Steuer des Verkehrsflugzeuges seinem Kollegen zu.
»Ich höre es«, brüllte der zurück, seine Steuerung auf der des links sitzenden Piloten schaltend und sich erhebend. Nun führte der andere die große Maschine allein. Einen Augenblick stand der Pilot wie zögernd in der Führerkabine, dann öffnete er die Tür zur Passagierkabine, durch die er hindurchgehen musste, um den Bordmonteur zu erreichen, der hinten im Schwanzende des Flugzeugs saß und telefonisch nicht verständigt werden konnte.
Der Pilot Wilhelm Kraus ging durch die Passagierkabine des Verkehrsflugzeuges DV 3303.
Fünf Fluggäste saßen da und machten es sich bequem, was leicht war, da jeder drei Plätze zur Verfügung hatte. Das war nämlich einer der Vorzüge dieses Flugzeugtyps, dass sich der Gang an der Seite befand. Die gut gepolsterten drei Sitze jeder Reihe waren somit durch keine Lücke unterbrochen. Wer Lust hatte, konnte sich lang legen; der ab und zu durch den Gang schlendernde Bordsteward merkte daran, dass ein Paar Schuhe oder Stiefel in den Gang hineinragten, wenn jemand schlief. Es muss gesagt werden, dass die Fluggesellschaft für diesen Zweck eine Anzahl Kissen hatte bereitlegen lassen.
Von großem Nachteil wäre es, hätte eine Maschine jemals alle fünfzehn Passagiere, auf die sie berechnet war, geladen. Aber das kam bei dieser Linie, die wöchentlich einmal von Finnland aus nach Alaska beflogen wurde, nie vor. Es war auch selten, dass einmal die Zwischenlandung in Nordnorwegen vorgenommen wurde. Gewöhnlich flogen die Flugzeuge die Strecke durch, über das Polarmeer und Grönland in gerader, kürzester Linie von Nordeuropa nach Nordamerika.
Der Pilot Wilhelm Kraus machte die Tür zur Führerkabine hinter sich zu und der Schall der Motoren wurde schwächer. Man hörte leise und hohl das Klappern der Reiseschreibmaschine, auf der ein Berliner Journalist einen Reisebericht für sein Blatt tippte.
Er sah auf, nickte dem Piloten zu und las sich die letzte Zeile noch einmal durch.
»Ein scharfes Auge kann am Horizont einen schwachen Schimmer wahrnehmen, das sind die Berge von Spitzbergen.« Noch einen Augenblick überlegte er, dann klapperte die Remington ihren Text weiter. Der Amerikaner in der zweiten Reihe lag lang und schnarchte. Pilot Kraus stieg vorsichtig über die Beine des Schlafenden hinweg, bemüht, ihn nicht aufzuwecken. Der finnische Holzhändler in der dritten Reihe hatte eine in russischen Lettern gedruckte Zeitung in der Hand, lehnte den Kopf an die Wand und schlief auch. Der vierte und der fünfte Passagier teilten sich die vierte Bank, es waren der Sohn eines anderen finnischen Holzhandelskapitalisten, der in Geschäften seines Vaters reiste, und eine französische Sängerin, die zu einem Gastspiel und zur bestmöglichen Verwertung ihres Sex-Appeals nach Kanada wollte. Sie las angeblich in französischen Magazinen und beobachtete ihren Nachbar, der sich mit seinem Notizbuch und seinem Zigarettenetui beschäftigte und vergeblich auf eine günstige Gelegenheit wartete, an das vor zwei Stunden eingeschlafene Gespräch wieder anzuknüpfen.
In dem kleinen Raum im Schwanzende des Flugzeuges bastelte der Monteur an der Radioanlage. Als er den Piloten sah, legte er die Zange weg und meldete in einem harten Deutsch mit stark finnischem Akzent, dass die Funkanlage irgendeinen Defekt aufweise, den er nicht gleich finden könnte.
»Schon gut, es wird ein Kontakt gebrochen sein«, antwortete der Pilot und fühlte im gleichen Augenblick, dass das Flugzeug eine schwache Neigung annahm.
»Juroff hat die Route korrigiert«, dachte er dabei. Juroff, das war der andere Pilot.
»Der rechte Motor klopft«, wiederholte der Pilot. »Ich höre es am Gang, meine Instrumente zeigen es aber nicht an.«
Der Monteur hätte gern ein paar Worte der Überraschung gerufen, aber seine mangelnde Kenntnis der dafür notwendigen Ausdrücke der deutschen Sprache ließen es nicht zu. Er konnte deshalb nur »Ja« sagen.
»Bringen Sie Ihren Werkzeugkasten mit«, befahl Kraus und der Monteur sagte wieder »Ja«; – diesmal aber schwang der Satz »Ich freue mich, dass meine Antwort einen Sinn hat« darin mit. Er nahm den Kasten und folgte dem Piloten, der vorausging.
Pilot Kraus prüfte nochmals die Instrumente seiner Schalttafel, aber Öldruck, Benzinstand und Tourenzahl stimmten. Der Benzinzufluss zum Motor war etwas unregelmäßig, aber das musste gar nichts bedeuten. Er befahl dem Monteur, alle Zuleitungen zum rechten Motor eingehend nachzuprüfen, und setzte sich wieder an seinen Platz.
»Licht wird uns nicht fehlen, wenn wirklich etwas geschieht«, dachte der Pilot und überlegte, dass sie bald über unerforschtem Gebiet sein würden. Es war ein eigenartiges Gefühl.
Der Monteur meldete nach geraumer Zeit, dass er nichts finden könne. Alles sei in Ordnung, ob er nun die Funkanlage wieder in Betrieb bringen solle?
Kraus sah zu Juroff hinüber. Der beugte sich über seine Schalttafel und bestätigte nach einer Weile, von oben bis unten ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit sich selbst, dass er auch nichts finden könne. »Aber es klopft stärker«, sagte er und beugte sich wieder über die Zifferblätter, »wir wollen einmal vollste Kraft fliegen.«
Sie gaben beiden Motoren Vollgas und donnerten durch die eisige Luft, – eine halbe Stunde, eine ganze Stunde – der Motor lief. Aber er klopfte, es war nun wieder ein wenig stärker geworden. Juroff sah sich Kraus’ Instrumente noch einmal an. »Der Benzinzufluss ist unregelmäßig.«
»Das habe ich auch gesehen«, antwortete Kraus, »aber was heißt das?« – Er unterbrach sich, »Augenblick – – Wart’ doch mal, – ja … wenn vielleicht die Streben, in denen der Motor hängt, nicht ganz fest sind …«
Bei dem Flugzeug hingen beide Motoren frei neben dem Rumpf unter den Tragflächen. Es kam ab und zu vor, dass sich die Verbindungen durch die Erschütterungen der Maschine etwas lockerten. Einmal hatte eine Maschine dieses Typs sogar einen Motor verloren, was aber niemandem geschadet hatte. Juroff musste zugeben, dass Kraus mit seiner Vermutung Recht haben könnte. »Der Monteur soll hinausklettern und nachsehen«, meinte er und schaltete beide Motoren auf halbe Kraft. »Wir sind übrigens etwas vom Kurs abgekommen«, fügte er hinzu, »wollen wir eine Zwischenlandung vornehmen? Dann können wir den Schaden leicht beheben.«
»Ich will erst sehen, ob es auch stimmt, was wir vermuten«, widersprach Kraus, »wir können dann landen, wenn es nötig ist. Aber ich will selbst hinausklettern, der Monteur versteht weniger davon als ich.«
Die beiden Piloten ließen das Flugzeug fallen, langsam gingen sie auf 800 Meter hinab, tiefer auf 300, auf 150, auf 80, auf 20 und schließlich jagten sie kaum zehn Meter hoch über dem Neuschnee, der weit und breit alles bedeckte. Es lag tatsächlich eine ganz glatte Schneefläche unter ihnen, sodass sie ohne Gefahr landen konnten, wenn es nötig wurde, »Komisch«, meinte Kraus, »von oben sah es aus, als lägen dünne Nebelschleier am Boden, jetzt kann ich sie aber nicht sehen«.
Langsam drosselte er seinen Motor vollkommen ab, bis nur noch der Fahrtwind den Propeller drehte. Juroff hielt mit dem linken Motor allein das Flugzeug in der Luft. Ihre Geschwindigkeit übertraf die mittlere eines Eisenbahnzuges nicht mehr, Kraus hängte sich eine Werkzeugtasche um, öffnete vorsichtig die Tür und trat auf das Gestänge hinaus. Es war nicht so kalt, wie er geglaubt hatte. Unter ihm jagte der Schnee und an den Fenstern der Passagierkabine sah er die teils ängstlichen, teils neugierigen Gesichter der Fluggäste. – Er fasste mit den zum Schutz gegen die Kälte eingefetteten Händen die starken Stahlstreben an, arbeitete sich näher an den Motor heran und gewann einen sicheren Sitz. Vor ihm hing jetzt der schweigende Motor, der Propeller drehte sich langsam im Fahrtwind. Er sah hinten am Horizont einen kleinen Eiswall sich türmen – Juroff wird rechtzeitig ein wenig höher gehen müssen –, dann prüfte er die einzelnen Stangen.
Wirklich, die eine schien etwas gelockert zu sein, die andere wackelte sogar fühlbar – er griff fest zu und rüttelte …
Juroff in der Kabine fühlte ein Schwanken des Flugzeuges und riss die Maschine hoch. Als sie wieder richtig in der Luft lag, hörte er das Schreien der Passagiere und sah die rote Notlampe glühen. Er blickte nach rechts und konnte Kraus nicht entdecken, die eine Stange ragte mit ihrem unteren Ende in die freie Luft.
Der deutsche Journalist riss die Tür zur Führerkabine auf – was streng verboten war – und schrie: »Mann über Bord!« »Landen Sie sofort!«, rief ein anderer ihm zu. Er nickte und sah auf das Gelände unter sich. Man konnte eine Landung versuchen – Juroff drehte die Maschine in Spiralen zur Erde.
2.
Als Pilot Kraus die Besinnung zurückerlangte, lag er im tiefen weichen Schnee. Die Periode der Besinnungslosigkeit konnte nur Sekunden gedauert haben, wenn er sich nicht überhaupt nur einbildete, bewusstlos gewesen zu sein. Denn er konnte das Flugzeug noch sehen und merkte bei genauerem Hinblicken auch, dass es kreiste, als ob es eine günstige Stelle zur Landung suchte. Einen Augenblick schloss er die Augen, um Kraft zu sammeln. Das linke Bein tat sehr weh – er versuchte, die Augen immer noch geschlossen, die Zehen zu bewegen. Es ging nicht, irgendwas mochte gebrochen sein. Also liegen bleiben, anderes blieb ihm nicht übrig. Gefahr hatte es nicht, Juroff suchte ihn ja.
Er öffnete die Augen und sah zum Himmel. Der Flieger kreiste in Spiralen abwärts. Warum nur flog Juroff so weit gegen Westen?
Angenehm war es, hier im warmen, weichen Schnee zu liegen. Man ruhte sich aus von dem anstrengenden Flug. Außerdem wusste man, warum der Motor nicht einwandfrei gearbeitet hatte … Ob es eigentlich sehr lange dauern würde, bis man ihn fand? Ob man große Angst um ihn ausstand?
Er fühlte eine leichte Mattigkeit, und im Einschlummern fiel ihm ein, dass das gefährlich war, sehr gefährlich sogar. Große Kälte schadet keinem Menschen, solange er wach ist. Schläft er ein, so wacht er auch bei geringerer Kälte nicht wieder auf.
Ob das der Grund war, weshalb die Urwelttiere ausstarben? Kraus hatte als Kind gern populäre Bücher darüber gelesen, in denen geschildert wurde, wie in Deutschland vor der Eiszeit ein Tropenurwald grünte, belebt von Herden riesiger Säugetiere. Als dann die Eiszeit kam, ganz langsam und unmerklich im Laufe von Jahrtausenden, da verschwand der Urwald und seine Tiere mit ihm. Viele wanderten aus, einige passten sich den veränderten Verhältnissen an, noch mehr starben aus. Waren es die, die im Schlaf am leichtesten einer Frostnacht zum Opfer fielen?
Herrlich musste dieser Tertiärurwald gewesen sein – vielleicht schimmerte in der Sage vom Paradies noch eine urweltalte Erinnerung an diese Zeit durch? – Vielleicht – –
Als er erwachte, lag er in der warmen Flugzeugkabine und alle bemühten sich um ihn.
Kraus lächelte. »Hatten Sie mich schon als tot betrauert?«
»Well«, fing der Amerikaner an, »ich habe einmal eine Hochtour gemacht und wäre dabei auch beinahe erfroren. Wenn es Sie interessiert, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte; die Sache war nämlich so …«
Juroff unterbrach ihn, nahm Kraus an den Arm und führte ihn an seinen Platz. Kraus wunderte sich über seinen eigenen Gang, er fühlte sich so leicht und frei wie kaum jemals im Leben.
»Die Geschichte fängt an, unangenehm zu werden«, begann Juroff. »Wir nebeln langsam ein. Sehen Sie hinaus. Wenn wir nicht schleunigst abfliegen, dann sitzen wir fest. Fühlen Sie sich kräftig genug, an Ihrem Platz zu bleiben? Die Führung übernehme ich natürlich allein.«
Kraus lachte und setzte sich an das Steuer. Mit dem Fuß, den er für gebrochen gehalten hatte, stieß er an einen Schalthebel, es schmerzte kaum, also hatte er sich wohl geirrt. – Leicht und frei erhob sich das Flugzeug, viel leichter und schneller, als jemals sich ein Flugzeug erhoben hatte. Auch die Motoren donnerten nur gedämpft, nicht so laut wie sonst – ob der Nebel das machte?
Jetzt schweben sie über den Eiswall hinaus, den Kraus vorhin gesehen hatte. Und im gleichen Augenblick waren sie im allerdicksten Nebel. Sie zogen das Höhensteuer, aber der Nebel wurde immer dicker.
»Verirrt«, sagte Juroff auf Russisch, Kraus verstand das Wort, er blickte auf seine Instrumente und sah: Der Kompass schwankte leise hin und her, kein Wunder, dass er nicht Ruhe fand in diesen Breiten. Die Motoren arbeiteten einwandfrei – auch der rechte – und der Höhenmesser zeigte Null.
»Das ist unglaublich, wir müssen mindestens 300 Meter hoch sein.« – Juroff löste die Schießvorrichtung des Behmschen Echolotes, es dauerte lange, bis die Antwort kam. Der Zeiger der Sekundenuhr sprang, das Echolot gab weit über achttausend Meter Höhe an.
»Ich lande jetzt«, sagte Juroff. »Das ist Zauberei.«
Das Flugzeug drehte Spiralen nach unten, langsam erst, dann etwas schneller. Und sie fuhren ins Bodenlose, dreitausend Meter, viertausend Meter. Immer in dichtestem Nebel. Juroff sagte nichts, er schien zu leiden unter dem Phänomen. Kraus wunderte es, ihm schien das Ganze zwar nicht selbstverständlich, aber er hatte ein Gefühl von Sicherheit und Frieden, das er selbst nicht zu nennen wusste.
Sechstausend Meter mussten sie nun schon gefallen sein, da wurde plötzlich der Blick klar. Der Nebel wich, sie schwebten unterhalb einer lichten Wolkenschicht. Unten war grünes Land. Ein großer grüner Wald in der Mitte, umgrenzt von wiesenartigen Matten, die langsam in kahles Gestein übergingen. Von oben her, aus der Wolkenzone, kamen Gletscher über die Felsen herab und verliefen in langen Steinmoränen. Man sah, sie hatten einmal tiefer hinabgereicht.
In Juroff war ein Gemisch aus Furcht und Staunen. Aber Kraus war sich mit hellsichtiger Deutlichkeit des Wunders klar. Das, was sie hier durch einen Zufall gefunden hatten, war eine übergebliebene Landschaft aus der Urwelt. Ein Urweltasyl, das wunderbarste, das es auf Erden gab. An manchen anderen Stellen der Erde kannte man kleinere, die Insel Komodo beispielsweise, einige Klippen bei Neuseeland – gewisse Teile der Kongourwälder, noch nicht erforscht, konnten auch dafür gelten. Aber das hier übertraf das alles bei Weitem und übertraf auch jede Phantasie. Ein gewaltiger Talkessel mitten in Grönland, so tief, dass das heiße Erdinnere ihn erwärmte. Oben wurde er bedeckt von einer sich nie verziehenden weißen Nebel- und Wolkenschicht, die einen trefflichen Schutz gegen zu große Wärmeverluste bildete. Darum musste diese Landschaft auch durch einen Zufall entdeckt werden. Die Flugzeuge, die hoch darüber hingezogen waren, mussten die weißen Wolken für Eis halten oder für dünnen Nebel über kompaktem Binneneis.
Vielleicht noch zweitausend Meter unter ihnen lag eine grüne Fläche um einen lang gestreckten See. Langsam, ganz langsam ging es tiefer, bis man sogar die Pflanzen erkennen konnte. Es war mannshohes Elefantengras. Eine Anzahl braungrauer Klumpen lagen herum. Als das Flugzeug über sie hinweg schwebte, im Gleitflug mit stillstehenden Motoren, da wurden sie lebendig, sprangen auf, erwiesen sich als große Elefanten mit vier Stoßzähnen: Mastodons.
»Hier ist also«, schloss Kraus, in Bruchteilen einer Sekunde, »die Erdoberfläche seit einer Million Jahren unverändert geblieben.« Die Tertiärzeit herrschte hier noch.
Lautlos setzte der Apparat auf. Ein großes graues Tier, wenig größer als ein Elefant, tauchte aus dem Riesengras auf und musterte die Maschine, trottete dann lautlos davon, wie vorhin die Mastodonelefanten.
Juroff öffnete die Tür zur Passagierkabine. Die sieben Menschen darin standen an den Fenstern, sie wussten nichts zu sagen. Juroff brach das Schweigen und meldete in drei Sprachen: »Wir sind gelandet.«
Kraus öffnete die Außentür und sprang als Erster hinaus, ohne die Treppe zu benutzen. Im Sprung wunderte er sich bereits, war hier die Schwerkraft geringer? Zehn Kilometer näher am Erdkern hätte sie größer sein müssen. Aber er fühlte sich so leicht und frei, dass es ihm schien, als wäre das Gegenteil der Fall. Die anderen folgten nicht gleich – der Amerikaner rief ihm von der offenen Tür aus nach, er solle zurückkommen und erst mit ihnen frühstücken, bevor sie die Entdeckungsreise in das neue Land anträten. Juroff erschien hinter ihm und schrie, sie wollten dann erst einen Rundflug unternehmen.
Doch Kraus schritt aus, ohne sich darum zu kümmern, dass es keinen Weg gab, dass er das Flugzeug in dem hohen Elefantengras längst aus den Augen verloren hatte und dass in diesem hohen Gras Gefahren lauern konnten.
Links von ihm lag das lang gestreckte Wasser, vorn lockte der Wald. Einmal öffnete sich eine Lichtung zum Wasser hin, da sah er auf einer Sandbank eine gigantische Eidechse liegen, größer als das größte Krokodil. Es war ein Riesenwaran, ähnlich den Waranen von Komodo, aber noch größer, vielleicht ein Verwandter jener eiszeitlichen Riesenwarane, von denen die Sagen der Australier berichten.
Am Waldrand rauften sich zwei tigerähnliche Tiere um einen Kadaver. Man sah das Aufblitzen gewaltiger Reißzähne – Machairodonten, Säbelzahntiger waren es. Er machte einen Umweg und geriet in den Wald. Sumpfzypressen, Palmen, immergrüner großer blättriger Ahorn. Dazwischen Ginkgos und einige Nadelgewächse. Bernsteinkiefern konnten es sein, so genau wusste er nicht Bescheid in der Wissenschaft, um das sagen zu können.
Stundenlang dauerte seine Wanderung. Oft begegnete er Tieren, Lang- und Kurzhalsgiraffen gleich dem Okapi, einmal ein Riesengürteltier, einmal ein gewaltiger Dickhäuter aus der Familie der Titanotherien. Durch die Gipfel der Bäume jagten Affen, vor einem einsamen Baumnest hielt ein großer männlicher Affe mit gewaltiger zottiger Brust und zerfranstem Backenbart Wacht.
Einen kurzen Augenblick dachte Kraus an Umkehr. Aber er hatte ein Gefühl, als stehe noch etwas bevor, etwas Großes, Unerhörtes, die Krönung des Ganzen.
Nun wurden die Bäume lichter, er glaubte, das Ende des Waldes erreicht zu haben. Weit schimmerten die Berge, die das Tal abschlossen und sich in den Wolken verloren. Die Lautlosigkeit des Landes bedrückte ihn, ein Frösteln überlief ihn beim Anblick des Schnees – wie kam denn Schnee hierher? –, er füllte seine Lungen mit der seltsamen Luft und wollte rufen. Aber es wurde ein Schrei aus seinem Ruf, wie ihn nur ein Mensch in höchster Lebensgefahr ausstößt.
Lange brauchte das Echo, um zurückzukommen. Gleichzeitig schien ihm, als bewegte sich etwas vor ihm. Er ging darauf zu und fühlte plötzlich einen heftigen Schmerz im Fuß. Auf den unterirdischen Bau eines grabenden Tieres hatte er nicht geachtet und war eingebrochen. Ob das Flugzeug ihn hier finden würde, wenn es unmöglich war, weiter zu laufen?
Vor ihm wuchs eine Pflanze mit sonderbaren stängelartigen blauen Blüten. Es konnte eine unbekannte fleischfressende Pflanze, eine Nepenthes, sein. Er brach einen Stil ab und roch daran. Der Duft war süß und betäubend, das ganze große Tal schien plötzlich in blaue Düfte gehüllt zu sein; weich und ermüdend waren sie. Und die hohen Berge gewannen eine Leuchtkraft, als beständen sie aus Gold und Edelgestein. Ein Klingen erfüllte die Luft, als seien die alten Träume von der Sphärenmusik zur Wirklichkeit geworden.
3.
Das Verkehrsflugzeug DV 3303 erreichte seinen Bestimmungsort mit 16 Stunden Verspätung. Der Verkehrspilot Leonid Juroff erstattete der Behörde den von allen Insassen des Flugzeugs als Zeugen unterschriebenen Bericht, dass der Verkehrspilot Wilhelm Kraus aus Dortmund über Grönland aus geringer Höhe abgestürzt war. Da die Höhe sehr gering und gerade eine Schicht Neuschnee gefallen war, hatte man Hoffnung auf einen glimpflichen Ablauf des Unglückes gehabt und war an der nächsten günstigen Stelle gelandet.
Die von allen Männern abwechselnd vorgenommene Suche nach dem Verunglückten hatte aber erst nach dreizehn Stunden Erfolg.
Der Pilot Wilhelm Kraus war bis auf einen Knöchelbruch nahezu unverletzt. In der Zwischenzeit bis zur Auffindung aber hatte er den Tod durch Erfrieren gefunden.
ASTOUNDING STORIES, Februar 1937
Am Perihel
Ein großer Wissenschaftsroman
I.
DAN BENSON blickte von der astronomischen Zeitschrift auf, die er gerade las. Das Fenster zu seiner Rechten war plötzlich dunkel geworden, und er glaubte, den Grund dafür zu kennen. Obwohl er geistig darauf vorbereitet war, konnte er sich eines leichten Schreckens nicht erwehren, als er das Ding sah, das über das Fenster aus unzerbrechlichem Glas kroch und sich als scharfe, schwarze Silhouette gegen den grünen Himmel des Mars abzeichnete. Der Schatten sah aus wie ein etwa einen Fuß breites Band, an dessen beiden Seiten Beine krabbelten. An den Beinen klebten so etwas wie Kugeln, ungefähr so groß wie Golfbälle. Es sah aus, als ob sie in eine Art Netz aus ziemlich dicken Fäden eingewickelt waren. Die Fäden erinnerten an ein Spinnennetz, zäh und flexibel, hart und klebrig zugleich.
»Ein Weibchen mit Eiern«, sagte er leise zu sich selbst. »Warte, du Mistvieh, ich kriege dich!«
Er sah sich in dem einzigen Raum seines kleinen halbkugelförmigen Aluminiumhauses um, das ihn vor den vielfältigen Gefahren der Marswüste schützte. Es gab sechs runde Fenster, wie die in den Kabinen von Hochseeschiffen, die gleichmäßig über den Umfang des Hauses verteilt waren, etwa einen Meter über dem Boden. Eines davon war durch den Körper des Dings verdunkelt; durch die anderen schaute er sich nach weiteren unerwünschten Gästen um. Es gab keine; alle fünf Bullaugen gaben ihm einen ungehinderten Blick auf den rötlich-gelben Sand der Marswüste und den grünen Marshimmel frei.[2] Er murmelte wieder vor sich hin. »Nur einer, der auf der Suche nach Feuchtigkeit hier herumkrabbelt. Die Flüssigkeit, die am einfachsten zu bekommen wäre, ist mein Blut, aber das bekommst du nicht. Warte, Tschort, ich gebe dir etwas anderes.«
Neben der Tür befand sich eine kleine Öffnung mit einem Durchmesser von etwa einem Zoll. Er stellte eine würfelförmige Metallbox in die Nähe der Öffnung, an der eine seltsam aussehende Düse von einem Metallschlauch baumelte. Dann nahm er ein weiteres kleines Instrument, bestehend aus einem kurzen Stück dünnen Kupferrohrs und einem Gummiball. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der dunkle Schatten noch auf dem Fenster lag, öffnete er die Luke, schob das Ende des Kupferrohrs hindurch und drückte auf den Ball. Ein Wasserstrahl spritzte aus dem Rohr und landete – aufgrund der geringeren Schwerkraft des Mars – fast vierzig Fuß entfernt im Sand.
Bevor das Wasser im Sand versickerte, begann es zu gefrieren, da es nicht salzig war, wie das meiste Wasser auf dem Mars. Sofort sprang der Körper eines langen, schlanken Tieres darauf zu. Es war der Schatten vom Fenster, ein Tausendfüßler von gigantischen Ausmaßen. Sein Körper, mehr als sechs Fuß lang, war von hellblauer Farbe; die vielen Beine bewegten sich schneller, als das menschliche Auge folgen konnte. Es handelte sich um ein ausgewachsenes Exemplar des blauen Skolopenders vom Mars, dem einzigen bisher entdeckten großen Tier auf dem Planeten. Die Siedler nannten es die »Blaue Bedrohung«. Die Russen, die hauptsächlich auf Thyle II lebten, wo Dan sich niedergelassen hatte, nannten sie einfach »Teufel« – in ihrer Sprache »Tschort«.
Dan erschauderte und lächelte gleichzeitig grimmig.
»Geh nach Hause in die Hölle, wo du herkommst, Tschort«, murmelte er, schob die seltsam geformte Düse der Metallbox durch die Luke und drückte mit dem Fuß auf einen Hebel. Ein weiterer Flüssigkeitsstrahl schoss aus der Düse, aber ein viel dickerer Strahl als der dünne Wasserstrahl, den er als Köder versprüht hatte. Die ölige Flüssigkeit traf auf das Tier und umhüllte es. Dan drückte einen Abzug an der Düse; ein Funke erschien an der Mündung, und die dicke, ölige Flüssigkeit fing sofort Feuer. Die Flamme raste am Strahl entlang, und das Tier fand sich inmitten einer flammenden Wolke wieder. Als das Feuer kaum zwanzig Sekunden später erlosch, war nichts mehr zu sehen – nichts als ein schwarzer Fleck und etwas Asche im Sand der Marswüste.
Dan schaute noch einmal durch alle sechs Bullaugen, dann zog er sich einen schweren Pelz an und öffnete, die Mündung des Flammenwerfers im Anschlag, die Tür. Nichts Lebendiges war zu sehen, nichts außer ein paar kupferfarbenen, bräunlichen Pflanzen mit dicken, ledrigen Blättern. Sie schmiegten sich flach auf dem Boden und schickten ihre riesigen Wurzeln tief in den Sand, sechzig bis achtzig Fuß tief, bis dorthin, wo der Boden noch Spuren von Feuchtigkeit aufwies.
ER KNÖPFTE seinen Pelzmantel zu; es war kalt, obwohl es für die südliche Hemisphäre des Mars Sommer war. Der marsianische Sommer des Jahres 1978. Dan atmete langsam und tief. Nach anderthalb Marsjahren war er gerade in der Lage, es ohne Sauerstoffmaske auszuhalten. Das galt natürlich nur für die Freizeit am Boden. Wenn es um körperliche Arbeit ging, oder er sich auf den Gipfeln der marsianischen Berge befand – von denen keiner höher als dreitausend Fuß war –, war die Sauerstoffmaske unerlässlich.
Es gab nur wenige abgehärtete Siedler, die unter allen Bedingungen ohne sie auskamen. Nun, er hatte nicht vor, lang genug zu bleiben, um die gleiche Befähigung zu erlangen. Er hatte Heimweh nach der Erde, und er war entschlossen, das nächste Passagierraumschiff zur Erde zu nehmen. Aber das würde nicht abfliegen, bevor die Planeten in einer viel günstigeren relativen Position waren, in zweihundertdreißig oder vierzig Marstagen – von jetzt an.
Dan schaute sich noch einmal um, dann ging er zurück ins Haus. Es war gefährlich, von der Dunkelheit in der Wüste überrascht zu werden. Auf dem Mars gab es praktisch weder Dämmerung noch Morgengrauen, und die blauen Tschorts konnten im Dunkeln sehen. Später, nach Mitternacht, waren sie vergleichsweise harmlos, weil die extreme Kälte der Marsnacht sie steif gefrieren ließ. Aber niemand, der sich in der Wüste verirrte, hatte das Glück, bis Mitternacht zu überleben.
Drei Dinge waren für eine Reise durch die Marswüsten unerlässlich, abgesehen von der Versorgung mit Nahrung und Wasser. Das waren: ein Sauerstoffgerät, ein Flammenwerfer und das sogenannte Wüstenauto. Dabei handelte es sich um kleine, schnelle Fahrzeuge, die hermetisch verschlossen werden konnten. Äußerlich sahen sie den irdischen Stromlinien-Limousinen sehr ähnlich. Entdecker und Abenteurer, die die Sicherheit der gläsernen Siedlungen verließen, aßen und schliefen in diesen Autos; im Inneren herrschten irdischer Luftdruck und irdische Wärme. Zusätzlich zu diesen Annehmlichkeiten boten sie Schutz vor den blauen Skolopendern.
Für einen längeren Aufenthalt in der Wüste wurden jedoch die sogenannten Wüstenzelte verwendet. Es handelte sich um eine Aluminiumkonstruktion, die perfekt halbkugelförmig war, einen Durchmesser von zwanzig Fuß hatte und in der Mitte zehn Fuß hoch war. Zwischen den beiden Schichten aus nicht korrodierenden Aluminiumlegierungsblechen, die die Wände bildeten, war eine Schicht aus einem neuen glasartigen Material eingearbeitet; es war ein hervorragender Wärmeisolator, unempfindlich gegen die wildesten Angriffe aller erdenklichen Tiere und auch unempfindlich gegen die zufällige Explosion eines Flammenwerfers.
Das Unternehmen, das diese Wüstenzelte herstellte und vermietete, behauptete auch, dass die Isolierung den Abgasspritzern der Raketenmotoren eines landenden oder startenden Raumschiffs standhalten könnte. Die Siedler misstrauten dieser Aussage etwas, aber sie wussten, dass die Isolierung bis zu einem gewissen Grad kugelsicher war – eine zusätzliche Eigenschaft, gut zu wissen.
Dan schloss die Tür seines Zeltes hinter sich und stellte die irdische Wärme wieder her, der Regler für den Luftdruck war zwischen marsianischem und irdischem Druck eingestellt.
Während er sein Abendessen zubereitete, dachte er über die Pläne für die nächsten Tage nach. Er musste nach Space Port, der größten Stadt auf Thyle II. Es gab etwas mit der örtlichen Regierung zu regeln, und es war notwendig, persönlich vorzusprechen. Vor zwei Wochen, als das reguläre Raumschiff der Interplanetary Transport Corporation angekommen war, war er in Space Port gewesen, um seine Post abzuholen.
Er fand einen schweren Brief von der lokalen Regierung vor. Vor mehr als einem Jahr, als die Marsbezirke den wichtigsten Ländern der Erde zugeteilt worden waren, wurde die große Insel Thyle II zum sowjetischen Territorium erklärt, weil die Mehrheit der ständigen Siedler in diesem Bezirk Russen waren.
Allen Siedlern auf dem Mars war zu verstehen gegeben worden, dass sie innerhalb von vier Wochen in das Gebiet ihrer eigenen Nation umziehen sollten. Nach diesem Zeitpunkt wurden sie Untertanen des Landes, dem ihr Gebiet zugewiesen war. Es sei denn, sie stellten einen speziellen Antrag auf »Beibehaltung ihrer irdischen Staatsbürgerschaft«.
Dan Benson hatte weder die Absicht umzuziehen noch seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Er hatte den Antrag ausgefüllt, ein Dokument von außergewöhnlicher Länge. Die Antwort war dieser Brief, der eine Mischung aus einer amerikanischen Einkommenssteuererklärung, einem deutschen Fragebogen über arische oder nicht-arische Abstammung und einem Fragebogen der G. P. U.[3] für potenzielle Mitglieder der russischen kommunistischen Partei war. Das war ausufernde Bürokratie.
Dan war Hochschulabsolvent, ein bekannter Schriftsteller und ein Spezialist auf einigen wissenschaftlichen Gebieten – aber diesen Fragebogen ohne die Hilfe eines Regierungsbeamten zu beantworten überstieg seine Fähigkeiten. Er hatte stundenlang darüber gegrübelt und sich seine Vergangenheit ins Gedächtnis gerufen, bis ihm schwindelig wurde vor lauter Erinnerungen – nicht alle davon waren angenehm. Es hatte nichts genützt. Da die Antwort persönlich eingereicht werden musste, um gültig zu sein, hatte er beschlossen, nach Space Port zu fahren.
[2] Tatsächlich haben die Marssonden MAVEN (NASA) und ExoMars (ESA) Bilder mit grünschimmerndem Nachthimmel vom Mars zur Erde gesendet. (Alle Fußnoten vom Herausgeber.)
[3] G. P. U. ist der sowjetische Militärgeheimdienst
II.
ES WAR schon spät, als er am nächsten Morgen aufwachte. Er war bis tief in die Nacht auf gewesen und hatte geschrieben. In den Magazinen und Zeitschriften der Erde gab es eine wissenschaftliche Kontroverse über die Natur der ausgestorbenen intelligenten Marsbewohner, und er hatte hinzugefügt, was er aus seinen persönlichen Beobachtungen wusste. Es war eine schwierige Frage. Diese ursprünglichen Bewohner, die seit mindestens zehntausend Jahren ausgestorben waren, hatten Steinhäuser und Städte gebaut, die heute Ruinen und von der »Blauen Bedrohung« befallen waren. Niemand wusste, wie die Marsbewohner ausgesehen hatten, wie sie lebten und wohin sie gegangen waren. Die verbreitete Ansicht war, dass sie Menschen waren, mit einer Zivilisation, die mit der europäischen Kultur des Jahres 1700 vergleichbar war, und dass die blauen Skolopender sie wohl ausgerottet hatten.
Aber es gab auch andere Theorien. Eine Gruppe von Wissenschaftlern war der Meinung, dass es sich um riesige Insekten gehandelt hätte. Eine andere Gruppe hielt sie für Vögel, weil es keine Straßen und offenbar auch keine Türen zu ihren alten Gebäuden gab. Und ein chinesischer Professor hatte die Theorie aufgestellt, dass sie vom Mars geflohen waren, als die Blaue Bedrohung zu groß wurde. Er stützte sich dabei auf die chinesische Legende, dass ihre Kaiser »Söhne des Himmels« waren, und er hatte darauf hingewiesen, dass das feuerspeiende chinesische Drachensymbol durchaus als verzerrte heraldische Darstellung einer Weltraumrakete gedeutet werden könnte. Er hatte sogar zwei alte chinesische Gemälde ausgegraben, auf denen das »verlorene Land« abgebildet ist und die zwei Monde am Himmel zeigen. Doch ein Kenner der chinesischen Schrift hatte darauf hingewiesen, dass die Schriftzeichen, die der phantasievolle Professor als »verlorenes Land« gelesen hatte, die Bedeutung von »träumendes Land« haben.
Es war ein Krieg bis aufs Messer unter den Anthropologen des Mars, die nicht wussten, ob sie sich Anthropologen nennen durften. Eines Tages könnten sie gezwungen sein, den Namen ihrer Wissenschaft zu ändern, denn das griechische Wort anthropos bedeutet »Mensch«. Sollte sich herausstellen, dass die Marsmenschen Vögel waren, würde sich ein sprachliches Problem ergeben, das nur durch die Erfindung eines neuen griechischen Begriffs gelöst werden könnte. Deutsche Philologen hatten bereits einige Begriffe geprägt, die die verschiedenen Möglichkeiten abdeckten.
Eine schwarze Linie erschien am Horizont – die gläserne Außenwand von Space Port. Alle Siedlungen auf dem Mars waren von diesen Mauern aus hartem, schwarzem Glas umgeben. Sie waren einhundert Fuß hoch und aus T-förmigen Teilen gebaut. Kein Skolopender konnte diese Mauern erklimmen, und die wenigen Tore waren mit Batterien von Flammenwerfern gesichert.
Aus der Luft betrachtet sah die Stadt Space Port wie eine Acht aus. Eine Ringmauer umschloss die Stadt, die andere den Raumhafen, der der Siedlung ihren Namen gegeben hatte. Dort, wo sich die beiden kreisförmigen Mauern berührten, gab es eine Allee, die das riesige Feld des Raumhafens und die Siedlung verband.
Dan fuhr langsam durch die Hauptstraße zum Verwaltungsgebäude. Es gab Gebäude und Häuser in allen Größen, viele davon Aluminiumbauten, die in ihrer Konstruktion der von Wüstenzelten entsprachen, aber auch Steinhäuser und wenige hoch aufragende Bürogebäude aus Stahl und Glas. Es gab keine Holzhütten, denn Holz musste importiert werden. Die wichtigsten Baumaterialien waren Aluminium, Stahl und Glas, deren Rohstoffe auf der Marsoberfläche im Überfluss vorhanden waren.
Während er in einem Restaurant zu Mittag aß, hörte Dan aus den Lautsprechern die Ankündigung, dass die Raumschiffe der Regierung noch am selben Nachmittag landen würden. Da er nichts anderes zu tun hatte, beschloss er, sich die Landung anzuschauen, die immer ein spektakulärer Anblick war. Im Schutz einer durchsichtigen Glaskuppel sah er einen schwarzen Punkt am grasgrünen Himmel auftauchen. Er bewegte sich in einem weiten Bogen auf den Raumhafen zu. Plötzlich verwandelte sich der schwarze Punkt in eine flammende Wolke. Dan wusste, dass die Raketenmotoren auf Hochtouren liefen, um den Abstieg zu bremsen. Die Flammenwolken verschwanden und tauchten wieder auf, das große Schiff war nun auch mit bloßem Auge deutlich zu erkennen. Als es weniger als eine Meile hoch war, schossen die Flammen erneut aus den Düsen der Raketenmotoren.